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Im Herbst 1882 machte ich mich mit meiner Mutter nach Deutschland auf, zum erstenmal überschritt ich die Grenze ins »gelobte Land«, als das uns Balten Deutschland immer erschien. Aber schon in Berlin packte uns beide das Heimweh, und ich dachte in Verzweiflung: was wird nun aus mir werden? Einige Tage des Ausruhens in Frankfurt folgten und beruhigten mich ein wenig, dann ging ich, von meiner Mutter begleitet, zu Stockhausen.
»Wenn er dich nur annimmt,« sagte mein Onkel, der auf einige Tage nach Frankfurt gekommen war, um uns zu sehen.
»Er soll sich wenig genieren und die Schüler, die ihm nicht gefallen, sofort wieder hinausweisen.«
So aufgeregt und entmutigt in meiner ohnehin schon recht zaghaften Seele trat ich meinen schweren Gang an mit der »Winterreise« unterm Arm. Frau Professor Stockhausen, eine etwas streng aussehende Dame, empfing uns. Ich glaube, daß wir in unseren altmodischen Toiletten ihr keinen großen Eindruck machten. Wir wurden ins Musikzimmer geführt, wo wir warten sollten. Ich sah mich in dem kleinen Raum um, in dessen Mitte ein großer Flügel stand. Nichts als Bücher und Noten auf Borten und an den Wänden, ein paar schöne, wertvolle Bilder, Teppiche, schwere Vorhänge, das alles übersah ich im ersten Augenblick und fand, es sei eine seltsame Einrichtung für ein Musikzimmer. Später habe ich erfahren, daß Stockhausen mit vollster Absicht jede akustische Täuschung, jeden »Betrug«, wie er sich ausdrückte, über den Klang der Stimme durch diese Einrichtung unmöglich machte.
»Wenn es hier klingt, dann klingt es überhaupt auch im großen Saal,« meinte er.
Da ging plötzlich die Tür auf, und herein wie ein Sturmwind fegte ein kleiner Mann und stellte sich vor mich hin, mich von oben bis unten musternd. Er stand vor mir mit den Händen in den Rocktaschen, und ich sah in ein dunkles Gesicht mit grauem Bart und grauem Haar. Ein paar merkwürdige, stechende Augen blickten in die meinen, um den Mund lag ein spöttischer Zug.
»Sie sind also die Livländerin, die Frau Joachim mir empfohlen hat,« sagte er mit klangvoller Stimme. »Können Sie denn etwas?«
»Gar nichts,« sagte ich mit dem Mut der Verzweiflung. »Aber darum bin ich ja auch hergekommen. Ich will viel lernen.«
Die Antwort schien ihm Spaß zu machen, denn er lachte.
»Was haben Sie denn Gutes mitgebracht?«
»Die Winterreise,« war meine Antwort.
Er stürzte auf seinen Flügel, riß den Deckel auf, schleuderte ein paar Noten, die auf dem Klaviersessel lagen, weg.
»Schnell,« rief er, als ich verwirrt mit meinem Notenheft dastand, »worauf warten Sie eigentlich?«
Mit bebenden Fingern schlug ich die »Krähe« von Schubert auf. Stockhausen saß schon am Flügel und vertiefte sich in die Begleitung.
Mir fiel sofort der veränderte Ausdruck seines Gesichts auf, sobald die ersten Akkorde erklangen. Es wurde verklärt, schön und edel, die Augen verloren den stechenden Blick, der ganze Mann machte den Eindruck eines Entrückten. Ich übersah das alles mit Blitzesschnelle, und alle Angst wich von mir. Ich glaube, ich habe dieses Lied selten so schön gesungen wie damals: es ging von ihm eine Kraft aus, die mich trug. Als ich geendet hatte, nickte er.
»Weiter,« sagte er kurz. Nun schlug ich die »Letzte Hoffnung« auf. Ich sang es ebenso frei, wie das erste Lied. Nach dem letzten Akkord sprang er auf und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Dann hob er seine Hand gebieterisch.
»Knien Sie hin,« rief er, »auf der Stelle knien Sie hin und danken Sie Ihrem Gott. Sie haben etwas von Ihrem Schöpfer erhalten, was nicht viele haben. Sie haben eine Seele und können sie aussprechen, das kann Ihnen kein Lehrer geben. Aber Sie singen nicht einfach genug, Sie wollen zu viel. Sie wollen in jedes Wort einen Ausdruck pressen und überladen damit das Lied. Sehen Sie, so singt man so etwas.«
Und er setzte sich wieder an den Flügel, sein Gesicht verwandelte sich, es bekam wieder den merkwürdig weltentrückten Ausdruck, er bog den Kopf ein wenig in den Nacken und sang mir die »Letzte Hoffnung« vor.
Er sang mit der ganzen, erschütternden Selbstverständlichkeit, die ein großes, gereiftes Kunstwerk haben muß. Es war, als hätte er den tiefsten Herzschlag des Dichters und des Komponisten belauscht. Ich horchte atemlos, das war ja so einleuchtend, als könnte ein Kind das nachsingen.
»Jetzt singe ich's noch einmal,« rief ich hingerissen, als er geendet hatte.
»Nachgesungen wird hier nicht. Sie sollen Ihre Wege selbst finden,« sagte er kurz, »aber wenn Sie auch noch musikalisch sind, kann aus Ihnen was werden. Sind Sie musikalisch?«
»Ich denke sehr,« war meine Antwort, denn ich hatte es nie anders gehört.
»Nun, wollen wir doch mal sehen,« sagte er skeptisch und setzte sich an den Flügel. »Singen Sie mir jetzt den Tetrachord.«
Ich hatte nie etwas ähnliches gehört. »Was ist das?« fragte ich erschrocken. Ein funkelnder Blick traf mich.
»Das ist ja unerhört, wie sind Sie denn unterrichtet worden? Ich bitte, sich bald darüber zu instruieren!« Dann machte er einige Gehörsübungen, wobei ich vollständig versagte.
»Na, Sie scheinen ja Ihre Intervalle gar nicht zu kennen,« sagte er scharf.
»Ich habe nie solche Übungen gemacht,« antwortete ich kläglich.
»Sehr musikalisch sind Sie nicht,« sagte er. »Schade, aber es kann auch so gehen.«
Ich war so verblüfft, daß ich nicht musikalisch sein sollte, daß ich stehen blieb und ihn starr und erschrocken ansah. Ich war wie im Bann. Mein Gott, was würde ich noch alles erleben? Das ist ja fürchterlich, hier wehen scharfe Winde. Frau Professor kam ins Zimmer; sie hatte dunkle Augen und einen merkwürdig zusammengekniffenen Mund, sah streng aus und klug. Sie notierte meine Adresse, während dessen ging er im Zimmer auf und ab mit den Händen in den Taschen. Bei seinen Wanderungen blieb er dazwischen stehen und sagte:
»Also, Sie haben noch nie etwas von einem Tetrachord und Intervallen gehört. – Klara, kannst du dir so etwas vorstellen?« Seine Frau verzog ein wenig den Mund, aber sie lachte nicht.
»Ich werde das alles bald kennen lernen,« sagte ich. Er lachte, daß er sich schüttelte.
»Ja, ja, zu Hause war man wohl die gefeierte Diva, hier aber wird es anders werden!«
»Das ist mir gerade recht,« sagte ich mutig, »das ist es ja, was ich will.«
Es wurde mir nun ein Tag genannt – es war der nächste Sonntag – an dem ich wiederkommen sollte, wo ich meinen Stundenplan erhalten und meine Nebenfächer erfahren würde. Unterdessen hatte meine Mutter im Nebenzimmer gewartet. Sie konnte gar nicht begreifen, daß ich so mutig geantwortet hatte. Ihr wurde heiß und kalt vor Angst, als es herauskam, daß ich den Tetrachord nicht kannte und bei den Gehörsübungen so völlig versagte. Als wir nach Hause gingen, sagte ich ruhig:
»Davor habe ich keine Angst. Die Hauptsache ist doch, daß ich nun wirklich bei einem großen Künstler bin, und daß er mich angenommen hat.«
Am Sonntag darauf gab es bei Stockhausen eine Versammlung von sämtlichen Schülern. Die Stundenpläne wurden verteilt, man wurde einander vorgestellt, und dann sollte eine Chorprobe sich anschließen. Ich war recht verloren und verschüchtert unter einer Schar eleganter, junger Damen, die mich durch ihre hochgetürmten Frisuren und großen Hüte erschreckten. Auch eine Schar junger Herren war da mit langen und kurzen Künstlerhaaren und farbigen Kravatten. Frau Professor Stockhausen verteilte die Stundenpläne, er kümmerte sich um nichts. Er schoß durchs Zimmer, neckte die Schülerinnen und suchte sie zu erschrecken und zu verblüffen. Ich sah unter der Schar ein junges Mädchen stehen in dunklem, schlichtem Kleide mit glattem, dunklem Haar und sehr ängstlichen, schönen Augen. Ich fühlte sofort, die ist von meiner Art, suchte in ihre Nähe zu kommen und redete sie an. Da kam es heraus, daß sie sich ebenso fürchtete, wie ich. Sie war eine Schwäbin und bekam später den Spitznamen »das Mäusle«. Wir haben unsere ganze Studienzeit getreulich zusammengehalten, sie wurde meine Intima genannt. Wir haben miteinander gearbeitet und gezankt, miteinander geweint, gelacht und gelitten.
Die Stundenpläne waren verteilt, Stockhausen ging an den Flügel und öffnete ihn. Es war wirklich wunderbar, wie sein ganzes Äußere sich verwandelte, wenn er an seine künstlerische Aufgabe ging; sein ganzes Wesen straffte sich, wurde ruhig und fest, sein Gesicht wurde klar und edel. Er warf sein Haar aus der Stirn und überflog die Versammlung mit herrischem Blick.
»Wir nehmen den ersten Chor aus der Matthäuspassion,« rief er, »setzen Sie sich nach den Stimmlagen, aber schnell.«
Zum Glück sang meine schwäbische Freundin auch Sopran, wir klammerten uns aneinander, Noten wurden verteilt, wir erhoben uns.
»Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen,« erbrauste von jungen, schönen Stimmen getragen. Als dieser Chor beendet war, erscholl plötzlich Stockhausens Stimme. Zu meinem Entsetzen rief er meinen Namen.
»Monika Hunnius, können Sie vom Blatt singen?«
Alles hätte ich gekonnt, nur das nicht. Aller Blicke wandten sich mir zu und maßen mich mit Erstaunen, die ich in einem geschmacklosen Kleide mit glatt gescheiteltem Haar und einer unmodernen Frisur weltfremd und ängstlich dasaß. Ich war so erschrocken, daß ich ja sagte, statt nein. Ich wollte dieses Wort so gern wieder zurücknehmen, konnte mich aber nicht dazu entschließen, weil ich das Gelächter fürchtete, das gewiß entstanden wäre. Ein Tenor wurde aufgerufen, Georg Anthes. Er hat sich später einen großen Namen als Opernsänger gemacht, damals war er noch ein junger, ängstlicher Mann mit langem Künstlerhaar und flatterndem, roten Schlips. Er sang ergreifend eine Tenorarie aus der Matthäuspassion, trotzdem erntete er nur einige scharfe, kritische Bemerkungen, die wenig Anerkennung enthielten. Unterdessen krümmte sich alles in mir vor Angst. Er wird mich doch nicht auch Solo singen lassen, dachte ich immer wieder. Vor Entsetzen wurde mir die Stirn kalt und feucht. Eine Altistin, Marie Reuter, wurde aufgerufen. Sie sang mit tiefer, dunkler Stimme die »Erbarme dich«-Arie aus der Matthäuspassion. Hin und hergerissen zwischen Begeisterung und Todesangst saß ich da, denn auch sie erntete nur ein paar spöttische, kritische Worte für ihren Gesang, der mir sehr schön erschien.
»So, nun singen wir die Motette von Mendelssohn,« rief Stockhausen, »und Monika Hunnius singt die Sopransoli daraus. Die Solisten kommen zu mir und stellen sich neben mir auf.«
Auch das noch! Wie würde ich das nur überleben? Wie im Traum verließ ich meinen Platz und ging durchs ganze Zimmer, ich weiß nicht, wie meine Füße mich trugen. Ich fühlte, daß jemand mir ein Notenblatt in die Hand drückte, dann erhob sich der ganze Chor. Und jetzt kam mein Solo. Ich begreife es noch in dieser Stunde nicht, wie es möglich war, aber ich sang es in meiner furchtbaren Erregung, die alle Kräfte in mir anspannte, tadellos vom Blatt, ohne mich auch nur einmal zu versehen. Aber es war nicht ich, die da sang, es war, als wäre es eine vollständig andere. Meine Stimme klang hell und jauchzend über alle die Köpfe hinweg, die voll Staunen sich nach mir gewandt hatten. Als ich geendet hatte, klopfte Stockhausen mir auf die Schulter.
»Sie kann ich brauchen,« sagte er. »Sie haben ja eine Seele.«
Alles umringte mich, keiner hatte hinter meinem unscheinbaren Äußeren irgend etwas erwartet. Sogar Frau Professor Stockhausen drängte sich durch die Schüler, um mir die Hand zu drücken.
»Sie haben es wunderschön gemacht,« sagte sie.
»Sie werden die Grundmann tot machen,« sagte eine von meinen künftigen Kolleginnen. »Sehen Sie, wie sie schon aufgeregt dasitzt. Sie war bisher die vereidigte Sopransolistin, nun wird das wohl ein Ende haben, denn Sie schlagen sie vollständig aus dem Felde.«
Ich war ganz betäubt; als ob ein Meer um mich brandete und brauste, so war's mir. Es war ein glanzvolles Debüt, das ich hatte, mein erstes und mein letztes, denn Stockhausen sorgte bald dafür, daß ich in einen tiefen Abgrund sank; auf Höhen hielt man sich nicht dauernd bei ihm.
»Sie singen ja glänzend vom Blatt,« sagte er mir beim Abschied. »Das war ein Zufall,« sagte ich aus tiefster Seele heraus, »ach, glauben Sie mir doch, es war ein Zufall.«
Ich war in dem Hause eines Pfarrer Schlosser untergebracht. Die Frau Pfarrer stammte aus den Ostseeprovinzen aus einem altadeligen Hause. Sie war erst kurze Zeit mit dem Pfarrer verheiratet, der Witwer mit einer ganzen Kinderschar war. Sie hatte in glänzender Stellung gelebt, war Leiterin eines großen Pensionats gewesen, geliebt und vergöttert von ihrer ganzen Umgebung. Und nun heiratete sie in späterem Alter in schlicht bürgerliche Verhältnisse. Es war ein großer Sprung, den diese seltene Frau gemacht hatte, es waren zwei Welten, die sich begegneten. Aber eine große Liebe zu ihrem Mann und ein heiliges Wollen, ganz das zu sein, was sie übernommen hatte, erfüllte ihre Seele. Es war äußerlich ein sehr ungleiches Paar, er sehr schlicht nach außen hin wirkend, klug und gut, mit einem großen Wissen, einer großen Kraft und einer Kinderseele, unkompliziert und einfach. Sie, die Aristokratin, mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen, die eine fast suggestive Wirkung ausübten, schlank und blaß. Ich habe immer an die Prinzessin aus dem Tasso denken müssen bei ihr. Sie wirkte wie eine Fremde, wo sie war, als gehörte sie nicht in ihre Umgebung. Es war eine Sehnsucht und Trauer um sie. Jetzt weiß ich, daß es die Sehnsucht einer Seele war, die das Vollkommene wollte und unter der Erdenschwere litt. Die sechs Kinder waren liebe, ausgesprochene Persönlichkeiten; die älteste Tochter schon erwachsen, das jüngste ein Knabe, vielleicht acht Jahre alt. Im zweiten Jahre meines Dortseins wurde ein kleines Mädchen geboren, dessen Erscheinen das ganze Haus beständig in Atem hielt. Zuerst war ich die einzige Pensionärin dort, später kamen noch einige andere junge Mädchen dazu. Es war ein starkes, reiches Leben im Hause. Ich hatte ganz oben im höchsten Stock mein kleines Zimmer, worin mein Klavier stand. Ich konnte üben und arbeiten nach Herzenslust. Und das tat ich denn vom frühen Morgen bis zum späten Abend, war es doch das, was ich seit Jahren ersehnt hatte, was nun mein Leben füllen durfte ohne einen Nebengedanken.
Und nun begann meine Arbeit beim großen Meister. Sie war reich an hohen Freuden, aber auch reich an Qualen und Leiden. Stockhausen hatte einen merkwürdigen Entwicklungsweg als Künstler gemacht. Er fing seine Laufbahn an der komischen Oper in Paris an, wo er keinen Erfolg hatte. Seinen Ruf erwarb er sich erst in Deutschland als größter Oratorien- und Liedersänger. Sein Verdienst ums deutsche Lied war groß, denn er führte es wieder im Konzertsaal ein. Die Opernarie hatte das Lied vom Konzertpodium verdrängt. Er war der erste, der es wagte, die »Müllerlieder«, »Winterreise« und »Dichterliebe« als Zyklus im Konzert vorzutragen. »Der Meistersinger des deutschen Liedes« wurde er genannt. Es ist nicht ganz leicht, diesem Künstler als Lehrer gerecht zu werden. Als Künstler war er unantastbar, ich kann ihn nur mit einer Flamme vergleichen, die auf einem Opferaltar brannte, schön und strahlend, klar und heilig, war sie uns allen ein leuchtendes Vorbild. Als Pädagoge war er durchaus angreifbar. Eines aber lernten wir bei ihm, und das war arbeiten. Er forderte viel und unerbittlich, man konnte ihn eigentlich nie befriedigen. Wenn man mit dem Aufgebot aller Kräfte gearbeitet hatte und in die Stunde kam, konnte er oft sagen:
»Also so haben Sie's gemacht! Dann können Sie's ja eigentlich noch ganz anders, nun kann ich noch viel mehr von Ihnen verlangen.« Er glaubte nie, daß man wirklich seine ganze Kraft einsetzte.
»Sie möchten, aber Sie wollen nicht,« war einer seiner stehenden Aussprüche. Man kam nie zur Ruhe bei ihm, auch nicht zu ruhigem Arbeiten. In seinen Forderungen lag etwas Atemloses, überspannendes, namentlich den Schülern gegenüber, die es ernst meinten. Das Große, das er uns gab, war eine hohe, künstlerische und musikalische Erziehung, in der technischen Schulung versagte er. Er selbst, ein vollendeter Techniker, beherrschte alle Stilarten; er sang ebenso vollkommen eine italienische Koloraturarie, einen Mozart, wie ein Lied von Schumann und Brahms, aber das weiter zu lehren, war nicht seine Gabe. Er war viel zu sehr Künstler, Gelehrter und Forscher, als daß er hätte Pädagoge sein können. Er war sehr ungeduldig, griff die Behandlung einer Stimme manchmal von drei bis vier Punkten an und verwirrte seine Schüler dadurch. In den zwei Jahren, die ich bei ihm studierte, habe ich nie etwas von Atemtechnik, die doch die Basis eines jeden Singens ist, gelernt. Er entwickelte nicht stetig und ruhig das Organ. Was er heute aufbaute, riß er morgen wieder nieder, denn es war ihm oft über Nacht irgend eine Idee gekommen, die er sofort bei der nächsten Schülerin, die ihm in die Hände kam, in die Tat umzusetzen versuchte. Eine geistreiche Sängerin nannte ihn einmal mir gegenüber einen Stimmenvivisektor. Stimmenprobleme interessierten ihn, er stürzte sich auf eine Stimme, die ihm Probleme aufgab, mit wahrer Leidenschaft, nahm das Organ mit dem Interesse eines Forschers vollständig auseinander und machte seine wissenschaftlichen Studien dabei. Ging das Zusammensetzen aber nicht so schnell wie er wollte, dann warf er die ganze Sache hin und interessierte sich für die Trümmer nicht mehr viel. Die musikalische Erziehung machte mir zuerst viel Not, ich war unendlich schlecht vorbereitet und ganz ahnungslos jeder Theorie gegenüber. Meine musikalische Begabung war in erster Linie ästhetisch, ganz im Gefühl wurzelnd. Ich konnte keine Musik denken, ich konnte sie nur fühlen. Die elementarsten, theoretischen Dinge waren mir fremd. Ich kannte keine Intervalle außer Sekunden und Terzen. Ich mühte mich namenlos, das Versäumte einzuholen und dies vernachlässigte Gebiet ein wenig zu beherrschen. Stockhausen aber stand immer gleich wie mit einer Peitsche hinter einem. Ich mußte so oft an ein Wort von Geibel denken:
»Wo sein Flügel ihn trug,
Meint er, du müßtest nun gehen.«
Ich mußte die alten Schlüssel lernen und sie sofort praktisch verwerten. Zu dem Zweck holte er uralte zweistimmige Übungen von Fuchs hervor, in Kanonform gehalten, in Sopran- und Altschlüsseln geschrieben. Da mußte man eine Stimme vom Blatt singen und die andere dazu spielen. Dabei stand Stockhausen hinter einem, mit ungeduldigem Zuruf das Tempo beschleunigend. Jahrelang bin ich nachts manchmal im Angstschweiß erwacht, weil ich im Traum Übungen von Fuchs singen mußte. Wunderbar war es aber, wenn es ans Gestalten von Liedern und Arien ging, dann war er einfach überwältigend in seiner Künstlergröße. Nie vergesse ich, wie ich mein erstes Händelrezitativ bei ihm studierte. Es war das Rezitativ des Micha aus dem Samson: »Blickt her, den Helden schaut.« Wie gemeißelt stehen Wort und Ton noch heute vor meiner Seele. Wie er es sprach, wie er sie vor einem erstehen ließ, die Gestalt des gebrochenen Helden. »Seht, wie er liegt mit schwerem Haupt, gebeugt, verlassen, ohne Trost.«
»Wer kann das je vergessen?«, der das gehört und erlebt hat. Stockhausen sprang vom Flügel auf, nahm mich an der Hand und führte mich in eine Ecke des Zimmers: da lag der Held in Ketten, auch ich sah ihn da liegen. Und nun beugte er sich zu ihm herab und trauerte um ihn in edlen Klagetönen, daß mir das Schluchzen in die Kehle stieg. Nach solchen Stunden ging man wie im Traum einher, erschüttert, beglückt, zu allem bereit. Kam man dann in die nächste Stunde und konnte technisch nicht das verwirklichen, was man in der Seele trug, was er geweckt hatte, war er empört. Dann sah er nicht den Schüler in einem, den er führen sollte, er sah nur unheilige Hände, die sich nach seinen Heiligtümern streckten, und er schlug nicht nur auf die Hände, sondern er schlug aufs Herz, das mit so heiliger Begeisterung und Ehrfurcht seine Größe empfand und sich seiner eigenen Kleinheit schon selbst bewußt war.
Wunderbar war es, wie er einen in die alten Oratorien einführte. Er stellte in der Stunde plötzlich vier Stimmen zusammen, und man mußte vom Blatt aus den Oratorienchören singen; oder er suchte die technischen Übungen aus Händel und Bach zusammen. So machte man seine Übungen nie mechanisch, sondern mit wachem Stilgefühl. Auch ließ er uns technische Übungen mehrstimmig singen. »Das macht musikalisch,« sagte er. Seine Art zu lehren betonte in erster Linie eben immer das Musikalische, das er entwickelte, doch muß meiner Meinung nach Technik, wenigstens zuerst, absoluter Selbstzweck sein.
Hinreißend wirkte er als Chordirigent. Er hielt viel vom Chorgesang, gab jede Woche eine Probe für den Frauenchor, jeden Sonntag eine für den gemischten. Da habe ich Brahms' und Schumanns wunderbare Frauenchöre kennen gelernt und die Mendelssohnschen Motetten. Sonntags sang man alte Madrigale, Brahms, gemischte Chöre und Sätze aus Oratorien. Dann wurden die Soli, die in der Woche studiert worden waren, vorgetragen. Da habe ich Perron seine unvergeßliche Paulus-Arie singen gehört, er rührte uns zu Tränen, wenn er sang: »Ein geängstetes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten.« Da sang Anthes aus den Mendelssohn-Oratorien: »Zerreißet Eure Herzen und nicht Eure Kleider.« Und wenn dann die Begeisterung in hohen Wogen ging, litt es Stockhausen auch nicht länger, er erhob sich von seinem Platz am Flügel und sang seine allerberühmtesten Sachen, wie »Am Abend, da es kühle ward« aus der Matthäuspassion.
Wenn er vor seinem Chor stand, mit dem verklärten Ausdruck in den strengen Zügen, wenn er wie ein Blitz mit seinen lebendigen schwarzen Augen über uns herfuhr, dann lag etwas Zwingendes in seinem Blick und seinen Handbewegungen. Es sprang direkt ein Funke von ihm auf seinen Chor über, den er in eiserner Disziplin hielt. Tiefste Konzentration, äußerste Hingabe forderte er unbedingt, wehe dem Blick, den er nicht auf sich gerichtet sah. So hatte er an uns ein kleines, aber glänzend organisiertes Heer, das jedem Wink seines Feldherrn folgte.
Es war eine angeregte und interessante Gesellschaft, die sich unter seinen Schülern befand und in Ernst und Heiterkeit ihrer Arbeit lebte. Es war bei uns jungen Menschen natürlich, daß neben den ernsten Arbeiten auch dazwischen ein namenloser Übermut sich Bahn brach trotz der strengen Zucht, die Frau Professor übte. Schwer litt der Unterlehrer, der die Solfeggien leitete, unter uns. Aller Witz, aller Übermut, wurde an ihm ausgelassen, denn er war untüchtig und ungeschickt. Ich hatte einen fröhlichen Sinn, und das Lachen saß mir immer lose. Durch mein Lachen spornte ich die Mitschüler zum größten Übermut an, bis Frau Professor Stockhausen mich einmal beiseite nahm und ernst mit mir sprach, ich sollte mein namenloses Lachen in den Stunden einschränken, ich wäre dadurch schuld an der Disziplinlosigkeit der ganzen Klasse. Ob ihr strenges Reden bei mir auf fruchtbaren Boden fiel, weiß ich nicht!
Die amüsanteste und eigenartigste unter meinen Mitschülerinnen war eine Holländerin, Marie Diest. Eine funkelnde Erscheinung, schwarzäugig und schwarzhaarig, immer elegant angezogen, leidenschaftlich und voller Humor. Sie hielt uns alle in Atem, hatte viele Feinde, weil sie ihren Witz an allen übte; ich konnte ihr nichts übel nehmen, sie war zu originell und amüsant.
»Du wirst keine Künstlerin,« sagte sie mir einmal in ihrer unerschrockenen Art, »trotz deiner schönen Stimme und der Seele, von der der Professor immer spricht. Hätte ich zehn Kinder, ich würde sie dir alle zur Erziehung übergeben, aber auf dem Podium wirst du keinen Erfolg haben. Wenn ich du wäre, würde ich schön sein, dich aber sieht keiner an. Wer sich so wenig anzuziehen versteht, kann keine Künstlerin werden, denn die Kunst hat ihren Erfolg nicht nur durch geistige Mittel.«
»Nun, wir wollen mal sehen,« sagte ich. – Als ich in reiche Frankfurter Patrizierhäuser eingeführt wurde, war sie entrüstet.
»Was machst du da, was kannst du da für eine Rolle spielen?« sagte sie immer wieder. »Laß mich an deiner Stelle hingehen; in die vornehme Welt, da passe ich hin. Du wirst ja dort doch nur eine komische Erscheinung sein.«
Als sie das Ziel ihrer Sehnsucht erreichte und auch in eins dieser alten Häuser eingeführt wurde, lehnte man sie vollständig ab, während ich immer vertrauter und befreundeter dort wurde.
»Es ist nicht zu begreifen,« sagte sie, »die Menschen in Frankfurt müssen keinen Geschmack haben.«
Trotz ihrer Ungezogenheiten mußte man sie lieben, denn ihre Gesinnung war vornehm und ihr Herz warm. Sie improvisierte sehr hübsch auf dem Klavier. Wir hatten uns so aufeinander eingestellt, daß wir manchmal folgenden musikalischen Scherz machten. Wir nahmen ein Gedicht vor, lasen es gemeinsam durch, dann setzte ich mich an ihr Fenster, das in einen großen, stillen Garten ging, sie saß am Klavier. Wir improvisierten beide, ich sang an stillen Sommerabenden in den kühlen, dämmerden Garten hinaus, und sie folgte mir am Klavier in überraschendem Mitgehen. Wir gaben oft unseren Freundinnen diese Aufführung zum besten. Kein Lehrer wurde mit ihr fertig, da sie so unerschrockene Augen hatte, mit denen sie ihnen ins Gesicht schaute und sie trieb sie in die Enge mit Fragen in ihrem falschen holländischen Deutsch. Sie war dabei so drollig und hatte so viel Humor, daß sie immer die Lacher auf ihrer Seite hatte. Furcht und Scheu kannte sie nicht.
Als wir einen neuen Lehrer für die Solfeggioklasse bekamen, begann sie mit ihm einen hartnäckigen Kampf. »Ich muß ihn unterkriegen,« sagte sie.
»Kinder, für die Solfeggiostunde habe ich mir was Besonderes ausgedacht, ich will heute mal den Lehrer ärgern,« sagte sie oft. Die ganze Klasse wartete, bei solchen Gelegenheiten kam sie immer zu spät. Einmal hatte sie sich ganz nach einem holländischen Bilde frisiert und angezogen, trug Armbänder, die durcheinander klingelten, wenn sie den Takt beim Solfeggio schlug. Oder sie forderte langatmige Erklärungen; manchmal tat sie, als verstünde sie kein Deutsch, mißverstand den Lehrer, hielt die ganze Klasse mit hartnäckigen Fragen auf und sprach absichtlich falsch, womit sie die Lehrer wild machte. »Nehmen Sie mich bitte nicht übel,« schloß sie höflich. Der junge Lehrer ließ nicht mit sich spaßen und hielt sich in seiner Autorität tapfer, doch blieb sie Siegerin. Es wurde eben keiner mit ihr fertig.
Eine meiner liebsten Freundinnen war Marie Reuter, ein prachtvoller Mensch, ein goldener Kamerad, ehrlich und selbstlos. Sie hatte eine wunderschöne, schwere Stimme, die zu ihrer ganzen etwas schwerfälligen und ernsten Persönlichkeit stimmte. Sie kämpfte hart mit Existenzsorgen, mußte sich ihr Studium zum Teil durch Privatstunden verdienen, hatte aber immer etwas für uns übrig. Ihr ganzes, mühsam verdientes Stundengeld gab sie her, wenn sie wußte, daß eine von uns in pekuniärer Not war. Ich begegnete ihr einmal auf dem Wege, als ich einen neuen Rock kaufen wollte.
»Du wirst doch für solch einen Unsinn kein Geld ausgeben! Komm, ich habe zwei Röcke, einen davon sollst du haben. Wir gehen lieber zusammen für das Geld ins Konzert.«
Wenn sie ein Speisepaket bekam, dann holte sie die ganze Pension zusammen, und es wurde alles sofort mit Stumpf und Stiel aufgegessen. Keiner freute sich so selbstlos über den Erfolg einer Kollegin wie sie, keine war so wahrhaftig in der Kritik, so erbarmungslos und so liebevoll.
Gerda Reinders, eine Holländerin, gehörte auch zu unserem nächsten Freundeskreise. Sie war ein ehrlicher, fleißiger und zuverlässiger Mensch mit der ganzen Nüchternheit ihrer Nation. Ihre Stimme war schön und klar, sie arbeitete mit eisernem Fleiß und sah nicht rechts und nicht links.
»Sie steht mit den Füßen im Schnee,« sagte Stockhausen von ihr, »wenn sie singt. Aber sie kann nichts dafür, das ist ihre Nation.«
Damals war eben die »Feldeinsamkeit« von Brahms im Druck erschienen und erfüllte unsere Herzen mit heiliger Begeisterung. Es war etwas Besonderes, wenn Stockhausen dieses Lied in seine Hände nahm; wir waren voller Ehrfurcht, als er es Gerda Reinders zum Studieren gab. Wir hatten unsere Stunden zusammen, und ich freute mich darauf, wie Stockhausen das Lied mit ihr durchnehmen würde. Er saß am Klavier und schlug die Noten auf.
»Haben Sie beim Studium dieses Liedes geweint?« fragte er sie.
»Geweint?« Ich höre noch das Staunen in ihrer Stimme. »Geweint? Warum sollte ich wohl dabei weinen?«
»Ich habe genug,« sagte er, »Sie singen dieses Lied nicht. Bei mir wenigstens nicht.«
Fassungslos vor Staunen sah sie sich mit ihren klaren, blauen Augen um. »Hast du verstanden, was er meinte?« fragte sie mich leise.
»Vollständig,« war meine Antwort. Sie schüttelte den Kopf.
Lucie Schemell, du Liebe, Treue, wie schwer hast du in deiner Studienzeit unter dem Professor gelitten! Sie war blond und zart, und errötete bei jeder Gelegenheit, was ihr den Spitznamen »Schämchen« eintrug. Sie wurde viel von uns allen geneckt, es wurden Gedichte auf sie gemacht, es wurde ihr beständig Verliebtheit in die Unterlehrer und in den Klavierlehrer nachgesagt, wogegen sie sich mit heißem Erröten wehrte. Es half ihr nichts! Keine hielt ihr Zimmer so ordentlich und zierlich wie sie; es war ein böser Sport, dieses in ihrer Abwesenheit immer in Unordnung zu bringen. Bekam sie Eßpakete von zu Hause, so wollte sie sie nur mit ihren Auserwählten teilen; sie sagte, sie hätte keinen Sinn für die Allgemeinheit. Alles zog dann in Scharen zu ihr und forderte schamlos Teilung ihres »Besitzes«. Sie war sehr fleißig, sehr musikalisch, war aber verschüchtert durch Stockhausens Art, wurde so nervös, daß sie in der Stunde nichts leisten konnte und unter Stockhausen sehr litt. Keine mußte so viel getröstet werden wie sie. Mit ihrer ganzen, feinen, künstlerischen Seele empfand sie seine Größe, begriff, was er als Künstler wollte, doch seine Pädagogik wurde für sie verhängnisvoll. Ihre Stimme zerbrach, wurde schrill und machte unseren großen Meister immer reizbarer. Da schlugen wir ihr eine Trennung vor.
»Er ist der größte Künstler, den ich kenne,« sagte sie, »wie soll ich bei einem anderen Lehrer noch Befriedigung finden nach dieser Größe?« Ihre Studienzeit war ein Leidensweg.
Und nun kommt meine Intima, Bertha Tritschler, das »Mäusle«, an das ich mich in der ersten Chorstunde so fest anschloß, und die mir ein treuer Kamerad durch meine Studienzeit blieb. Sie war arm wie ich, und wenn wir uns einmal geröstete Kastanien kauften oder eine Birne, litten wir Gewissensqualen. Sie war keine Künstlernatur, hatte ihren Beruf ergriffen, um als Lehrerin ihr Brot zu verdienen. Ihre Stimme war süß und hell, sie war warmherzig und naiv, fleißig und gewissenhaft, aber sie war mehr Frau als Künstlerin und ist eine von den wenigen, die aus unserem Kreise geheiratet haben. Bei großer Begeisterungsfähigkeit hatte sie doch als richtige Schwäbin ein großes Stück Nüchternheit und Kritik. Sie verlor sich nie in den Wolken, auch wenn sie begeistert war, was mir immer passierte. Wir kamen oft aneinander, und sie behauptete, ich wäre »wüscht«.
Das war mein intimster Kreis, daran schlossen sich noch Außenstehende. Es war ein freudiges, tüchtiges Arbeiten. Außer Gesang und Chor hatten wir noch Solfeggiostunde und dialektfreies Lesen bei Frau Professor Stockhausen. Es gab viel Fröhlichkeit und Lachen, namentlich in den Solfeggiostunden, und eine große und warme Begeisterung erfüllte uns. In meinem ersten Studienwinter kam Frau Joachim zu Konzerten nach Frankfurt. Sie nahm sich meiner auch dort liebevoll und mütterlich an, und durch sie kam ich in drei der ersten Häuser der Frankfurter Gesellschaft, Dr. Lucius, Meisters und Frau Professor Becker. In diesen Häusern wurde ich aufs herzlichste aufgenommen, nicht nur Frau Joachims wegen, sondern noch viel mehr wegen meiner Landsmannschaft mit Raimund von Zur-Mühlen und Hans Schmidt, die dort während ihres Aufenthalts in Frankfurt viel verkehrt hatten. Es waren im schönsten und wahrsten Sinne vornehme Häuser, wo alles, was irgendwelche künstlerische und geistige Bedeutung in Frankfurt hatte, aus und einging. Ich unterrichtete später die beiden Töchter Lucius' und Meisters im Gesang und kam dadurch in ganz nahe freundschaftliche Beziehungen zu ihnen.
Im Hause Meister war es auch, wo ich bei einer Abendgesellschaft Raimund von Zur-Mühlen zum erstenmal persönlich begegnete. Er war der verwöhnte Liebling dieser Kreise, voll Grazie und knabenhaftem Übermut, mit bezaubernder Ungezogenheit, die immer anmutig und fein blieb, war er sofort beim Eintritt in die Gesellschaftsräume der Mittelpunkt des ganzen Kreises. Nun hatte ich das Glück, nach dem ich mich so sehr gesehnt hatte, mit ihm sprechen zu dürfen. Den ganzen Zauber seiner eigenartigen Persönlichkeit empfand ich sofort, als er mich beim Eintritt an die Hand nahm, ins Nebenzimmer führte und mir sagte:
»Hören Sie, Monika Hunnius, hier in dieser fremden Welt gehören wir beide zusammen, denn wir sind Landsleute. Hoffentlich haben Sie nie solch ein Heimweh, wie ich es gehabt habe. Und haben Sie Heimweh, dann kommen Sie zu mir, dann weinen wir gemeinsam, denn ich muß Ihnen hier wie ein Bruder sein.« Seine warme, herzliche Art berührte mich heimatlich und machte mich überglücklich; leider traf ich ihn in meiner Frankfurter Studienzeit so gut wie garnicht, da er fast immer auf Konzertreisen war.
Die ganze Gesellschaft stand unter seinem Bann.
Er war so sprudelnd, so eigenartig witzig, alles, was er sprach, hatte eine fast leidenschaftlich persönliche Note. Er spielte mit den Formen, die er absolut beherrschte, und bewegte sich frei und natürlich wie ein verwöhntes Kind, das weiß, daß ihm alles, was es tut, gut steht. Fast sein erstes Wort beim Hereinkommen war: »Wann essen wir heute abend?« »Um neun,« sagte die Hausfrau. »Das ist viel zu spät,« sagte er, »ich bin zu hungrig, so lange kann ich nicht warten. Kann das Essen nicht früher da sein?«
Und die Hausfrau jagte die Dienerschaft durcheinander, und das Abendessen war um halb neun fertig. Er war mein Tischnachbar, plauderte von der Heimat und brachte alles zum Lachen. Dazwischen wurde er ganz ernst und sagte seine, künstlerische Dinge, über deren Geist und Zartheit ich staunte. Zum Abschied sagte er mir die unvergeßlichen Worte:
»Möchten Sie es nie bedauern, daß Sie unter die Künstler gegangen sind. Sie sind in schlechte Gesellschaft gekommen.«
Ein unvergeßliches Erlebnis fiel in das erste Jahr meiner Frankfurter Studienzeit, meine erste und einzige Begegnung mit Brahms. Eines Tages verkündigte uns Stockhausen, Clara Schumann und Brahms würden seine Gäste sein, wir sollten ihnen Schumannsche und Brahmssche Chöre vorsingen. Eine fieberhafte Aufregung ergriff uns alle; wir sollten Brahms von Angesicht zu Angesicht sehen! Unser ganzer Chor war zum Abend zu Stockhausen zu einer Bowle eingeladen, nachher sollten wir singen. Wir schmückten uns mit den schönsten Festkleidern, die wir besaßen, den ganzen Tag hatte Feiertagsstimmung geherrscht, keiner wollte arbeiten, keiner wollte üben. Man rottete sich zusammen, ging spazieren und sprach nur von dem großen Ereignis. Zur festgesetzten Stunde machten wir uns auf den Weg. Es war ein wunderbarer Frühlingsabend, als wir durch die Anlagen wandernd, uns Stockhausens Wohnung näherten. Da plötzlich sahen wir in den Anlagen in der Nähe der Stockhausenschen Wohnung eine große Versammlung von Mitschülern, die aufgeregt durcheinandersprachen. Posten waren aufgestellt, die jeden von uns auf dem Wege abfangen und zur allgemeinen Beratung der Lage bringen sollten. Es war ein Häuflein Revolutionäre, unter die wir traten. Was war geschehen? Frau Professor Stockhausen, die nicht sehr beliebt war, hatte die ersten von uns mit dem Bescheid empfangen lassen, sie wären zu früh gekommen und sollten draußen warten; damit war ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen worden. Tief in ihrer jungen Künstler- und Menschenwürde beleidigt, hatten sie beschlossen, sich zu rächen und einen Streik zu proklamieren. Sie hatten sich am Wege aufgestellt, um jeden von uns, der mit beflügelten Schritten zu Brahms eilte, davon abzuhalten. Wir hielten eisern zusammen, die Unbill, die dem einzelnen widerfuhr, traf die ganze Gesellschaft. Bald war der ganze Chor draußen versammelt, Männlein und Fräulein. Die festgesetzte Stunde für unseren Gesang war da, und unser Feldherr wartete vergebens auf sein Heer. »Er soll selbst kommen und uns holen,« das war die Losung, die ausgegeben war. Meine Intima empfand ein weibliches Mitgefühl in ihrem Herzen.
»Findest du's nicht eigentlich schrecklich, daß wir den Professor mit seinem berühmten Gast so im Stich lassen?« fragte sie mich leise. Ich hatte es die ganze Zeit selbst gedacht, aber – Kameradschaft über alles!
»Wir müssen zusammenhalten,« sagte ich energisch, »dabei ist gar nichts zu machen.«
Ich weiß nicht, wie die Nachricht von unserer Verschwörung in Stockhausens Haus gekommen war. Ich glaube, durch einen jungen Unterlehrer, der an uns vorüberging, von der Verschwörung erfuhr und entzückt von unserem Unternehmen war, denn er stand auf Kriegsfuß mit Frau Professor und gönnte ihr die Schlappe. Nach einiger Zeit erschien plötzlich Stockhausen mitten unter uns mit flatterndem Mantel, flatterndem Schlips und bebend vor Zorn. Erst schrie er uns an, was wir uns wohl einbildeten und was wir uns dächten, ihn warten zu lassen! Aber die stumme, geschlossene Haltung des ganzen Chors ließ ihn bald andere Saiten aufziehen. Eine von uns trat vor und machte die Sprecherin; sie erzählte in kurzen Worten die Unbill, die uns widerfahren war. Man fühlte, wie peinlich das Ganze unserem Professor war. Er machte sofort seine Entschuldigung, meinte, es sei nur ein Mißverständnis gewesen, Brahms und die Bowle warteten beide, wir sollten nur kommen. Er ging voran, und wir folgten ihm alle wie eine Lämmerherde ihrem Hirten, nachdem heimlich die Losung ausgegeben worden war, keinen Tropfen von der Bowle zu nehmen, denn etwas mußte doch für unseren beleidigten Stolz geschehen.
Angekommen, wiesen wir streng jede Erfrischung ab und stellten uns im Musikzimmer auf. Die beiden Flügeltüren zum Gesellschaftszimmer nebenan standen weit auf. Eine vornehme, glänzende Gesellschaft war dort versammelt, wir aber sahen nur Brahms und Clara Schumann. Da ging Stockhausen auf Brahms zu, faßte ihn am Arm und zog ihn in die geöffnete Tür. Nun standen sie beide vor uns, zwei Herrscher auf ihrem Gebiet, der größte Komponist seiner Zeit und sein größter Interpret. Zwei prachtvolle Charakterköpfe: Brahms mit dem gewaltigen Kopf, mächtigem grauen Haar und grauem Bart, mit den Leben und Güte ausstrahlenden blauen Augen, machtvoll, ruhig und majestätisch. Neben ihm Stockhausen, auch mit grauem Haar und Bart, mit dunklen, wie in Bronze gegossenen Zügen, etwas unsteten, schwarzen Augen, fremdländisch, beweglich und ruhelos. Stockhausen hob die Hand und wies auf Brahms.
»Das ist also Brahms,« rief er, »seht ihn euch genau an, ehe ihr ihm vorsingt.«
Brahms fuhr sich mit einer leichten Bewegung der Hand durch das graue Haar.
»So, nun müssen sie singen, die armen Kinderchen, sie tun mir leid,« sagte er.
Ein fröhliches Lachen antwortete ihm. Brahms machte sich los von Stockhausen und ging wieder auf seinen Platz neben Clara Schumann, die lächelnd die ganze Szene mitangesehen hatte.
Schon stand Stockhausen vor uns in der Tür, den Taktstock legte er aus der Hand, er hob beide Hände, sein Gesicht war emporgerichtet, schön und edel. Mit einem sprühenden Herrscherblick überflog er uns und nahm uns alle sofort in seinen Bann.
»Jetzt gilt es,« sagte er leise und leidenschaftlich. Seine Hände senkten und hoben sich, und nun erklang »Die Waldesnacht« von Brahms.
»Waldesnacht, du wunderkühle.
Die ich tausendmale grüß!
Nach dem lauten Weltgewühle
O, wie ist dein Rauschen süß.«
Stockhausen schlug nicht den Takt, das brauchte er nicht bei seinem Chor, wir hielten auch so zusammen wie eine Stimme. Er gab nur mit Augen und Händen den Ausdruck an und trug uns fort auf die Höhe. Sein Chor war sein Instrument, mit dem er schalten und walten konnte, wie er wollte. Als wir geendet hatten, sagte Brahms:
»So schön habe ich's mir ja gar nicht gedacht.«
Clara Schumanns Gesicht war transparent, wie von einem inneren Licht durchleuchtet. Ein Chor nach dem anderen folgte, Frauenchöre wechselten mit gemischten. Wir waren so fortgerissen, daß wir unsere Noten aus der Hand legten und alles auswendig sangen. Stockhausen lächelte, er war wie ein Entrückter. Zum Schluß sangen wir ein altes Madrigal: »Feuer es brennt mein Herz« in einem Tempo, wie wir es noch nie gesungen. Als es beendet war, brach ein Jubel los. Brahms war aufgestanden und hatte Stockhausen umarmt. Er ging mitten in unseren Chor hinein und streckte seine Hände aus, die wir ergriffen und schüttelten. Jeder wollte seine Hand haben, jeder wollte seinen Ärmel streifen.
»Wie soll ich euch danken, Kinder,« rief er.
»Spielen Sie uns was vor,« war unsere jauchzende Antwort. Und da saß er schon am Flügel.
»Was soll ich spielen?«
»Alles, alles,« riefen wir.
»Das wäre ein bißchen viel,« meinte er. Darauf erhob er die Hand und tiefe Stille trat ein. Er setzte sich am Flügel zurecht, eine seltsame Erscheinung: den mächtigen Kopf und den mächtigen Oberkörper aufgerichtet, die Beine weit von sich gestreckt, die Zigarre im Munde, so saß er da. Plötzlich sagte er:
»Ich will nicht allein am Klavier sitzen, es soll jemand sich zu mir setzen.«
Wem sollte diese Ehre zuteil werden? Da rief er eine hübsche Pianistin, eine Schülerin von Clara Schumann herbei, die sich neben ihn setzte. Wir fanden es recht albern, daß es eine Pianistin war, der Ehrenplatz hätte unserer Meinung nach einer Sängerin gebührt. Dann fing er an zu spielen, wobei er vernehmlich mitknurrte. Es war ein Satz aus einem Quartett, dann ein Satz aus einer Symphonie, eine Klavierkomposition spielte er nicht. Und Brahms Spiel? Ich konnte nichts darüber sagen, denn ich wußte nicht, ob es schön war. Ich dachte, so müßte ein Löwe spielen, wenn er Hände hätte. Es war etwas Gewaltiges, Großartiges, Eigenartiges in seinem Spiel. Mächtig brauste es einher; man fühlte es, ein bedeutender Geist sprach zu einem, man fühlte sein Wehen hoch über sich hinwegziehen, man beugte sich in Demut, aber man verstand ihn nicht.
Wir umstanden ihn und den Flügel dicht gedrängt, jauchzten und jubelten, als er geendet hatte.
Durch die Frühlingsnacht gingen wir heim mit dem Gefühl, etwas Großes, Herrliches erlebt zu haben, das nun wie ein Stern über unserem Leben stehen würde.
Ich habe heute ein zu großes Erlebnis gehabt, als daß ich zu Bett gehen könnte, ohne darüber berichtet zu haben. Ich habe Clara Schumann gesehen und mit ihr gesprochen! Ich muß dies wunderbare Erlebnis ganz von Anfang an erzählen. Frau Pfarrer Schlosser bat mich heute, zu Clara Schumann zu gehen, um mich nach einer Schülerin von ihr zu erkundigen, die die Gräfin Tiesenhausen als Lehrerin für ihr Institut engagieren wollte. Frau Pfarrer Schlosser und Clara Schumann waren früher sehr befreundet gewesen. Nun waren sie sich fremd geworden. Das Leben hatte sie getrennt, und sie fanden den Weg nicht mehr zueinander. »Nennen Sie nur nicht meinen Namen; das könnte Ihnen Unannehmlichkeiten bereiten,« sagte Frau Pfarrer.
Mit welchen Gefühlen ich den Tag über umherging, das läßt sich nicht schildern. Clara Schumann, Robert Schumanns Frau, sollte ich sehen, sollte ich sprechen; sie, die ihn geliebt und verstanden, wie sonst kein Mensch in der Welt! Halb war ich selig, halb graute mir davor. Besonders da ich wußte, wie unfreundlich sie oft gegen Menschen sein konnte. Ich zog die schönsten Handschuhe an, nähte an meinem Mantel alle losen Taschen und Knöpfe fest, legte eine neue Krause um den Hals und lieh mir einen schönen, seidenen Schirm; so wandelte ich denn hin. Immer wilder schlug mein Herz, je näher ich kam. Ich prägte mir eine sehr gebildete Rede ein, die ich ihr sagen wollte, und mit der ich mich wirklich schön eingeführt hätte. Nun stand ich vor dem Hause: Myliusstraße 32. Erst ging ich einigemal vorüber, um mir Kräfte zu sammeln. Dann vorwärts und hinein! Vor der Tür fiel mir plötzlich ein: »Ach, wenn sie irgendwie erfährt, daß ich bei Frau Pfarrer Schlosser wohne und mich fragt, warum Frau Pfarrer sie nicht mehr besucht, was sage ich dann?« Da klingelte ich schon mit einem schnellen Entschluß. Ich schickte meine Karte hinein und wurde gleich darauf in Clara Schumanns Zimmer geführt. Beim Eintreten dachte ich: »Ach, wenn ich mich nur nicht verspreche und Frau Pfarrer Schlosser anstatt Gräfin Tiesenhausen sage.« Dann dachte ich nichts mehr, – denn ich sah in einer Ecke einen blumengeschmückten Schreibtisch stehen, davor saß, mit dem Rücken zu mir, eine schwarze Gestalt. Sie war's! Mein Herz stand einen Augenblick still und schlug dann wild und laut. »Du mußt dich zusammennehmen,« sagte ich mir, und mit einem gewaltsamen Entschluß raffte ich mich auf. Da erhob sie sich, und vor mir stand Clara Schumann! War es nun wirklich in ihrer Persönlichkeit begründet, oder lag es an dem Bewußtsein, wer vor mir stand, kurz, ich verlor momentan die Besinnung, so überwältigt war ich. Ob ich sie gegrüßt habe, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ein paar schöne, ernste Augen in dunkler Umrahmung mich anblickten, und daß im Gesicht ein Ausdruck von herbem Leid wie eingegraben stand.
Dann drehten das Zimmer, Clara Schumann und ich sich in die Runde. Ich kam erst zur Besinnung, als ich auf einem Stuhl ihr gegenüber saß, krampfhaft den Griff meines Regenschirms umklammernd. Ich hörte meine Stimme mit unnatürlich tiefem, zitterndem Klang sagen: »Frau Pfarrer Schlosser aus Karlsbad schickt mich zu Ihnen.« Dann nahm ich mich zusammen und brachte einigermaßen geordnet mein Anliegen vor; hatte aber glücklich Frau Pfarrer Schlosser genannt. Warum ich sie nach Karlsbad versetzt hatte, weiß ich nicht.
Als ich fertig war, lächelte Frau Schumann. Es war wie ein trauriger, blasser Herbstsonnenschein, dies Lächeln, das einen Moment ihr Gesicht erhellte, »so leuchtet längst vergangener Tage Licht«.
Sie war sehr freundlich und gab mir eingehende Auskunft über alles. Ich stand auf und wollte mich verabschieden, aber sie bat mich, noch ein wenig zu bleiben – sie hätte Zeit und ich störe sie gar nicht. Ich setzte mich ergeben hin; ich wußte, was kommen würde. Sie fragte mich, bei wem ich hier wohne, und als ich sagte: »Bei Frau Pfarrer Schlosser,« blickte sie mich an und sagte: »Früher hat sie mich oft besucht, aber merkwürdig, seit ihrer Verheiratung ist es damit wie abgeschnitten.«
»Die Ansprüche, die ihr neues Leben und ihr Beruf an sie stellten,« sagte ich, »waren so vielfache, daß sie zu nichts anderem kommen konnte.«
»Gut, gut,« fiel mir Frau Schumann ins Wort, »aber schreiben konnte sie mir doch. Ich hätte ja nichts weiter verlangt, als eine Zeile: ich kann jetzt nicht kommen, warten Sie – und ich hätte gewartet.«
Ich verstummte; hatte ich ja dasselbe oft gedacht. Aber ich mußte noch einmal für sie reden.
»Sie kennen sie ja,« sagte ich, »sie ist eine von jenen Persönlichkeiten, die immer das, was sie ist, ganz ist.«
»Das verstehe ich ja. Aber wenn man einem so vielfach zeigt, daß man ihn lieb hat, und sich dann plötzlich gar nicht um ihn kümmert, fragt man sich unwillkürlich: womit habe ich das verdient? Ich glaubte, sie hätte mich geliebt.«
Sie hatte bei diesen mit Bitterkeit gesprochenen Worten einen so herben, ja harten Zug um den Mund, daß mir das Herz wehtat.
»Sie liebt Sie auch wirklich noch,« rief ich; »sie hat mir's selbst gesagt, wie schwer es ihr wurde, den Verkehr mit Ihnen aufzugeben. Aber sie sagte mir einmal: Zuerst konnte ich nicht, jetzt darf ich nicht kommen.«
Clara Schumann hatte ihr Gesicht zur Seite gewandt, ich beobachtete ihr Profil. Ich sah den herben Zug um den Mund sich vertiefen. Sie atmete hastig, als kämpfe sie mit sich, ein versöhnendes Wort zu sagen. Aber sie schwieg.
Eine kurze Pause entstand; dann erhob ich mich und verabschiedete mich. Sie begleitete mich bis zur Tür. Wieder ein Schatten von einem Lächeln – ein freundlicher Gruß – und ich stand hochatmend draußen.
Wenn ich sie im Leben auch nie wiedersehen, nie wieder mit ihr sprechen sollte: diese Begegnung mit Clara Schumann werde ich nie vergessen!
Sie und Frau Schlosser fanden sich wieder zueinander; wie konnte es auch anders sein? Aber meine Hand war es nicht, welche die zerrissenen Fäden wieder aneinander knüpfen durfte.
Es herrschte im Stockhausenschen Hause eine großartige Gastfreundschaft. Manchmal wurde die ganze Schule eingeladen, wobei es dann sehr zwanglos und fröhlich herging. Wir speisten in verschiedenen Zimmern zu Abend, tanzten und machten Musik, denn ohne die ging es bei Stockhausen nie ab; er lebte und atmete ganz in seiner Kunst. An solchen Abenden verlor man alle Scheu; nicht nur vor dem Herrn Professor, sondern auch sogar vor seiner Frau. Sie war klug und charaktervoll und hielt Haus und Besitz Stockhausens in fester Hand. Er war ein richtiger Künstler und wäre ohne sie wohl der fahrende Sänger geworden. Er wußte nichts von praktischen Dingen, lebte nur seiner Kunst und sonst in den Tag hinein, sorglos wie ein Kind. Keinen Sonntag Mittag war die Familie allein; immer waren Gäste da. Öfters wurden auch Schüler eingeladen. Zu diesen Auserwählten habe ich auch manchmal in meinem ersten Studienjahr gehört.
Unvergeßlich ist mir mein erster Mittagsbesuch dort. Nach einer Sonntagschorprobe wurde ich mit einigen andern Schülern eingeladen, zu Mittag dazubleiben. Diese Einladung bereitete mir mehr Schrecken als Freude. Am liebsten hätte ich abgesagt, doch wagte ich es nicht. Ein wenig atemlos vor Herzklopfen trat ich ins Wohnzimmer, wo die Familie beisammensaß. Aber meine Angst schwand bald, denn Stockhausens waren bezaubernde Wirte. Der Professor führte mich zu Tisch, und ich konnte das Lachen kaum verbeißen, als er so höflich und ritterlich mit mir war. Bei Tisch legte er mir die Speisen vor, neckte mich, und es wurde harmlos und amüsant geplaudert. Unter anderem kam die Rede auf Händel, und Stockhausen erzählte mit großer Freude, wie Händel einmal eine widerspenstige Sängerin so lange aus dem Fenster hielt, bis sie alles tat, was er wollte.
»Schade,« sagte er, »daß man das jetzt nicht mehr tun kann.«
»Ja,« meinte ich lachend, »das dürfte man jetzt wohl nicht mehr wagen.«
»Nicht mehr wagen?« fragte Stockhausen ganz verwundert, »warum denn nicht? So habe ich's ja gar nicht gemeint. Ich denke nur, daß man jetzt nicht mehr die Körperkraft zu so etwas hat.«
Vielleicht würde er uns ganz ruhig einmal in den Stunden erwürgen, dachte ich, und dann erstaunt fragen: warum sollte ich das nicht tun, da ich doch die Körperkraft dazu habe?
Nach dem Essen wurde eine Partie in den Wald gemacht. Stockhausen, in flatterndem Mantel und großem Räuberhut, war der fröhlichste von allen. Man verlor jegliche Scheu, lachte und scherzte mit ihm. Er erzählte interessant von seinen Konzertreisen nach Rußland, bedauerte, daß er nie in die Ostseeprovinzen gekommen war.
»Dort wäre mein Publikum gewesen,« sagte er zu meinem größten Stolz.
Er war so verwachsen mit seiner Musik, daß er kaum einen Augenblick ohne sie sein konnte. Er gab uns beständig musikalische Aufgaben; dabei waren seine Augen offen für alles Schöne um ihn, auf alles machte er uns aufmerksam. Es war solch eine sorglose Freude in ihm.
Als wir aus dem Walde traten, lag eine weite Ebene vor uns. In der Ferne sah man in bläulichem Duft den Taunus. Er sammelte uns um sich und verteilte Töne unter uns; dann hob er die Hand, und ein wunderbarer Akkord klang durch die sonnenbeschienene Landschaft. Harmonisch und fröhlich klang dieser schöne Tag aus.
»Wir gehen bald wieder in den Wald,« sagte Stockhausen verheißungsvoll beim Abschied.
Als ich heimging, dachte ich darüber nach, wie das wohl möglich wäre, daß derselbe Mensch so fröhlich und gütig sein konnte, wie ein Kind, und in den Stunden oft so hart und grausam. Die Schüler der Stockhausenschen Gesangschule bekamen oft Freikarten für Konzerte und Oper. Ich hörte zum erstenmal in meinem Leben die großen Wagner-Opern. Stockhausen war ein ausgesprochener Gegner Wagners, worin seine Schüler ihm zum Teil getreulich nachfolgten. Auf mich wirkte Wagnersche Musik damals geradezu quälend; sie drang auf mich ein mit einer Gewaltsamkeit, die mich ängstete, so daß ich oft taumelnd und überanstrengt aus der Oper heimkam. Es gab aber unter den Schülern welche, die sich selbständig in Wagnersche Musik vertieften, sich für ihn begeisterten, seine Größe verehrten und Stockhausen einseitig nannten. Doch wurden diese Urteile nur flüsternd gegeneinander ausgesprochen; denn wer hätte es gewagt, dem Meister, dem Selbstherrscher, entgegenzutreten? Aber in der Schule, in den Pausen zwischen den Stunden und auf dem Heimwege wurde viel gestritten und diskutiert. Ich hielt mich an das Wort aus dem »Faust«:
»Am besten ist's, wenn ihr nur einen hört,
Und auf des Meisters Worte schwört.«
Ich war Klassikerin durch und durch, einseitig, ja eng, und sah weder rechts noch links, hielt mich auch, wie ich erzogen war, mit gläubiger Pietät an die Worte meines Lehrers. Künstler waren eben Propheten; die standen höher und wußten alles besser, als gewöhnliche Sterbliche.
Doch auch für mich kam die Zeit, daß mir die Augen geöffnet wurden darüber, daß große Künstler auch nur Menschen waren. Meine Kolleginnen, die über mein weltfremdes Wesen oft lächelten und daran Anstoß nahmen, sagten mir: »Du bist ja wie ein Nönnchen, das hinter Klostermauern aufgewachsen ist. Du machst dich lächerlich. Du mußt die Augen auftun lernen und das Leben und die Menschen sehen, wie sie sind. Man kann ein großer Künstler sein und ein ganz kleiner Mensch. Das eine hat mit dem anderen gar nichts zu tun.« Gegen diese Erkenntnis wehrte ich mich zuerst wie eine Verzweifelte; aber es half alles nichts: ich wurde sehend, und mit dem ahnungslosen Leben »hinter Klostermauern« war's vorüber für immer.
Ein Erlebnis, das meine Intima hatte, öffnete mir die Augen. Sie war arm, und ihre Eltern konnten das Geld für die höhere Klasse nicht aufbringen. Es war ihr fest versprochen, daß sie eine Freistelle in der Gesangschule bekommen sollte. Da stürzte sie eines Tages zu mir, tränenüberströmt, bebend vor Verzweiflung. Die Freistelle war vergeben! An eine ganz unfähige Schülerin, die nicht wählerisch gewesen war in den Mitteln, die sie anwandte, um sich diesen Platz zu erobern. Vergebens versuchten wir mit Bitten etwas zu erreichen: Stockhausen hatte entschieden, und man mußte sich schweigend ergeben. »Wäre ich hübsch,« sagte meine Freundin erbittert, »dann wäre die Sache anders entschieden worden.« – Von da an lebte ich mit offenen Augen und sah und hörte manches, was mir bisher fremd gewesen war.
Ganz besonders empörte es mich, wenn ich von Ungerechtigkeiten erfuhr, die sich ganz große Künstler ihren Schülern gegenüber erlaubten. Ich sah oft, wie ein Augenblick schlechter Laune Existenzen zerstörte, erlebte es, daß Unwürdige an Stellen kamen, wo sie nicht hingehörten, nur weil sie es besser verstanden, die Schwächen der Lehrer zu benutzen, als die Würdigen.
Ich litt im Anfang sehr unter diesen Erkenntnissen und war in jugendlicher Übertreibung oft ungerecht in meinem Urteil. Erst allmählich lernte ich mich freuen an hohen künstlerischen Leistungen, losgelöst vom Menschentum der Künstler, die auch nur irrende Menschen waren.
Es gibt ein seltsames Wort von Riehl: »Je größer der Künstler, desto kleiner der Christ.« Dieses Wort hat mir im Leben viel zu denken gegeben. Vielleicht gilt es mehr für den reproduzierenden als für den produzierenden Künstler. Sollte nicht die Gefahr für den ersteren darin liegen, daß er sich mit seinen Phantasien in eine Welt begibt und in Gefühlen lebt, die weiter keine Taten von ihm fordern? Liegt in dieser Art des Sichauslebens in einer unwirklichen Welt vielleicht eine Gefahr der Verkümmerung des Menschentums?
Meine Arbeit mit Stockhausen blieb schön und reich. Er war gütig gegen mich und interessierte sich für mein Talent. Ich erlebte ihn nie ungeduldig oder ungerecht, wie ich es in anderen Stunden sah. »Er wird dich schon fassen,« sagten meine Freundinnen, »deine Stunde wird auch schlagen.« Und meine Stunde schlug.
Stockhausen empfand einen gewissen Zwang in meiner Stimme. »Es ist etwas Unnatürliches in Ihrem Singen,« sagte er, »als sängen Sie in einer falschen Lage.« Er hatte die Gewohnheit, in besonderen Fällen seine Schülerinnen zum Halsarzt zu senden, um sich von diesem genau über den Bau des Kehlkopfes informieren zu lassen. Er schickte mich jetzt zu Dr. Schmidt, der durch seine Behandlung Kaiser Friedrichs berühmt geworden war. Dieser untersuchte meine Kehle und sagte sofort: »Sie haben eine sehr tiefe Stimme; nicht wahr?«
»Nein,« war meine erstaunte Antwort, »ich habe einen hohen Sopran.«
»Dem widerspricht der Bau Ihres Kehlkopfes,« sagte er entschieden, »Sie benützen Ihre Stimmbänder nicht in ihrer ganzen Spannungsmöglichkeit. Entwickeln Sie Ihre Tiefe und Ihre Stimme wird eine vollständig andere werden. Sie haben ja bisher gar keine Ahnung gehabt von den Kräften, die in Ihnen liegen.«
Stockhaufen triumphierte. Das war ein Fall, der ihn interessierte. Er nahm sofort meine tiefen Töne vor, die, wie bei einem Sopran, hell und leicht waren. Er trieb und jagte mich, bis plötzlich ein Ton aus der Tiefe meiner Brust kam, wie ich ihn nie zuvor gehabt. Er war gewaltig und stark – dunkel und schwer –, aber roh und unschön. Vor Entsetzen verschloß ich mit beiden Händen meinen Mund. Stockhausen aber jauchzte. »Es liegen gewaltige Kräfte in Ihnen verborgen,« sagte er immer wieder, »wir werden Großes erleben.« Der Ton versagte, stellte sich aber wieder ein, und mit einem Male hatte ich fünf Töne in der Tiefe zubekommen. Aber sie paßten nicht zu den anderen Tönen, und mit sehr geteilten Gefühlen ging ich diesesmal, von Stockhausens Segenswünschen begleitet, nach Hause.
Stockhausen erzählte mir in dieser Stunde, daß er dieselbe Erfahrung mit Hermine Spies, seiner berühmtesten Schülerin gemacht habe. Als hoher Koloraturensopran war sie zu ihm gekommen, aber durch die Entwicklung der Bruststimme, die er entdeckte, hatte ihre Stimmlage und Stimmart sich völlig verändert. Als Stockhausen sie entließ, gehörte sie zu den ersten Altstimmen Deutschlands. Das tröstete mich.
Nun begann eine bitterschwere Zeit für mich, die nur durch Stockhausens glühendes Interesse erhellt wurde. Es zeigte sich aber bald auch bei mir, daß er kein Pädagoge, sondern ein Forscher und Künstler war. Es war und blieb eine Trennung zwischen den tiefen Tönen und meiner sonstigen Stimme. Sobald ich zu meinen neugewonnenen Tönen kam, fiel die Stimme wie in einen Abgrund. Mit äußerster Vorsicht und Geduld und feinster Pädagogik hätte dies überbrückt werden müssen. Das aber war nicht Stockhausens Art. Auch das Wachsen mußte bei ihm schnell vor sich gehen. Ich war wie in eine neue Welt geraten, in der ich mich nicht zurechtfinden konnte. Im Chor wurde ich aus dem höchsten Sopran in den tiefsten Alt versetzt. Ich bekam Lieder in den tiefsten Altlagen. Es war mir alles so ungewohnt, unbehaglich und widerwärtig, daß die Freudigkeit beim Studium mich zu verlassen anfing. Eins aber konnte ich festhalten, und das tröstete mich: Ich fühlte, daß die Lage, in der ich nun sang, gesünder für meine Stimme war, als die frühere. Ich konnte auf diese Art viel länger singen wie bisher, ohne zu ermüden. Eine Aussprache mit Stockhausen, zu der ich mich endlich entschloß, beruhigte mich auch ein wenig; doch wurde eins mir dabei völlig klar: daß mit einem Studienjahr nichts zu erreichen wäre.
Meine Kolleginnen standen mir zur Seite, tröstend, helfend und mit mir arbeitend. Sie halfen mir über die schwerste Zeit hinweg in treuster Kameradschaft. Ohne sie wäre ich ganz elend geworden; denn Stockhausens Geduld mit mir hatte plötzlich ein Ende, »er hatte mich gefaßt,« wie es unter uns hieß. Noch eins hielt mich aufrecht; das waren die großen, künstlerischen Erkenntnisse, die mir durch Stockhausen wurden, und die mein Leben trotz allem schön und reich machten. Mein Singen war früher aus dem Gefühl heraus vollkommen unbewußt gewesen. Ich stürzte mich in ein Lied und gab es so wahr und stark, wie ich es empfunden, wieder, jedes Wort so ausdrucksvoll wie möglich aussprechend. Stockhausen lehrte mich den künstlerischen Drüberstand finden. Den »Wortausdruck« nannte er dilettantisch. »Der Sänger muß einmal geweint und gelacht haben beim Studieren des Liedes,« sagte er, »aber wenn er vor dem Publikum steht, muß sein Kopf kühl geworden sein, und er muß das Lachen und Weinen nun so schildern, daß jeder es ihm glaubt.« Er verlangte, daß ein Kunstwerk, losgelöst vom Ausübenden, gleichsam in eine höhere Sphäre gerückt werde. »Sie müssen als Künstler die Leidenschaften gefühlt haben, von denen Sie sprechen. Die Empfindungen, von denen Sie singen, müssen einmal erlebt gewesen sein. Stehen Sie aber auf dem Podium, so müssen Sie immer über Ihrem Schaffen stehen; sonst können Sie nie ein Kunstwerk gestalten.«
Ich war voll Erstaunen. Das war für mich eine ganz neue Welt, und diese Anschauung wollte mir zuerst nicht einleuchten. »Sie denken noch wie ein Dilettant,« sagte Stockhausen.
Aber es kamen auch mir allmählich die künstlerischen Erkenntnisse in der Atmosphäre, in der ich atmen durfte. Stockhausen zog eine feine Linie zwischen Konzert- und Operngesang. »In der Oper müßt ihr das Publikum davon überzeugen, daß ihr das wirklich seid, was ihr vorstellt; denn da muß der schöne Schein als Wirklichkeit festgehalten werden; da verwirklicht ihr mit eurer ganzen Persönlichkeit das, was ihr singt. Im Konzertgesang müßt ihr mit eurer Person vollständig zurücktreten; da seid ihr nichts anderes als die Interpreten vom Dichter und Komponisten.«
Unerbittlich wachte er über jede Bewegung, die wir unwillkürlich beim Singen machten, wenn uns der Ausdruck hinriß. Er verbot sogar ein zu starkes Mienenspiel. »Das gehört auf die Bühne,« sagte er herrisch, »auf dem Konzertpodium dürfen nur Mund und Augen sprechen.«
Es kamen schwere Zeiten für mich; denn ich konnte mich lange nicht in meine neue Stimmlage finden. Ich mußte alles umdenken und umfühlen und war in meinem Singen nicht mehr zu Hause. Aber den Glauben an Stockhausen verlor ich keinen Augenblick. Beim Üben mußte ich eine unermeßliche Geduld aufbringen; oft war ich der Verzweiflung nahe.
Es gab nichts als technische Übungen und abermals technische Übungen, die gewiß interessant hätten gestaltet werden können, doch das lag Stockhausen nicht. Er war wechselnd in meinen Stunden: manchmal voller Güte und Geduld; dachte sich immer wieder neue Übungen aus, um den Riß in meinen Registern zu überbrücken; dann aber kam die Ungeduld über ihn und er kränkte und quälte mich maßlos.
Eines Tages empfing er mich mit folgenden Worten: »Sie sind Slavin und darum schlaff. Wären Sie eine Deutsche, so hätten Sie die Hindernisse in Ihrer Stimme längst überwunden. Die Slaven haben keine Kraft.«
»Ich bin eine Deutsche,« rief ich empört, »und nicht ein Tropfen slavisches Blut fließt in meinen Adern.«
»Sie sind doch Russin,« sagte er, steckte seine Hände in die Taschen und sah mich spöttisch an.
»Wie kommen Sie nur darauf?« rief ich außer mir. »Wissen Sie denn wirklich nicht, was wir Balten sind?«
Da nahm er seine Hände aus den Taschen und lachte: »Der heilige Zorn steht Ihnen gut,« sagte er.
Es gab auch Tage, wo der Übergang zwischen den Registern ausgeglichener war; das gab mir immer wieder Mut und Hoffnung. Meine Stimme veränderte sich und wurde schöner und stärker, aber ich hatte noch kein Verhältnis zu ihr.
Ich schrieb von der Veränderung meiner Stimme an meine alte Lehrerin in Riga, berichtete ihr von meinen Übungen und sprach ihr meinen festen Glauben an Stockhausens richtige Führung aus. Ich bekam einen empörten Brief von ihr, in dem sie mir den Untergang meiner Stimme prophezeite. Sie fürchtete für ihren Ruf als Lehrerin und sah die ganze Umänderung meiner Stimme als Schädigung und Undankbarkeit von meiner Seite an. Der Brief war in sehr beleidigender Form gehalten und zerriß das letzte Band, das mich an sie fesselte. Manchmal wundere ich mich jetzt, zurückblickend auf diese Zeit, wie stark mein Vertrauen zu Stockhausen im Grunde doch war. So schwer ich litt, so mühselig oft die Arbeit war, so gern ich die Entwicklung meiner Stimme beschleunigt hätte, an der Richtigkeit meines Weges habe ich nie gezweifelt.
Im Frühsommer dieses Jahres trat eine große Veränderung in unser aller Leben: Stockhausen wurde als Professor an Dr. Hochs Konservatorium berufen. Bernhard Scholz übernahm das Direktorat und hatte Stockhausens Berufung verlangt. Die Herren des Kuratoriums sollen gezögert haben, auf diese Bedingung einzugehen, denn Stockhausen war durch seine Schwierigkeit im Zusammenarbeiten bekannt; er konnte eben nur Alleinherrscher sein. Aber Clara Schumann, die auch am Konservatorium unterrichtete, setzte mit Bernhard Scholz seine Berufung durch. Stockhausen forderte seine ganze Schule auf, mit ihm ins Konservatorium überzusiedeln. Mit sehr geteilten Gefühlen folgten wir unserem Meister. Als Stockhausens Privatschüler fühlten wir uns als etwas durchaus Besonderes und sahen ein wenig auf die Konservatoristen herab. Wir beschlossen, zusammenzuhalten und ihnen zu zeigen, daß wir auf einer höheren künstlerischen Stufe ständen, als sie. Nur Clara Schumanns Schülerinnen ließen wir gelten. – Es war ein feierlicher Augenblick, als der Direktor, Bernhard Scholz, uns im großen Saale des Konservatoriums versammelte und eine Ansprache an uns hielt. Ich sehe ihn noch eben so lebendig vor mir: groß und überschlank, grauhaarig, mit einem immer etwas geröteten Gesicht und hellen, gütigen Augen. Er bat uns, Zutrauen zu ihm zu haben, mit unseren Sorgen wie zu einem Vater zu ihm zu kommen. Dann wandte er sich an uns Schüler Stockhausens und sprach von dem hohen, künstlerischen Ernst, der unseres Meisters Schule immer ausgezeichnet habe. Zum Schluß gab er der Hoffnung Ausdruck, daß wir mit diesem Ernst auch dem Konservatorium nützen würden. Wir nannten ihn nach dieser Rede nur den »Allvater«. Aufgeregt standen wir nachher in den Korridoren zusammen und maßen mit feindseligen Blicken die Konservatoristen, die an uns vorüberwandelten. Es war eine ganz andere Atmosphäre, in die wir kamen. Die Arbeit und das Leben hatten nicht mehr das familienhaft Zusammengeschlossene, und zu unserer Empörung wurden die Klassenstunden, wie Solfeggio und Italienisch, mit Konservatoristen gefüllt. Die größte Aufregung herrschte aber darüber, daß unser Elitechor mit fremden Elementen durchsetzt wurde; denn die Schüler der anderen Gesangklassen hatten das Recht, in den Chorstunden mitzusingen. Als dann sogar einige Pianisten in unseren Chor eindrangen, machten wir so entschieden Front gegen sie, daß wir sie bald heraus hatten. Wir fanden, sie verdarben die Klangfarbe des Chors, eine Anklage, die gewiß nicht ohne Berechtigung war.
Das Konservatorium bot viel Gelegenheit zu einer weiteren musikalischen Ausbildung, und in der ersten glühenden Begeisterung über diese Möglichkeiten belegte ich ungezählte Fächer: Musikgeschichte, Formenlehre, Deklamation, Theorie, Solfeggio und Italienisch. Ja, sogar zur dramatischen und Mimikklasse hatte ich mich gemeldet und ertrank fast in den ersten Wochen in meiner Arbeit. Da ließ sich Stockhausen einmal meinen Stundenplan zeigen und geriet in helle Wut. Er strich mir viele Fächer; namentlich hatte er einen Zorn auf die Theoriestunden. Da trat ich ihm zum erstenmal entgegen: Ich müsse und wolle Theoriestunden nehmen, da ich Lehrerin werden würde.
»Lehrerin!« – ich höre noch seine Entgegnung voller Erstaunen – »wie kommen Sie nur darauf, mit dieser Stimme? Das verbiete ich Ihnen einfach. Sie haben alles, um eine Künstlerin zu werden und sich einen Namen zu erwerben und wollen sich in Riga als Lehrerin niederlassen! Machen Sie sich nicht lächerlich. Unterrichten können Sie immer noch, wenn Sie alt sind.«
Ich aber setzte meinen Kopf darauf und sagte: »Meine Mutter würde mir gar nicht erlauben, Künstlerin zu werden.«
Er lachte laut auf und rief: »Das sind Gründe!«
Dann sprang er auf, rannte durchs Zimmer, fuhr sich durch die Haare, wie es seine Gewohnheit war, und sprach entrüstet in der dritten Person von mir. Zuletzt blieb er stehen, steckte die Hände in die Taschen und funkelte mich zornig mit seinen schwarzen Augen an. Und dann brach er los: »Jetzt hören Sie, was ich Ihnen sage: ich verbiete Ihnen diese unsinnigen Ideen! Auf den Knieen danken mir meine Schülerinnen, wenn ich ihnen gestatte, Künstlerinnen zu werden, und Sie, der ich eine große Zukunft als Künstlerin zutraue, werfen Ihren Kopf zurück und sagen mir einfach: ich werde Lehrerin!«
Ich konnte sehr trotzig sein in meiner Jugend, und etwas mir selbst Unbegreifliches stand plötzlich in mir auf: die Freude am Kampf mit dem Gewaltigen.
»Ich habe kein Geld zu einer Künstlerlaufbahn,« sagte ich trotzig.
»Lächerlich!« stieß er hervor, »das Geld wird da sein; davon ist gar keine Rede. Und die Theorieklasse verbiete ich ein für allemal.«
»Seien Sie doch vernünftig,« fügte er überredend hinzu, »wozu braucht eine Sängerin Theorie? Lesen Sie Shakespeare, Goethe, lassen Sie die großen Schicksale in Ihnen leben, lassen Sie die gewaltigen Gestalten in sich erstehen, lernen Sie unsere schöne Lyrik auswendig, leben Sie in unserer deutschen Poesie; und dann gehen Sie spazieren und fühlen Sie die Musik, die in der Natur liegt. Das alles wird Sie künstlerisch weiter bringen, als die trockene Theorie.«
Das klang in meinem Herzen an. Aber ich hatte mich nun in die Theorie verbissen, die auch mir im Grunde unsympathisch war, für die ich wenig Befähigung fühlte. Doch hielt ich es gerade darum für meine Pflicht, mich mit ihr zu beschäftigen.
Aus dieser Stunde ging ich sogleich zum Allvater und legte ihm meinen Streit mit Stockhausen vor. Er redete mir gütig zu und riet mir, wenigstens fürs erste die Theoriestunden zu lassen, da Stockhausen so ausgesprochen dagegen war. »Später denkt er vielleicht anders,« sagte er freundlich, »reizen Sie ihn doch nicht.« – Da gab ich denn nach. – Jede Stunde, die ich von da an bei Stockhausen hatte, begann für eine längere Zeit mit der Frage: »Nun, haben Sie Ihre Hirngespinste aufgegeben, oder wollen Sie sich noch immer lächerlich machen?« Er sah sogar einigemal in der Theorieklasse nach, ob ich mich nicht doch heimlich eingeschlichen hätte, bis er sich allmählich beruhigte.
Die Entwickelung meiner Stimme interessierte nicht nur meine Kollegen, sondern auch alle die Unterlehrer bei Stockhausen. Herr Schubert und Fräulein Zeigers-Veekens, zwei sehr tüchtige Lehrkräfte, erboten sich, mit mir zu arbeiten, weil der Stimmbruch als »seltener Fall« ihr Interesse erregte. Ich habe zeitweise bei ihnen viel mehr gelernt, als bei Stockhausen. Sie hatten Geduld und wußten, daß ein Wachstum seine Zeit haben muß. Stockhausen in seiner Hitzigkeit ließ mich oft forcierte Übungen machen; aber ich hatte gute Warner mir zur Seite in den beiden Lehrern, so daß nichts Böses mit meiner Stimme passierte. Ich erhielt bald eine Partie zu studieren. Es war der Orpheus. Am großartigsten war Stockhausen immer, wenn er eine neue Partie mit einem durchsprach. Was für ein künstlerischer Schwung, welche Kraft und Beredsamkeit brachen dann aus ihm hervor. Er war dann so hinreißend und stark, daß man ganz atemlos vor Begeisterung zuhörte. Und doch wußte man ganz genau, daß die Qual beginnen würde, sobald man selbst zum Singen kam. In der Glut seiner Begeisterung vergaß er eben immer, wen er vor sich hatte, und sah nicht Schüler in uns, deren berufener Führer und Helfer er sein sollte, sondern nur Verderber von heiligen Kunstwerken.
Ein wunderbares Konzert – nur für uns Schüler – gab es als Eröffnungsfeier für den Antritt des neuen Direktors im Konservatorium. Clara Schumann spielte eine Nummer. Ich lasse wieder mein Tagebuch sprechen.
Es gibt Tage im Leben, an denen man abends nicht zur Ruhe gehen kann, weil man nicht sagen will: Dieser Tag ist auch gewesen. Solch ein Tag, oder vielmehr Abend, war heute! Ich bin eben vom Konservatorium heimgekommen. Ich habe Clara Schumann gehört und somit wohl das Schönste, was man an Musik hören kann. Es mag ja sein, daß es glänzendere, fortreißendere Virtuosen gibt, – schöner, edler, geistiger, man kann fast sagen heiliger, spielt keiner. Es wäre töricht, wollte ich versuchen zu schildern, wie sie spielt; das kann man nicht; wenigstens ich nicht. »Mir war's, als ob ich längst gestorben bin – und ziehe selig mit durch ew'ge Räume.«
Sie spielte eine Sonate von Schumann. Als sie vom Klavier aufstand und ich ihr ins Gesicht sah, war mir's, als hätte ich ein Engelsgesicht geschaut. Verschwunden waren Härte und Bitterkeit, die ich noch neulich gesehen. Es ruhte ein lichter Glanz wie ein Schimmer auf ihrem Gesicht, und anstatt des schmerzlich herben Zuges lag ein leises Lächeln um ihre Lippen. – Mir aber war's, als müßte ich jetzt nach Hause gehen, mich in mein Zimmer setzen und alles an mir vorüberziehen lassen, was ich Seliges und Trauriges durchlebte in meinem ganzen Leben – und dann mich von Herzen ausweinen.
Es sollten noch vierstimmige Chöre von Brahms kommen. Als wir auf dem Podium standen, sagte Stockhausen in seiner elektrisierenden Weise: »Jetzt wollen wir Frau Schumann danken.« Jeder einzelne von uns war bis ins tiefste Herz erschüttert, darum sang der Chor wahrhaft hinreißend. Beim letzten Chor – der »Waldesnacht« von Brahms – machte er es, wie immer bei Höhepunkten: er legte den Taktstock aus der Hand und sagte kurz: »Jetzt gilt's!« Noch ein Blick, der über uns alle hinsprühte und uns wie ein elektrischer Strom traf, und dann setzten wir ein. Er dirigierte wieder mit den Händen, mit den Augen, mit dem Ausdruck seines Gesichts, über das es hinzog in wunderbar wechselndem Leben. – Dann hatten wir geendet. – Noch ein Moment stand Stockhausen still da, wie verklärt, mit emporgerichtetem Blick; dann sagte er leise: »Ja, das war schön.« Dann stiegen wir fast schwindelnd von all der Erregung vom Podium.
Heute war es anders als damals, als wir Brahms vorsangen. Damals hatte es uns wie ein Taumel ergriffen; heute gingen wir still, mit den Tränen kämpfend, auseinander, erschüttert bis ins tiefste Herz hinein. – Langsam ging ich heim über die Mainbrücke, blieb stehen und sah auf den Strom, der unter der Brücke hindurchzog. Die Sterne spiegelten sich im Wasser, und eine Sehnsucht, stark und groß, erfüllte mein Herz. Mir war unaussprechlich zumute – halb, als empfände ich ein namenloses Glück dabei, dann wieder eine tiefe Traurigkeit. So war mir's manchmal zumute gewesen, wenn ich beim Sonnenuntergang am Meer gestanden hatte und es mich überfiel mit grenzenloser Sehnsucht, mich da hineinzustürzen, der Sonne nach, »hinein in die rote, selige Glut«.
Nun bin ich heimgekommen, sitze am offenen Fenster und kann nicht schlafen, und ein Schauer nach dem andern schüttelt mich. Ich denke darüber nach, was Mühlen mir sagte, als ich ihm zum erstenmal in Frankfurt begegnete: »Monika Hunnius, warum kamen Sie her! Und noch dazu Musik zu studieren! Das war eine große Torheit. Man wird ja doch nur unglücklich dabei. Machen Sie nur ruhig einen Strich unter Ihr früheres Leben.«
Ja, nun bin ich auch zur Überzeugung gelangt, daß ich ein beneidenswerter und glücklicher, aber noch vieltausendmal mehr ein trauriger und zwiespältiger Mensch geworden bin. Ich habe es gewagt, mein Leben der Kunst zu weihen und mit schwachen Kräften nach einer Krone zu greifen, die ich doch nie fassen und mir aufs Haupt werde setzen können. Mir sind künstlerische Ziele und Erkenntnisse klar geworden, aber ich weiß nun auch, daß ich nicht zu den Berufenen gehöre. Wie werde ich mich nun in mein weiteres Leben finden? Werde ich für immer verurteilt sein, gleichsam in der Luft zu stehen?
Noch in demselben Frühling gab es ein zweites Konzert, in dem Stockhausen sang.
Gestern war ein herrlicher Abend. Stockhausen sang in einem Konzert des Konservatoriums für die Schüler. Es gab zuerst kleine Händel-Konzerte für Streichorchester, von Schülern in wunderbarer Feinheit ausgeführt. Dann sangen wir unsere Chöre, und zum Schluß erhob Stockhausen sich und betrat das Podium. Es war wirklich ein schöner Anblick, als er so dastand, während des Vorspiels, schon ganz versunken in seine künstlerische Aufgabe, mit einem Leuchten auf dem Gesicht, mit den jungen, lebensvollen Augen und dem grauen Haar. Und dann begann er zu singen. Ja, der alte Löwe lebte noch! Er sang zuerst Mozart, dann Schumann und zuletzt Brahms. Mit mächtigen Tönen, mit hinreißend leidenschaftlichem Ausdruck und mit vollendeter Kunst griff er uns ans Herz. Strahlend, selig saßen wir Schülerinnen da und drückten einander heimlich die Hände. »Unser Meister ist doch der größte von allen,« sagten wir zu einander. – Als er geendet hatte, brach ein Beifallssturm los. Wir Schülerinnen hatten uns erhoben, jauchzten und klatschten und hörten damit nicht auf. Er lachte und winkte uns, strahlte aber dabei wie eine Sonne. »Hören Sie auf,« rief er uns zu; aber wir dachten nicht daran, zu gehorchen. Er wandte sich ab und sprach mit dem Direktor; wir aber klatschten weiter. Da blickte er lächelnd zu uns hin: »Ich kann nichts mehr singen, es wird zu spät!« rief er. Wir jubelten nur und klatschten weiter. Da sah er, daß er nichts mit uns anfangen konnte, griff lachend nach seinen Noten und betrat noch einmal das Podium. Das Vorspiel begann zu »Flutenreicher Ebro« von Schumann.
Eine von Stockhausens Hauptwirkungen liegt in der Behandlung der Sprache. Er hat eine fabelhafte Art, mit den Konsonanten zu malen.
Wie er anfing »Flutenreicher Ebro«, stürzte das Lied wie ein Strom über uns hin. Gewaltig war die Steigerung zum letzten Vers: »Schwärmende Vögel«. Keiner saß mehr ruhig auf seinem Platz. Es erfaßte uns alle wie ein Taumel. Kaum konnte er zu Ende singen. Dann brach aber ein Jubel los, wie der nüchterne Konservatoriumssaal ihn noch nicht gehört hatte. Ich hielt mir mit beiden Händen den Mund zu, sonst hätte ich vor Seligkeit laut geschrieen, damit mein Herz nicht zersprang. Es war wirklich ein großer Augenblick, als wir ihn umringten, seine Hände faßten, jubelten und jauchzten und ihm dankten, und dann einander umarmten und sagten: »Jetzt darf er alles mit uns tun, darf uns quälen und plagen, malträtieren und schelten; denn wir können es nicht teuer genug bezahlen, daß dieser Meister unser Lehrer ist, daß er uns würdigt, von seiner gewaltigen Kunst zu lernen.«
Es ist ganz was Eigenes um seinen Gesang. Er fingt anders als die Joachim: menschlicher, irdischer, näher; aber fortreißender und zündender als sie. Es ist ein gewaltiges Feuer in ihm, das alles in seiner Umgebung in Brand setzt, während Frau Joachims Singen wie ein starker Strom dem Meere zustrebt, unbekümmert darum, ob die kleinen Menschlein seinem Laufe folgen können oder nicht. Stockhausen, glaube ich, wird jedem verständlich sein, Frau Joachim nicht allen. Wer von ihnen beiden größer ist? – Ich weiß es nicht. Das aber weiß ich, daß wir Kleinen scheu verstummen müssen, wenn diese Gewaltigen reden. Es ist gut, wenn Stockhausen manchesmal singt. Dadurch versöhnt er uns und macht sich alles Untertan. Jetzt hat er für lange Zeit eine begeistert an ihm hängende Schülerschar.
Ich habe viel in den Häusern Meister, Lucius und Frau Professor Becker verkehrt. Es war ein schönes, freies Leben dort, wo man immer interessante Menschen traf. Ich wurde oft zu Spazierfahrten abgeholt, auch hatte ich Zutritt zu den Museumskonzerten, wo ich, zum Staunen meiner Freundinnen, unter der glänzenden Frankfurter Patrizierschaft in meinen schlichten Kleidern saß. – Natürlich genoß ich die Konzerte, in denen ich mit meinen Freundinnen auf dem billigsten Platz der Galerie saß, doch noch mehr. Tiefen Eindruck machte mir ein Konzert im Museumssaal, wo die Brahms'schen Liebeswalzer gesungen wurden. Brahms saß am Klavier und begleitete im Baß; die Wiedergabe mit Marie Fillunger, Hermine Spies, Raimund von Zur-Mühlen und Stockhausen war das vollendetste, das man sich vorstellen kann. Sogar die kühlen, verwöhnten Frankfurter waren diesmal außer sich.
Stockhausen fühlte sich nicht sehr wohl im Konservatorium. Er war eben Selbstherrscher und konnte von niemandem abhängig sein. Wenn der Direktor ihm auch volle Freiheit ließ; er mußte sich doch in manches finden und fügen. Er mußte Befehle von der Leitung entgegennehmen, mußte Soiréen und Prüfungen mit seinen Schülern beschicken, hatte ein Kuratorium, nach dem er sich richten mußte, was ihn reizte. Auch machte ihn das viele Klingen und Singen um seine Klasse herum rasend. Kein Zimmer war ihm still genug. Er zog mit uns rastlos im ganzen Saalhof herum.
Zum Semesterschluß gab es eine große, öffentliche Prüfung im Konservatorium. Der Direktor verlangte, ich sollte auch eine Nummer singen, was Stockhausen ärgerte; denn er wollte noch nicht mit mir herauskommen. Schließlich gab er nach, und ich bekam als Aufgabe die große Arie der Penelope von Max Bruch: »Ich wob dies Gewand.«
Das Arbeiten zu dieser Prüfung war eine Qual. In jeder Stunde erklärte er mir, ich sei noch lange nicht reif zum Auftreten und würde ihm keine Ehre eintragen. Jeder Laut, der nicht richtig saß, jeder Konsonant, der nicht genug geübt war, wurde mir wie ein Verbrechen angekreidet. Sehr ehrgeizig mit seinen Schülern, ließ er seinen Nerven freien Lauf. Je näher es zur Prüfung kam, desto nervöser wurde Stockhausen und ich mit ihm. Es gab Tage, wo ich das Gefühl hatte, ich könne gar nicht mehr arbeiten.
Da waren es die Kolleginnen, die mir mit großer Freundschaft halfen. Sie ruhten nicht eher, als bis ich auf vierzehn Tage in ihre Pension kam. Sie wollten mir helfen: ich sollte nicht einen Ton meiner Arie allein üben, damit ich zur Prüfung gut bestände. Ich zog also für zwei Wochen in die Pension Weißenborn, in der die meisten meiner Freundinnen lebten. Es war eine schöne Zeit. Nicht nur stimmlich half sie mir, noch mehr seelisch. Es war ein starkes Gegengewicht gegen Stockhausen. Wir arbeiteten ernst, waren aber unendlich fröhlich in der freien Zeit. Sie rissen mich von der Arbeit los, zwangen mich, mit ihnen spazieren zu gehen. Und als die Prüfung kam, gab es viele aufgeregte Seelen um mich, denn ich sollte mit Glanz bestehen. Mit welch unbeschreiblicher Dankbarkeit denke ich an meinen Studienkreis! Wie wäre ich ohne meine Freunde durchgekommen!
Als der große Tag herankam, war ich innerlich gerade soweit zerschlagen, daß mir's klar war, daß ich nicht mehr zu singen verstand. Aber es gab keine Rettung: ich mußte aufs Podium. Es war ein schwerer Augenblick, als ich wartend im Schülerzimmer stand. Stockhausen sprach kein Wort mit mir, aber meine Freundinnen suchten mich auf jede Weise zu stärken. »Du hast das größte Vortragstalent von uns allen,« sagten sie, »halt dich daran, du wirst dich schon durchsetzen, denk nur ja nicht an die Technik.«
Meine Füße wollten mich kaum aufs Podium tragen, aber als ich oben stand, da kam es wie ein Trotz, wie der Mut der Verzweiflung über mich. Ich legte mich mit meiner ganzen Seelenkraft in die Arie, warf alle Gedanken an Vokale und Konsonanten über den Haufen und ließ mich nur von meiner Empfindung tragen. Zu meinem Erstaunen hatte ich einen großen Erfolg. Sogar Stockhausen schmunzelte, konnte aber doch nicht umhin, mir eine kurze Kritik zuzurufen: »Ihr ›S‹ war ganz schlecht,« sagte er. Doch daraus machte ich mir nicht viel, hatte ich doch ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht gesehen. Der Jubel meiner Freundinnen trug mich und die warme Anerkennung von Direktor und Lehrern. Auch hatte ich einmal wieder meine Flügel gespürt und fühlte, daß sie noch stark waren und mich trugen.
Nach der Prüfung gab es ein großes Ehrengeleit: alle meine Freundinnen brachten mich vor die Tür meiner Pension. Es war ein wunderschöner Geist der Kameradschaft unter uns. Neid und Eifersucht habe ich in meiner Studienzeit nicht kennen gelernt. Am Ende dieses Semesters schrieb ich meiner Mutter: »Es ist nicht leicht, Stockhausens Schülerin zu sein, und doch bin ich stolz, daß ich es sein kann; ich ginge zu keinem anderen«. Seine ganze künstlerische Richtung, seine Auffassung von der Arbeit, sein hoher, heiliger Ernst, all das erfüllt mich mit Begeisterung; und ich weiß, daß ich bei ihm etwas Großes und Tüchtiges lernen werde, wenn es bei anderen auch mit weniger Angst und Not geschehen könnte. Dafür erlebt man aber auch bei ihm Stunden, wie bei keinem anderen: Stunden der höchsten Weihe und Begeisterung, wo er einen hoch über sich selbst hinaushebt, wo man atmen kann in anderen herrlichen Welten, wo man sich schwindelnd fühlt ›auf der Menschheit sonnigen Höh'n‹, und dann der Erde Traurigkeit, Prosa und Last gar nicht mehr empfindet, weil man Himmelsluft geatmet hat. Mit tausend Freuden opfert man für solche Stunden so manches. – Gestern hatten wir eine Chorprobe zu einem Konzert, das das Konservatorium gibt. Unser Chor ist wunderbar. Zum Schluß probten wir ein altes Madrigal, ein leidenschaftliches Liebeslied. Wir fingen an. Stockhausen klopfte sofort ab: ›Dummes Zeug!‹ rief er, ›das ist ja gar nichts. So müssen Sie es singen.‹ Und er schmetterte den Anfang los in einem Tempo, das uns wahrhaftig das Feuer durch die Glieder jagte. Jubelnd sang der ganze Chor es nach, in einem Übermut und Tempo, daß alle, die zuhörten, der Direktor, die anderen Lehrer, Stockhausen, wir selbst, zum Schluß in helles Lachen ausbrachen. Und als die Probe zu Ende war und wir heimgingen, alle Arm in Arm, da duftete es um uns in den Anlagen nach den weißen Akazien und in uns sang und klang es von Musik, von Jugend, Wonne und Glück.
Alle waren wir froh und einig, fest miteinander verbunden; wußten wir uns doch eins in unserem Streben, Arbeiten und Ringen. Und ich dachte, daß ich ein reicher, glücklicher Mensch bin, daß ich all das erleben darf, solch eine reiche, reiche Zeit!
Man mag Stockhausen mancherlei nachsagen; eins muß man ihm lassen: heiligen Ernst und wahre Liebe zu seiner Kunst, die hat er; und nichts Halbes läßt er bei seinen Schülern gelten. Mit Leib und Seele muß man seiner Kunst ergeben sein und nur für sie atmen. Nichts verfolgt er so wie Dilettantismus und Halbheit. Es halten darum nicht viele bei ihm aus; aber die bei ihm bleiben, bilden eine stolze Garde, mit der er schon was aufstellen kann.«
Ich mußte mein Semester ein wenig früher schließen, ich war überarbeitet und konnte nicht mehr mit. Von Hause hatte ich die Zusicherung bekommen, daß ich im Herbst meine Studien fortsetzen könne, und glückselig fuhr ich heim.
Meine frühere Lehrerin, die mir den Wechsel meiner Stimme nicht vergeben konnte, hatte dafür gesorgt, daß in der Heimat kein großes Zutrauen zu dem, was ich erlernt hatte, mir entgegenkam. Ich sang auch fast gar nicht vor, benutzte die Ferien nur zur Erholung. Wer mich hörte, meinte, die Stimme wäre wohl viel größer geworden, hätte aber an persönlichem Reiz eingebüßt; mein Singen sei künstlerischer, aber strenger geworden und rührte nicht mehr so stark an die Herzen der Hörer. Nur meine Mutter war froh und meinte, so hätte ihre Stimme geklungen, als sie jung war.
Ich war noch stark in der eisernen Klammer meiner Schule, die mich unfrei machte. Doch hatte ich guten Mut, denn ich wußte, daß dies ein Entwicklungsstadium war, das ich überwinden würde. Der Bruch meiner Stimme war leider noch lange nicht ausgeglichen, obschon die Stimme viel gleichmäßiger geworden.
Im Herbst des Jahres kehrte ich wieder nach Frankfurt zurück.
Wenn ich auf meine Studienzeit bei Stockhausen zurückblicke, so kann ich sie in zwei Phasen teilen: im ersten Jahr lernte ich viel, im zweiten wurde ich fast nur gequält und lernte wenig. Ich hätte das zweite Jahr zu einem anderen Lehrer gehen müssen. Aber die künstlerischen Ansprüche, die ich jetzt an meinen Lehrer stellte, waren durch Stockhausen so groß geworden, daß mir kaum ein anderer genügt hätte.
Stockhausen selbst war mit seinen Nerven ganz am Ende, als er dies Semester anfing; er war krank gewesen. Dazu kamen die beständigen Reibereien im Konservatorium. In seiner Herrscherart hatte er sich Übergriffe erlaubt und gegen die Disziplin verstoßen, was man ihm, wenn auch in aller Vorsicht, zu verstehen gegeben hatte. So kam er einmal in eine Stunde hereingestürzt, in der er so aufgeregt war, daß er uns gar nicht singen ließ, sondern in wildem Zorn klagte, daß man ihn vergewaltige, ihn, einen freien Künstler!
In seiner Tonbildung hatte er sich auch auf einen Punkt verrannt, der gefährlich für die Stimme wurde. Der Punkt hieß: die tiefe Kehlkopfstellung. Physiologisch hatte er recht. Der Kehlkopf nimmt beim Singen eine etwas tiefere Stellung ein, als beim Sprechen. Doch wird das von selbst, durch die Atemtechnik reguliert, und der Kehlkopf stellt sich automatisch ein. Da wir aber alle eine sehr mangelhafte Atemtechnik hatten – denn Stockhausen interessierte sich nicht für sie – konnte dieser Vorgang nicht naturgemäß vor sich gehen, und Stockhausen versuchte, es auf künstliche Weise zu erzwingen. Wir mußten unseren Kehlkopf mit den Fingern berühren und tief halten; ein gefährliches, nervösmachendes Experiment.
Durch seine Ungerechtigkeit und Nervosität erbitterte er auch seine Schüler, und wir lehnten uns allmählich gegen seinen Despotismus auf. Es kam zu Szenen in den Stunden. Wir verklagten ihn sogar beim Direktor. Es drohte zu einem Bruch zu kommen. Da griff er klug und schnell zum einzigen wirksamen Mittel, das uns wieder in seine Hand brachte: er gab ein Privatkonzert im Konservatorium für seine Schüler. Eine grollende, widerspenstige Gesellschaft fand sich ein, und als das Konzert zu Ende war, umgab ihn eine jubelnde, begeisterte Schar.
Nie im Leben habe ich die Gewalt der Kunst und die Macht eines großen Künstlers über die Menschenseele so empfunden, wie in diesem Konzert. Als er anfing, war wohl keine so trotzig, so erbittert, wie ich. »Sing du nur,« dachte ich, »mich fängst du nicht.« Ich hielt diesen Widerstand durch die ersten Nummern aufrecht; aber bei der »Abendempfindung« von Mozart brach mein Trotz.
Ich sehe ihn noch eben vor mir stehen: das Gesicht durchleuchtet von einer geistigen Schönheit, den Blick in die Ferne gerichtet:
»Abend ist's, die Sonne ist verschwunden.
Und der Mond strahlt Silberglanz.
So entflieh'n des Lebens schönste Stunden,
Zieh'n vorüber wie im Tanz.
Bald vielleicht – mir weht wie Westwind leise
Eine stille Ahnung zu –
Schließ ich dieses Lebens Pilgerreise, –
Ziehe in das Land der Ruh.«
Als er soweit gekommen, war mir's klar geworden unter seinen wunderbaren Tönen, daß er mit anderen Maßen gemessen werden müßte, als andere, und ein Gefühl von Schuld überwältigte mich, daß ich ihn, den großen Künstler, durch meine Stümperei gequält hatte. Dieses Gefühl der Schuld lag wie eine Last auf mir, als ich heimging, sagte ich mir immer wieder: »Ich will ihn ja nicht quälen, ich will nichts Böses, ich will nur singen lernen!«
Eine Gelegenheit, Schülerin der Viardôt in Paris zu werden, ließ ich leider ungenützt an mir vorübergehen. Wieder ein großes Versehen in meiner künstlerischen Entwicklung, das zum Teil aus falscher Pietät begangen wurde, zum Teil aber auch nicht meine Schuld war. Als ich mit einer zaghaften Anfrage nach Hause meinen Wunsch, nach Paris zur Viardôt zu gehen, aussprach, bekam ich den sehr strammen Bescheid von meinem Onkel, von dem ich momentan pekuniär abhängig war: »Bleib! Es ist ein Unsinn, aus der Schule zu laufen. Man beißt eben die Zähne zusammen und hält aus. Lehrlingszeit ist immer schwer, tut aber gut.« – Er verwechselte eine Kaufmannslehrlingszeit mit einem künstlerischen Lernen und dachte nicht, daß viel kostbare und zarte Werte in Frage kämen, die zerstört werden konnten.
Mißerfolge sind wie Gift für manche Naturen, und jede Stunde in diesem Winter bei Stockhausen war eigentlich ein Mißerfolg. Wir alle litten gemeinsam; denn es ging keinem besser als mir. Die anderen Stunden entschädigten einen ja wohl ein wenig für die Leiden bei Stockhausen. Unser fröhlicher Jugendmut trug uns immer wieder empor. Namentlich in den italienischen und Theoriestunden, die ich schließlich doch nahm, hielten wir uns schadlos.
Welch eine ausgelassene Fröhlichkeit herrschte zum Schmerz unseres italienischen Lehrers in seinen Stunden! Luigi Forte hieß der freundliche, ritterliche Italiener, der sich vergebens mühte, den Kampf mit unserer lustigen Gesellschaft aufzunehmen. Wir lernten wenig und lachten viel. Ein Hauptwitz war, sich, wie wir sagten, Überraschungen für die Stunde auszudenken. Eines Tages erschien er, das kleine Häuflein Schüler hatte sich in der großen Klasse durch den ganzen Raum verteilt. Hier und da saß eine Einsame und schrie ihm die italienischen Gedichte oder Vokabeln zu. Marie Diest, die immer die Sprecherin machte, erhob sich dann und erklärte ihm in falschem Italienisch die Situation. – In der nächsten Stunde hatten wir uns alle auf die erste Reihe zusammengepfercht. »Sie waren ja unzufrieden, daß wir uns so verstreut gesetzt hatten,« erklärte Marie Diest. – Am unheimlichsten aber wurde ihm, wenn wir einmal abmachten, uns eine Stunde gesittet zu betragen, wenn wir artig auf unseren Plätzen saßen und tadellos unsere Aufgaben hersagten. »Was haben Sie nur heute vor?« konnte er ganz aufgeregt fragen. Vor der Semesterprüfung machten wir einen Pakt mit ihm. Er solle uns nur ganz ruhig die Aufgaben nennen, die er uns geben würde, »denn Ihnen, Herr Professor, wird es doch noch viel unangenehmer sein, als uns, wenn wir vor der Kommission nicht bestehen.« – Unter vielen Erklärungen und Vorbehalten entrissen wir ihm ein Examenthema nach dem anderen und bestanden rühmlich.
Sehr interessant war der Deklamationsunterricht beim Schauspieler Herrmann. Er war ein sehr feiner, künstlerischer Mensch; doch konnte er selbstverständlich bei einer ganzen Klasse uns nichts Wirkliches geben, außer künstlerischen Gesichtspunkten und seinen Gedanken. Technisch lernten wir nichts bei ihm. Rezitation und Gesang vertragen selbstredend keine Klassenbehandlung. Ich habe ihn in warmer, dankbarer Erinnerung.
Ein Original war unser alter Theorielehrer Magnus Böhme, ein gelehrter, alter Herr, der, eingesponnen in seine verstaubte Theorie, gar keine rechte Fühlung mit seinen Schülern hatte. Er war eine alte Biedermeiererscheinung mit hohen, steifen Vatermördern, einem geschlungenen Halstuch und an der Seite gescheiteltem dichtem grauem Haar. Er goß die Wogen seiner Gelehrsamkeit über uns hin, aber bei Querfragen, die wir dazwischen hineinwarfen, hob er erstaunt sein Haupt und verlor den Faden. »Warum stört Ihr mich?« fragte er dann.
Ich war sein erklärter Liebling. Unverdienter und ungerechter als diese Lieblingsschaft konnte nichts auf Erden sein, denn ich war die schlechteste Schülerin der ganzen Klasse. Meine mangelhafte musikalische Vorbildung rächte sich immer wieder. Auch waren mein Talent und mein Interesse für diesen Zweig der Musik gering. Ich quälte mich damit nur aus Gewissenhaftigkeit. Diese unbegreifliche Bevorzugung fand in folgendem ihre Erklärung: Magnus Böhme hatte ein Buch über Theorie geschrieben, das ich in meinem Eifer mir sofort angeschafft hatte. Als wir zur ersten Theoriestunde versammelt waren, fragte er, ob jemand das Buch besäße? Ich war die einzige, die es hatte. Ein wohlwollendes Strahlen verbreitete sich über sein altes, verwittertes Gesicht: »Monika Hunnius ist die einzige unter Ihnen, die wirkliches Interesse hat,« sagte er. Und diesen Glauben ließ er sich durch meine schlechtesten theoretischen Arbeiten nicht nehmen. Er hatte bald heraus, daß ich mich immer unsterblich blamierte, wenn ich an der großen Tafel, angesichts der Klasse, eine theoretische Aufgabe lösen mußte. Da vermied er mit allen Listen, mich an die Tafel zu rufen. Doch verlangten eines Tages meine Freundinnen stürmisch, um der Gerechtigkeit willen müßte ich auch einmal vor. Da half nichts, ich erhob mich und versagte vollständig vor der ganzen Klasse. Ein wildes Geschrei brach los – wir ließen einander nichts durch: »Sehen Sie jetzt, wie schlecht sie es gemacht hat!« riefen sie. »Nun, nun,« sagte der alte Mann begütigend, »sie ist auch nur ein Mensch. So was kann schon mal passieren. Setzen Sie sich nur ruhig auf Ihren Platz und grämen Sie sich nicht.«
Ebenfalls ein Original war mein Klavierlehrer Valentin Müller, auch eine altmodische Biedermeiererscheinung. Er war namenlos gutmütig und freundlich und unterrichtete in der unteren Klavierklasse, die das Konservatorium für Sängerinnen eingerichtet hatte. Wir waren immer drei in einer Stunde. Müller war eigentlich Cellist und gab nur als Nebenfach Klavierstunden. Der Unterricht konnte nicht anregend genannt werden. Wurde er gar zu langweilig, so führten wir zwei Unbeschäftigten nach dem Spiel der anderen hinter seinem Rücken Tänze auf. Der freundliche, alte Mann tat, als sähe er sie nicht; er war froh, wenn wir lustig waren.
Nur kurze Zeit arbeitete ich bei ihm; ich kam bald in eine höhere Klavierklasse, zu einem Schüler Clara Schumanns, Uzzielli, einem Italiener. Er war eine berühmte Schönheit und hatte neben den Stunden, die er ernst und gewissenhaft gab, gern kleine Nebenfreuden im Verkehr mit seinen jungen Schülerinnen. Ich gewann durch ihn eine große Freude am Klavierspiel. Er war ein sehr feiner Pianist und Poet und hatte die richtige Art, mit uns Sängern mehr das Musikalische, Ästhetische in seinem Unterricht zu betonen, und nicht so sehr das Technische, das für uns ja weniger in Betracht kam. So eignete ich mir bei ihm eine große Gewandtheit im Transponieren an und habe in meinem Berufsleben oft dankbar seiner gedacht.
Das Verhältnis von Stockhausen zu seinem Kuratorium spitzte sich immer mehr zu. Seine Nerven waren derart überreizt, daß man kaum mehr bei ihm arbeiten konnte. Wir schleppten uns mit Angst und Mutlosigkeit durch seine Stunden, und oft wurde er beim Direktor verklagt. Es kam auch zu schlimmen Szenen zwischen ihm und den Schülern. Einmal hatte er Marie Diest so schwer gereizt, daß es zu einem wilden Ausbruch bei ihr kam. Sie ergriff ihre Noten und warf sie krachend vor ihn auf den Fußboden unter einem Strom heftiger, leidenschaftlicher Worte und Anklagen. Dann stürzte sie, ihrer selbst nicht mehr mächtig, aus der Stunde. Nach dieser Szene konnte sie ihre Stunden bei Stockhausen nicht fortsetzen. Die Sache wurde vertuscht, aber auf den Korridoren standen aufgeregte Gruppen seiner Schüler beisammen, die miteinander verhandelten. Man lehnte sich auf. Stockhausens Nerven wurden immer schlimmer. Er litt an Gehörstäuschungen, hörte alle Töne unrein und behauptete immer, daß die zuhörenden Schülerinnen in den Stunden leise eine zweite Stimme mitsummten. Wer hätte so was auch nur im Traume zu tun gewagt!
Endlich hieß es, Stockhausen habe dem Konservatorium gekündigt. Er konnte eben keine Abhängigkeit ertragen. Als es so weit war, wurde er ruhiger, und man konnte wieder bei ihm arbeiten.
In diese Zeit fiel eine Aufforderung für mich, die aus Karlsruhe kam. Ich sollte in einem Kammermusikkonzert, das vom Pianisten Ordenstern veranstaltet wurde, mitwirken und zwei Nummern singen. Durch Landsleute war dieses Engagement zustande gekommen, und da ich im Herbst in die Heimat zurückkehren sollte, war es für mich von größter Wichtigkeit, einige Konzertkritiken aus Deutschland mitzubringen. Ich ging zum Direktor, machte ihm die Situation klar und bat ihn, bei Stockhausen für mich zu sprechen. Ich fühlte mich weder reif, noch irgendwie fähig zum öffentlichen Auftreten, aber meine Freundinnen bestürmten mich, den Schritt zu wagen. Auch der Direktor war dafür und versprach, die Sache bei Stockhausen zu vertreten. Mein Programm bestand aus der Penelope-Arie von Bruch, zwei Schumann- und einem Schubert-Liede.
Meine erste Gesangstunde, nachdem Stockhausen mir die Erlaubnis zum Konzert gegeben hatte, war charakteristisch. Ich begann zaghaft: »Herr Professor, der Direktor hat mir gesagt, daß Sie nichts dagegen haben, daß ich in Karlsruhe singe.« Er war sehr schlechter Laune. »Ich habe nichts erlaubt,« sagte er unfreundlich, »das ist des Direktors Sache. Mich kümmert das alles absolut nicht.« Bei seiner schlechten Laune erwachte mein Trotz. »Würden Sie nicht wenigstens die Güte haben, die Lieder mit mir durchzunehmen?« fragte ich. »Meinetwegen,« war seine kurze Antwort. Ich legte die »Frühlingsfahrt« von Schumann vor ihn hin und begann zu singen. Jeder Atemzug, jeder Laut war schlecht. Er ließ kein gutes Haar an mir. Sogar die Tonlage fand er für meine Stimme ungünstig. Kurz, die Sache war ganz hoffnungslos und meine Seele wurde matt. Ich begann das zweite Lied »Stirb Liebe und Freud«, auch von Schumann. Da wurde er gütiger. Das läge mir gut, sagte er. Dann kam der »Schwager Kronos« von Schubert, und da wurde der Künstler in ihm lebendig. Er vergaß seinen Ärger; das Lied füllte seine ganze Seele. Er erhob sich und deklamierte das ganze Gedicht; dann sang er's mir vor, daß ich zwischen Lachen und Weinen losbrach: »Ach, Herr Professor, das ist ja überirdisch schön! Wer so singen könnte!« Da lächelte er und sang mir mein ganzes Programm vor; er schloß mit der »Frühlingsfahrt« von Schumann.
Wie berauscht von Glück ging ich heim. Als ich unter den Fenstern des Konservatoriums vorüberkam, hatte er sie weit geöffnet und sang mit jubelnder Stimme: »Es zogen zwei rüst'ge Gesellen«. Das Konservatorium liegt dicht am Main. Ich stand unter den Fenstern und horchte auf sein Singen und ein wundersames Gefühl durchströmte mich, wie die Töne so über den Main durch den goldnen Sonnenschein hinüberfluteten, ein Gefühl, wie ich es in früheren Jahren gekannt im Frühling, wenn Frühlingswonne und Übermut, Wanderlust und unbestimmte Sehnsucht mir die Brust bewegten, daß es mich trieb, als müßte ich »Flügel dehnen ins klar vertiefte Blau hinein«.
Es waren wunderschöne Stunden, die dieser ersten folgten. Aber je näher das Konzert kam, desto aufgeregter wurde er, desto zugespitzter hörte er zu, und allmählich verwirrte er mich und machte mich mutlos. Ich meldete mich auf den Rat meiner Freundinnen für die letzten Stunden krank, nur, um nicht ganz verstört aufs Podium zu kommen. Außer dem Karlsruher Konzert war ich noch zu einem in Bruchsal aufgefordert worden.
Meiner bescheidenen Toilette wurde von allen Seiten durch meine Kolleginnen aufgeholfen. So fuhr ich denn, von ihnen allen begleitet, getröstet und aufgerichtet, in einem geliehenen Mantel und Hut ab.
Ich denke mit einem leisen Grauen an den Anfang dieses meines ersten Konzertausfluges zurück. Zum erstenmal war ich allein in einem Hotel abgestiegen. Meine arme, verschüchterte Seele schiffte durch eine Flut von Ängsten und Verzagen. Ich sollte zuerst in einem Mädcheninstitut, das von einer Landsmännin geleitet wurde, absteigen. Aber die Vorsteherin hatte sich's überlegt und war zum Resultat gekommen, daß es für den Ruf des Instituts schädlich werden könnte, wenn Künstler dort aus und eingingen. Das kränkte mich tiefer, als es mich hätte kränken dürfen. »Ja, wenn ich nur eine Künstlerin wäre,« dachte ich, »wollte ich schon über diese Beschränktheit lachen.« Das waren wohl die ersten Dornen, von denen Frau Joachim sprach, die mich auf meinem Berufsleben trafen. Sie taten weh. Wie schön ist es, in aller Stille für seine Kunst zu arbeiten; wie schwärmt man für seinen herrlichen Beruf, wie träumt man es sich erhebend, hinaustreten und zeigen zu können, was man errungen, mitteilen zu dürfen, was die ganze Seele erfüllt! Aber wie ganz anders schaut einen das Leben an, als man es sich in der Stille seines Arbeitszimmers denkt.
Nun sollte ich den ersten Schritt in die Öffentlichkeit tun und mir war's wie einer, die bisher in der warmen Stube gesessen und nun hinaustritt und ihren Weg über die Heide nimmt. Jeder Wind und jeder Regen konnte mich anfallen. Ich fror. Da erschienen unerwartet mein Stiefbruder und meine Schwägerin aus Stuttgart. Nun war alles leicht. Sie waren so lustig, so festlich, daß sie mich mitrissen. – Ich wurde von meinem Begleiter zur Probe geholt, die so gut ging, daß ich ganz mutig wurde.
Und dann kam der Abend heran. Es war alles so fröhlich im Künstlerzimmer. Die Mitwirkenden waren so gut gegen mich; sie schworen, ich würde einen glänzenden Erfolg haben. Einer spielte auf der Violine, einer übte einen Gang auf dem Cello, einer turnte mit großen Spießen, die von einer Theateraufführung in der Ecke standen. Ich kam gar nicht zur Besinnung und mußte viel lachen. Und – ehe ich mich versah, stand ich auf dem Podium, wo mich warmer Applaus begrüßte.
Ich sang ganz ruhig, ohne Zittern, ohne Verwirrung. Es ging alles viel besser, als ich es erwartet hatte; zum Schluß wurde ich mehrere Male herausgerufen. Die Mitwirkenden gratulierten mir; nur meinten sie, ich wäre zu ernst auf dem Podium gewesen. Es fehlte mir die »fröhliche Keckheit«, die Schumann als notwendig für einen Erfolg erklärt.
Nach dem Konzert war ich mit meinen Geschwistern zu Landsleuten eingeladen. Der Hausherr, ein alter, lustiger Herr aus Petersburg, war ein Freund meines Bruders. Wir waren sehr fröhlich miteinander. Ich mußte mich einer scharfen Kritik unterziehen lassen. »Wenn Sie singen,« sagte der Hausherr, »denkt man. Sie hätten eine schöne Seele. Aber sobald der letzte Ton verklungen ist, stehen Sie ernst und ablehnend da. Was hilft einem die schöne Seele, wenn man nicht an sie herankommen kann? Man sieht Ihnen auf dem Podium an, daß Sie Grundsätze haben, und die machen eine Frau, und gar eine Künstlerin, nie liebenswürdig.«
Ich wußte nicht recht, ob ich lachen oder mich ärgern sollte.
Am anderen Tage fand das Konzert in Bruchsal statt. In Begleitung des Pianisten Ordenstern und seines Freundes, eines jungen Arztes, machte ich die Eisenbahnfahrt. Wir sollten bei Freunden von Ordenstern, einem Regierungsrat in Bruchsal, absteigen. Am Bahnhof empfing uns der alte Herr Rat. Vergnügt zogen wir in die Stadt ein, rechts und links von mir meine beiden Begleiter. Der eine trug meinen Blumenstrauß, der andere schwenkte lustig meine Notenmappe in der Hand. Bald standen wir am Hause des Herrn Rat. Die ganze Familie erwartete uns auf der Treppe. Die dicke, freundliche Frau Rat und ihre Töchter umringten uns und begrüßten mich, als wäre ich eine alte Bekannte. Man nahm mir Hut und Mantel ab, und wir wurden an den gedeckten, festlich geschmückten Kaffeetisch geführt; alles war voller Frühlingsblumen. Zwei von den Töchtern waren Ordensterns Schülerinnen, die aus dem Erröten und Strahlen gar nicht mehr herauskamen und an den Blicken ihres verehrten Lehrers hingen.
Nach dem Kaffee wurde ein allgemeiner Spaziergang durch die Stadt vorgeschlagen, und im Triumph begleitete uns die ganze Familie. Mittlerweile waren die anderen Musiker auch angelangt und schlossen sich uns an. »Das sind die Kinschtler,« hörte ich auf der Straße uns nachsagen. Die ganze, kleine Stadt war in Aufruhr. Die Menschen blieben auf der Straße stehen und sahen uns nach. – Ich hatte mich an die älteste Tochter geschlossen, die die Veranstaltung des Konzertes übernommen hatte. Sie erzählte mir viel von den Leiden, die sie dabei gehabt, wie vorsichtig sie beim Kartenverkauf hätte sein müssen, damit die höher gestellten Beamten des Städtchens nicht am Ende die Plätze hinter den niederen bekämen. »Dadurch wäre alles verdorben gewesen,« sagte sie; »aber,« schloß sie begeistert, »für Herr Ordenstern und die Kunst habe ich alles getan.«
Wir stiegen auf einen Aussichtsturm, von dem aus man die ganze Stadt überblicken konnte. Da sah man über blühende Bäume weit ins Land hinein. Am Horizont türmten sich Berge, und in der Ferne sah man in nebelhaften Umrissen die Türme von Mainz. Mir war ganz wundersam zumute, als wäre ich etwas Fremdes, nicht mehr die, welche ich noch vor wenigen Tagen gewesen.
Einen sehr sympathischen Eindruck machte mir Ordenstern. So ähnlich dachte ich mir Mendelssohn in seiner Jugend: so liebenswürdig fröhlich und so voller Musik.
Auf dem Heimwege begegnete uns eine Seiltänzergesellschaft, die Affen, Kamele und einen Bären durch die Straße führten. Ich weiß nicht, wem das größere Interesse des Publikums galt, uns oder den Kamelen und Affen.
Als wir heimgekommen waren, bat ich, mich zurückziehen zu dürfen. Die älteste Haustochter führte mich in ein kleines Stübchen oben im Dachstock. Dann verließ sie mich. Ich öffnete das Fenster weit. Es hatte geregnet und erquickende Luft drang zu mir herein. Es duftete nach feuchter Erde und Blütenknospen. Es war still auf der Straße; aus der Ferne klang mehrstimmiger Männergesang. Von unten herauf schallten fröhliche Stimmen. Dort saß die ganze Gesellschaft bei einem Glase Bier plaudernd beisammen. Jeden Augenblick erschien jemand in der Tür und fragte, wie ich mich fühle.
Dann kam zu meinem Schrecken die Stadtfriseurin, die hinter meinem Rücken von der Familie bestellt worden war. Ich kämpfte einen wilden, hoffnungslosen Kampf mit ihr. Ich wollte keine »Frisur« haben und vor allem mein Haar nicht brennen lassen. Sie aber rief das ganze Haus zum Kampf gegen mich auf. Ich mußte mich fügen und sah mit Grausen unter ihren Händen eine fremde Spukgestalt aus dem Spiegel mir entgegenstarren. Aber meine lieben Gastfreunde, die mich mit sämtlichen Lampen des Hauses beleuchteten, waren damit zufrieden. So mußte ich es wohl auch sein. Dann ging es ins Konzert.
Es gelang alles gut, denn das Publikum war warm und von vornherein begeistert. Die Palme des Abends aber erlangte Ordenstern durch sein Spiel.
Nach dem Konzert vereinigte uns ein Abendessen bei unseren lieben Hauswirten. Es wurden viele Reden gehalten; man kritisierte einander; es war, als hätte man sich schon lange gekannt. Meine Stimme und der edle Stil meines Singens wurden sehr gelobt; aber immer wieder hieß es, ich müsse viel mehr aus mir heraustreten, viel persönlicher sein. Dann würde ich noch ganz anders wirken. Das, was früher mein Bestes war, das Persönliche beim Singen, hatte ich bei Stockhausen verloren. Die Schule band mich, ich kam nicht frei von ihr.
Am andern Morgen fuhr ich, von der ganzen Familie zum Bahnhof begleitet, heim nach Frankfurt. Dort wurde ich mit Jubel empfangen. Kritiken über das Konzert waren schon da: alle weit über Erwarten günstig. In meinem Zimmer fand ich einen riesigen Zuckerhasen, der unter Blumen saß. Meine Kolleginnen hatten ihn mir gestiftet.
Als ich zur Stunde kam, fragte mich Stockhausen ein wenig sarkastisch nach meinen Erfolgen. Ehrlich erzählte ich ihm von den Kritiken, die ich über mein Singen gehört hatte. Er lachte spöttisch: »Ja, als Sie herkamen, dachte ich, Sie wären ein Mensch voll Geist und Leben. Sie konnten sich im Singen aussprechen und hatten eine Seele. Wo ist das alles geblieben? Sie sind langweilig geworden.«
Da faßte mich ein grenzenloser Zorn, und es brach aus mir heraus: »Das haben Sie alles in mir totgeschlagen!« Er antwortete nicht; tat, als hätte er es nicht gehört und wandte sich ab. Meine beiden Kolleginnen, die die Stunde mit mir teilten, waren blaß vor Schreck. Ich aber nahm meine Noten und verließ die Klasse, ohne ein Wort weiter zu sagen.
Im Städelschen Museum hängt ein Bild, »der Sängerkrieg auf der Wartburg«. Oft habe ich davor gestanden. Dies Bild stellt den Augenblick dar, wo Wolfram von Eschenbach mit dem alten Zauberer Klingsor in einen Wettgesang getreten ist. Klingsor hat ihn durch Rätselaufgaben und Querfragen so verwirrt, vor allem aber durch seine ganze Eigenart, daß der arme Wolfram nach qualvollen Nächten und Tagen sich gefangen gibt, indem er in die Worte ausbricht: »Du nahmst mir all mein Singen.« – Es liegt etwas Ergreifendes in dem müden, verhärmten Gesicht des jungen Sängers, in der leise nach vorn geneigten Haltung des Kopfes, in der, wie in matter Abwehr, erhobenen Hand. Wenn ich so davorstand, schien es mir oft, als wäre Klingsor Stockhausen, als hätte er mit seinem flatternden Haar und Bart und mit seinem spöttischen Ausdruck Stockhausens Gesicht und der junge Sänger mit der müden Handbewegung trüge meine Züge.
Dieses Bild stand vor mir auf, als ich voll Trauer und Zorn durch die Straßen heimging, und immer wieder klang das Wort Wolframs mir durch den Sinn: »Du nahmst mir all mein Singen.«
Mit nicht geringem Herzklopfen kam ich dann in die nächste Stunde. Ich war nicht sicher, wie Stockhausen mich empfangen würde. Er aber tat, als wäre nichts gewesen. – Ich hatte nicht mehr viele Stunden bei ihm; denn nun war das Jahr um, für das er sich im Konservatorium gebunden hatte. Es blieben bis zum Schluß des Semesters noch einige Monate; ich wollte aber bei Stockhausen nicht länger bleiben und bis zum Ende des Semesters im Konservatorium arbeiten.
Heritte Viardôt, die Tochter der berühmten Viardôt-Garcia, die auch im Konservatorium angestellt war, sollte für ihn eintreten und seiner Klasse bis zum Ende des Semesters den Unterricht erteilen. Uns Schülern wurde es freigestellt, ob wir mit ihm gehen oder bei Frau Heritte weiter studieren wollten. Er hatte erklärt, er würde die Schüler bezeichnen, die er wieder mit sich in seine Privatschule nehmen würde. Die Aufregung unter uns war groß. Lange Besprechungen auf den Korridoren, auf der Straße beim Nachhausegehen fanden statt. Das Resultat dieser Beratungen war, daß wir alle, bis auf eine, erklärten, wir gingen nicht mit ihm.
Der Tag der Entscheidung kam. Wir mußten ins Sprechzimmer zum Direktor. Eine traurige, aber ganz entschlossene Schar, standen wir beisammen und warteten auf das Erscheinen des »Allvaters«. Nur die eine Getreue stand am Fenster. Sie hatte uns den Rücken zugekehrt und zeigte uns ihre Verachtung. Der Direktor trat ins Zimmer, und ich mußte die Sprecherin machen. Ich erklärte in kurzen Worten, ohne Klage und ohne Anklage, daß wir alle im Konservatorium bleiben würden. Der Direktor ließ keinen Laut der Überraschung hören und entließ uns nach einigen freundlichen Worten. Da trat die eine Getreue vor und sagte mit bebender Stimme: »Ich gehe mit Stockhausen.« Und zu uns gewendet, brach sie los: »Ihr seid undankbar und verräterisch!« Der Direktor hob die Hand und vermied so eine Antwort von uns. Wir verließen schweigend das Zimmer. Dann kam die letzte Stunde bei Stockhausen.
Heute habe ich nun meine letzte Stunde bei Stockhausen gehabt. Als die Stunde zu Ende war, ging er zuerst einigemal im Zimmer auf und nieder und sagte dann: »Nun ja,« nahm seinen Hut und trat zuerst auf meine beiden Mitschülerinnen zu: »Leben Sie wohl,« sagte er kurz. Eine dankte ihm für seine interessanten Stunden. Ach, wie konnte sie nur das über ihre Lippen bringen? Ich stand dabei und fühlte es wie einen Krampf in meiner Kehle. Dann trat er auf mich zu und reichte mir die Hand. Ich wollte ihm ein Wort des Dankes sagen, brachte aber nur einen kurzen, schluchzenden Laut hervor. Er sagte kein Wort, wandte sich ab und ging hinaus. Bei der Tür sah er sich noch einmal um. »Möge es Ihnen gut gehen im Leben,« sagte er freundlich zu mir. Dann war er fort.
Nun ich hielt mich auch nicht länger, setzte mich auf einen Stuhl, zog mein Taschentuch und weinte, bis ich nicht mehr konnte. Vergessen war alles, was ich durch ihn gelitten, ich mochte nicht mehr daran denken, ich konnte nur an das Große denken, das ich durch ihn gehabt. – Ich konnte nicht gleich nach Hause gehen und lief noch lange in den Anlagen umher. Alles knospte und grünte um mich her. In den Gärten sangen die Amseln, und die Luft war voll Sonne und Blütenduft. Mir aber war es nicht nach Frühling zumute. Ich konnte eine Stimme in mir nicht zur Ruhe bringen, die laut rief, daß ich undankbar gegen Stockhausen gewesen war. Wie viele herrliche Stunden, wieviel künstlerische Erkenntnisse, wieviel Großes habe ich durch ihn gehabt! Und jetzt, wo alle ihn verlassen, verlasse ich ihn auch. Er hat neulich zum Direktor gesagt, daß er die größten Hoffnungen auf mich setze, und nicht einmal ein Wort des Dankes habe ich ihm zum Abschied sagen können! Ach – keine von uns hätte ihn ja verlassen, wenn es nur möglich gewesen wäre, in Ruhe bei ihm zu lernen. – Aus ist es jetzt mit einer großen Periode meines Lebens. Es war eine unvergeßliche Zeit, reich an Freuden, groß an Leiden. Nie flog meine Seele so hoch, nie lag sie so tief im Staube, wie in dieser Zeit.
Meine Gedanken wanderten immer wieder in die ersten Monate meines Studiums zurück. Was war das für eine Seligkeit gewesen, bei diesem großen Meister zu studieren, der so hinreißend war in seiner Künstlerschaft.
Sonnabend war die letzte Chorstunde. Wir hatten ihm eine wunderschöne Lyra aus duftenden Veilchen bestellt. Er trat ein und sah überrascht nach den Blumen hin. Wir hatten uns alle erhoben, die hübscheste Kollegin trat ihm entgegen und sagte ihm einige Dankesworte in unser aller Namen. Sie sprach vor Aufregung lauter Unsinn, redete von den vielen Freuden, die er uns bereitet hätte. – Trotzdem war er sehr bewegt. Es zuckte in seinem Gesicht, als er uns dankte und mit den Worten schloß: »Möchten Sie alle nicht nur gute, sondern auch große Sängerinnen werden.«
Wir hatten auf eine Karte unser aller Namen geschrieben. Er nahm sie, steckte sie in sein Notizbuch, und seine Finger bebten. Nun stellte er sich ans Klavier, ergriff den Taktstock zum letztenmal: »Wir wollen die Brahms'schen Chöre singen,« sagte er. Und wir sangen sie alle, wie wir sie so oft unter seiner Führerschaft gesungen. Da stand er wieder mit dem alten, vertrauten Ausdruck; mit der Begeisterung, die wie eine Flamme aus ihm brach, mit der er uns zu allem, allem brachte. Alles das hatten wir in den letzten bösen Zeiten fast nie mehr bei ihm gesehen. »Zum letztenmal in deinem Leben!« dachte ich und fühlte es heiß in meine Augen steigen. Dazu sangen wir »Die Nonne«, und es klang klagend und traurig; ich weinte meine heißen Tränen hinter dem Notenblatt.
Dann war die Stunde zu Ende. Er legte den Taktstock aus der Hand und wandte sich zu uns: »Ich wünsche von Herzen, daß wir noch einmal im Leben zusammen musizieren,« sagte er; dann reichte er einer nach der anderen die Hand. Vor mir blieb er einen Augenblick stehen und sah mich mit seinen schwarzen Augen an; der Blick war streng und vorwurfsvoll. Ich hatte ein Gefühl, als müßte ich ihm zu Füßen fallen. Dann gab er auch mir die Hand, sagte aber kein Wort, und ich stürzte fort in die Garderobe. Hätte ich in dem Augenblick tun können, wie mein Herz es mir sagte, ich hätte ihn angefleht, mich mit ihm gehen zu lassen. Ich war völlig auseinander, weinte und schluchzte. Nun kamen noch die anderen Kolleginnen. Wie sie mich weinen sahen, folgten alle meinem Beispiel, eine nach der anderen. Wir schlossen die Tür und weinten eine gute Weile miteinander. Dann wankten wir alle, eine stumme Gesellschaft, heim.
Eine der bedeutungsvollsten Zeiten meines Lebens ist zu Ende. Was sie mir gebracht, was sie mir zerstört, das kann ich noch nicht beurteilen. Noch stehe ich zu sehr in allem drin. Aber eins fühle ich wohl: so studieren, wie wir es unter diesem Meister taten, durfte man nicht. Ruhe hatte man nie; und zum Wachsen braucht man Ruhe.
Das aber wußte ich, daß meine Sehnsucht nach diesem großen Künstler und seiner Künstlerschaft mich durch mein ganzes Leben begleiten würde. Unter uns war kaum eine, die in diesem Augenblick nicht klar gefühlt hätte, daß wir diesem Großen in unserem ganzen künstlerischen Weiterleben Dank schuldig bleiben würden.
Nun begann eine ganz andere Zeit, keine erhebende, keine große. Wir nannten die Stunden bei Frau Heritte eine Massenabschlachtung. Sämtliche Schüler wurden für den ganzen Vormittag zusammen in eine Klasse getrieben und nacheinander »überhört«. Anders kann ich ihren Unterricht nicht nennen. Vier Stunden saß man so zusammengepfercht. Die letzten, die drankamen, waren so müde und abgespannt, daß sie nichts mehr leisten konnten. Frau Heritte frühstückte dazwischen, und ich erinnere mich deutlich, wie empört ich war, als ich die Altpartie der Matthäuspassion bei ihr sang, und sie, Kakao schlürfend und ihr Butterbrot dabei essend, ihre Ausstellungen dazu machte. Das waren wir nicht bei Stockhausen gewohnt. Er erzog uns auch zu äußerer Ehrfurcht jedem Kunstwerk gegenüber. Und nun noch Bachs Matthäuspassion! Es war ganz natürlich, daß Frau Heritte kein Interesse für die Stockhausenschen Schüler hatte; denn seine Methode war ihr unsympathisch und fremdartig. Zwischen uns beiden bestand keine rechte Fühlung. Sie war mir zu oberflächlich und zu wenig eingehend, und ich war ihr zu gründlich und zu schwerfällig. Sie nannte mich nur »das Oratorium in Person«.
Als ich meine erste Stunde bei ihr hatte, sang ich ihr ein Schumannsches Lied vor. Sie sagte sofort: »So singt man ein Oratorium, aber kein Schumannsches Lied. Sie müssen viel mehr menschlich subjektive Empfindungen hineintragen. Sie singen ja viel zu objektiv.«
Als ich bei Stockhausen meine erste Stunde hatte, sagte er: »Sie singen viel zu subjektiv, viel zu beherrscht von ihren persönlichen Empfindungen. So schafft man keine Kunstwerke. Sie müssen sich eine gewisse Objektivität erwerben, ohne die kein Kunstwerk gedacht werden kann.« Sie hatten beide recht und ich wußte wohl, daß ich die richtige Mitte zwischen beiden finden mußte.
Ich hätte manches bei Frau Heritte lernen können, denn ihre Schüler hatten gerade das, was uns Stockhausenschen fehlte, aber sie verstand nicht, uns richtig zu beeinflussen und in ihre Methode hinüberzuleiten. Ich fürchtete immer, sie würde mir den mühsam erlernten Ton und Stil von Stockhausen entreißen und lehnte sie ab. Dafür rächte sie sich und schrieb zum Abschied in mein Album: »Schwerfälligkeit und Langeweile sind der Tod der Kunst.«
Ich konnte den Schluß des Semesters nicht erwarten, denn ich war krank, überarbeitet und wurde vom Arzt heimgeschickt. Mein Schlußexamen durfte ich auf ärztliches Verbot hin auch nicht machen. Dank dem Entgegenkommen des Direktors und der anderen Lehrer aber bekam ich trotzdem mein Abgangszeugnis, das so glänzend ausfiel, wie es wohl kaum nach einem Examen gewesen wäre.
Eine große Versuchung trat noch vor meiner Abreise an mich heran. Lucius' und Meisters, die sich für meine künstlerische Entwicklung immer warm interessiert hatten, schlugen mir vor, ich solle den Gedanken an den Lehrerberuf ganz aufgeben und Künstlerin werden. Sie erklärten sich bereit, für mich zu sorgen, sowohl für mein Studium, wie auch für mein späteres Weiterkommen.
Ich hatte gedacht, daß mein Entschluß feststünde und hatte nur einen Weg vor mir gesehen, der führte in die Heimat und in den Lehrerberuf, in ein Leben voll mühsamer, wenn auch reicher Arbeit für meine Mutter und meine Schwester. Und nun kam dies Anerbieten, riß die Tore auf und zeigte mir lockend eine Welt voll Glanz und Schimmer. Sorglos studieren dürfen und dann ein Leben »auf der Menschheit sonnigen Höhen«! Ich war jung, und das Künstlertum in mir war stark und machte mir Qual und Not. Es gab Tage, wo ich nur diesen einen Weg sah, wo ich die Heimat und die Meinen als Hemmungen in meinem Leben fühlte, wo ich die Kraft empfand, alles, was mir hindernd in den Weg trat, bei Seite zu stoßen. Aber wer würde dann für meine alte Mutter und meine kranke Schwester sorgen? Das Band, das mich mit ihnen verband, war stark, und ich wußte, daß ich nie Frieden finden würde, wenn ich es zerriß und meine eigenen Wege ging. Ich konnte mir allein nicht helfen und wandte mich in meiner Not an Frau Joachim, legte ihr die Sache dar, auch meine Zweifel an meiner Befähigung für das Künstlertum als Lebensberuf und bat sie um ihren Rat. Sie kannte mich und liebte die Meinen, außerdem war sie nicht nur eine große Künstlerin, sondern auch eine warmherzige Frau, sie würde meinen Kampf verstehen und mir zur Klarheit helfen.
Frau Joachim antwortete mir liebevoll und eingehend. Sie meinte, meine Begabung und meine Stimme würden für einen Künstlerberuf reichen, und ich würde mir gewiß einen Namen als Sängerin in Deutschland erwerben, denn ich hätte eine künstlerische Eigenart. Trotzdem aber müsse sie mir von diesem Wege abraten. »Es wird Sie wundern,« schrieb sie, »daß ich Ihnen das sage, aber Ihre Persönlichkeit und Ihre Erziehung stehen Ihnen im Wege. Sie sind zu zart erzogen und seelisch zu sehr behütet worden. Zu diesem Beruf braucht man Ellenbogen. Sie würden sehr leiden, viel einbüßen und ein halber Mensch werden. Der Zwiespalt würde nie von Ihnen weichen. Gehen Sie heim zu Mutter und Schwester und wirken Sie in der Heimat, wo ein reicher Boden, sich auch künstlerisch zu betätigen Ihrer wartet, und leben Sie den Ihrigen.«
Dieser Brief brachte Klarheit und Ruhe in mein Herz. Als mein Entschluß gefaßt war, ging ich zu Frau Lucius. Ich dankte ihr, erzählte ihr ehrlich von meinem Kampf, von Frau Joachims Brief und sagte, daß ich fest entschlossen sei, ihr hochherziges Anerbieten nicht anzunehmen. Sie war eine schlichte, wahrhaftige Frau, die in dem großen Reichtum, in dem sie lebte, sich ihr warmes Herz und ihren einfachen Sinn bewahrt hatte. Sie stand auf, schloß mich in ihre Arme und küßte mich.
»So wie ich Sie kennen gelernt habe, konnten Sie keinen anderen Entschluß fassen,« sagte sie, »aber eins versprechen Sie mir: wenn Sie jemals in irgend einer Not sind oder eine Sorge haben, so kommen Sie zu uns, mein Mann und ich werden immer für Sie bereit sein.« Sie hat ihr Wort gehalten. Nach Jahren wandte ich mich an sie und bat sie um Hilfe für meinen Stiefbruder, der mit einer großen Kinderschar unverschuldet in Not geraten war. Sie halfen ihm, wie nur erprobte Freunde helfen können.
Wenn ich jetzt auf mein Leben zurückblicke, so weiß ich, daß ich den rechten Weg gewählt habe, und danke es Frau Joachim, die ihn mir gewiesen.
So reiste ich denn heim, mit viel Tränen von meinen Kolleginnen geleitet. Wir schworen uns, treu zueinander zu halten und uns nicht zu vergessen, was wir auch getreulich gehalten haben. Wenn unsere Wege sich im späteren Leben begegneten, fühlten wir froh, wie stark das Band aus unserer Frankfurter Studienzeit her war.
Eins hielten wir alle hoch: das Andenken an unseren großen Meister. Er hatte es uns nicht leicht gemacht, unter ihm zu arbeiten, aber in der Erinnerung treten alle Menschlichkeiten zurück. Was bleibt, sind ewige Werte, die jede von uns in dankbarem Herzen bewahrt.