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Es war eine Lust und Freude, bei dem hellen Sonnenschein durch die Felder und Wiesen zu fahren. Nun kamen sie durch das Holz, in dem Anna oft mit Franz umhergestreift war, dann ging es durch Dörfer, die sie kannte. Nach einer Stunde wurde die Gegend fremder, es ging bergan und dann wieder talabwärts, endlich, nach mehrstündiger Fahrt, als sie wieder langsam eine Anhöhe hinaufgefahren waren, zeigte der Kutscher mit der Peitsche auf ein zu ihren Füßen liegendes Tal und sagte: »Dort rechts, wo Sie die langen Gebäude sehen, liegt Grüntal.« In kurzer Zeit waren sie unten und fuhren auf einem breiten, ebenen Wege der Anstalt zu. Was kam denn da entlang? Es blitzte in der Sonne, als ob ein Bataillon Soldaten mit Bajonetten auf den Schultern anrückte. Als sie näher kamen, sahen sie, daß es etwa zwanzig Knaben waren, die mit Spaten auf den Schultern rüstig vorwärts schritten. Als der Wagen vorüberfuhr, blieben sie stehen und grüßten höflich. »Da ist er! Ich hab ihn gesehen!« rief plötzlich Anna und sprang im Wagen in die Höhe. Sie reckte ihre kleine Gestalt und winkte und grüßte, aber der Wagen fuhr zu schnell und die Knaben marschierten vorwärts. »Ja, liebe Frau Brok, das war der Franz«, rief sie glühend vor Eifer, »nun geht er fort, da wir ihn besuchen wollen.« »Die Knaben gehen auf die Arbeit, sie müssen vielleicht ein Stück Feld umgraben oder haben im Garten zu tun, du wirst deinen Bruder schon sehen, wenn wir den Herrn Vorsteher um Erlaubnis gefragt haben.«
Frau Brok ließ den Wagen halten, befahl dem Kutscher im Gasthof des Dorfes auszuspannen und sich und die Pferde auszuruhen. Sie nahm das kleine Mädchen an die Hand und betrat mit ihr den weiten geräumigen Hof der Anstalt. Dort gab es wieder arbeitende Knaben. Einige luden Holz ab, andere kamen aus dem Garten und trugen Körbe mit ausgejätetem Unkraut, die Aufseher gingen daneben und überwachten die Arbeiten der Knaben. Geradeaus lag das helle freundliche Haus mit den Schulzimmern, eine Klasse hatte Singstunde, man hörte frische Kinderstimmen, begleitet von der Geige des Lehrers, das Lied singen: »Gott ist die Liebe, er liebt auch mich.«
Links von dem Schulhause lag ein kleineres, das Haus des Vorstehers. Dieses betrat Frau Brok mit Anna. Ein freundlicher, älterer Herr trat ihr entgegen, der Leiter der Anstalt. Herr Wendt, so war sein Name, bewillkommnete die fremde Dame und führte sie in seine Wohnung. Als er ihren Namen hörte, wußte er, daß der Knabe Franz Münz durch ihre Vermittlung hierhergekommen, und daß das Kind, welches sie an der Hand hielt, Franzens Schwester sei, von ihr angenommen. Er sagte: »Ich freue mich doppelt, Sie kennenzulernen, geehrte Frau, da wir einen und denselben Beruf haben, Kinder für das Reich Gottes zu erziehen, nur mit dem Unterschiede, daß ich einige mehr habe.« Frau Brok traf diese Redeweise ins Herz, daran hatte sie bis jetzt wenig gedacht, Anna für das Reich Gottes zu erziehen. Die Freundlichkeit und Milde des Mannes machte einen angenehmen Eindruck auf sie, ebenso gefiel ihr die Hausfrau, die nun auch herzukam und die Fremde begrüßte. Frau Brok bat, ob sie sich die Anstalt ansehen dürfe, und erwirkte für Anna die Erlaubnis, mit ihrem Bruder sprechen zu dürfen, wenn er von der Arbeit heimkehrte. Einstweilen wurde die Kleine in den Garten geschickt und Frau Brok unterhielt sich eingehend mit diesen liebenswürdigen Leuten, die ganz dazu geschaffen schienen, Kinder zu erziehen. Frau Brok, welche der Meinung gewesen, man müsse solchen von den Eltern verwahrlosten Kindern äußerste Strenge entgegensetzen, merkte bald, daß hier das beste Zuchtmittel die Liebe sei. Schon in dem Ton, mit dem der Hausvater: »Unsere Kinder« sagte, lag soviel Liebe und Erbarmen, und mit welcher Freude sprach er von seinem oft nicht leichten Beruf. Frau Brok sprach ihr Befremden aus darüber, daß er so viel Lust und Liebe zu seinem schweren Tagewerk zu haben scheine, es sei doch gewiß schwierig, die oft ungehorsamen und störrischen Kinder richtig zu leiten, Ärger gäbe es vollauf, wenn sie bedächte, was für Mühe und Ärger ihr das eine Kind fast täglich bereite.
Herr Wendt meinte, es betrübe ihn allerdings, wenn die Kinder nicht wären, wie sie sein müßten, aber er habe sie doch so lieb, daß die Arbeit an ihnen und mit ihnen die größte Lust und Freude sei. Strenge würde allerdings auch gehandhabt und straffe Zucht, aber Strenge allein verbittere die Herzen, dabei würden die Kinder verkümmern. »Liebe Frau Brok«, sagte er, »wenn die Pflanzen keinen Sonnenschein haben, verkümmern sie auch, Kinder sind zarte Pflanzen im Garten Gottes. Wie es uns Freude macht, in unsern Gärten die Blumen zu pflegen, sie sorgsam zu schützen, also müssen wir's mit den Kindern auch machen: wir pflanzen und begießen; aber Gott der Herr gibt das Gedeihen.« Der Garten und seine Pflege war Frau Brok eine große Hauptsache, aber nie war es ihr eingefallen zu denken, daß ihre Anna eine Pflanze sein könnte, ihrer Hut übergeben, edler als alle Pflanzen ihres Gartens, weil sie für das Reich Gottes erzogen werden mußte. »Ich merke, ich tauge nicht zu dem Beruf, den ich mir selbst erwählt«, bekannte sie aufrichtig: »es ist mir bis jetzt eine saure Pflicht gewesen, die ich an dem Kinde geübt habe.« Herr Wendt sah sie freundlich an. »Was wir um des Herrn Willen tun, kann uns nicht sauer werden, wenn die Liebe Christi uns dringt, so wird uns alles leicht.« Frau Brok schwieg, es war ihr, als ob durch dunkle Wolken, die sie umhüllt hatten, plötzlich ein heller Sonnenstrahl in ihr Herz fiel. Herr Wendt fragte nun, ob sie auch die Mädchenanstalt in Augenschein nehmen wolle. Sie bejahte es und bat, Anna mitzunehmen. Diese kam fröhlich aus dem Garten, von wo aus sie die Mädchenschar im anstoßenden Garten hatte sehen und beobachten können. In der Mädchenanstalt waren Schwestern tätig. Überall herrschte fleißiges fröhliches Leben. Einige der Mädchen hatten im Garten zu tun, andere mußten der Küchenschwester helfen, noch andere waren in der Stube mit Ausbessern von Wäsche beschäftigt, unter Aufsicht einer andern Schwester. Es war Frau Brok sehr interessant, sich den Tagesablauf erzählen zu lassen, sie ließ sich die Kücheneinrichtung zeigen und staunte über die großen Kessel mit Essen, am meisten aber wunderte sie sich über die hellen, fröhlichen Gesichter, die es ringsum gab, es war in- und auswendig eitel Sonnenschein. Aus den Augen der Schwestern leuchtete volle Befriedigung und doch ahnte niemand, mit welchen Schwierigkeiten und Widerwärtigkeiten sie oft in ihrem Beruf zu kämpfen hatten. Aber die Kraft von oben half überwinden und: »Das tat Ich für dich, was tust du für Mich« machte sie fröhlich bei ihrer Arbeit für das Reich Gottes.
Die kleine Anna schien ganz aufzuleben. Eine Schwester, welche Frau Brok umherführte, hatte sie an der Hand und sagte, als sie durch ein Zimmer schritten: »Sieh, Kleine, hier ist etwas für dich.« Damit öffnete sie einen großen Schrank, in dem es Puppen aller Art gab, Kochgeschirr und Kochherde, verschiedene Spiele und dergl. »Dürfen sie hier spielen?« fragte Anna verwundert. »Freilich«, versetzte die Schwester, »es sind doch auch Kinder. Du solltest nur einmal Sonntags hier sein, wenn wir uns vergnügt umhertummeln oder wenn die Kleinen mit ihren Puppen spielen.« »O, wenn ich hier sein könnte!« dachte Anna, aber sie ließ den Gedanken nicht laut werden.
Frau Wendt hatte freundlich gebeten, Frau Brok möge ein einfaches Mittagsmahl mit ihnen einnehmen; diese nahm es um so lieber an, als es ihr vergönnt war, noch länger in Gesellschaft dieser lieben Leute zu verweilen. Nach Tisch durfte Franz kommen, und die Kinder konnten sich in der Nebenstube nach Herzenslust genießen. »O, Franz, wie lang du geworden bist«, sagte Anna. »Bist du gern hier?« Franz bejahte dies aus vollem Herzen und rühmte Herrn Wendts Freundlichkeit. Herr Wendt sprach unterdessen mit Frau Brok über den Knaben; er sei zuerst scheu und verschlossen gewesen, meinte er, aber nun sei er zutraulich und gut. Er sei von zarter Gesundheit und müsse geschont werden, aber das Arbeiten in der frischen Luft und das regelmäßige Leben werde seine Gesundheit festigen. Während Herr Wendt sprach, klopfte es. Ein kleiner Knabe von etwa zehn Jahren trat fröhlich mit der Mütze in der Hand herein. »Was willst du, mein Junge?« redete Herr Wendt ihn an. Ein verlegenes Lächeln beim Anblick der fremden Dame war die Antwort. Frau Wendt ging an die Tür, halblaut flüsterte der Knabe ihr etwas zu. »Ach so«, sagte sie und nickte freundlich, »es ist gut, August, komm nur um 4 Uhr.« Ein dankbarer, freundlicher Blick als Antwort und der Junge war verschwunden. »Er meldete«, sagte Frau Wendt lachend, »daß sein Geburtstag heute sei.« »Wie?« rief Frau Brok, »können Sie alle sechzig und mehr Geburtstage berücksichtigen?« – »Weiter nicht«, sagte Herr Wendt, »als daß der Geburtstagträger das Recht hat, mit uns beiden Kaffee zu trinken, er bekommt statt des Schwarzbrotes Semmel und hat die Ehre bei uns zu sitzen«, fügte er lachend hinzu. »Die Kinder müssen doch fühlen, daß wir's gut mit ihnen meinen«, versetzte Frau Wendt, »es hat ihnen das Schönste, was das Leben schmückt, die Liebe, gefehlt, und daß sie dieselbe bei uns finden, ist unser beider eifriges Bemühen.« – »Was haben Sie selbst aber vom Leben, wenn Sie alles aufgeben um der Kinder willen?« »Die schönste Befriedigung«, erwiderte der Vorsteher. »Sie haben gewiß auch schon erfahren, verehrte Frau, daß man am glücklichsten ist, wenn man sich selbst vergißt um anderer willen. Und dann, finde ich, ist es eine der schönsten Arbeiten, wenn man die Seelen der Kinder zum Herrn führen darf, eingedenk des Wortes Gottes: ›Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solcher ist das Reich Gottes.‹« – »Haben Sie viel Erfolg?« »Vor Menschenaugen nicht, aber wir machen's wie der Sämann, wir streuen den Samen und befehlen ihn Gott. Er läßt ihn oft lange schlummern, aber dann keimt es im Verborgenen, wenn wir's oft gar nicht meinen. Wir haben neben vielem Mißlingen auch viele schöne Erfahrungen und die sind unser bester Lohn.«
Die Kinder hatten unterdes fröhlich miteinander geplaudert; Frau Brok kam nun auch, sprach freundlich mit dem Franz und überreichte ihm mitgebrachte Kleidungsstücke. Dann sah sie dem Treiben auf dem Spielplatz zu, und endlich wohnte sie der allgemeinen Abendandacht im großen Betsaal bei. Alle Kinder mit ihren Lehrern und Aufsehern vereinigten sich oben, und unter den Klängen des Harmoniums ertönte der Abendgesang: »Nun sich der Tag geendet, mein Herz zu dir sich wendet.« Dann hielt Herr Wendt eine herzliche, einfache Ansprache an die Kinder, befahl die ganze Anstalt in die Hände Gottes und sprach den Segen. Dann wurde der Schlußvers gesungen und die Kinder, die so behütet an Leib und Seele ihren Tageslauf vollendet hatten, begaben sich in ihre Gemächer zur Ruhe. Frau Brok aber eilte zum Aufbruch, der Wagen hielt schon geraume Zeit vor der Tür. Sie verabschiedete sich herzlich von den neugewonnenen Freunden und versprach, einmal wiederzukommen. Unterwegs war Frau Brok schweigsam, die neuempfangenen Eindrücke stürmten gewaltsam auf sie ein. All ihr Tun und Lassen erschien ihr so eitel, so töricht dem gegenüber, was sie hier gesehen und gehört. Ein Seufzer aus aufrichtigem Herzen stieg zu Gott empor, daß Er ihr helfen solle, daß es anders werde. Anna war sehr belebt. Sie erzählte Frau Brok von allem, was der Franz berichtet, von seinen Arbeiten, von der Schule und den gemeinsamen Spielen. Aber das Schönste sei doch Weihnachten gewesen, habe er gesagt. Da habe er geglaubt, er sei im Himmel, so schön, so wunderschön sei es gewesen. »Möchtest du wohl auch in Grüntal sein?« fragte Frau Brok, »soll ich dich hinschicken?« Anna dachte eine Weile nach. »Ja, ich möchte wohl, aber ich will lieber bei Ihnen bleiben.« »Warum denn?« »Weil Sie sonst so allein sind.« »Ja, Anna, bleibe bei mir, wir wollen uns lieb haben, nicht wahr?« Anna nickte. Der Wagen rollte über Berg und Tal; es war ein lieblicher Juniabend, der Heuduft drang von den nahen Wiesen, der Mond warf sein mildes Licht über die Gegend, hier und da blinkten die Sternlein. Frau Brok bewegte noch immer den Schlußvers, welchen die Kinder in der Abendandacht gesungen, in ihrem Herzen:
Ein Tag der sagt's dem andern.
Mein Leben sei ein Wandern
Zur großen Ewigkeit.
O Ewigkeit, du schöne.
Mein Herz an dich gewöhne,
Mein Heim ist nicht in dieser Zeit.