Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IV. Die Bemerkungen der »Hauptmietherin«

Johann Valjean besaß die Klugheit, niemals am Tage auszugehen. Alle Abende, in der Dämmerung, promenirte er eine Stunde oder zwei, manchmal allein, oft mit Cosette, wobei er sich die einsamsten Alleen des Boulevards aufsuchte und erst wenn es Nacht geworden, in die Kirchen hineinging. Gern ging er nach St. Medard, der nächsten Kirche. Wenn er Cosette nicht mit sich hatte, so blieb sie bei der alten Frau; für die Kleine war es aber die größte Freude mit ausgehen zu dürfen. Eine Stunde mit ihm zog sie sogar den reizenden tête-à-têtes mit ihrer Katharine vor. Wenn sie gingen, hielt er sie an der Hand und sagte ihr allerlei Liebes.

Cosette war sehr heiter.

Die Alte wartete auf, besorgte die Küche und kaufte ein.

Sie lebten mäßig, hatten zwar immer etwas Feuer, aber wie Leute, denen es knapp geht. Johann Valjean hatte an dem Mobiliar vom ersten Tage nichts geändert. Er ließ nur die Glasthür des Cabinets Cosettens durch eine volle Thüre ersetzen.

Er trug immer seinen gelben Rock, seine kurzen, schwarzen Hosen und seinen alten Hut. Auf der Straße hielt man ihn für einen Armen. Bisweilen drehten sich gutherzige Frauen um und gaben ihm einen Sous. Johann Valjean nahm ihn an und verbeugte sich tief. Manchmal traf er auch auf einen Armen, der seine Mildthätigkeit ansprach, dann sah er hinter sich, ob ihn Jemand sehe, näherte sich verstohlen dem Unglücklichen und gab ihm ein Geldstück, oft eines von Silber, und entfernte sich rasch. Das hatte seine Unannehmlichkeiten. Man fing an ihn in der Gegend unter der Bezeichnung »der Bettler der Almosen giebt« zu kennen.

Die alte »Hauptmietherin«, ein widerwärtiges Geschöpf, das, dem Nächsten gegenüber, aus der Aufmerksamkeit der Neidischen steinern zusammengesetzt war, beobachtete Johann Valjean sehr, ohne daß er etwas davon ahnte. Sie war etwas taub, was sie geschwätzig machte. Aus ihrer Jugendvergangenheit waren ihr zwei Zähne geblieben, einer oben, der andere unten, welche sie immer gegen einander schlug. Sie hatte Cosetten ausgefragt, die ihr nichts sagen konnte, weil sie nichts wußte, außer daß sie aus Montfermeil gekommen. Eines Morgens bemerkte die Lauscherin, daß Johann Valjean mit einer Miene, welche der Gevatterin eigentümlich vorkam, in einen der unbewohnten Theile des alten Hauses ging. Sie schlich ihm wie eine alte Katze nach und konnte, ohne gesehen zu werden, durch eine Thürritze sehen. Johann Valjean wendete, aus Vorsicht ohne Zweifel, der Thür den Rücken zu. Die Alte sah, daß er in seiner Tasche suchte und ein Etui aus dieser herausnahm mit einer Scheere, Nadel und Zwirn. Darauf trennte er sich das Futter eines seiner Rockschöße auf und nahm aus der Oeffnung ein Stück gelbliches Papier, das er auseinanderschlug. Die Alte erkannte mit Staunen, daß es eine Tausendfrancsnote sei. Sie war die zweite oder dritte, die sie im Leben gesehen. Erschrocken lief sie davon.

Einen Augenblick darauf ging Johann Valjean zu ihr und bat sie, ihm dieses Tausendfrancsbillet wechseln zu lassen. Es sei der halbjährige Betrag seiner Rente, die er am Tage vorher bekommen, wie er hinzufügte.

»Wo?« dachte die Alte. »Er ist erst um sechs Uhr Abends ausgegangen und zu dieser Zeit ist die Regierungskasse gewiß nicht mehr auf.« Die Alte wechselte das Papier und erging sich in allerlei Vermuthungen. Diese Tausendfrancsnote führte zu einer Menge hitziger Gespräche unter den Klatschweibern der Straße Vignes St. Marcel, wo dieselbe vielfach commentirt wurde.

An den folgenden Tagen ereignete es sich, daß Johann Valjean, in Hemdsärmeln, auf dem Corridor Holz sägte. Die Alte war in der Stube und fegte aus. Sie war allein, Cosette war damit beschäftigt, das Holz, das gesägt wurde, zu bewundern. Da sah sie den Rock an einem Nagel hängen und untersuchte ihn. Das Futter war wieder angenäht. Sie begriff es aufmerksam und glaubte in allen Futtertheilen dichtes Papier zu fühlen. Gewiß lauter Tausendfrancsbillets.

Sie bemerkte außerdem noch, daß er allerlei Dinge in den Taschen hatte, nicht nur Nadeln, Scheere und Zwirn, was sie gesehen, sondern auch ein dickes Portefeuille, ein sehr großes Messer und – höchst verdächtig! – mehrere Perrücken von verschiedener Farbe. Jede Tasche dieses Rockes schien Etwas für unvorhergesehene Fälle zu enthalten.

So gelangten die Bewohner des alten Hauses in die letzten Tage des Winters.


 << zurück weiter >>