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4. Ein guter Entschluß

Herr Werter hatte bald die Angelegenheit mit der Stadt geordnet, und Anna Mänz war fortan Frau Broks unbestrittenes Eigentum. Eine Woche war seit dem Einzugstage verflossen, schwere acht Tage. Frau Brok hatte sich die Erziehung des Kindes leichter gedacht, es ging nicht wie mit den Möbeln und Bildern, den Töpfen und Tiegeln. Mit denen machte sie, was sie wollte, hier war ein kleines lebendes Wesen, das oft ihren Willen durchkreuzte, das nicht so frisch und sauber blieb, wie es morgens aus ihrer Hand hervorging. Es bedurfte fortwährender Ermahnungen, steten Überwachens, um den kleinen, an Freiheit und Wildheit gewöhnten Vogel ruhig im Käfig zu halten. Die Freunde schüttelten den Kopf über diesen ›Einfall‹, wie sie es nannten. Frau Brok sei eine herzensgute Frau, aber für Kinder passe sie nicht. Die kleine Anna war aber bis jetzt ganz vergnügt, und wenn Frau Brok sie dann und wann mit auf die Straße nahm, schaute sie gar lustig drein. »O, wenn mich jetzt der Franz sähe«, sagte sie zu Frau Brok, als sie zum erstenmal ein neues, rundes Strohhütchen mit rotem Bande aufsetzen durfte. »Wenn er doch auch einen Hut oder eine neue Mütze bekommen könnte!« »Du hast wohl den Franz sehr lieb?« »Ja, wir sind immer zusammen gegangen, darf er nicht auch bei Ihnen bleiben?« Frau Brok antwortete nicht, denn diese Bitte wurde jeden Tag vorgebracht, und sie wollte und konnte nicht darauf hören. Nichtsdestoweniger dachte sie viel darüber nach, wie dem Knaben zu helfen sei. Er machte einen schwächlichen Eindruck; wenn er immer zwei Kinder zu warten hatte und weite Wege machen mußte, so mußten über kurz oder lang die Kräfte unterliegen. Sie hätte ihn gern irgendwo untergebracht, schon deshalb, weil er jeden freien Augenblick benutzte, um vor ihrem Hause zu stehen und sehnsüchtige Blicke nach den Fenstern zu senden, weil er immer versuchte, Anna zu erhaschen, um mit ihr zu plaudern oder sie zu veranlassen, mit ihm zu gehen. Frau Brok trug ihre Sache wieder Herrn Werter vor, der Rat für alles wußte. Er dachte eine Weile nach und rief endlich: »Zwei Meilen von hier in den Bergen liegt eine Erziehungsanstalt für verwahrloste Kinder, vielleicht kann der Herr Pfarrer Rat schaffen, daß der Knabe dort untergebracht wird, sprechen Sie einmal mit dem.«

Frau Brok kannte den Herrn Pfarrer nur wenig, aber die Sache beschäftigte sie unablässig. Sie hatte für eins der Kinder gesorgt, sollte sie nun das zweite im Elend lassen? Sie hatte sich durch Frau Sattler nach dem Knaben erkundigen lassen und erfahren, daß die Leute, bei denen Franz war, sich vom Betteln und Stehlen ernährten, daß der Knabe selbst mitunter zu diesen Dingen angehalten werde. So war es also geboten, ihn aus solcher Umgebung zu reißen, und sie sprach deshalb mit dem Pfarrer ihrer Gemeinde, sie bat ihn, sich des Knaben wegen zu verwenden. Dies geschah, nach kurzer Zeit war seine Aufnahme im Rettungshaus zu Grüntal gesichert. Die Stadt zahlte das Pensionsgeld, Frau Brok sorgte für seine Ausstattung. Anna freute sich, daß Franz es nun auch gut haben würde; aber die Trennung von ihm wollte ihr nicht gefallen. Frau Brok versprach, sie solle ihren Bruder einmal in der Anstalt besuchen, zudem erlaubte sie, daß Franz den letzten Abend bei ihr zubringen sollte. Es machte Schwierigkeiten, den Knaben loszubekommen. So sehr Annas Pflegeeltern sich ihrer zu entledigen suchten, so sehr widersetzten diese Leute sich, den Jungen herauszugeben, dessen Kräfte sie auf die schnödeste Weise auszunutzen trachteten. Sie mußten sich jedoch ergeben, da sie keinen Anspruch an ihn hatten.

Als Franz in dem neuen Anzug, den Frau Brok ihm geschenkt hatte, am letzten Abend vor ihr stand, sagte Anna: »Siehst du, Franz, nun bist du auch so schön wie ich; nun sind wir alle beide schön.« Über Frau Broks Gesicht glitt ein Strahl vollster Befriedigung. Was hatte sie aus beiden Kindern gemacht! Äußerlich waren sie kaum wiederzuerkennen, wie schmuck und sauber sahen sie aus, als sie Hand in Hand vor ihr standen. Der Knabe war zwei Jahre älter als Anna, also zehn, er sah aber schwächlich aus, obwohl er länger war. »In der frischen Luft dort in den Bergen wirst du rote Backen bekommen und wirst recht gesund werden«, sagte sie freundlich zu dem Knaben. »Bekommt er dort viele Schläge?« fragte Anna. »Streng geht es zu, aber wer seine Pflicht tut, bekommt keine Schläge. Seid nur beide recht brav, dann wird's euch wohlgehen.« – Die Kinder durften dann schöne Bilder ansehen, und nach dem Abendbrot mußte der Franz fort. Er sollte die Nacht beim Herrn Pfarrer bleiben, der ihn am andern Morgen selbst nach Grüntal bringen wollte. Die Kinder reichten sich die Hände und sagten sich Lebewohl. Mit dem Hausieren hatte es für immer ein Ende.

 

Ein ganzes Jahr war vergangen, seit Anna von Frau Brok aufgenommen war. Der erste Reiz, in einem schönen Hause bei einer guten Dame zu wohnen, war dahin, und wenn die Kleine auch noch immer mit großer Verehrung an der schönen Dame hinaufsah und im innersten Herzen Liebe und Dankbarkeit für sie hegte, so fand sie es doch oft recht langweilig und unbequem, mit Frau Brok zu leben. Diese hatte dafür gesorgt, daß Anna eine gute Schule besuchte, sie hielt streng auf regelmäßigen Schulbesuch, streng auf genaue Fertigung der Schulaufgaben. Anna mußte stricken; ach, wie ungern bequemte sie sich dazu. Die Finger waren so krumm und ungeschickt. Lust war nicht vorhanden und doch mußte täglich eine bestimmte Zahl von Nadeln abgestrickt werden. Dann wurde es entweder zu fest oder zu locker, oder es wurden Fehler gemacht und die Arbeit mußte wieder aufgetrennt werden. Da rollte manche Träne über die Wangen, und mancher Seufzer wurde laut ob Frau Broks großer Strenge. Sie konnte sich so wenig in des Kindes Seele versetzen, verstand es nicht, ihm Lust und Liebe zur Sache zu machen. So lag auf beiden oft ein Druck, Frau Brok fühlte zu sehr die Last, die sie sich aufgeladen, hätte sie oft von Herzen gern wieder abgeschüttelt, wäre lieber, wie ehedem, allein gewesen in ihren stillen, schönen Räumen, die oft durch des Kindes Ungeschick verunglimpft wurden, was sie dann ungerecht und böse machen konnte. Die Kleine fühlte sich durch das Alleinsein bedrückt, sie war an Freiheit gewöhnt, an das ungebundene Umherstreifen, an den Verkehr mit fremden Kindern. Besonders fehlte ihr Franz, der Bruder, und im Sommer kam die Sehnsucht nach den gemeinsamen Wanderungen auf den umliegenden Dörfern, das Ausruhen im schattigen, grünen Walde, das Suchen nach Beeren und was der Vergnügungen mehr waren. Gab es auch zu Hause Schläge und Vorwürfe über zu langes Ausbleiben, die Kinder waren daran gewöhnt und freuten sich auf den andern Nachmittag, an dem sie wieder ungehindert mit ihren Körben auf die Dörfer wandern, ihre Waren dort anbieten konnten und außer dem Gelde, was sie dafür in Empfang nahmen, wohl ein Stück Brot mit Speck oder Wurst geschenkt bekamen, das sie draußen teilten und fröhlich verschmausten. Freilich im Winter war es schwer gewesen, und wenn Anna daran zurückdachte, war sie doch froh, im Hause der Frau Brok geborgen zu sein.

Es war Anfang Juni, ein schöner Sommertag mit blauem Himmel und Sonnenschein. Im Hause wurde geputzt und gescheuert, morgen mußte alles blitzen und funkeln, da war Frau Broks Geburtstag, der mit den Freunden gefeiert werden sollte. Frau Sattler arbeitete im Haus herum, auch Anna war angestellt, sie mußte die Türschlösser putzen. »So ist's recht, meine Tochter«, sagte die Alte. »Siehst du, nun lernst du es schon immer besser; wenn du groß bist und ich bin gestorben, mußt du alles allein machen.« »Bin ich dann immer noch bei Frau Brok?« fragte Anna seufzend, und sah sehnsüchtig zum Fenster hinaus in den schönen Sonnenschein. Wenn es doch einmal eine Gelegenheit gäbe, daß sie hinaus könnte in die freie Gotteswelt. Im Garten durfte sie ja täglich sein, aber sie hätte so gern mal der Stadt den Rücken gekehrt!

»Frau Sattler«, begann die Kleine nach einer Weile, »ich möchte Frau Brok gern etwas schenken.« »Du hast ja nichts, mein Kind. Ja, wenn's in der Nähe Vergißmeinnicht gäbe, dann müßtest du der Frau ein Sträußchen holen, es sind ihre Lieblingsblumen.« Da blitzte es im Gesicht der Kleinen auf wie helle Freude, sie sagte aber nichts. Als sie mit ihrer Arbeit fertig war, huschte sie, ohne sich zu besinnen, zur Gartenpforte hinaus, gelangte ungesehen ins Freie und leicht wie ein Vogel, der dem Käfig entronnen, lief sie querfeldein, immer weiter und weiter, bis sie an die Wiesen kam, wo das wohlbekannte Bächlein floß, das an seinem Rande der Blümlein gar viele barg. Frau Brok, die vielbeschäftigte, hatte die Abwesenheit des Kindes nicht bemerkt; erst als Frau Sattler nach Hause ging, vermißte sie Anna. Als sie nach langem Suchen und Rufen nicht erschien, wurde sie sehr ärgerlich und ging ihren Hut zu holen, um bei den Nachbarn nach ihr zu fragen. Sie wußte nicht, daß das kleine Mädchen, ganz erhitzt vom Laufen, schon hinter der Laube kauerte, aus ihrer Schürze einen großen Strauß frischer Vergißmeinnicht hervorzog und ihn sorgfältig unter die großen, grünen Blätter steckte. Dann begab sie sich ins Haus, unbekümmert um ihr Aussehen, fröhlich, der Frau Brok auch etwas schenken zu können, was sie gern hatte. Die Dame wollte eben das Haus verlassen, um sie zu suchen.

»Unartiges Kind, wo bist du gewesen«, rief sie erzürnt. »Wie siehst du aus, die Haare zerzaust, die Schürze schmutzig, keinen Hut auf, schäme dich. Ein gutes Jahr bist du bei mir und noch hast du nicht gelernt, dich in acht zu nehmen. Wann wirst du anfangen mir Freude zu machen?« Das Kind begann zu weinen, sagte aber nichts und wurde zur Strafe zu Bett geschickt. Am andern Morgen freilich, als Frau Brok ihr Schlafstubenfenster öffnete und auf dem Sims die frischen, duftigen Vergißmeinnicht fand, welche Anna in aller Frühe dorthin gelegt, da war es ihr leid, daß sie so heftig gewesen. Ein warmes Gefühl der Liebe, wie sie es bisher gegen dies Kind nicht gekannt, zog durch ihr Herz, sie streichelte die Kleine und sagte ihr freundlich, daß sie ein anderes Mal sich Erlaubnis holen müsse zu einem Spaziergang, aber nicht so davonlaufen dürfe. Sie teilte ihr dann mit, daß sie eine große Freude für sie in Aussicht habe, vorausgesetzt, daß sie folgsam und fleißig sein würde. Anna war sehr neugierig, was es sein könnte, bis ihr Frau Brok eines Tages eröffnete, sie habe einen Wagen bestellt, und wenn am Freitag schönes Wetter sei, wolle sie mit ihr nach Grüntal fahren, um Franz zu besuchen. Frau Brok hatte sich von Zeit zu Zeit bei dem Herrn Pfarrer nach dem Ergehen des Knaben erkundigt und hatte nur Gutes erfahren. Franz sei zwar schwächlich, hatte der Vorsteher der Anstalt geschrieben, aber ein Knabe, der gut zu leiten sei; er hoffe, mit Gottes Hilfe einen braven Menschen aus ihm zu machen. Frau Brok, die in Erfahrung gebracht, daß auch Mädchen in einem von der Knabenanstalt getrennten Hause aufgenommen würden, hatte halb und halb bedauert, daß sie Anna nicht auch dort untergebracht hatte, es wäre vielleicht besser für das Kind gewesen. Vielleicht ließ es sich noch ausführen, doch wollte sie erst prüfen, dann handeln. Ihr selbst sagte sie natürlich nichts davon. Anna war überglücklich, in einer Kutsche ausfahren zu sollen, sie hatte nie in einem Wagen gesessen. Die Nacht zuvor schlief sie wenig, sie glaubte immer den Wagen zu hören. Am Morgen war sie früh auf und stand lange harrend an der Haustür. Jetzt kam er herangerasselt, nun saßen sie beide drin, die Pferde zogen an und hinaus ging es in die grünen Felder und in die Berge. Anna dünkte sich eine Prinzessin zu sein. Sonst war sie barfuß gelaufen auf diesem wohlbekannten Wege, nun saß sie neben der feingekleideten Dame, selbst sauber und frisch angezogen, ein helles Strohhütchen auf dem dunklen Haar, und fuhr in einer schönen offenen Kutsche, von schnellen Rossen gezogen, stolz in die Welt hinaus.


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