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So er nur an sich dächte, seinen Geist und Odem an sich zöge, so würde alles Fleisch miteinander vergehen und der Mensch wieder zu Staub werden. – Hiob 34. 14. 15.
Gott ist schaffende Kraft; er hat die Fähigkeit, seinen Willen nach außen zu projizieren. Welches ist der Wille Gottes? Er will sich selbst. Ich will mich, ist der Gedanke des Geistes, der göttliche Urgedanke. Diesen Gedanken wirft Gott nach außen, indem er gleichzeitig denkt: ich will dich. Er will sich in einem Gegenstande oder Gegensatze. Gott haftet nie an sich, sondern, obwohl er ewig er selbst ist, stellt er sich ewig außer sich dar. Der Kosmos oder Sternenhimmel ist der Ausdruck des sich ewig in einem Gegenstande selbst wollenden Gottes. Er ist der sichtbar gewordene Wille Gottes, die Übereinstimmung Gottes mit sich selbst. Geist ist die Kraft, sich selbst nach außen zu versetzen oder sich selbst in einem Gegenstande oder Gegensatz zu wollen; Geist ist also Schwungkraft. Da Gott in Übereinstimmung mit sich selbst sich selbst lieben muß, liebt er sich auch im Du; da er aber nie bei sich selbst, sondern immer in einem Gegenstande ist, liebt er immer die unendliche Zahl seiner Gegenstände: die Welt. Wir können sagen: Gott ist ein allmächtiger Wille, der auf das Wachstum eines unendlichen Gegenstandes gerichtet ist. Da nun alles, was erscheint, Ausfluß des göttlichen Willens ist, können wir aus dem ersten Satz ein Grundgesetz für die Natur ableiten, welches lautet: Auf sich selbst gerichteter Wille ist keine Kraft, sondern eine Hemmung. Die Versuche der Selbstbefruchtung in der Natur mußten bald der Befruchtung im Gegensatz weichen. Ich bin ich, weil ich einen Gegenstand wollen kann.
Die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit. – Kol. 3. 14.
Im Wesen des Subjekts liegt es, ein Objekt zu haben, und das Subjekt ist mit dem Objekt durch die Liebe verbunden. Es ist mehr als Zufall, daß das erste Zeitwort, welches beim Studium der Sprachen gelernt wird, das Wort lieben ist; denn der Satz: ich liebe dich, ist in der Tat der göttliche Urgedanke. Ich liebe dich, ich will dich, und ich schaffe dich, ist eins und dasselbe. Das wollende Ich verläßt sich selbst um des geliebten Gegenstandes willen; insofern ist Lieben ein Sterben, weil es ein Sichverlassen, ein Sichaufgeben ist. Zugleich aber ist Lieben ein Sichergänzen, ein Sichganzmachen durch den Gegensatz: der Mann ergänzt sich durch die Frau, die Frau durch den Mann, der Vater durch die Tochter, die Mutter durch den Sohn. Es liegt nah, zu fragen: ist denn Gott unvollkommen, daß er des Gegensatzes zur Ergänzung bedarf? Und das ist allerdings richtig: um sich zu offenbaren, bedarf Gott des Gegensatzes, nämlich des Stoffes. Gott für sich allein wäre eben nur für sich, und das wäre dasselbe wie Nichts. Aber es gibt keinen Gott für sich, sondern nur Gott, der sich im Stoffe offenbart; denn Gott ist die Liebe: ein Ich, das ein Nicht-Ich wachsen läßt.
Im Anfang war das Wort. – Joh. 1. 1.
Dickens erzählt gelegentlich von einem kleinen Mädchen, namens Laura Bridgman, das in früher Kindheit Gesicht, Gehör und Sprache verlor, und von der Art und Weise, wie ihr Lehrer sie vor dem Schicksal der Verblödung rettete, das ihr drohte, weil ihr die Brücke der Sinne fehlte, die den Einzelnen mit der Umwelt verbinden. Sie besaß nur den Tastsinn, den Sinn des Gefühls. Der Lehrer gab ihr Gegenstände, die ihr bekannt waren, schrieb gleichzeitig Zeichen in ihre Hand und suchte ihr klarzumachen, daß Gegenstand und Zeichen zusammengehörten. Ein unbeschreibliches Leuchten ging über ihr Gesicht, als sie begriff, daß es Dinge außer ihr gab, die ein selbständiges Dasein hatten, daß sie nicht allein in der Welt war. Tatsächlich war sie nie allein auf der Welt gewesen; aber sie hatte kein Einzelding von sich unterschieden, weil sie keine Vorstellung von ihm hatte. Ein Ich für sich allein ist ein Wollen oder Wallen, eine fließende Bewegung, ein Strom, der alles, was ihn berührt, mit sich reißt. Gehemmt wird dieser Strom des Willens durch einen Reiz, der sich ihm entgegenstellt, sich ihm vorstellt. Dies Nicht-Ich, dieser fremde Wille, der den Strom des Willens staut, wird im Augenblick, wo er das tut, des Stromes Herr, und das Ich personifiziert ihn. Etwas personifizieren heißt, unseren Willen auf einen anderen Willen übertragen, der den unserigen beherrscht, weil er sich uns vorstellt. In dem Augenblick, wo eine Vorstellung, eine Idee, uns beherrscht, sind wir von unserem Willen, soweit er nur sich selbst wollte, erlöst.
In dem Augenblick, wo Laura Bridgman die Vorstellung, wo sie das Wort hatte, war ihr Geist geweckt. Ihr Gesicht strahlte, wie erzählt wird, von Intelligenz. Sie konnte sich stundenlang allein mit ihren Vorstellungen unterhalten, und ihre Belehrbarkeit hatte keine Grenze mehr. Sie war ein geistiges Wesen geworden, ein bewußtes Ich, weil sie die Vorstellung eines Gegenstandes haben, weil sie ein Nicht-Ich denken konnte. Vorstellung ist aber Wort: sie ist nicht denkbar ohne Sprache, die beim Stummen durch eine Zeichensprache ersetzt werden muß. Man beobachtete bei Laura Bridgman, daß sie, wenn sie träumte, ihre Finger in der Art ihrer Zeichensprache bewegte, je nach der Klarheit oder Verworrenheit des Traumes mehr oder weniger deutlich. Der Geist ist in der Sprache, im Wort, weil das Ich sich durch das Wort in Beziehung zu anderen Wesen setzt. Im Wort wirft der göttliche Geist die letzte Hülle von sich und äußert sich vollkommen; nackt, frei, alles durchdringend ist es das richtende Schwert und der leuchtende Strahl. Das Wort, welches es auch sei, wird laut, um vernommen zu werden: es ist ein Bogen, den die Liebe von einem Ich zu einem Du spannt.
Und Ehud sprach: Ich habe Gottes Wort an dich. – Richter 3. 20.
So sprach Ehud, der Heiland, den der Herr dem Volk Israel erweckte, als die Moabiter es unterjocht hatten, zu dem Moabiterkönige Eglon und tötete ihn. Das Wort Gottes ist ein Auftrag, ist der Wille Gottes, der in der Sprache vernehmlich wird. Darum gehört zum Zauber das Wort, weil im Wort der Wille sich äußert, sei es ein guter oder ein böser.
Wir sehen also, daß es zwei Willen gibt: den strömenden Willen, in welchem wir unser Ich fühlen, und den Willen, welcher im Wort ist. Wir können jenen die Willenskraft, diesen das Willenswort nennen, die Idee oder den Sinn. Weil dieser von Anfang ist, hat die Welt Sinn, Zusammenhang und Bedeutung. Wir können zum Beispiel erklären, wie wir sehen und was wir sehen, daß wir aber sinnvoll sehen, daß die Bilder, die sich in unserem Auge spiegeln, für unser Bewußtsein Sinnbilder sind, und daß sie Gefühle in uns erregen, das läßt sich nicht erklären; es ist, und es ist Gott.
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. – Joh 1. 1.
Nicht etwa ist die Idee etwas vom Willen Verschiedenes, sondern die göttliche Idee ist Wille. Im Anfang war das Wort, die Idee oder Vorstellung, die zugleich ein Wille war, und dieser Wille war eine Kraft; im Anfang war eine Idee, die unmittelbar in Kraft trat. Befehl und Ausführung des Befehls waren eins, Gottes Allmacht will, und es geschieht. Der Sternenhimmel ist ein unmittelbares Inkrafttreten des göttlichen Weltgedankens, ein vollkommener Ausdruck lebendiger Beziehung von einem Mittelpunkt zum anderen. Zwischen dem göttlichen Wort und der göttlichen Kraft steht nur der Stoff an sich, als Träger beider, Vermittelungspunkt beider. Weil der Sternenhimmel die unmittelbare Äußerung des göttlichen Willens ist, trifft er auch unser Gefühl unmittelbar und zwingt uns zur Anbetung. Ist aber auch der Sternenhimmel Gottes unmittelbare Offenbarung, so ist seine Offenbarung doch in ihm nicht vollendet; das ist sie erst im Menschen, dessen Selbstbewußtsein die Kette der unendlichen Beziehung schließt, dessen Gottbewußtsein sie wieder öffnet.
Denn welcher Mensch weiß, was im Menschen ist, ohne den Geist des Menschen, der in ihm ist? Also auch weiß niemand, was in Gott ist, ohne den Geist Gottes. – 1. Kor. 2. 11.
Wir unterscheiden in uns zwei Bewußtseinsformen oder eine gedoppelte Offenbarung des Geistes: den göttlichen Geist und den menschlichen Geist; wofür wir gewöhnlich die Ausdrücke gebrauchen: das Unbewußte und das Selbstbewußtsein. Soweit wir vom liebenden Willen Gottes getragen werden, sind wir unbewußt und passiv: das Göttliche wirkt durch uns als Idee oder Wort, mit der die Kraft sofort eins wird, zugleich also als Wort und Kraft. Diese Willenskraft Gottes kommt zwar dem Geschöpf zum Bewußtsein, aber nur im Durchströmen, nicht so, als ob sie von ihm selbst ausginge. Das geschieht erst, wenn der das Geschöpf durchströmende Gotteswille einen festen Mittelpunkt im Geschöpf gebildet hat, so daß es sich für das Subjekt, den Ausgangspunkt der göttlichen Kraft hält und halten muß, deren Gegenstand es ist. Von dem Augenblick an hat das Geschöpf Selbstbewußtsein und ist eigentlich Mensch. Die Einheit seines Geistes oder Bewußtseins ist damit gestört, indem es nun zwei Bewußtseinsformen hat: das Selbstbewußtsein und das Gottesbewußtsein oder das Unbewußte, mittels dessen es auf Gott ruht und von Gott gewollt und geliebt wird. Durch das Selbstbewußtsein erkennt es Gott, von dem es bisher nichts wußte, aber auch sich selbst.
Nach dem Willen Gottes nun sollte das Geschöpf, sowie es selbstbewußt geworden ist, sich mit Gott vereinen, also ein Liebeswillen werden, der andere Geschöpfe trägt, so daß sich ein Sternenhimmel entfaltete von einem Liebesmittelpunkt zum anderen. Dieser Wille wird aber durch das Selbstbewußtsein gehemmt, indem das Geschöpf, welches Selbstbewußtsein erlangt hat, die ihm von Gott mitgeteilte Kraft für sich behalten will, um sich nicht aufgeben zu müssen, sondern ewig zu leben. Sowie der menschliche Geist, der, wie aus dem Vorhergehenden erhellt, ursprünglich göttlicher Geist ist, im Zentralnervensystem des Menschen zentralisiert, den göttlichen Geist bindet, so daß der freie Strom der Liebe nicht weiterrauschen kann, wird er satanisch. Satan ist eine Verkehrung Gottes; er ist die Richtung des Geistes auf sich selbst oder das Sichselbstwollen, wodurch das Unbewußte verdrängt wird. Das Unbewußte ist das Göttliche in uns und wird unser Persönliches, wenn das Selbstbewußtsein es widerspiegelt. Sowie aber unser bewußtes Geistesleben in Gegensatz zum Unbewußten tritt und es verdrängt, wird es das Teuflische in uns.
Das Wort ward Fleisch. – Joh. 1. 14.
Byron nennt in seinem Manfred die Sonne den Stellvertreter Gottes, die Perser beteten das Feuer an, und die Griechen nannten den Äther Vater. Eine strahlende Kraft als Urquell aller Erscheinungen aufzufassen, hat sich überall dem menschlichen Geiste natürlich gezeigt. Auch die Heilige Schrift läßt Gott im Licht und im Feuer erscheinen, ja, sie nennt Gott ein Feuer; aber das ist das Außerordentliche, daß sie doch das Feuer als solches nicht als Gott verehrt, noch auch den Geist an und für sich, sondern daß sie uns die Eine lebendige Kraft lehrt, Gott, der sich, ein und derselbe, im Element und im menschlichen Geiste offenbart. Unsere Religion lehrt nicht, daß der Geist den Stoff schaffe, noch natürlich das Umgekehrte, genau genommen auch nicht, daß Geist und Stoff das gleiche sei, nur von zwei Seiten betrachtet; sondern daß eine lebendige Willenskraft sich zwiefach offenbart, in der Natur und im Geiste, welche zwiefache Offenbarung im Menschen eins wird: Gott ist ein dreieiniger Gott. Er offenbart sich als das Unbewußte in der Natur und nochmals als das Unbewußte jenseit des Selbstbewußtseins, in welchem die beiden erstgenannten Offenbarungen sich vereinigen auf einen Augenblick, diesen Silberblick, in dem der Geist, die Hemmung des Selbstbewußtseins überwindend, persönlich sichtbar wird.
Daß die Idee Fleisch ward, daß das Geistige sich verkörpert, ist das ewig unlösbare Geheimnis, das der Welt zugrunde liegt. Es ist das Geheimnis Gottes, des Geistes, das der Mensch erschauernd in Ehrfurcht anbetet; erklären kann er es nicht, wohl aber, aus der Liebe, nachfühlen. Nicht vom Wort auszugehen, sondern das Wort aus dem Fleisch erklären zu wollen, ist Wahnwitz. Daß wir denkende, fühlende, wollende Wesen sind, daß wir Geist haben, ist nur daraus erklärbar, daß Gott, der Geist, die Urtatsache ist, und daß er sich in uns offenbart. Sich zu offenbaren, Fleisch zu werden, ist der Wille der Idee oder des Wortes; es wollte Fleisch werden und fleischgeworden sich wieder äußern in der Sprache. Daß wir sprechen können, uns im Wort äußern können, unterscheidet uns Menschen vom Tier; das Wort offenbart sich in uns und kehrt zu sich selbst zurück. Das Wort aber nicht allein, sondern mit ihm wir selbst; denn der Mensch ist nicht eine Röhre, ein Sprachrohr, durch welches das Wort hindurchgeht, sondern das Wort ist eins mit ihm geworden, es ist ja eingefleischt. Das eben unterscheidet Idee und Begriff, daß sie Fleisch werden, daß sie sich verwirklichen will und kann. Gott ist Gott-Natur, es gibt keinen Gott an sich. Ja, es gibt Gott an sich, aber er ist ein verzehrendes Feuer, Gott in seiner Majestät; da nun Gott vielmehr ein erwärmendes, erleuchtendes, lebenschaffendes Feuer ist, die feurige Kraft, die uns allen das Leben gibt, und die wir Liebe nennen, so wäre Gott an sich der vollkommene Widerspruch des offenbarten Gottes.
Die eingefleischte Liebe stellt sich in zweierlei Gestalt dar, als männliche Zeugungskraft und weibliche Empfänglichkeit. Die männliche Liebe ist Träger der Kraft und des göttlichen Gedankens: ich will; die weibliche Liebe ist Träger des göttlichen Gedankens: ich will dich; und eben deshalb Träger des Wortes oder der Idee. Die weibliche Liebe hat die Vorstellung des geliebten Gegenstandes, den sie wachsen lassen will.
Die Natur kennt kein ganzes Geschöpf, kennt nicht den Menschen, sondern Mann und Weib. Der göttliche Strahl der Liebe spaltete sich um der Seligkeit der Wiedervereinigung willen. Ohne vorhergegangene Trennung wäre keine Liebe; die Liebe, Gott selbst, beruht auf dem Schmerz. Die stärkste im Fleisch geoffenbarte Liebe, die Mutterliebe, beruht darauf, daß das Geschöpf sich selbst in zwei reißt.
Kennt die Natur aber auch nichts Ganzes, sondern nur Teile, so ist doch die Idee des Ganzen oder der Wille zum Ganzen in ihr verborgen, ja ihr Grund; denn er ist eben Gott, die Kraft der Liebe, die das Geteilte ins Ganze, das Unvollkommene ins Vollkommene bildet.
Da Gott den Menschen schuf, machte er ihn nach dem Gleichnis Gottes. Und schuf sie, einen Mann und ein Weib, und segnete sie und hieß ihren Namen Mensch. – 1. Mos. 5. 1. 2.
Zwei Strahlen sehen wir auf alten Bildern Gottes Haupte entspringen: es sind Mann und Weib, Willenswort und Willenskraft, in die der ganze Mensch, der Vollkommene, sich spaltet. Die göttliche Kraft, die nicht von der Willkür des Menschen abhängt, und die wir deshalb das Unbewußte nennen, offenbart sich in der Natur des Mannes als Wille zur Macht, zum Leben, im Geiste des Weibes als Opfertrieb oder Wille zum Sterben. Wenn diese beiden eins werden, so entsteht der Mensch, und wenn der Wille zum Sterben den Willen zum Leben überwindet, so entsteht der Gottmensch: accedit verbum ad elementum et fit sacramentum. Der unbewußte Wille zur Macht beruht darauf, daß Gott den Menschen liebt und wachsen läßt; wenn er so weit gewachsen ist, wie er soll, wird er selbstbewußt. Dann sollte er sterben, weil er nicht weiterwachsen könnte, ohne andere zu unterdrücken. Das drückt sich darin aus, daß der selbstbewußt gewordene Mensch sich seines Machttriebes schämt, ihn nicht mehr offen zu äußern wagt: sein Gewissen sagt ihm, daß er nunmehr, anstatt selbst weiterzuwachsen, andere sollte wachsen lassen, wie Gott tut; denn er ist nicht selbstbewußt geworden, ohne Gottes bewußt zu werden. Der Wille zur Macht ist gut im unbewußten Menschen; er wird böse im selbstbewußten.
Niemand könnte ein ganzer Mensch werden, wenn er nur Mann und nur Weib wäre; in beiden offenbart sich göttliche Lebenskraft und göttlicher Opferwille, aber so, daß dem Manne die erste und dem Weibe die zweite wesentlich ist.
Denn mit sehenden Augen sehen sie nicht, und mit hörenden Ohren hören sie nicht. – Matth. 13. 13. Ein hörend Ohr und sehend Auge, die macht beide der Herr. – Sprüche 20. 12.
Unsere sogenannten höheren Sinne, Gesicht und Gehör, sind die Brücke zur Welt; aber an und für sich verbinden sie nur Äußeres mit Äußerem, nicht das Ich mit dem Nicht-Ich. Wir finden sogar, daß Blinde oder Taubstumme, ja, Blinde, die zugleich taubstumm sind, inniger mit dem Nicht-Ich verbunden sein können als die mit gesunden Sinnen Begabten. Man spricht deshalb von einem inneren Sinn oder sechsten Sinn, welcher im Tastsinn oder Gefühl liegt, und mit welchem die Liebesorgane verbunden sind. Der Gehorsam und der Nachahmungstrieb bei Blinden und Taubstummen deuten darauf hin, daß das empfängliche Gefühl bei den der Sinne Beraubten in höherem Maße vorhanden ist. Daß das aktive Gefühl gleichfalls sehr stark ist, zeigen sie durch hochentwickelte Herrschsucht, Eifersucht und andere selbstsüchtige Leidenschaften; nur sind sie, ähnlich wie gezähmte Tiere, den gesunden Menschen gegenüber zu sehr im Nachteil und zu sehr von ihnen abhängig, um ihren Machttrieb auswirken zu können.
Das Sehen und Hören zerlegt die Welt in geschaute und gehörte Welt und gibt die Möglichkeit, sie mit dem Verstande zu begreifen; die geistige Seite des Sehens und Hörens aber, welche die wesentliche ist, entspringt nicht in ihnen selbst, sondern in dem Ursinn des Gefühls. Sie sind Werkzeuge, mit denen der Schöpfer die Welt schaffte, für sich aber, losgelöst aus dieses Schöpfers lebendiger Hand, nichts als Werkzeuge.
Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort. – 1. Kor. 13. 12.
Die Vorstellungen, die wir, mit Sinnen begabte Menschen, von den Dingen haben, sind nicht die Dinge an sich, nicht die Urbilder, denn diese sind im Stoffe verborgen; es sind nur Spiegelungen, Bilder im Spiegel unserer Sinne. Nur von einem einzigen Dinge haben wir das Urwort oder Urbild in uns, von uns selbst nämlich. Unser Ich erfahren wir durch unseren unbewußten Willen, der unser Leben, der Grund unseres Daseins ist. Mit Gott, dem Urgrund der Dinge, sind wir unmittelbar durch unser Ich verbunden, so daß unser Ich unser Gott und Herr wäre, wenn wir allein wären. Aber wir sind nicht allein, sondern wir haben die Vorstellung von anderen Dingen, die nicht Ich sind, und deren wir doch durchaus bedürfen, ja, von denen wir abhängen. Unser Gefühl, das uns unser Ich verbürgt, lehrt uns zugleich dadurch, daß es uns zu anderen mit zwingender Gewalt hinzieht, daß wir nur Teil sind, obwohl wir unser Ich als etwas Unteilbares und Einziges empfinden.
Die lebendige Substanz ist ein Spiegel, der uns Wille und Vorstellung Gottes zwar vermittelt, aber nicht rein, eben weil er Substanz ist. Unser Ich läßt uns Gott nicht rein erfahren, weil es durch einen Körper individualisiert ist; unsere Vorstellungen von den Dingen lassen uns das Nicht-Ich nicht rein erfahren, weil wir sie nur als Vorstellung erfahren. Dennoch gibt es einen Weg, den Weg der Liebe nämlich, ein Du nicht nur als Vorstellung, sondern auch als Wille zu erleben. In der Liebe fühlen wir das Du unmittelbar, wie wir unser Ich fühlen, und doch ohne die Trübung der Substanz, da das Du zugleich unsere Vorstellung ist; die Liebe schmilzt die trennende Mauer der Körperlichkeit weg und läßt aus Zweien Eins werden.
Und es sind mancherlei Kräfte; aber es ist Ein Gott, der da wirket alles in allen. – 1. Kor. 12. 6.
Schiller beklagt in einem Jugendgedichte, daß die griechische Götterwelt, um den Einen Gott zu bereichern, habe vergehen müssen. Das ist eines der vielen Mißverständnisse, mit denen man der jüdisch-christlichen Religion gegenübersteht. Gott hebt ja die Vielheit nicht auf, er ist ja gerade die Einheit in der Vielheit, ohne sie nicht denkbar; weil er sich selbst opfert, um im unendlich Vielen zu sein, ist das All, ein unendlich Vieles, durch unendlich viele Punkte auf Einen Punkt Bezogenes, der in der Unendlichkeit ist. Gott kann nur sein, wer sich selbst aufgibt: einen anderen Herrn könnte die Welt nicht ertragen, weil er sie erdrücken würde. Die Griechen ahnten, daß über ihren Göttern eine unerbittliche Macht walte, Ein herrschender Geist über allen Einzelkräften. Die jüdisch-christliche Religion aber bestätigte und erfüllte diese Ahnung durch die Erkenntnis, mit der sich die Entwicklung des Menschen überhaupt erfüllte, daß die göttliche Notwendigkeit, die sich in der Natur als Gesetz offenbart, nicht das ganze Wesen der Gottheit ausmacht, sondern daß Gott zugleich Gesetz und Gnade ist, und daß er sich im Fleische, also in der Menschheit offenbart. Nicht unzugänglich und unerbittlich verherrlicht sich der ewige Wille in den Sternen: er neigt sich und taut in Feuerflocken zur Erde, die dadurch zu einem lebendigen Spiegel wird.
Die unendlich vielen Kräfte sind im Stoff, und zwar gibt es unverweslichen und verweslichen; der verwesliche Stoff ist die lebendige Substanz oder das Fleisch. Die unendliche Teilbarkeit des Stoffes macht, daß der Eine Geist sich unendlichfach offenbart, durch unendlich viele Kräfte, die zum Teil elementar, zum Teil individuell sind. Kraft im Stoff ist immer in Bewegung, im Wallen, sie ist immer auf etwas gerichtet, das sie haben, sich einverleiben will. Kraft im Stoff ist Wachstums- und Machttrieb. Gott regiert die Kräfte dadurch, daß er sie regelt, richtet, lenkt; er hemmt sie, von denen jede ihr Wachstum und ihre Macht will, und nach Gottes Willen auch wollen soll, mit Hinblick auf die Harmonie des Ganzen. Gott ist aber nicht nur an Einem Orte, sondern überall gegenwärtig, und lenkt also die Kräfte nicht von ihrem Ursprung an in gerader Linie auf sich zu, als auf den einzigen Mittelpunkt – das wäre, wie wenn es nichts als eine einzige Riesensonne gäbe –, sondern er bindet sie von vergänglichen Mittelpunkten aus in Gruppen und diese Gruppen in größere Kreise und so immer weiter in unermeßlichen Sphären. Das Treiben der Kräfte veranlaßt Gott, sich zu offenbaren; er selbst bewegt sich nicht, er ruht; aber alle Wogen müssen sich vor ihm legen. Außer der Natur ist keine Kraft: nur vermittels der Naturkräfte lernen wir die göttliche Urkraft kennen. Sinnliche Liebe ist nicht göttliche Liebe; aber nur durch sinnliche Liebe kann sich göttliche Liebe offenbaren, wenn auch die sinnliche Liebe sich nicht notwendig als solche äußern muß. Es läßt sich denken, daß sich die sinnliche Liebe, noch bevor sie sich als solche geäußert hat, in göttliche Liebe umsetzt, wie das bei Christus der Fall war; aber es läßt sich nicht denken, daß ein Mensch, dem die Kraft der natürlichen Liebe fehlt, göttlich lieben könne. Wem sowohl die natürliche wie die göttliche Liebe, die aus dem Unbewußten, wir können auch sagen, die aus dem Ganzen strömende Kraft fehlt, der ist geistig tot.
Der du bist ein Gott der Geister alles Fleisches. – 4. Mos. 16. 22.
Der Stoff muß notwendigerweise, damit die Kraft auf ihn wirken kann, von ihr verschieden und schwächer als sie sein; während sie tätig, aktiv ist, ist er leidend, passiv. Wäre der Stoff unendlich schwach, so würde er durch die Kraft sofort verzehrt werden, und Gott könnte sich nicht offenbaren. Der Stoff ist aber nicht verzehrbar, sondern empfänglich: im Augenblick, wo er durch die auf ihn wirkende Kraft Kraft empfangen hat, mit Kraft geladen ist, hat er selbst Kraft, die sich der göttlichen Kraft als Widerstandskraft entgegensetzt. Alle Kraft, der wir mächtig sind, ist Widerstandskraft; Kraft empfangen können wir nur, indem wir passiv sind. Die Kraft wird durch den Stoff gespalten in Urkraft und Widerstandskraft oder in positive und negative Kraft. Kraft ist polar, und alles Leben beruht auf dem Gegensatz, der nach Ausgleich strebt.
Ich will mir die Kraft denken wie einen Strahl, der in den Stoff eindringt und dadurch Eigentum des Stoffes wird. Dieser empfangene Strahl wendet sich von der Urkraft ab, um seinerseits auf Stoff zu wirken; der Stoff aber, der seine empfangene Kraft sofort abgegeben hat, strebt wieder zur Urkraft hin, um mit neuer Kraft geladen zu werden. Durch dieses Fortstreben von der Kraft und Hinstreben zu ihr entsteht eine kreisende Bewegung, wobei der Stoff fortwährend zwischen der Kraft wechselt. Er ist ewig wie die Kraft, aber nicht wie sie unsterblich; im Gegenteil, er stirbt unausgesetzt, um sofort wieder zu erstehen. Dieser Stoffwechsel macht, daß das Dasein des Stoffes eigentlich eine Täuschung ist: er hat kein Sein, keine Gegenwart, nur Werden und Vergehen, ist im fortwährenden Fluß. Im Wesen des Stoffes liegt es, Kraft aufzunehmen und abzugeben, darin geht er auf.
Dadurch, daß es dem Stoff gelingt, Kraft an sich zu reißen, festzuhalten und zu spiegeln, wird aus dem unverweslichen Stoffe Element und schließlich lebendige Substanz. Jetzt erst wird die Spaltung Gottes in männliche Kraft und weibliche Empfänglichkeit wirklich. Die männliche Widerstandskraft ist Kraft so gut wie die göttliche Urkraft, nur dadurch von Gott verschieden, daß sie nicht Gott selbst, sondern Gott im Fleisch ist. Als Kraft muß die Kraft die Neigung haben, zu dauern, sie hat Selbsterhaltungstrieb und hat die Neigung, sich zum Mittelpunkt des All zu machen. Zum Mittelpunkt einer vom All abgesonderten, begrenzten Stoffmenge kann sie sich wirklich machen; die Empfänglichkeit will und kann das nicht, aber sie ist eben durch ihre Empfänglichkeit mit dem All verbunden. Nur durch die Empfänglichkeit kann Gott der Herr der Geister alles Fleisches bleiben; ohne die Empfänglichkeit hätte aber das Fleisch gar keinen Geist mehr und würde, als bloßes Fleisch, verdorren. Solange die Passivität oder Empfänglichkeit in einem Körper die Aktivität überwiegt, kann er leben; sowie aber die Aktivität die Empfänglichkeit überwiegt, muß er sterben, weil in dem Falle nicht mehr so viel Kraft ausgenommen werden kann, wie verbraucht wird. Da sich nun kein Körper selbständig konstituieren könnte, wenn nicht die Aktivität überwöge, muß jeder selbständige Körper sterben. Jeder Stern, sei er so groß er wolle, muß verenden. Stets sich runden, nie sich schließen, heißt es darum bei Goethe. Das Weltall ist kein Ball, sondern eine Spirale. Jede Insel muß, je kleiner und abgeschlossener sie ist, um so eher erstarren. Ein Körper ist um so lebensvoller, je reicher er gegliedert und je lebhafter der Verkehr seiner Glieder untereinander ist, je reger ferner sein Verkehr mit anderen Körpern ist. Wir sind nicht auf uns selbst angewiesen, sondern in unseren Beziehungen zu anderen ist unser Leben. Deshalb ist auch der Staatenbund die beste Körperform eines Staates.
Die Widerstandskraft ist dadurch, daß sie auf einen vom Ganzen abgesonderten Teil bezogen wird, egoistisch, und der göttlichen Urkraft, die in der Welt ist, insofern entgegengesetzt. Sowie sie aber durch die Empfänglichkeit mit dem göttlichen Selbstvernichtungstriebe eins wird, ist die göttliche Urkraft wiederhergestellt, allerdings auf Kosten des selbständigen Körpers, welcher sich gleichzeitig auflöst. Von Geist sprechen wir, wenn männliche Widerstandskraft und weibliches Wort, Selbstliebe und Liebe zum Ganzen durch die Liebe zu anderen, sich im Gleichgewicht befinden.
Laß dir an meiner Gnade genug sein, denn meine Kraft ist in dem Schwachen mächtig. – 2. Kor. 12.9.
Urkraft ist sterbende Widerstandskraft oder die durch Auflösung des Stoffes freiwerdende Urkraft. Wenn lange keine Widerstandskraft abgegeben ist und dadurch eine starke Verdichtung der Widerstandskraft im Stoffe eingetreten ist, so sprengt zuletzt die Kraft den Stoff, um ausströmen zu können. Denn Gott ist eine freie Kraft, die, im Stoffe gebunden, sich äußern, sich offenbaren will, und je mehr Kraft sich angesammelt oder verdichtet hat, desto stärker die Hemmung der Äußerung dadurch geworden ist, desto stärker wird auch der göttliche Wille nach Äußerung. Indem er sich äußert, löst er den Stoff auf. Das erste Zeichen der Sprengung des Stoffes durch den Geist, die erste Äußerung des Geistes ist die Sprache. Manche Tiere, die für gewöhnlich stimmlos sind, geben in Augenblicken höchster Gefahr und des Sterbens Töne von sich; damit mag die Sage von dem im Tode singenden Schwane zusammenhängen. Der Mensch ist das sterbende Tier; die Widerstandskraft beginnt im Menschen sich in Urkraft umzuwandeln, mit anderen Worten, der Tiermensch soll Gottmensch werden. Der Mensch hat Geist, weil er sich äußern, weil er sich seiner Widerstandskraft entäußern kann. Dichtung ist der Schwanengesang des Menschen, die letzte Offenbarung Gottes im Fleisch, und es gibt kein Genie ohne den Drang und die Gabe sprachlicher Äußerung. Alle großen Männer der Tat waren Dichter, sowie sie keine Taten tun konnten: Napoleon begann und endete als Schriftsteller, Cäsar war klassisch im sprachlichen Ausdruck, Moses und Paulus gehören zu den größten Dichtern der Weltgeschichte, von Christus zu schweigen.
Gott, der für uns im Unbewußten ist, kann sich nur äußern, wenn das wesentlich Menschliche im Menschen, seine Bewußtheit, sein Selbstwollen, ruht. Zwar ist der Mensch, durch den Gott wirkt und der von Gott getragen ist, stärker als jeder auf sich selbst Ruhende; aber die Bedingung dieser Gnadenkraft ist ein menschliches Schwachsein, ein Pfahl im Fleische, wie Paulus es nannte. Es ist Ebbe im Menschen, wenn die göttliche Flut schwillt.
Und nun, warum sollen wir sterben, daß uns das große Feuer verzehre? Wenn wir des Herrn unseres Gottes Stimme weiter hören, so müssen wir sterben. Denn was ist alles Fleisch, daß es hören möge die Stimme des lebendigen Gottes aus dem Feuer reden wie wir und lebendig bleibe? Tritt du hinzu und höre alles, was der Herr unser Gott sagt, und sage es uns. – 5. Mos. 5.25.26.27.
Die Offenbarungen der göttlichen Gnade verzehren das Fleisch, wie die Flamme der Kerze von der Kerze selbst sich nährt. Einfälle, das heißt Eingebungen aus dem sogenannten Unbewußten, sind wirklich Einfälle, Zusammenbrüche des Stoffes. Händel, ein außergewöhnlich starker und gesunder Mann, war auch von außergewöhnlicher Fruchtbarkeit; seine unsterblichen Werke begann er aber erst von seinem fünfzigsten Jahre etwa an zu schreiben, als seine körperliche Gesundheit gebrochen war und schwere Kämpfe, Sorgen und Widerwärtigkeiten auch seine Seele ins Wanken brachten. Etwas Ähnliches ist an Blücher zu beobachten; überhaupt sind die Männer nicht selten, die im Greisenalter noch einen Durchbruch von Genialität erleben. Sehr lehrreich läßt sich in Luthers Leben verfolgen, wie sein Wirken stets von körperlichen und seelischen Erschütterungen begleitet war; mit seinem Auftreten in Worms setzte ein Magen- und Darmleiden ein, das ihn nie mehr verließ. Es ließen sich Beispiele aus dem Leben jedes genialen Menschen anführen. Jeder Berufene ist ein Opfer, das die Flamme verzehrt; aber während er verzehrt wird, erleuchtet und erwärmt er weithin die Welt. Dazu gehört eine besondere Beschaffenheit, die die Voraussetzung des Auserwählten ist. Die göttliche Gnade ist im Schwachen mächtig, aber bei weitem nicht in jedem; es gehört eine Schwachheit dazu, die wunderbar mit Kraft verbunden ist. Gott wird Mittelpunkt, wo ein starker Widerstandskraftmittelpunkt sich auflöst; zuvor aber muß ein solcher dagewesen sein.
Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab. – Joh. 3.16.
In der Musik hören wir drei Stimmen: die ehern hinschreitende des Schicksals, die trotzig dagegen sich auflehnende des Mannes und die süß klagende des Weibes, die den versöhnenden Bogen der Melodie zwischen die gegeneinander Zürnenden spannt. In der altitalienischen Kirchenmusik überwiegt weitaus die geheimnisvoll strenge Stimme Gottes, der mit verhaltenem Schmerz der menschliche Wille sich beugt. Bei Bach herrscht noch die göttliche Stimme, erst bei Beethoven entfaltet sich die titanische Kraft des männlichen Gegenwillens ganz, und um so hinreißender strömt das melodische Flehen, das dem Herrn die Gnade und dem Empörer die Unterwerfung abringt, so daß die drei eins werden, Gott Mensch und der Mensch Gott. In der modernen Musik, wie in der modernen Kunst überhaupt, ist dies Verhältnis gänzlich aufgehoben: mit dem Glauben an Gott fehlt auch der Widerstand gegen und die Versöhnung mit Gott.
Drei Kräfte liegen der Welt zugrunde: das Sollen oder Müssen, das Wollen und das Sichergeben. Das Sichergeben kann auf beides gerichtet sein, auf das Sollen und auf das Wollen, und soll es; denn wäre es das nicht, könnte es die Kluft, die zwischen dem Sollen und Wollen besteht, nicht überspannen. Das, was für uns das Müssen ist, das Sollen, ist der göttliche Wille, die innere Notwendigkeit; das Wollen ist die männliche Widerstandskraft gegen den göttlichen Willen, und das Sichergeben ist die weibliche Kraft des Glaubens an Gott, die insofern einen Widerstand gegen den männlichen Willen bedeutet. In der physischen Welt kennen wir diese drei Kräfte als Schwerkraft oder Kraft des Mittelpunktes, Zentrifugalkraft oder Widerstandskraft gegen den Mittelpunkt und Zentripetalkraft oder Hingebung an den Mittelpunkt. In der organischen Natur aber offenbart Gott sich nicht in dem festen Mittelpunkt des Geschöpfes, vielmehr geht von diesem festen Mittelpunkte der Widerstand gegen Gott aus, der sich nur, nämlich Gott, in der ganzen Person, in dem vom Gefühl getragenen Menschen offenbart.
Wenn aber Gott das Gesetz, das unentrinnbare Schicksal ist, wie kann er zugleich die Liebe sein? Oder gibt es gar kein Gesetz, kein unentrinnbares Schicksal? Es gibt es für den Satan, den ungehorsamen, den von Gott abgewendeten Sohn. Wenn der Sohn mit Hilfe des Heiligen Geistes sich selbst vergißt, ist er stärker als das Schicksal, weil Gott selbst sich in ihm offenbart und sich selbst, soweit er Gesetz ist, durch ihn überwindet.
Der Sohn, in dem der Vater, der göttliche Wille, sich offenbart, ist die Menschheit, deren Kraft Widerstandskraft ist und sein soll; denn sie wäre sonst nicht. Durch Christus, den die gesammelte Widerstandskraft freiwillig opfernden Sohn, versöhnt sich die von Satan verführte Menschheit mit Gott, kehrt der göttliche Liebeswille zu sich selbst zurück. Er tut es in jedem Sohne, dessen bewußte Kraft von der göttlichen Kraft durchbrochen und mitgerissen wird. Das Gesetz gibt es nur für die menschliche Denkkraft, den logischen Gedanken, der die Wirkung aus der Ursache ableitet und aus diesen aneinanderhangenden Gliedern eine Kette schmiedet. Verwirklicht ist das Gesetz die Logik der Tatsachen, gleichfalls eine endlose, bindende Kette, die für den freien, den Gott gehorsamen Menschen nicht gilt. Der göttliche Gedanke, der im Unbewußten sich offenbart, springt frei von der Kette ab und schafft als Phantasie. Gesetze bezeichnen die Grenze zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten, zwischen dem Menschen und Gott. Für Gott aber und dem Gott hingegebenen Sohn, der im Ganzen mitschwingt, nicht außerhalb steht und es betrachtet, gibt es das Gesetz nicht.
Der Mensch lebt nicht von Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht. – Matth. 4.4.
Die Stillung des Hungers treibt Tier und Mensch in den Kampf des Lebens; der Hunger ist der erste und mächtigste Impuls, der das Geschöpf antreibt, Nahrung sein erstes Ziel. Aber nicht von Brot allein, obwohl auch von Brot, lebt der Mensch: er muß andere Antriebe und andere Ziele haben, um zu bestehen. Wer kennte nicht die Sonntagsmelancholie? Das plötzliche Erschlaffen der Seele, wenn das Ziel, das die Alltäglichkeit der Woche hindurch uns vorschwebt, erreicht ist? Etwas Ähnliches beobachten wir an alternden Männern, die ihren Beruf aufgeben und nun, anstatt der ersehnten Muße sich erfreuen zu können, zu kränkeln anfangen oder sterben. Das Ziel, das Jahre hindurch die Spannkraft erhielt, ist verschwunden, und ein neues hat sich nicht eingestellt. Es kommt vor, daß stark arbeitende Menschen zusammenbrechen, sowie sie Ferien haben. Davor ist jeder Mensch geschützt, der ein inneres, ihm von Gott gesetztes Ziel hat, das von allen äußeren Zielen unabhängig, unsichtbar vor ihm schwebt und ihn nach sich zieht. Dieser zweite Impuls, der noch mächtiger ist als der Hunger, ist die Liebe. Eingekleidet in die Liebe zum ergänzenden Geschlecht ist sie eigentlich die Sehnsucht nach der eigenen Vollkommenheit, nach Gott. Sage mir, wen du liebst, so kann man sagen, und ich will dir sagen, was dir fehlt, und wodurch du dich ergänzen möchtest. Es gibt einen kleinen Vers von Rückert, der lautet: »Vor jedem schwebt ein Bild des, was er werden soll. Solang' er das nicht ist, ist nicht sein Frieden voll.« Das göttliche Urbild kann immer nur annähernd erreicht werden, weil wir immer entweder Mann oder Weib sind, die Vollkommenheit aber im Gleichgewicht zwischen Widerstandskraft und Aufopferungstrieb besteht. Diese könnte auch nicht annähernd erreicht werden, wenn der Mensch nur Mann und nur Weib wäre und nicht, obwohl von einer bestimmten Grundlage ausgehend, doch auch den Keim der entgegengesetzten Wesenheit in sich hätte.
Gott sprach zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde. Und sprach: also sollst du zu den Kindern Israel sagen: Ich werde sein, hat mich zu euch gesandt. – 2. Mos. 3. 14.
Das Tier hat keine Zeit, es hat nur den Augenblick. Der Mensch hat Zukunft, weil er Gott hat; denn Gott ist die Zukunft. Gott ist die Zeit: Vergangenheit, Vater der Gegenwart, der gegenwärtige Augenblick, der Sohn, der sich stets opfert, um Zukunft zu werden. Glaube ist Glaube an die Zukunft. Daß die Zukunft kommen wird, und daß sie aus den Voraussetzungen der Vergangenheit und Gegenwart sich entwickelt, glaubt jeder: nur die Toren sprechen in ihren Herzen, es ist kein Gott. Der christliche Glaube ist die Zuversicht, daß der göttliche Wille, unseren Willen tragend, sich in der Zukunft offenbaren wird. Denn die Zukunft ist dem Gläubigen nicht eine seelenlose Kausalkette, sondern ein göttlicher Wille, der ihn zu sich hinaufzieht. Glaube ist Sichhingeben an die Macht, die verwandeln will zum Höheren und immer Höheren, ein stetes Aufopfern dessen, was man ist, um ein Neues zu werden. Gottglaube ist nicht Glaube an den sogenannten Fortschritt, welcher sich auf Zustände in der Welt bezieht, sondern Glaube an die persönliche Entwicklung, die des Einzelnen in Verbindung mit der des Volkes. Der Fortschritt will einen bestimmten Zustand, der ihm als vollkommen gilt, auf Erden verwirklichen; Gott schwebt immer vor uns und berührt unseren Scheitel nur, um sich desto tiefer in Wolken zu verhüllen.
Glaube ist aber nicht etwa eine willenlose Hingabe, weder an das Vergangene, noch an das Künftige, sondern Kampf mit beiden; denn der Mensch, der Sohn, ist der Rebell, der mit dem Vater, der Vergangenheit, ringt, bis er ihn mit dem Künftigen, dem Heiligen Geist, versöhnt hat. Erbarmungslos rast der Wagen der Zeit über uns hin, ein Wagen, aus dem mähende Schwerter stechen und die Leiber der unter ihn Gewälzten zerstückeln. Gleich unerbittlich rückt sie für den zum Tode Verurteilten wie für den die Freude Erwartenden: unnahbar ist Gott in seiner Majestät. So ist es für den Heiden; nicht für den Gläubigen, den Sohn, der in den Wagen des Vaters springt und das Gefährt, das ohne ihn abwärts rollen würde, nach oben reißt. Und warum würde es ohne ihn abwärts rollen? Weil das Wort Fleisch geworden ist: weil die Menschheit erst Gott zum dreieinigen Gott vollendet. Glaube ist Aufschwung über die Gegenwart hinaus in das unsichtbar Künftige, und weil er das Gegenwärtige um des Künftigen willen aufgibt, ist er Opfer. Glaube opfert das Sichtbare um des Unsichtbaren willen, er ist ein Sprung über den Abgrund, ein heldenhaftes Wagen. Sein Lohn ist das Wunder, das Neue, das die Kette der Wirkungen aus vergangenen Ursachen durchbricht und sie durch eine Tat wieder mit dem Ewigen verknüpft.
Und der Engel des Herrn sprach zu ihm: Warum fragst du nach meinem Namen, der doch wundersam ist? – Richter 13.17.18.
Gott hat den Menschen, obwohl er ihn aus dem Paradiese vertrieb, nicht verlassen: er redet zu ihm durch seine Boten. Die Griechen nannten diese Boten Dämonen und sagten von demjenigen, der ihre Stimme vernehmen konnte, er habe einen Dämon. Das Dämonische in uns ist durchaus verschieden von unseren eigenen Gedanken; ja, solange wir selbst denken, vernehmen wir die Stimme Gottes nicht. Weil diese Stimmen in uns und doch von unserem Selbst verschieden sind, versetzten die Alten sie nach außen, das heißt außerhalb unseres Selbstbewußtseins: es sind Impulse aus dem Unbewußten, aus unserer Umwelt. Ihr Name ist wundersam, denn er ist der unsere und ist es doch nicht, er ist die Wurzel unseres Namens in der Ewigkeit. Gott, der unseres Wesens Grund ist, hat keinen Namen, weil er das All-Ich ist, Namen hat nur das im Stoff Verkörperte und durch den Stoff Begrenzte. Die Impulse kommen aus dem göttlichen Willen, damit sie von unserem Willen ausgenommen werden. Die Frage ist, wie das möglich sein kann, da der menschliche Wille Widerstandskraft gegen Gott ist? Der Impuls ist ein Auftrag Gottes an die menschliche Willenskraft, ein Versuch, Wort und Wille, die durch das Fleisch gespalten sind, wieder zu vereinen; damit der Auftrag vollzogen wird, muß die Willenskraft, die ihrem Wesen nach ihm entgegen ist, ihn annehmen.
Wer sich absondert, der suchet, was ihn gelüstet und setzet sich wider alles, was gut ist. – Sprüche 18. 1.
Im hohen Norden liegt das äußerste Thule, die Insel der Einsamkeit, ein losgerissener Fels, auf dem sich ein germanischer Stamm mit uralten Sagen und Sitten wunderbar erhalten hat. Aus diesem abgesonderten Lebenskreise hat eine Dänin allerlei Geschichten erzählt, die einen erstaunlichen Beitrag zur Geschichte des menschlichen Geistes liefern. Die Isländer sind häufig Wahrträumer oder Hellseher: sie sehen in Bildern das Künftige voraus. Ein solcher Wahrträumer, ein alter Fischer namens Gudmund, sieht sich selbst mit siebzehn anderen Fischern aufs Meer hinausfahren und untergehen; als er am folgenden Tage von seinen Kameraden zu einer gewinnbringenden Ausfahrt aufgefordert wird, beteiligt er sich aus diesem Grunde nicht, und sie gehen ohne ihn unter. Was uns dabei bewegt, ist zunächst höchstes Erstaunen, warum der Alte nur sich selbst und nicht auch seine unglücklichen Kameraden rettet, die seine Warnung doch zurückgehalten oder wenigstens vorsichtig gemacht hatte? Gudmund, dem dies nachträglich beim Anblick des allgemeinen Jammers aufs Herz fällt, entschuldigt sich damit, daß der Mensch in Gottes Ratschluß nicht einzugreifen habe; aber er ist logisch genug, um einzusehen, daß er dann auch sich selbst dem göttlichen Willen nicht hätte entziehen dürfen, und stirbt infolge dieses Zwiespalts. Aus den übrigen Geschichten sehen wir, daß die merkwürdige Gleichgültigkeit Gudmunds gegen seine Nächsten keine Ausnahme ist. Auf einem einsamen Gehöft, wo ein schauerlicher Spuk umgeht, werden zwei Reisende, ein Engländer und seine Schwester, durch zweites Gesicht vorausgesehen, erwartet. Die Nichte des Hausherrn, ein lustiges junges Mädchen, rüstet ein Gastbett für das fremde Fräulein und wird dabei tödlich erschreckt durch eine Geisterhand, die unter dem Bett hervor nach ihr greift. Wir verstehen den vernichtenden Eindruck, den das auf sie macht, nicht aber, daß der jungen Dame schlechtweg das verhängnisvolle Zimmer zum Übernachten angewiesen wird, obwohl die ganze Familie den Spuk nicht etwa für Einbildung, sondern für etwas durchaus Leibhaftiges hält. Niemand kommt auf den Gedanken, die Fremde zu warnen oder zu schützen. In einer anderen Geschichte sehen eine Anzahl Männer und Frauen den einzig Überlebenden eines gescheiterten Schiffes gleichmütig mehrere Tage lang um Hilfe flehen und schließlich untergehen. Eine andere handelt von einem jungen Mädchen, die an der Rückenmarksschwindsucht erkrankt. Als sie zufällig erfährt, daß ihr Zustand hoffnungslos ist, regt sich ihr Selbsterhaltungstrieb leidenschaftlich; sie will mit aller Kraft leben, kommt aber zu der Einsicht, daß dieser Lebenswille unfruchtbar ist. Sie versucht sich irgendwie mit ihrem Schicksal, das sie nicht abwenden kann, auszusöhnen, vermag aber auch das nicht und stirbt jämmerlich trostlos hin.
Aus diesem allem ergibt sich für den Charakter der Isländer ein gänzlicher Mangel an Nächstenliebe und ein ebenso großer Mangel an Widerstandskraft gegen das Schicksal. Jenem Gudmund kommt der Gedanke nicht, daß er dem vorverkündigten Schicksal sich widersetzen könnte; einzig seine Person sucht er instinktiv zu entziehen, gibt sie aber nachträglich auf. Es fehlen sowohl die unbewußte Willenskraft wie die selbstvergessene Liebe. Dagegen ist vorhanden die unmittelbare Anschauung des logischen Verlaufs der Tatsachen, das Voraussehen des Künftigen als ungehemmten Ablaufs von Wirkungen aus Voraussetzungen.
Es ist interessant, mit der Geschichte vom isländischen Gudmund jene bekannte Überlieferung von dem alten lahmen Mütterchen zu vergleichen, die allein zu Hause geblieben ist, während alt und jung ein Fest auf dem vereisten Strome feiert. Allerlei Anzeichen melden der Einsamen, daß in kurzer Zeit das Eis brechen wird, und da sie, durch ihre Krankheit gefesselt, nicht hineilen und die vom Tode Bedrohten warnen kann, setzt sie ihre Hütte in Brand und rettet sie durch das Lodern ihres eigenen Scheiterhaufens. Dies Mütterchen war eine Christin, indem sie die schicksalsvolle Notwendigkeit erkennt und durch Opferung ihrer selbst umbiegt als Stellvertreterin des göttlichen Gnadenwillens. Sind denn nun die Isländer Heiden im Sinne der Antike? Nein, denn sie haben so wenig unbewußten Machtwillen wie Opferwillen, sie haben nur ohnmächtigen Selbsterhaltungswillen. Der dreieinige Gott besteht für sie nicht mehr, sie sind aufgelöst, dekadent. Ihr Los ist, zu schwinden, an der Schwindsucht zu sterben.
Gott ist nicht das eherne Gesetz, nicht das unabänderliche Schicksal, nicht für den Gläubigen, durch den göttliche Impulse in Kraft treten, der der Vollstrecker des göttlichen Willens ist. Kassandra weissagt unabwendbaren Untergang, weil sie einem Volke angehört, das keine Zukunft mehr hat und bestimmt ist, in einem kraftvolleren aufzugehen. Das Schicksal sowie die Logik sind nur eine Abstraktion, ein Auflösungsergebnis; der ganze Mensch, das ist der, welcher aus inneren Antrieben handelt, ist frei; entweder weil er noch unbewußt ist und also unter Gott steht, oder weil er selbstvergessen ist und sich somit wieder unter Gott stellt. Was das Inkrafttreten der Impulse hindert, ist das Übergewicht des Selbstbewußtseins über das Unbewußte oder, was dasselbe sagen will, die Absonderung des Einzelnen vom Ganzen.
So sind wir nun, lieben Brüder, nicht der Magd Kinder, sondern der Freien. – Gal. 4.31.
Die dänische Erzählerin der isländischen Geschichten schildert die Isländer als ungemein selbständig, unfähig, sich irgendeinem Willen unterzuordnen; es sei niemals gelungen, eine Religion in Island einzuführen; anstatt der Religion sei die Heimatliebe: es könne kein Isländer außerhalb Islands leben. Trotz dieses hochgesteigerten Stolzes und Selbstbewußtseins aber werde auch der stärkste Mann hilflos den Gespenstern und dem Spuk gegenüber, der auf der Insel hause. Man sieht daraus: dem vollständigen Mangel an Glauben gegenüber stehen Selbstliebe und Aberglauben; es ist das Bild eines durch Inzucht, das heißt Mangel an Gegensatz, dekadent gewordenen Volkes. Ein solches Volk wird immer, dem Geiste nach, wenn auch vielleicht nicht der Form nach, republikanisch sein; denn einem von einem persönlichen Willen geleiteten Volke fehlt es nicht an Gegensätzen, es wird Freunde und Feinde haben, lieben und hassen, leiden und kämpfen. Sowie aber der Glaube an den höheren persönlichen Willen oder der Glaube an den persönlichen Gott fehlt, werden die niederen Naturkräfte Herr über den Menschen. Der Wilde personifiziert die Naturkräfte, weil er tatsächlich unter ihnen steht; er ist noch keine Persönlichkeit, das heißt kein Wille, der, weil er sich einem höheren Willen freiwillig unterordnet, die niederen Kräfte beherrschen kann. Gott, der höchste Wille, ist aller Engel und Dämonen, aller individuellen Kräfte der Natur Herr; sowie wir an ihn glauben, unser Ich ihm unterordnen, so daß wir unter Gott sind, sind wir mit ihm Herren der Natur; sowie wir nur auf uns selbst stehen wollen, empört sie sich gegen uns. In Luther zum Beispiel war der Rhythmus von Selbstherrschaft, das ist Unglaube, und Selbstvergessenheit, das ist Glaube, ungeheuer groß; er hatte deshalb Augenblicke, wo die Dämonen ihn bedrohten, wenn der überspannte Wille gewissermaßen aussetzte, die Schwungkraft verlor.
Sehr durchsichtig wird dieser Vorgang in der isländischen Geschichte von der behaarten Hand. Der reisende Engländer nimmt seine Schwester als Begleiterin mit, weil sie sich besonders durch Tapferkeit, Besonnenheit und Willenskraft auszeichnet, ohne welche Eigenschaften man sich, wie er weiß, nach Island nicht wagen darf. Beim Durchreiten eines Gletscherstromes nehmen er und ein anderer Mann das Mädchen in die Mitte, um sie zu schützen; denn Frauen verfallen leichter als Männer dem Schwindel. Schwindel ist ja nichts als ein Aussetzen der unbewußten Kraft, die Schwungkraft ist, ein Erstarren im eigenen Willen und deshalb Kraftloswerden. In den letzten Minuten, bevor sie den Hof erreichen, fängt die Schwester an, die Willenskraft zu verlieren: bereits sieht sie in den Lavaversteinerungen, die sie umstarren, schreckhafte, koboldartige Fratzen. Als sie zu Bett liegt, beginnt der Kampf von neuem; sie wehrt sich tapfer gegen die immer wilder eindringenden Dämonen, aber sie wird schwächer und endlich ohnmächtig: die Natur verschlingt sie.
Die Vielgötterei und der Dämonenglaube primitiver Völker verschwinden, wenn Gott Sohn erscheint: ein selbstbewußter Wille, der sich einem höheren Willen freiwillig unterordnet, der durch den Glauben herrschende Mensch. Er ist Herr der Natur. Sowie er aber im Selbstbewußtsein erstarrt ist, so daß er weder durch den Glauben Kraft aufnehmen, noch durch die Liebe sie austeilen kann, sinkt er unter die Naturkräfte zurück.
Ein Haus wurde jahrelang von einer Verrückten bewohnt, die niemand hereinließ und sich um nichts bekümmerte; als man nach ihrem Tode hineinkam, fand man, daß die Bäume durch die Fenster hindurch in die öden Räume gedrungen waren und Betten und Schränke überwachsen und verschlungen hatten. Wo der göttliche Wille nicht mehr herrscht, durch den menschlichen Glauben sich offenbarend, herrscht die verwilderte, die wuchernde Natur und das ablaufende Gesetz.
Daher die Wahrträume und die Hellseherei, das Künftige, wie es dem Ungläubigen, der ohne Impulse ist, sich darstellt. Der Beseelte hat die Anschauung einer Gefahr, die einem anderen droht, mit dem Impuls zugleich, sie von ihm abzuwenden, denn mit der Ichopferung hat er die Widerstandskraft gegen das ablaufende Schicksal; der Seelenlose sieht die Gefahr als unabwendbare Notwendigkeit. Sie ist es für ihn, weil der Mensch sich nicht für sich selbst begeistern oder an sich selbst glauben, nicht sein eigener Gegensatz oder Gegenstand sein kann. Nur die Liebe ist mächtiger als das Gesetz.
Nicht etwa, als gäbe es keinen Selbsterhaltungstrieb, oder als wäre der Selbsterhaltungstrieb unfruchtbar, oder als könnte der Mensch nie sich selbst, immer nur andere retten. Der Selbsterhaltungstrieb ist fruchtbar in dem, der unter Gott oder unbewußt ist; er rettet in diesem Falle eigentlich nicht sich selbst, sondern ihn rettet Gott. Schon in dem Worte Trieb liegt inbegriffen, daß es die Selbsterhaltung nur für den Unbewußten gibt, nicht für den Selbstbewußten. Die Isländer sind aber, nach der Schilderung, Menschen, die sich nicht mehr vergessen können, die keine Empfänglichkeit für Impulse mehr haben.
Gibt es denn Gespenster? Nein; aber es gibt Geister des Fleisches, deren Herr der Eine Geist ist, der alles in allem waltet. Die Geister unseres Fleisches sind für gewöhnlich gebunden unter der Einheit unseres Selbstbewußtseins; sowie diese Einheit sich auflöst, werden sie Herr. Die Einheit unseres Bewußtseins nun ruht auf dem Einswerden unserer bewußten Kraft mit dem göttlichen Willen im Unbewußten. Wenn der eigene Wille stärker wird als der göttliche Wille, hört das Geschöpf auf, für den göttlichen Willen empfänglich zu sein.
Die lebendige Substanz hat die Eigenschaft der Empfänglichkeit für den göttlichen Willen. Allein es liegt auch in der Substanz die Neigung, die Kraft für sich zu behalten und ein Einzelgeschöpf zu sein, sich also von dem Weltganzen abzusondern. Diese Neigung der Substanz konnte zunächst leicht aufgewogen werden durch die Gottempfänglichkeit der Substanz, bis diese durch die Selbstsucht der Substanz verführt wurde, man kann sagen, bis die Substanz für sich selbst empfänglich wurde. Das Geschöpf bekam im Zentralnervensystem ein Organ für seinen eigenen Willen. In dem Augenblick, wo dies Organ vollständig ausgebildet war mit Sinnen zur Aufnahme der Welt und einem Apparat, durch den es sich selbst Impulse geben konnte, war das Geschöpf Mensch. Der eigene Wille entspringt nicht aus Trieben oder Gefühlen, welche unbewußt sind, sondern aus dem Selbstbewußtsein.
Er offenbart, was tief und verborgen ist; er weiß, was in der Finsternis liegt, denn bei ihm ist eitel Licht. – Daniel 2. 22.
Kann oder konnte der Impuls oder der Auftrag Gottes den Menschen erteilt werden durch Träume? Ohne Zweifel hatten die Alten weissagende Träume, teils Wahrträume im Sinne der isländischen, teils deutlich erkennbare Aufträge oder Antriebe zu Handlungen. Ein solcher Traum war zum Beispiel der der Nausikaa, in dem sie den Auftrag erhielt, am Strande zu waschen, wodurch ihr Gelegenheit wurde, den Odysseus zu retten. Der Traum des Pharao von den sieben fetten und sieben mageren Kühen war ein Voraussehen der Zukunft, unmittelbare Anschauung des Ablaufs der Tatsachen. Es ist bedeutungsvoll, daß der dekadente Pharao nur das künftige Unheil voraussah, während der auslegende Joseph sogleich den Auftrag herauslas, Vorsorge für die magere Zeit zu treffen; er, der Gläubige oder Geistvolle, empfing den Traum des anderen als Willensimpuls im Wachen. König Nebukadnezar hatte, bevor er wahnsinnig wurde, zwei bedeutungsvolle Träume; den ersten hatte er beim Erwachen vergessen, obwohl er sich des Schreckens erinnerte, den ihm der Traum verursacht hatte. Merkwürdigerweise verlangte er von seinen Sternsehern und Weisen, daß sie ihm sagten, was er geträumt habe, um es ihm dann zu deuten. Sie antworteten, daß das niemand könne, ausgenommen die Götter, die bei den Menschen nicht wohnten. Daniel hingegen glaubte, daß Gott sich im Menschen offenbart, und nachdem er zuvor gebetet, die Frage und die Bitte an Gott gestellt hatte, träumte ihm derselbe Traum, den Nebukadnezar zuvor geträumt hatte: ein sehr sonderlicher, in vielen Einzelheiten sich abspielender Traum. Ähnlich läßt Schiller die Jungfrau von Orleans ihre göttliche Sendung dadurch beglaubigen, daß sie dem König die Gedanken nennt, die er in einem gewissen Augenblick gedacht habe. Sie konnten das, weil sie die trennende Mauer des Selbstbewußtseins ausschalteten und sie für einen Augenblick eins mit dem Träumer wurden.
Mit deinem Traum und deinen Gesichten, da du schliefest, hielt sich's also: Du, König, dachtest auf deinem Bette, wie es doch hernach gehen würde; und der, so verborgene Dinge offenbart, hat dir angezeigt, wie es gehen werde. So ist mir solch verborgen Ding offenbart, nicht durch meine Weisheit, als wäre sie größer denn aller, die da leben; sondern darum, daß dem Könige die Deutung angezeigt würde, und du deines Herzens Gedanken erführest. – Dan. 2. 29. 30.
Es kommt vor, daß man, um die Lösung eines Problems ringend, abends erschöpft einschläft und morgens beim Erwachen durch die Antwort begrüßt wird, wie wenn in Sagen die besuchenden Götter eine goldene Spur ihrer Gegenwart zurücklassen. Während das Weltbewußtsein ausgeschaltet war, stellte sich die Gedankenharmonie im Innern wieder her, nun aber eine neue, nach der Richtung der durch das Bewußtsein vorausgegangenen Störung hin ausgeglichene. Tatsächlich war Gott da: er wirkte durch das Unbewußte, das Traumorgan, nämlich, wie ich glaube, durch das sogenannte Sonnengeflecht mit dem Nervus sympathicus. Auch Nebukadnezar stellte, ganz ähnlich wie Pharao, in dem durch die Bibel überlieferten Traum eine Frage, die Zukunft seines Reiches betreffend, und erhielt eine Antwort, vielmehr, er erfuhr seines Herzens Gedanken, die Eindrücke, die er im wachen Zustande aufgenommen hatte, die ihm aber nicht zum Bewußtsein gekommen waren. Daß er sie als Traum erhielt, scheint mir auf ein Übergewicht der Menschengedanken, des Zentralnervensystems zu deuten; deshalb, weil sich der Mensch in Nebukadnezar schon zu weit von Gott entfernt hatte, konnte Gott ihm, wenn er wach war, seinen Willen nicht mehr mitteilen. Der stolze, unabhängige Fürst stand nicht mehr unter Gott. Nur dem selbstbewußten Menschen erteilt Gott Aufträge; er kann sie aber nur erteilen mittels seines Unbewußten, seiner Empfänglichkeit, welche also mindestens ebenso stark sein muß wie sein Selbstbewußtsein. Überwiegt das Selbstbewußtsein, so werden zuerst die Aufträge angenommen, die der Mensch sich selbst gibt, zuletzt oder gar nicht diejenigen, die Gott oder die Natur ihm erteilt. Schlafend nun empfängt der Mensch keine Aufträge, ausgenommen solche, die aus seinem Körper kommen und aus etwaigen Sinnesreizungen, und es können deshalb diejenigen auftauchen, die, während er wachte, nicht bis zu seinem Bewußtsein drangen, teils weil sie seinem Selbstbewußtsein unwichtig waren, teils weil er mit anderen Dingen beschäftigt war, teils weil er sie absichtlich zurückdrängte. Meistens wird im Traum gerade das Geringfügige ans Licht kommen, nichts Geistiges, nichts, was sich aus der Verbindung des Ich mit dem Nicht-Ich ergibt, worin gerade das eigentliche Wesen des Menschen besteht. Denn im Traume ist der Mensch ja lösgelöst aus dem allgemeinen Zusammenhange des Lebendigen, er ist im Hades, ein Schatten unter Schatten, allein mit Nachklängen und Erinnerungsbildern, ohne Möglichkeit der Äußerung. Der impulsive, handelnde, schaffende Mensch, der die Aufträge aus Gott-Natur ausführt, wird im allgemeinen unbedeutende Träume haben; je mehr der Mensch auseinanderfällt, desto mehr wird sich ein Traumleben ausbilden, das das wache Leben ergänzt. Liebesbeziehungen werden erst dann eine Rolle im Traume spielen, wenn sie sich in Wirklichkeit auflösen. Bei Menschen, die stark beschäftigt sind, die aber starke andere Interessen haben, werden diese sich vielleicht im Traume spiegeln; kann aber ein Mensch wirklich stark mit Dingen beschäftigt sein, die ihn nicht interessieren?
»Träume auslegen steht bei Gott,« sagte Joseph; »aber erzähle.« Wer nicht als ein Liebender, ein Mitfühlender und deshalb Mitwissender, dem Träumer zuhört, kann Träume nicht recht auslegen; der Verstand allein kann den Wust aus körperlichen und seelischen Reizen und Nachklängen göttlich-natürlicher Impulse, die weniger auf die Person selbst als auf fremde Einflüsse deuten, schwerlich richtig entwirren. Von einem berühmten Künstler wird folgender Traum erzählt: er sah einen schrecklichen Kerl mit geschwungener Axt ins Zimmer eines Freundes stürzen, um diesen zu töten, vermochte ihn aber zu retten. Kurze Zeit darauf fand er eben diesen Freund mit zerschmettertem Kopf auf dem Pflaster vor seinem Hause; er hatte einen Sturz aus dem Fenster getan, vermutlich mit Absicht oder doch in leidendem Zustande. Ein moderner ärztlicher Traumausleger würde aus diesem Traume gefolgert haben, der Träumer hätte den heimlichen, aus moralischer Erziehung unterdrückten Wunsch, sein Freund möge sterben; anstatt dessen war die Ursache eine sehr deutliche Einsicht in den leidenden Zustand des Freundes, ein Impuls zu seiner Rettung, der, im Gedränge des Tages nicht vernommen, sich als Traum verhüllte.
Ich höre es wohl, was die Propheten predigen und falsch weissagen in meinem Namen und sprechen: mir hat geträumet, mir hat geträumet. Wann wollen doch die Propheten aufhören, die falsch weissagen und ihres Herzens Trügerei weissagen? Und wollen, daß mein Volk meines Namens vergesse über ihren Träumen, die einer dem andern erzählt? – Jer. 23. 25.26.27. – Ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume; wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort recht. – Jer. 23.
Wie hoch erhaben die jüdisch-christliche Religion über allen anderen steht, sieht man aus ihrer Stellung gegenüber der dem Menschen anhaftenden Neigung zur Erforschung des Künftigen. Verdammt wird durch Moses und die Propheten jede Tagewählerei, alles Orakelfragen und Zeichendeuten, weil der Mensch Gott, dem Herrn der Zukunft, seine Geheimnisse nicht soll erpressen wollen. Die Bibel warnt vor denjenigen, die mit Berufung auf ihre Träume sich für Propheten ausgeben; denn Gott offenbart seinen Willen, wann er will, seinen gläubigen Söhnen, und zwar nicht in Form von Träumen, sondern durch Willensimpulse. Was Gott will, soll geschehen, soll ausgeführt werden; er teilt deshalb seinen Willen einem wachen, tatkräftigen Menschen mit, der seiner selbst bewußt ist, aber unter Gott steht.
Moses hatte keinen Traum, der ihm den Untergang des Volkes Israel in Ägypten weissagte, sondern der Anblick der Leiden seines Volkes riß ihn hin, einen ägyptischen Aufseher zu töten, und so, persönlich verwickelt in das allgemeine Leiden durch die Kraft seiner Liebe und seines Hasses, ergriff ihn der Gedanke, sein Volk in eine neue Heimat zu führen. Es war nicht sein Gedanke, der ihn trieb, sondern der Herr, der ihn berief, sowie die anderen Richter und Propheten. Sie waren derzeit unter Gott, nicht wie Tiere oder Kinder oder Schläfer, sondern wie ein Selbstbewußter, aber Selbstvergessener, in den Gegenstand seiner Liebe Versunkener.
Die Hemmung des Selbstbewußtseins oder die Selbstsucht ist wie eine Sackgasse, in der die von Gott erteilten Aufträge, die Impulse, abgefangen werden. Diese Hemmung fällt im Traume fort; aber andererseits werden auch keine Aufträge erteilt. Sie kommen zum Wachenden als Engel und Dämonen, Boten der Götter, und wenn sie in den eigenen Willen aufgenommen werden, so ist derjenige, der den Auftrag vollzieht, in diesem Augenblicke Gottes Sohn. Gott hat sein Wort an ihn gerichtet.
Wie kann der Mensch die Fähigkeit, höheren Impulsen zu folgen, verlieren? Dadurch, daß seine Kraft durch die Tyrannei der Menschensatzung gebrochen wird. Wer sich gewöhnt, Gesetzen, Formeln, Vorschriften, einem tyrannischen menschlichen Willen, etwa gar seinem eigenen, unbedingt zu gehorchen, der verliert das Gehör für die dämonischen Boten des unsichtbaren Herrn. Sven Hedin erzählt von dem tibetanischen Lamaismus, einer Kirche, deren Träger Priester sind mit einem Oberpriester, unfehlbar und auf Erden schon heilig, an der Spitze. Diese Kirche hat auffallende Verwandtschaft mit der katholischen, beide beruhen auf den gleichen Grundsätzen. Das Wort Lama, erzählt Sven Hedin, bedeutet soviel wie quo nemo superior est, der niemanden über sich hat. Im Lamaismus wird angenommen, daß gewisse Menschen als Angehörige einer Kaste durch Beobachtung gewisser Vorschriften die Vollkommenheit teils schon inne haben, teils erreichen können. Das Mittel dazu besteht immer in der Absonderung von der Menschheit, nie in einer freien Wirksamkeit in ihr. Dieser Glaube ist der Grabstein auf der Entwicklung oder Offenbarung, ja er ist schon der Ausdruck des nicht mehr vorhandenen Offenbarungswillens. Gott ist nicht mehr der Unsichtbare, der in Feuer und Wolke seinem Volke voranzieht, sondern er ist sichtbar geworden, durch bestimmte Bedingungen jedem zugänglich, der festen Willen, Ausdauer, Selbstbeherrschung hat. Er gehorcht Formeln, ist also ein Götze, nicht frei, sich schwingend wohin er will. Ich kann dort gottgleich werden, wenn ich mich in eine Zelle einmauern lasse und auf Jahre oder das ganze Leben hinaus den Verkehr mit meinesgleichen vollständig abbreche. Hat mich das Gott geheißen? Die Impulse, die von Gott kommen, treiben mich immer nach außen, setzen mich in Beziehung zu anderen Menschen. Was mich von der Menschheit trennt, ist immer nur mein eigener Wille.
Der göttliche Wille, der sich im Menschen offenbaren will, kann nicht gebrochen werden; wäre er sonst göttlich? Aber er kann verhindert werden sich zu äußern, er kann gehemmt werden durch Menschenwillen. Mit diesem Menschenwillen kann ein unpersönliches menschliches Gesetz mich hemmen, ein fremder Menschenwille und mein eigner. Denn es äußert sich ja in jedem nicht nur der göttliche Wille, der uns unbewußt ist, sondern auch ein eigener Wille, der zwar nicht wachsen lassen, aber hemmen kann.
Fürwahr, du bist ein verborgener Gott, du Gott Israels, der Heiland. – Jes. 45. 15.
Die Ursachen der Erscheinungen sind in ihrem Innern verborgen; Gott ist verborgen, latent, in allen seinen Schöpfungen, auch in uns. »Die Ziele,« schreibt Friedrich der Große, »die sich die Natur in ihren Werken gesetzt hat, offenbaren sich so augenscheinlich, daß man gezwungen ist, eine selbstherrliche und überlegen intelligente Ursache anzuerkennen, die mit Notwendigkeit darüber waltet.« Das in seinem Geschöpf verborgene Ziel nennen wir sein Ideal oder Urbild, sein Leben ist die Entfaltung oder Entwicklung desselben. Die Bibel spricht nicht von Entwicklung, sondern von Offenbarung. Gott ist unbeweglich; aber der Stoff, in dem er sich offenbart, muß sich bewegen, um das innen Verborgene zu enthüllen. In jedem natürlichen Gebilde, das wächst, ist ein Ziel verborgen, sein Gott und Herr, der es treibt oder dem es entgegenstrebt oder nachfolgt; ist das Ziel offenbart, so hört es auf zu wachsen und stirbt. Alles was wir mit Sinnen wahrnehmen, ist die Hülle eines unsichtbar Göttlichen, zugleich aber auch seine Ausprägung, zugleich aber auch lebendige Substanz. Wo ein göttliches Ziel verborgen ist und sich offenbaren will, ist Leben; wo kein Ziel von innen heraus zur Entfaltung drängt, ist Tod. Gottlosigkeit und Tod ist also eins und dasselbe.
Den Schoß, aus welchem heraus das in uns verborgene Ziel zur Entfaltung drängt, nennen wir jetzt gewöhnlich das Unbewußte, während die Bibel von Gott spricht. Mit dem Ausdruck unbewußt bezeichnen wir, daß das Göttliche vom Standpunkt unseres Bewußtseins aus etwas Negatives ist, nämlich die Abwesenheit unseres eigenen Willens, da wir Gott nur offenbaren können, solange wir sein Werkzeug, nichts Selbständiges sind. Daraus ziehen manche Menschen den Schluß, Willenlosigkeit wäre erstrebenswert, was in der modernen Kunst ein gewisses Lallen und Stammeln zur Folge hat, dessen man sich befleißigt in der Meinung, die bloße Gedanken- und Willenlosigkeit sei schon Inspiration. Dies aber ist ein verhängnisvoller Irrtum; denn da es die Eigentümlichkeit der lebendigen Substanz ist, selbsttätig sein zu können, würden wir uns, nachdem diese höchste Stufe einmal erreicht ist, durch Unterdrückung dieses Vorzugs nur entwürdigen, ohne die den früheren Stufen eigentümlichen Vorzüge wiederzugewinnen. Der Mensch, der zum Tier herabsinkt, ist weit unter dem Tiere. Wir sollen Menschen sein, aber solche, in denen Gott sich offenbart. Das ist der überirdische Augenblick, wenn das verborgene Göttliche mit dem Menschlichen eins wird, so daß Gott Mensch und der Mensch Gott wird. Natur ist nur, wo Gott verborgen ist, und Gott nur in der Hülle der Natur. Gott ist Gott-Natur, daher ist Entfernung von der Natur zugleich Entfernung von Gott, und Entfernung von den göttlichen Geboten zugleich Entfernung von der Natur.
Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, und in deinem Lichte sehen wir das Licht. – Psalm 36.10.
Wir sehen nicht, weil wir eine Lichtquelle sind, sondern weil das Licht uns gereizt und dadurch die Sehkraft in uns entzündet hat; unser Sehen ist ein Spiegeln; ebenso beweist die Tatsache, daß wir urteilen können, das Dasein der göttlichen Vernunft oder Urteilskraft, welche sich in uns offenbart. Gott ist das einzige, was wir nicht erklären können, da wir ihn, indem wir ihn erklären wollen, immer schon voraussetzen. Wir könnten die Frage nach ihm nicht stellen, wenn er nicht da wäre. Wenn wir sagen: ich denke, darum bin ich, müßten wir hinzusetzen: ich werde gedacht und gewollt, darum denke ich, darum will ich. Wir können gewisse Formen schön finden, gewisse Handlungen gut, gewisse Urteile richtig, weil dieselbe Kraft, die sie geschaffen hat, sich auch in unserem Bewußtsein offenbart. Die Menschheit hat einen Herrn, dem sie gehorchen soll und will; aber das Wunderbare ist, daß sie ihn selbst gegen sich selbst vertritt. Er hat sie geschaffen, um sich in ihr zu offenbaren.
Religion ist Anerkennung eines höheren Willens, dem sich der menschliche zu fügen hat, obwohl er es nicht immer tut. Auch das Tier gehorcht höherem Willen, sowohl innerhalb der Tierheit, wie vorzüglich dem Willen des Menschen; der Mensch aber gehorcht einem höheren Willen, der sich in der Menschheit, in keiner höheren Art, nur in höheren Personen offenbart, und zwar freiwillig, denn er hat die Möglichkeit, vom göttlichen Willen abzuweichen.
Nach wem bildet und wem vergleicht ihr mich denn? Gegen wen meßt ihr mich, daß ich gleich sein solle? – Jer. 46. 5.
Gott wird nicht gemessen, sondern ist das Maß für alles. Wohl ist der Mensch das Maß aller Dinge; aber nicht der einzelne, unvollkommene, der bewußte Mensch, welches Maß niemals gemeingültig sein könnte, sondern der Unsichtbare, Vollkommene, dessen Ebenbild wir sein sollen. Um vernünftige Urteile füllen zu können, müssen wir zwei feste Punkte haben, an denen wir messen, einen Maßstab. Diese beiden Punkte sind unser Gottbewußtsein und unser Selbstbewußtsein, die untereinander zusammenhängen; denn sowie wir Gott denken, denken wir auch uns selbst, und wenn wir Gott nicht mehr denken können, können wir auch uns selbst nicht mehr denken. Anstatt Gottesbewußtsein können wir auch sagen Weltbewußtsein, da sich Gott in der Welt, Kosmos oder Universum, offenbart, und in jeder Idee eines Ganzen, das sich annähernd in der Natur offenbart. Wir haben erst Selbstbewußtsein, wenn wir die Idee eines Ganzen fassen können, von dem sich unser abgesondertes Selbst unterscheidet, und wir haben erst Gott- oder Weltbewußtsein, wenn wir ein Ich sind, ein fester Punkt, der die Mitte eines Ganzen bilden kann. Das Tier hat kein Selbstbewußtsein und kein Gottbewußtsein, weil es sich weder von einem Ganzen absondern, noch ein Ganzes vertreten kann. Es kann weder wahnsinnig noch genial sein, kennt weder den Zwang noch das Opfer. Den festen Punkt des Selbstbewußtseins in uns, durch den wir mit Gott verbunden sind, nennen wir das Gewissen, welches von uns fordert, unsern Nächsten wie uns selbst zu lieben; denn Gott ist ja der Wille, der Viele zu einer Einheit verbindet, dadurch, daß er sie alle auf einen Punkt bezieht, von dem sich alle gleichermaßen abhängig fühlen, einen Punkt also, der außerhalb und über eines jeden Selbst liegt. Das Gewissen ist aber ein dauerndes Wissen, eine Richtschnur, ein Gesetz, kein Impuls. Man sieht, wie das Gewissen, weil es dauernd mit dem Selbstbewußtsein verbunden ist, in Eigenwillen und Herrschsucht übergehen kann. Ein gewissenhafter Mensch kann hart und lieblos sein; ein Mensch, der aus göttlichen Impulsen handelt, begeht vielleicht zuweilen Unrecht, ist aber nie lieblos.
»Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte.« Dies ist das vornehmste und größte Gebot. Das andre aber ist dem gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst.« – Matth. 22. 37. 38. 39.
Das Gottesbewußtsein des Menschen ist älter als sein Selbstbewußtsein: er fühlt sich eher abhängig, als er sich eigenwillig fühlt, ist eher Teil eines Ganzen, als er selbst ein Ganzes sein will. Andererseits ist seine Selbstliebe älter als seine Nächstenliebe, sonst könnte die Selbstliebe nicht als das Maß der Nächstenliebe gesetzt sein. Die Selbstliebe wird nicht von Gott geboten, weil sie selbstverständlich und natürlich ist, sie ist unbewußt und eingeboren, ein Grundtrieb des Individuums. Dies kann nicht anders sein, weil der göttliche Wille, der sich in uns offenbart, der Wille eines von sich selbst ausgehenden Wesens ist. Hätten wir nicht Selbstliebe, wäre das Ich bin ich, Ich will mich, uns nicht eingeboren, so könnten wir überhaupt nicht wollen, so wären wir blödsinnig. Der Selbsterhaltungstrieb, der Wachstumstrieb und der Machttrieb sind durchaus nicht böse, vielmehr gut, weil sie anzeigen, daß eine starke Kraft in uns wirkt; ohne einen lebhaften Wachstums- und Machttrieb kann es keine Größe geben. Sowie aber aus dem Selbstgefühl Selbstsucht wird, ist es nicht mehr gut, sondern böse. Denn während das Selbstgefühl, als unbewußt, unter Gott steht, und durch die Beziehungen zum Nächsten in Liebe und Haß, durch den sogenannten Kampf ums Dasein ausgeglichen wird, hemmt die Selbstsucht diesen Kampf und erwehrt sich der Liebe sowie des Hasses. Der Selbstsüchtige sucht nur sich selbst, er liebt und haßt nicht, denn in diesen Gefühlen vergäße er sich selbst. Jeder Machttrieb einer Person, der sich offen äußert, berührt uns als etwas Göttliches, solange wir ihre Kraft spüren. In seiner Glanzzeit sagte Napoleon, er wisse, daß er nur der Vollstrecker eines höheren Willens sei: er fühlte sich getrieben. Der naive Selbsterhaltungstrieb ist ein Zeichen, daß Gott uns wachsen läßt; im Maße, wie Selbstgefälligkeit, Selbstbewußtsein, Selbstsucht auftreten, verläßt uns Gott.
So jemand spricht, ich liebe Gott, und hasset seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebet, den er siehet, wie kann er Gott lieben, den er nicht siehet? – 1. Joh. 4. 20.
Viele Menschen verbohren sich in den Irrtum, als könnten sie Gott lieben, ohne den Nächsten zu lieben; daß aber die Liebe Gottes und des Nächsten unzertrennlich zusammenhängen, wird klar, wenn man bedenkt, daß Gott der Wille zum Ganzen, das Maß zwischen den ungleichen Vielen, die Harmonie ist. Ich kann nicht das Ganze wollen und mich von denen, die das Ganze bilden, abwenden; ich liebe nur dann das Ganze, wenn ich mich mit meinen Nächsten und gegen sie auszugleichen suche. Andererseits liebe ich Gott auch nicht, wenn ich, wie es in Goethes schönem Gedicht heißt, einen Freund am Busen haltend, mich vor der Welt verschließe. Das Problem des Menschen ist nicht, die richtige Stellung zum Ganzen und auch nicht die richtige Stellung zum Du zu finden, sondern durch das Du zum Ganzen. Das geschlechtliche Du bindet die Selbstsucht durch die Familie; aber die Familie wird wiederum eine Einheit, ein erweitertes Selbst, das die Neigung hat, sich vom Ganzen abzusondern; sie muß wiederum durch ein höheres Du mit höheren Kreisen verbunden werden. Der Mensch kann nicht unmittelbar mit einem Ganzen verbunden sein, sondern er bedarf der Mittlerschaft des Du; sobald dies Band des Du ganz zerreißt, flieht das selbstbewußte Ich in das All oder das Nichts zurück. Ein Volk kann eine organische Einheit nur sein, wenn es als Ganzes durch eine Person vertreten ist, die das Ganze will und dadurch allen Einzelheiten ein Maß setzt. Dies ist der Sinn der Mittlerschaft, daß das Ganze nicht unmittelbar geliebt werden kann, sondern nur durch Einzelne, die das Ganze teils bilden, teils vertreten. Der moderne Mensch glaubt unmittelbar Ideen lieben zu können: die Menschheit, den Staat, die Gleichheit und wie sie sonst heißen; wovon die Folge ist, daß er nur sich selbst liebt.
Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig. – 3. Mos. 19. 2.
Die bildende Kunst soll uns die herrlichsten Menschen vorstellen, damit wir das Maß der Schönheit im Auge behalten; die Dichtung schafft uns Vorbilder groß und gut handelnder Menschen; sie tun es im Dienste der Religion, welche uns Gott verkündet, den Vollkommenen, den ewig Künftigen, dem wir gleichwerden sollen. Einmal wurde der Vollkommene gegenwärtig in Christus, dem, der sich freiwillig für die Menschheit opfert, und er wird es in jedem in jedem Augenblicke, wo er freiwillig aus Liebe sich selbst überwindet. Wir sind Götter, sowie Gott, die Macht der Liebe, durch uns wirkt. In solchen Augenblicken sind wir heilig, und das heißt ganz oder vollkommen. Wir können es nie in dem Maße sein wie Christus, der sein ganzes Leben hindurch nur von Impulsen der göttlichen Liebe beherrscht war; indessen wird das auch von uns nicht verlangt. Daß wir selbstsüchtig sind, ist unsere Erbsünde, die uns, als ererbt, nicht angerechnet wird, falls wir nur nicht das Ziel vergessen, das vor uns ist. Immer wandelt uns der Gott voran, bis wir in seine Wohnungen eingehen, aus dem tiefsten Abgrund führt uns noch das ewige Licht, solange wir es glauben. Bestimmte Taten oder Werke schreibt uns der Heilige nicht vor; wir können nichts tun als bereit sein, um die Stimme zu hören, die uns jeden Augenblick rufen kann. Nichts getan zu haben, was durch das Gesetz verboten ist, tadellos zu sein, das ist keine Heiligkeit; sondern ganz zu sein dadurch, daß man sich selbst über ein anderes vergißt und für ein anderes hingibt. Denn Gott ist im Ganzen, und wir dienen ihm, wenn wir dem Ganzen dienen oder durch unsere Person ein Ganzes vertreten, indem wir das Unterdrückte beschützen.
Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. – 1. Mos. 1. 4. 5.
Die göttliche Urteilskraft ist das Schwert, welches mit seiner Schneide teilt und abgrenzt: diesseit ist Licht, jenseit, bei dem von Gott Abgewendeten, ist Finsternis. Urteilend, scheidend und verbindend, das Geteilte durch Namen abgrenzend, schafft Gott die Welt. Schiller sagt, des Weibes Urteil sei seine Liebe, wo das Weib nicht liebe, habe es schon gerichtet. Gut, wenn dann nur der Mann das Hassen besorgt; der Mensch als Ganzes urteilt, indem er liebt und haßt, ergreift und verwirft. Es ist einer der vielen modernen Irrtümer, zu meinen, der Mensch solle alles lieben. Das tut nur der Urteilslose, der kein Maß hat. Auch das Tier unterscheidet, sogar vom Hunde verlangen wir, daß er einige anknurrt, nicht alle anwedelt. So wenig wie alles schön ist, ist alles gut, es gibt Häßliches, Hassenswertes und Verabscheuenswertes, das wir auch hassen und bekämpfen sollen. Wer das Gute nicht vom Schlechten unterscheidet, ist des Guten nicht wert. Unterscheiden und urteilen kann aber nur jemand, der ein Maß zugrunde legen kann; Maßlosigkeit ist Gottlosigkeit. Ein Maß haben heißt aber nicht etwa mäßig sein im Fühlen; im Gegenteil, an der Leidenschaft, mit der unmittelbar das Gute geliebt und das Böse gehaßt wird, erkennt man den Urteilskräftigen, den Geistvollen. Urteilskraft ist nicht, wie schon gesagt, Verstand, bloßes Denken, sondern ein Wollen, ein Hassen und Lieben, das allerdings als Gedanke im Wort geäußert werden kann. Wenn ich von der Kraft der Liebe spreche, ist immer die des Hasses inbegriffen; die göttliche Kraft, die sich im Menschen als in einem Ganzen äußert, umfaßt beides. Wer lieben kann, kann auch hassen, und wer nicht hassen kann, kann auch nicht lieben.
Haben wir nicht alle Einen Vater? Hat uns nicht Ein Gott geschaffen? Warum verachten wir denn einer den andern und entheiligen den Bund, mit unsern Vätern gemacht? – Mal. 2. 10.
Unter welchem Himmel, von welchen Eltern wir geboren sein mögen, wir können uns, auch ohne Sprache, verständigen. Der Reifste, Edelste und der Wildeste, der Klügste und der Einfältigste, sie verstehen sich untereinander, weil sie Menschen sind. Auch mit Tieren, ja sogar mit Pflanzen können wir uns in Beziehung setzen; aber es bleibt ein Tasten, während die Menschen untereinander das verbindende Wort haben, das, wenn nicht Sprache, so doch Zeichen werden kann. Wir gehören alle einer Art, der Menschenart, an, das ist es, was uns alle zu Brüdern macht.
Der gemeinsame Vater, den wir alle haben, ist der Mensch, der ideale oder vollkommene Mensch, die göttliche Idee, zu deren Bilde wir geschaffen sind. Niemand von uns hat ihn gesehen; aber wir wissen, daß er ist, weil wir ihn in uns selbst als Grundlage unseres Wesens fühlen und bei allen anderen voraussetzen sowohl, wie aus der Wirkung erfahren. Keiner von uns gleicht dem anderen, jedes Individuum ist eine bestimmte Persönlichkeit; zuerst, zutiefst aber sind wir alle Menschen, und unser Eigenstes, unsere Persönlichkeit, ist nur eine Abzweigung von unserem Menschentum, eine Spaltung der göttlichen Kraft, durch welche die Gottes- und Selbsterkenntnis möglich wird.
Welches ist aber der ideale, der vollkommene Mensch? Die bildende Kunst sucht ihn uns räumlich darzustellen, die Dichtung durch das Wort, jedes Elternpaar sucht ihn organisch hervorzubringen. Der Christ glaubt, daß er einmal auf Erden erschienen ist als Jesus Christus, und daß jeder Mensch, wenn er glaubt, wenigstens auf Augenblicke mit Gott eins werden und Gott in seiner Person vertreten kann. Jeder Mensch hat demnach zwei Väter, einen irdischen, individuellen, und einen göttlichen, unsichtbaren, welcher sich in seinem Unbewußten offenbart, durch jenes Nervensystem also, welches keinen Bewußtseinsmittelpunkt hat. Dies ist, wie es scheint, das Erbe der Mutter. Durch sie wird er mit dem himmlischen Vater verbunden, der ihn in das Ganze verschlingt und immer wieder den satanischen Absonderungswillen, der in der Substanz liegt, überwindet.
Aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen. – 1. Mos. 2. 17.
Das Unterscheiden des Guten und Bösen ist, sich selbst von Gott unterscheiden, es ist die satanische Absonderung von Gott. Das Geschöpf, das Gut und Böse unterscheidet, ist nicht mehr unter Gott; es ist nicht mehr nur müssend in allem, was es tut, sondern es ist selbstwollend und wählend, es hat Willkür. Indessen das Sprichwort sagt: Wer die Wahl hat, hat die Qual. Glücklich derjenige, dem durch einen übermächtigen Antrieb, eine innere Notwendigkeit oder durch Geschick und Zufall die Wahl erspart bleibt. Warum aber ist das Selbstwählenkönnen, das uns als Freiheitswonne vorschwebt, eine Qual? Dies wäre nicht der Fall, wenn der Mensch Gott wäre; aber er kann nicht mehr erreichen, als mit Gott eins zu sein. Nur Gott ruht in sich selbst, das Geschöpf ist abhängig. Von sich selbst, das heißt von seinem bewußten Willen, kann es nicht abhängen, so wenig als Münchhausen sich an seinen eigenen Haaren aus dem Wasser ziehen konnte.
Siehe, Adam ist worden als unsereiner und weiß, was gut und böse ist. – 1. Mos. 3. 22.
Der Mensch kann nur Gut und Böse unterscheiden, wenn er Selbstbewußtsein hat und zugleich Gottbewußtsein, wenn er weiß, wie er ist und wie er sein soll. Die Vorstellung des Vollkommenen ist das Maß, an dem er seine Unvollkommenheit ermißt, die Unvollkommenheit alles dessen, was seine Sinne wahrnehmen, läßt ihn das Vollkommene ersehnen. Sowie er zwischen Gut und Böse unterscheiden kann, kann er auch wählen und hat einen eigenen Willen; er ist frei, sich vom Guten abzuwenden und das Böse zu tun. Mit dem freien Willen fällt ihm die Verantwortung zu, die für das unfreie Tier Gott getragen hat. Diese Last der Verantwortung aber ist ihm unerträglich, und er sucht sie auf jede Weise von sich zu werfen; was ihn Gott gleich machen sollte, läßt ihn seine Ohnmacht erst recht inne werden.
Die Griechen stellten den Zwiespalt, in den der Mensch mit der vollen Selbst- und Gotteserkenntnis gerät, in der Tragödie dar, wo der Mensch schuldlos und doch schuldig von der eifersüchtigen Gottheit zerrissen wird. Auch die Drohung des Herrn klingt grausam: »denn welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben«, und neidisch die Sorge: »Nun aber, daß er nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich.« Aber hier ist es die Liebe des Vaters, die die Schmerzen und Kämpfe des selbständig gewordenen Kindes voraussieht, Voraussicht auch den Drang nach Unsterblichkeit, der aus dem Bewußtgewordenen hervorbrechen und seine Qualen nur vermehren muß; denn der Mensch, der Gott im Fleische, der Augen hat und nicht sieht, wird sie sich immer fleischlich wünschen müssen.
Der Mensch ist ein Tier, Gott oder der Teufel kann ihn reiten.
Die Frage nach der Freiheit oder Unfreiheit des menschlichen Willens ist so zu verstehen: der Mensch ist entweder unter Gott, wenn er unbewußt ist, oder er ist unter sich selbst, wenn er selbstbewußt ist. Tatsächlich ist er aber in diesem Falle nicht unter einer fördernden Kraft, weil der Mensch sich nicht selbst lenken kann; der auf sich selbst bezogene Wille hemmt und ist deshalb satanisch. Daß dies instinktiv dem Menschen bewußt ist, sieht man zum Beispiel daraus, daß Ärzte, wenn es sie selbst betrifft, einen anderen Arzt zu Rate zu ziehen pflegen. Das »Arzt hilf dir selbst« ist ironisch gemeint; man kann sich nicht selbst helfen, weil der auf sich selbst gerichtete Wille kraftlos ist. Höchstens etwa, daß man sich zufällig, ohne daran zu denken, also aus dem Unbewußten, hilft. Dies kommt daher, weil Gott, die lebendige Kraft, der Liebeswille ist, ein auf das Wachstum eines Gegenstandes gerichteter Wille.
Auf einem Gartenpavillon des Rubens stand als Inschrift ein Vers aus Juvenal:
Überlaß es den Göttern, dafür zu sorgen, was unser
Bestes sei und was uns ein gutes Gedeihen bereite;
Lieber ist ihnen der Mensch als sich selbst.
Der Mensch kann sich eben nicht selbst lieben, wenn anders Liebe eine tragende, fördernde Kraft ist.
Da man nun sich selbst nicht beherrschen kann, hilft sich der Mensch, der nicht unter dem höheren Willen Gottes steht, dadurch, daß er sich unter einen niederen Willen stellt, den er gewissermaßen vorschützt. Sie machen sich abhängig von einem Willen, der eigentlich von ihnen abhängig ist oder sein sollte.
Despotische Menschen, die alles beherrschen wollen, sind immer Sklaven irgendeines ihnen untergeordneten Willens. Es ließen sich zahllose Beispiele beibringen von den Tyrannen der Weltgeschichte, die von männlichen oder weiblichen Günstlingen beherrscht wurden, gewöhnlich aus den unteren Schichten der Gesellschaft hervorgegangen, und die auch von niedrigem Charakter und niedriger Sinnesart waren. Um anzuzeigen, daß diese vom Despoten sich selbst gesetzten Despoten doch eigentlich Kreaturen waren, pflegten sie sie von Zeit zu Zeit zu stürzen, um sie sofort wieder zu ersetzen. Nicht alle verfuhren so systematisch und so phantasielos wie Heinrich VIII., aber im Grunde war der Verlauf stets derselbe. Der kleine, häusliche Despot macht es in seiner bescheidenen Art nicht anders; es gibt Haustyrannen, vor denen die ganze Familie zittert, und die ihrerseits willenlos in der Hand einer habgierigen oder herrschsüchtigen Haushälterin oder irgendeines anderen niederen Willens sind. Der häufigste Selbstschutz aber ist der Dienst des Mammons oder des Geldes, als des Symbols für alle irdischen Güter, der Genuß der Sinnlichkeit und der Unabhängigkeit. Indem ich dem Mammon diene, diene ich dem Fleisch im weitesten Sinne, allen meinen niederen Trieben. Dies sollte ich zwar nicht, aber ich kann es doch, ohne mich selbst zu zerstören; dem Fürsten der Welt kann ich dienen, nur nicht Satan in seiner Majestät, indem ich niemandem diene, sondern mich selbst beherrschen will. Der Herrschsüchtige, der sich von niemandem, weder von Gott, noch von Menschen, noch vom Mammon beherrschen lassen will, erdrückt sich selbst. Auch der Geizige, der das Geld nur als Geld, als Begriff, sammelt, ist geistig krank; denn wir leben durch das Gefühl, das uns in Liebe oder Haß, im Kampf um Macht oder Dienst mit den Menschen verbindet.
Du glaubest, daß ein einiger Gott ist: du tust wohl daran; die Teufel glauben's auch und zittern. – Jak. 2. 19.
An Gott glaubt im Grunde jeder Mensch, der nicht wahnsinnig ist, auch die es bestreiten und selbst nicht wissen; aber glauben, daß Gott sei, ist keine Religion und keine Frömmigkeit, sondern darauf kommt es an, Gott zu gehorchen. Es wäre leicht, fromm zu sein, wenn Gott unerreichbar in den Wolken thronte, ohne Mund, seinen Willen auszusprechen, ohne Hand, ihm Geltung zu verschaffen; leicht auch, Gott zu gehorchen, wenn er auf Pergamentstreifen Befehle vom Himmel herabließe. Gott aber offenbart sich im Menschen, und Gott gehorchen heißt, den Menschen gehorchen, die Gehorsam von uns zu fordern haben. Gott glauben heißt, freiwillig einem höheren Willen gehorchen wollen; danach erhebt sich die Frage, wo dieser Wille zu finden sei.
Es folgt daraus, daß Religion nicht nur im Gehorsam bestehen kann, sondern auch im Befehl; denn, wenn sich jeder einem höheren Willen, vertreten durch einen Menschen, unterordnen soll, so müssen doch auch Menschen da sein, die befehlen und Gehorsam fordern können. So ist es in der Tat: in der Schule des Gehorsams wird das Befehlen gelernt. Wir werden geboren als ein Gegenstand, der vom Liebeswillen getragen wird; wir sollten sterben als ein Ich, dessen Liebeswille Gegenstände tragen kann, indem es sie richtet und begnadet und die Verantwortung für ihr Tun auf sich nimmt. Je mehr Kraft man verbraucht, um andere in dieser Weise zu tragen, über die man befiehlt, desto mehr muß man selbst unter Gott stehen, aus dem die Kraft fließt, und der für uns verantwortlich ist. Es folgt daraus, daß wir nur denen befehlen sollen, die wir lieben, oder daß nur der gut befiehlt, der aus Liebe befiehlt.
Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen. – Apostelgesch. 5. 29.
Gott offenbart sich durch Menschen, und Gott gehorchen heißt, dem Willen gehorchen, der uns auf Erden übergeordnet ist; aber es heißt nicht, daß Gott nicht wäre. Die Mittler, die Göttersöhne, empfangen den göttlichen Willen unmittelbar von Gott, und von ihnen strömt er weiter über Völker und Menschheit. Ja, durch sie wissen wir erst von Gott; denn wir glaubten ihm nicht, wenn wir ihn nicht in Person erlebten. Am Widerschein, der von Moses' Antlitz strahlte, erkannte das Volk Israel Gott. Der Impuls, der ihn zu seinen Taten trieb, zeugte von Gott, ihm und seinem Volke. Das Gewissen jedes einzelnen und das Gesetz, welches den Forderungen des Gewissens den klassischen Ausdruck gibt, kann niemals genügen in einer freien Welt. Der göttliche Wille ist Einer, aber er offenbart sich in der unendlichen Vielheit. Er ist immer neu, immer überraschend, unerschöpflich. Er kann heute Krieg wollen, morgen Frieden, heute Krankheit, morgen Heilung, heute Freude, morgen Schmerz, nichts, was den Menschen begegnen kann, ist an sich gut oder böse. Unser Gewissen lehrt uns, daß der göttliche Wille ein Liebeswille ist, nicht aber, wie er in jedem Falle seinen Willen äußern will; das hängt nicht von Gott allein ab, sondern von unserem eigenen Willen, oder dem satanischen Willen, der sich Gott entgegenstellt und ihn zur Überwindung reizt.
Jeder kann von einem göttlichen Antrieb ergriffen werden, der ihn in diesem Augenblick auch über die Menschen stellt, denen er natürlicherweise untergeordnet ist. Selbst vom Gehorsam gegen die Eltern, ja selbst vom Gehorsam gegen Gott kann ein Befehl von Gott entbinden. »Ist aber dieser Weg unheilig, so wird er heute geheiliget werden.«
Wer aber Gott, einem Gefühl, das ihn unwiderstehlich treibt, mehr gehorcht als den Menschen, muß nicht erwarten, von den Menschen dafür belobt und belohnt zu werden. Bei ihm handelt es sich nicht um Lohn oder Lob, sondern um das Erfüllen eines Auftrags von einem überirdischen Herrn. Der Lohn ist er selbst, der mit dem Auftrag zugleich den Kraftstrom seiner Gnade ergießt; wenn das Streben nach irdischer Belohnung sich regt, ist diese Gnade schon im Versiegen.
Denn unser Gort ist ein verzehrend Feuer. – Ebräer 12. 29.
Wir finden in allen Mythologien die zwiespältige Natur Gottes durch die Symbolik des Feuers ausgedrückt, welches zugleich erleuchtend und erwärmend, lebenschaffend und lebenerhaltend und, sowie es ein gewisses Maß überschreitet, sowie es mit seinem Gegenstände in zu nahe Berührung kommt, versengend und verzehrend, lebenzerstörend ist. Aus dem Gott in seiner Majestät, der sich mir unverhüllt offenbart, wird Satan, aus dem übertriebenen Guten wird das Böse. Das Hinausgehen über das Maß bezeichnen wir durch das Wort Sucht; es deutet immer darauf, daß der Ausgleich Gottes durch die Natur oder der Natur durch Gott nicht getroffen ist.
Solange ich naiv, unbewußt bin, kann ich mich selbst lieben und hassen, mich selbst beurteilen, weil ich mir selbst noch fern, mir selbst noch Gegenstand bin, wie das an kleinen Kindern leicht zu beobachten ist. Sowie ich aber Ich bin, ein Subjekt, kann ich mir nicht mehr Gegenstand sein, weil Subjekt und Objekt zusammenfiele, weil ich mir zu nah bin. Eine je stärkere Kraft ich bin, desto mehr bedarf ich der Gegenstände außer mir für mein Gefühl in Liebe und Haß, weil dies Gefühl, sowie ich auf mich selbst beschränkt wäre, mich verzehren würde. Gott bedarf der ewigen und unendlichen Welt, weil er sich sonst in einem Augenblick selbst vernichten würde.
Der selbstbewußt gewordene Mensch wird zum Selbstzerstörer, sowie er mit sich allein, auf sich selbst beschränkt ist und sich selbst beherrschen will. Denn der auf sich selbst zurückgewendete Machttrieb ist Selbstbeherrschung. Selbstbetrachtung macht unfruchtbar, wie das Feuer unfruchtbar ist, das einzige Element, durch welches alles lebt, in welchem aber nichts leben kann. Jeder Mensch hat Urteilskraft, indem er liebt und haßt, er ist also Kritiker; hat er für seine Kritik keine außer ihm liegenden Gegenstände, so zerfrißt sie wie eine Säure das eigene Leben, und zwar je rascher, desto mehr das Hassen in ihm das Lieben überwiegt, desto einseitiger er männlich ist. Sowie das Feuer auf einem entzündlichen Herde, wenn es nichts Verzehrbares außerhalb mehr fände, erst diesen fressen und dann erlöschen würde, so wendet sich der Kritiker vernichtend gegen sich selbst, sowie er sich selbst beurteilt, bis sein Licht erlöschen und Nacht und Kälte um ihn herrschen würde.
Wer nur liebte, der freilich würde auch sich selbst lieben und könnte sich nicht zerstören; aber er wäre eben nicht selbstbewußt, denn Selbstbewußtsein besteht darin, daß man das Gute vom Bösen unterscheidet und also das Böse haßt. Der Selbstbewußte aber ist auch böse, insofern er die Sucht hat, selbst zu sein, sich vom Ganzen, in dem Gott ist, zu sondern, und muß dies Böse in sich hassen, so wie er sich selbst betrachtet.
Luther erzählt, daß er sich selbst unter seinen Freunden einen Beichtvater gewählt habe; denn ein Wort aus dem Munde eines anderen könne aufrichten und erheben, welche Kraft dasselbe Wort nicht habe, wenn man es zu sich selbst sage. Man kann sich selbst weder verurteilen noch freisprechen, weil man sich selbst zu nah ist, man kann sich nur selbst zerstören. Der reine Selbstherrscher ist immer ein Aszet, seine Selbstkasteiungen verraten den Hang des auf sich selbst beschränkten Willens. So straft Gott den Ungehorsamen, der sich von ihm absondert, durch seinen Ungehorsam selbst: Schrecklich ist es, in die Hand des lebendigen Gottes zu fallen.
Das Ichsein, die Fähigkeit, sich selbst zu erkennen und von sich auszugehen, sich selbst Gegenstände zu setzen, ist das, was den Menschen Gott ähnlich macht. Aber dies höchste Glück des Menschen, seine Persönlichkeit, ist zugleich sein Verhängnis. Aus dem Selbstbewußtsein fließt der Trugschluß, als könne der Mensch ohne Gott, also selbständig, sein. Das normale Bewußtsein ruht auf den zwei Säulen des Gottbewußtseins und des Selbstbewußtseins, des höheren und des eigenen Willens. Die Selbstsucht, welche sich vom Gottesbewußtsein trennt, ist Verneinung Gottes, ist Negation. Auf der einen Säule des Selbstbewußtseins kann der Geist nicht ruhen, ohne sie zu überanstrengen, weil das Gottesbewußtsein die Urkraft, der feste Stützpunkt ist, mit welchem das Selbstbewußtfein verbunden und von dem es abhängig ist. Solange wir das Gottesbewußtsein haben, das Unbewußte oder die Liebe, die mit dem Ganzen verbindende Kraft, haben wir auch das Selbstbewußtsein; sowie wir aber nur das Selbstbewußtsein haben wollen, haben wir gar nichts mehr. Da Gott im All, im Ganzen ist, stürzt der, welcher sich ganz von Gott losreißt, um ganz auf sich selbst gestellt zu sein, ins Nichts.
Wer ist schwach, und ich werde nicht schwach? Wer wird geärgert, und ich brenne nicht? – 2. Kor. 11.29.
Was unterscheidet den Menschen vom Tiere? Nur das Selbstbewußtsein. Was ist aber das Selbstbewußtsein? Die Fähigkeit, sich selbst von einem Ideal, den eigenen Willen von einem höheren Willen zu unterscheiden. Das Selbstbewußtsein ist vom Gottesbewußtsein unzertrennlich. Ich habe Selbstbewußtsein, weil ich den Willen Gottes, der gut ist, von meinem eigenen Willen, der böse ist, insofern er nur sich selbst will und allein herrschen möchte, unterscheide. Ich würde aber den höheren Willen nicht erkennen können, wenn er nicht in mir vertreten wäre, wenn ich nicht den Trieb, Gott gleich zu sein, in mir hätte. Ich erkenne Gott, weil ich den Trieb in mir habe, den Schwächeren zu beschützen gegen den Bösen, der das Schwächere unterdrücken will; diesen Trieb erkenne ich als den höheren, als den, durch den ich ein Mensch bin, der Gott werden will. Wenn es Menschen gibt, die sagen, es gäbe keinen Altruismus, denn diejenigen, die sich für andere aufopferten, täten es, weil es ihnen ein inneres Bedürfnis, eine Befriedigung wäre, also auch aus Egoismus, so ist das dumm, denn eben das war ja zu beweisen, daß das Opfer der Liebe eigener Wille, die höchste Lust sein kann.
Liebten alle Menschen Gott und den Nächsten wie sich selbst, so könnten sie in einem harmonischen Himmelreiche friedvoll dahinleben; da dies nicht der Fall ist, verlangen sie nach Einem, der, die Harmonie des Ganzen vertretend, das Stolze beugt und das Schwache schirmt, aber auch das Starke nicht vom Schlingkraut des Neides erstickt werden läßt. Dieser Eine muß frei und persönlich, er muß ein Wille sein, unabhängig vom Volke, weil er, durch seine Liebe zum Volke, das Volk selbst vertritt. Seine Aufgabe ist, das Maß als Wille, der höchste Richter zu sein. Die auserwählten Vertreter Gottes sind diejenigen, deren Liebesgegenstand das ganze Volk ist und deren Feinde alle diejenigen sind, die diesem Volke schaden. Das ist das Gefühl des Herrschers von Gottes Gnaden, der dem Volk als Führer und Vorbild voranzieht, das Schwert in der Hand, um seine Feinde zu bekämpfen und zu richten, die außerhalb des Volkes sowie die im Volke. Jeder Mensch aber kann und soll Gott vertreten, wo immer er Gelegenheit hat. Schwächere vor bösem Willen zu beschirmen. Er soll es? Ja, er sollte es; aber nicht er selbst soll sich dazu antreiben, sondern eine Macht außer ihm, sei es der Befehl eines übergeordneten menschlichen Willens, dem er freiwillig gehorcht, oder ein unmittelbarer göttlicher Befehl, ein inneres Müssen, das ihn bewegt. Dies Mitbrennen mit allem, was liebt, leidet, jubelt, schmachtet und sich ängstet, äußert sich vielleicht nicht in sogenannter Wohltätigkeit, obwohl es sich dem Bittenden nicht versagen wird; aber diese Empfänglichkeit für die Welt, für das, was außer einem selbst lebt, ist die Quelle alles Großen und Guten. Die gewaltige Phantasie zum Beispiel, die Rubens' Werke schuf, zeugt von seiner Liebe; diese Liebe wird sein Wesen und Handeln stets durchschimmert haben, wenn er auch sein Vermögen nicht unter die Armen verteilte. Es kann Gott nicht vorgeschrieben werden, wie er sich äußern soll; sicher ist nur, daß er immer eine Liebeswillenskraft ist. In solchem Sinne meinte wohl Friedrich der Große, daß der König der erste Diener seines Volkes sein solle. Nur müßte man den Satz umkehren und sagen: Wer so ist, der ist der wahre König seines Volkes.
Noch einmal will ich bewegen nicht allein die Erde, sondern auch den Himmel. – Ebräer 12. 26.
Ein kleines Kind ist all-liebend, es geht in seiner Umwelt auf. Vom Lichte angezogen, greift es in die Flamme, es hascht nach den Sternen, weil es noch nicht perspektivisch sieht, das Gesehene noch nicht auf sich als Sehendes bezieht. Ich denke mir, daß dieser Zustand des Unbewußtseins mit den Öffnungen des Schädels zusammenhängt, der sich erst allmählich, bald früher, bald später schließt. Nicht daß das Kind keinen Selbsterhaltungstrieb härte, im Gegenteil, es verlangt nach Nahrung und weiß sie sich zuzuführen; aber es ist nur ein Trieb, der sofort wieder verschwindet, wenn er befriedigt ist und einem glücklichen Gleichgewichtszustand Platz macht. Es ist ein Zustand, wo zwischen den äußeren Reizen, die das Nervensystem treffen, noch nicht gewählt wird, wo das Selbstbewußtsein sich noch nicht trennend zwischen Willenswort und Willenskraft geschoben hat. Was Gott will, tritt unmittelbar in Kraft; so ist es bei dem kleinen Kinde, nur daß es dabei der Gegenstand, nicht das Subjekt ist. Es ist ganz und gar unter Gott, ganz hingegeben, ganz Empfänglichkeit. Dies bejahende Verhältnis zur Welt ist das Paradies der Kindheit, in welchem man nur sein kann, ohne es zu wissen. Weder durch Abtötung des Körpers noch durch Betäubung des Selbstbewußtseins kann es wiedergewonnen werden, wenn es einmal verloren ist, einzig durch eine zweite Offenbarung Gottes im Geiste, Gott Heiliger Geist, und eine zweite freiwillige Unterordnung unter Gott. Diese zweite Naivität, das Unbewußtsein im Selbstbewußtsein, ist Gnade; es ist der Zustand, von dem Samuel zu Saul sagte: »Wenn dir nun diese Zeichen kommen, so tu, was dir unter Händen kommt; denn Gott ist mit dir.« Es ist nicht Pflicht oder Gewissenhaftigkeit, sondern Hingegebensein an ein Ideal, Begeisterung oder Glauben, Getriebensein von göttlichen Impulsen.
Und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein; und er soll dein Herr sein. – 1. Mos. 3.16.
Tacitus erzählte von den Germanen, daß sie in der Frau etwas Heiliges verehrten und ihrem Rate folgten; aber bei den Römern selbst war es in der Urzeit ebenso gewesen, wie noch die Sage von der Mutter des Coriolan und manche andere beweist. Jedes Volk lebt in vorhistorischer Zeit im Mutterrecht und stellt die Frau über den Mann. Dies ist die Zeit der allereigentlichsten Gottesherrschaft, wo Gott nicht durch einen Propheten, sondern durch das Weib vertreten ist. In der Mutterliebe durchbrach zum ersten Male der Strahl der göttlichen Liebe das Fleisch, und sowie sie erschien, beugte sich die Natur vor der Mutter als vor der Herrscherin. Was könnte klarer das Dasein Gottes beweisen? Denn an körperlicher Kraft stand die Frau auch damals zurück: sie herrschte, weil sich Gott in ihr offenbarte. Sie behielt diese Stellung, solange sie all-liebend war, mehr göttlich-liebend als männerliebend; sowie sie im Manne aufging, konnte sie nicht mehr Gott vertreten.
Ich habe von All-Liebe anstatt von Gemeinsinn gesprochen, weil man unter diesem Worte jetzt etwas versteht, was vom Verstande ausgeht und einen Nutzen bezweckt. Der Verstand, der Affe Gottes, hat ja auch eingesehen, daß der Einzelne nur im Anschluß an ein Ganzes bestehen kann; wo der Verstand Ursache ist, ist die Wirkung eine ganz andere als da, wo die Liebe Ursache ist. Der Verstand kann nur zerlegen und zusammensetzen, die Liebe schafft und läßt wachsen. Gemeinnützigkeit und gemeinnützige Einrichtungen haben mit dem Gemeingefühl des Einzelnen nichts zu tun und können dies niemals ersetzen.
Die mütterliche Frau, die Matrone, hatte gehorsame, tapfere und treue Söhne, die nicht ihren eigenen Vorteil, sondern den des Ganzen suchten. Deshalb war diese Zeit die vorhistorische, das Paradies, in dem es noch keine Absonderungen gab, wo das einheitliche Volk eine einheitliche Kultur hatte, die ganz auf Phantasie, Anschauung und Übung beruhte. Die Kultur war ideal, weil sie nicht auf Macht und Reichtum ausging, sondern auf die Verherrlichung Gottes in guten und schönen Menschen. Das Wort der Mutter war das Wort der göttlichen Liebe, das Recht aller, die Eines Gottes Kinder sind.
Das ändert sich, sowie die Frau ein vorzüglich männerliebendes Geschöpf wird; von diesem Augenblick an kann sie nicht mehr die Vertreterin Gottes und des ganzen Volkes sein. Wie kann die Frau Quelle des Rechtes sein, die einen einzigen Mann vorzieht, deren Wille überhaupt auf den Mann gerichtet ist, und die alle ihre Schwestern mit Neid und Haß verfolgt, die etwa von ihm vorgezogen werden könnten! Deren bestes, höchstes Gefühl, deren innigste Überzeugung von einem beliebigen Manne über den Haufen geworfen werden kann! Die nicht in ihren Kindern ihren schönsten Schmuck findet, sondern sich aus dem Reichtum ihres Mannes schmücken will und deshalb den Mann, der ohnehin selbstsüchtig ist, noch anspornt, sich durch äußere Vorzüge von seinem Volke abzusondern! Von den Zeiten will ich gar nicht reden, wo die Frau selbst als Trägerin des Reichtums oder Adels vom Manne gesucht wird, also als Absonderungsmöglichkeit, anstatt daß der Mann durch sie mit Gott verbunden würde. Die Frau selbst ist es, die sich zur Sklavin des Mannes machte; indem sie nicht mehr Gott, sondern einen selbstgewählten Mann vertreten wollte, wurde sie aus der Freien eine Magd.
Eva ist die Eitle, die Selbstbewußte und Selbstgefällige, die Eigenwillige und Eigensinnige, die herrschen will. In der Zeit des Mutterrechts war die Frau nicht herrschsüchtig, obwohl sie herrschte; sie tat es, wie der Prophet im Vergleich zum König, durch die Liebe, »nicht als die da herrschen, sondern als Vorbild der Herde«. Als sie herrschsüchtig wurde, stellte ihre gleichzeitige Verliebtheit sie unter die Herrschaft des Mannes. Denn Herrschsucht und Sklavensinn gehören zusammen; die verliebtesten Frauen sind die herrschsüchtigen, nur daß sie auf Schleichwegen, nämlich durch den Mann, herrschen wollen.
Mit der Bindung des weiblichen Selbstbewußtseins, Eigensinns und der weiblichen Herrschsucht ist aber der Satan der Absonderung und Verneinung nicht aus der Welt geschafft: bereits hat die Mutter ihn auf den Sohn übertragen, und er offenbart sich schrecklich im Brudermorde des Kain. Der Machttrieb, die Sucht, mehr als andere zu gelten und zu besitzen, andere zu unterdrücken und zu beherrschen, ist seitdem als Erbsünde allen Menschen angeboren.
Wie das Wort der Liebe, der Bejahung, ist auch das satanische Wort der Verneinung durch das Weib in die Welt gekommen, die Verneinung Gottes um selbst zu herrschen; denn der Mann hat die Kraft, das Weib das Wort, den Gedanken und die Sprache. Mädchen sprechen früher als Knaben, die Zungenfertigkeit der Fran ist sprichwörtlich. Sage und Geschichte nennen die Frau als die Anstifterin zu guten und bösen Taten; wie Brunhild den Mord Siegfrieds riet, den Hagen ausführte, so riet Kriemhild die Rache. Noch immer rät uns das Sprichwort, die Frau zu suchen – Cherchez la femme! – wenn es gilt, den Schlüssel zur Entstehungsgeschichte einer Tat zu finden. Das Weib ist der geborene Rebell, der erste Protestant, der erste Mensch nicht nur dadurch, daß sie die erste Vertreterin Gottes, sondern auch dadurch, daß sie die erste Vertreterin Satans war, das erste Geschöpf, das nicht mehr unter Gott stand, sondern eigene Gedanken und eigenen Willen hatte, das selbst war. Eigene Kraft zwar hatte sie als selbstbewußtes Wesen nicht; die hatte der unter Gott gebliebene, der unbewußte Mann oder die selbstvergessene, die gläubige Frau.
Könnten wir aufrichtig wünschen, daß die Menschheit immer im Paradiese, im Zeitalter des Mutterrechts geblieben wäre? Daß es keine Geschichte gäbe? Keine Taten der Helden, keine Kunst, die den Helden verherrlicht? Gott ist eine Kraft, die sich durch Überwindung von Hemmungen äußert; nachdem sie die Trägheit der Materie überwunden hat, überwindet sie den Widerstand ihres Selbstseinwollens. Das Große in der Geschichte beruht auf dem Gegensatz und der Ausgleichung der durch den Gegensatz entstandenen Spannung; der Teufel ist die verneinende Kraft, die, das Böse wollend, das Gute hervorruft. Verhängnisvoll ist nur das Überwiegen der Verneinung, der maßlos hemmende Individualismus; was Eva sündigte, muß immer wieder durch Maria ausgeglichen werden. Sowie die Verneinung einen gewissen Grad übersteigt, kann sie nur noch durch die Verneinung selbst, nämlich durch Zwang überwunden werden, die sie aber nur äußerlich überwindet, ihr Wesen nur verstärkt. Herrschsucht und Sklaverei bedingen sich gegenseitig.
... nicht der Magd Kinder, sondern der Freien. – Gal. 4. 31.
Die Griechen heirateten weder die Hetäre, die Frau, die jeweils von einem einzelnen, selbstgewählten Manne, noch die Sklavin, die vom ganzen Männergeschlecht abhängig ist, sondern die Matrone oder Maria, die wahre Frau und Herrin des Hauses, die als Vorbild Herrschende. Aus diesem Grunde waren sie ein geniales Volk. Es ist das Unglück des dekadenten Volkes, daß es wenig matronale Frauen mehr gibt, und daß die wenigen, die es gibt, nicht geliebt und nicht geheiratet werden, außer wenn sie zufällig reich sind. Das wird aber in unserer Zeit kaum der Fall sein, denn wo göttliche Liebe ist, wird im allgemeinen weder Reichtum noch Adel sein; in der Zeit der Naturalwirtschaft ist das natürlich anders. Der moderne, dekadente Mann, der, wenn auch den Jahren nach jung, doch greisenhaft ist, gefühlsschwach und entschlußunfähig, wird nur durch starken Willen angezogen, durch die Herrschsucht, die Organisationsgabe, die seiner Schwäche bequem ist. Es wird ihm gehen wie dem Volke, das Könige verlangte: wenn es sie hat, wird es unter der Knechtschaft seufzen, ohne sie doch entbehren zu können. Der dekadente Mann will sinnlich gereizt und will beherrscht sein. Das herrschsüchtige, willenskräftige oder denn das schillernde, geistreiche, gefallsüchtige, das brünstige Mädchen zieht an; an dem heiteren, in sich ruhenden, gütigen gehen sie vorüber, sei es auch schön. Man vergleiche die durchschnittliche moderne Jüdin mit den wundervollen Frauen, die wir aus der Heiligen Schrift kennen: Rahel, Rebekka, Hanna. Diese Frauen waren nicht verliebt, obwohl sie auch ihren Mann liebten und ihm treu waren; vornehmlich waren sie, auch dem Manne gegenüber, Mütter, und zwar nicht nur Mütter ihrer eigenen Kinder, sondern Stamm-Mütter, Mütter des Volks.
Die Frage liegt nah, ob denn etwa die Frauenemanzipation recht habe, wenn sie Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts fordert und eine gewisse Verachtung der Männerliebe zur Schau trägt? Ob sie damit, und indem sie die Frau in den Dienst der Gemeinnützigkeit stellt, nicht tatsächlich wieder die Maria, die Vertreterin Gottes, hervorrufen und zur Geltung bringen wolle? Es ist mit der Frauenemanzipation wie mit der Gemeinnützigkeit überhaupt: das ist Menschensatzung, die das Übel nur vermehrt, anstatt es zu heilen. Wie der Sozialist, um die Volkseinheit wiederherzustellen, alle gleichmachen will, gleich reich oder gleich arm und gleicherweise einem Gesetz verknechtet, so würde die Frauenemanzipation nur die Frauen entweiben und die Männer entmannen, während man im Gegenteil den Männern die Kraft und den Frauen die Liebe, nämlich die göttliche Liebe, sollte wiedergeben können. Was wirkt, ist ja immer nur die Gesinnung. Je mehr männliche Berufe die Frau an sich reißt, desto weibischer wird der Mann, desto eigensinniger nämlich, feiger, verlogener, verliebter, und desto männischer, nämlich herrschsüchtiger und gleichfalls verliebter wird die Frau. Mehr Keuschheit und mehr Mütterlichkeit der Gesinnung, mehr Gott- oder Weltempfänglichkeit bei der Frau und mehr Verehrung der Frau von der Seite des Mannes, dessen bedürfen wir; nicht etwa Losreißung der Frau vom Manne und von der Familie.
Das Gebot Gottes, nach welchem der Mann das Haupt der Familie sein soll, bleibt unveränderlich, weil, nachdem einmal das Böse, der Machttrieb des Individuums, da ist, die männliche Kraft nötig ist, um das Böse im Zaume zu halten. Der Offenbarung Gottes im Weibe beugt sich die durch das Weib selbst satanisch gewordene Natur nicht mehr. Nachdem einmal das Böse, der Ungehorsam, die Herrschsucht, der selbstbewußte Machtwille da ist, offenbart sich Gott im Manne als Gottvater, der Herr. Die Kraft, die das Böse, welches sich absondern, unterdrücken und vergewaltigen möchte, muß, um es niederzuzwingen, noch stärker sein. In der Geschichte wurden zuweilen diejenigen Fürsten gut genannt, die den Adel sich räuberisch auf Kosten des Volkes bereichern ließen; es waren die schwachen und schlechten. Es ist ein unglückliches modernes Mißverständnis, daß man nur Gott den Heiligen Geist kennen will, Gott Vater aber, die herrschende Kraft, verleugnet. Der Mann soll innerhalb der Familie Gottvater, die Frau den Heiligen Geist der Liebe vertreten. Dem Manne gegenüber soll sie für die Familie, dem Familienvater gegenüber aber auch für diejenigen einstehen, die außerhalb der Familie sind.
Nietzsche hat gesagt, das Weib sei nur glücklich, wenn es von ganzer Seele gehorche. Das ist richtig; aber dem Manne geht es nicht anders. Der Mensch will und muß überhaupt gehorchen, der Unterschied ist nur der, daß einige freiwillig Gott, andere freiwillig dem Mammon gehorchen, und daß andere zum Gehorsam gezwungen werden wollen und müssen. Der natürliche Mann gehorcht von selbst dem jeweilig Übergeordneten; er ist auf Befehl und Gehorsam eingestellt. Nicht so die Frau, wenigstens die Eva, sie gehorcht nur einem geliebten Manne, und umgekehrt, wo sie gehorcht, liebt sie auch. Je eigensinniger sie ist, desto mehr wird sie nach einem brutalen Manne verlangen, der im Notfall den Gehorsam erzwingen könnte und würde. Es gibt nichts, was die Frau nicht täte oder litte aus dem Gehorsam der geschlechtlichen Liebe; der Mann gehorcht gern auch Personen des eigenen Geschlechts, besonders wo er nicht Herrschsucht, sondern den auf göttlicher Liebe beruhenden Befehl spürt. Gehorchenkönnen bedeutet Erlöstsein vom eigenen Willen; weil die Frau mehr Eigenwillen hat als der Mann, bedarf sie des durch die geschlechtliche Liebe vermittelten Gehorsams. Der vernünftige, das heißt der gottliebende Mensch gehorcht von selbst, und für ihn gelten alle diese Gebote nicht. Mißtrauisch richtet sich das Gefühl gegen die unverheiratete Frau, deren Herrschsucht, Eigenwille, Kritik, Besserwisserei nicht durch die Liebe gebunden ist. Es ist dadurch die Abneigung gegen alte Jungfern und der Hexenverdacht zu erklären. Der Hexe steht aber die Heilige gegenüber, welche sehr wohl unverheiratet sein kann. Aller Tadel fällt auf den Mann, wenn die Maria, die Vertreterin Gottes, nicht Matrone, nicht Frau und Mutter wird.
Der Mann verehrt das Weib, weil sie seinem individualistischen Machttriebe gegenüber die Stimme Gottes vertritt, der diejenigen schützen will, die sein Machttrieb vernichten würde, der auch seine eigene Gerechtigkeit noch durch die Gnade mildern will. Er läßt sich von ihr lenken, sowie er mit der Überlegenheit ihrer Einsicht zugleich ihre Liebe fühlt. Das Göttliche im Weibe, ihre Urteilskraft, zeigt sich äußerlich an durch ihre hohe und breite Stirn; unser Gefühl verlangt aber, daß diese nicht allzusehr überwiege, sondern daß der Eindruck von Strenge, der dadurch hervorgerufen werden könnte, durch Lieblichkeit und Kindlichkeit in der Form von Wange und Kinn gemildert werde. Dadurch entsteht jenes schöne Oval, das wir als madonnenhaft empfinden, aus dem sich allmählich das Matronenhafte entwickelt. Ihrem Manne gegenüber soll die Frau nicht Herrscherin und Richterin sein; das soll der sein, der die Kraft hat. Es wäre gefährlich, wenn das Wort die Kraft unterdrückte; denn die Kraft ist Zeugungskraft und Widerstandskraft, die Quelle unseres Lebens. Deshalb ist selbst Ausschreitung der Kraft besser, als daß die Kraft überhaupt gebrochen würde. Wo Frauenherrschaft ist, werden die Männer Heuchler oder Schwächlinge, Menschen, die sich in unfruchtbarer Selbstkritik verzehren, Menschen, die sich nicht mehr äußern können. Sehr weise ist deshalb die altmodische Lehre, Frauen sollten ihrem Manne ihren vernünftigen Willen so einflößen, daß er meine, es sei sein eigener. Dann wird auch in ihrem Sohne das Gewissen nicht als Hemmung wirken, die sagt: du sollst! oder du sollst nicht!, sondern als Kraft, die den auf das eigene Wachstum gerichteten Willen auf ein höheres Ziel umwendet. Ist erst einmal die männliche Kraft geschwächt, so fällt der Frau allerdings die Herrscherrolle zu; da das aber ihrer Natur zuwider ist, so verzeiht die Frau im allgemeinen dem Manne nichts weniger als Schwäche.
Umgekehrt verlangt der natürliche Mann nach einer Frau, die sein Gewissen verkörpert; er will durchaus nicht bedingungslos angebetet sein, das reizt ihn nur vorübergehend, ekelt ihn aber bald. Durch seine Frau will er mit Gott, mit einem Ideal verbunden werden, das er noch nicht ist, das aber durch ihn verwirklicht werden soll. Unverwelklich schön stellt dies Verhältnis die Legende von der Heiligen Elisabeth dar, an der Gott, als sie, entgegen dem Befehl ihres Mannes, des Landgrafen, die Armen speisen ging, das Rosenwunder vollzog, dadurch zugleich die Widerstandskraft des Mannes überwindend. Dies Ideal, das seine Frau ihm vorhält, indem es gleichsam durch sie hindurchleuchtet, wird sich natürlicherweise nach dem Bilde ihrer Eltern in ihr gestaltet haben. Es ist Shakespearescher Tiefsinn, wenn in Lady Macbeth das Gewissen erwacht, als der gemordete König sie an ihren Vater erinnert, und ebenso ist es ein wundervoller Zug, daß Othello sein Mißtrauen gegen Desdemona mit dem Gedanken an ihren Ungehorsam gegen ihren Vater nährt, zu dem er selbst sie veranlaßte. Daran erinnert die abstoßende und doch tief begründete Grausamkeit, wenn Männer das Mädchen nicht heiraten, das sie verführen konnten; denn die Eltern sind dem Kinde an Gottes Statt, und Ungehorsam gegen die Eltern ist Ungehorsam gegen Gott. Es ist rührend, daß Kinder an diesem Gehorsam oft gerade Eltern gegenüber festhalten, die ihn durchaus nicht verdienen; gerade dann sieht man die wunderbare Kraft des Glaubens, die das Unsichtbare für das Sichtbare einsetzt, und von dem, was nicht sichtbar ist, oft sicherer getragen wird als andere vom Sichtbaren. Kinderaugen sehen groß und schön, auch wo die sichtbare Unterlage nur Erdenschmutz ist.
So wie dem Mädchen das Bild ihres Vaters als Ideal vorschwebt, das sie durch ihren Mann verwirklicht sehen möchte, so dem Knaben das Bild der Mutter, das er auf seine Frau überträgt. Habe ein Kind aber auch gar keine oder keine guten Eltern gekannt: die Idee gerechter, guter und weiser, ja eigentlich vollkommener Eltern, denen es von ganzem Herzen gehorchen möchte, ist in jedem Kinde vorhanden, weil es die Idee Gottes ist, die an diesem Punkte zuerst wirklicher Mittelpunkt wird.
Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr. Sondern soviel der Himmel höher ist denn die Erde, so sind auch meine Wege höher denn eure Wege und meine Gedanken denn eure Gedanken. – Jes. 55. 8. 9.
Der satanische Gedanke ist das Nein, der gläubige das Ja, satanisch ist die Hemmung, göttlich der Impuls, der in Kraft tritt. Im Anfang war der durch die Bejahung des Stoffes unmittelbar in Kraft tretende Impuls. Das weibliche Geschöpf bejaht ursprünglich den Impuls des männlichen, wiederholt ihn, ohne zu wählen; im Säugetier wird die Hemmung mächtig, das Übermaß des Leidens entreißt ihm die Verneinung. Diese Hemmung würde die Bewegung des Lebens stocken machen; da offenbart sich Gott mit einem neuen Impulse, dem der göttlichen Liebe, die sich für das Kind, für das Künftige, noch Unsichtbare, opfert. Je stärker der erste Impuls ist, der in der Zeugungskraft des Mannes Fleisch wird, desto stärker wird die Hemmung sein, die im Sohne Fleisch wird, und desto stärker muß wiederum die sich opfernde Mutterliebe sein, die in der gebärenden Kraft der Frau Fleisch wird. Göttlich ist der Impuls, der den Menschen zur Verneinung treibt, aber mehr noch Bejahung verlangt; die Verneinung ist Selbstbehauptung, die Bejahung Opfer des Selbst für ein Künftiges. »Noch einmal will ich bewegen nicht allein den Himmel, sondern auch die Erde.«
Gottes Ziel ist sein Ebenbild, der große und gute Mensch, groß, weil er kraftvoll ist, gut, weil er diese Kraft für ein Künftiges opfert. Gott ähnlich, bleibt er doch unter Gott, will er ein immer Höheres. Den Trieb des Individuums nach Macht unterdrückt Gott nicht, sondern er benützt ihn, um ihn zur Größe zu führen; wie Saul um eine Eselin ausging und ein Königreich fand, so soll das Streben des Menschen vom Vergänglichen auf Unvergängliches umgebogen werden. Das Individuum will Wachstum und Macht, aus diesem Machttriebe aller entsteht Kampf, und aus diesem Kampf entstehen Leiden, die verklären; so entsprechen Gott und das Individuum einander. Der Mensch hingegen,. das selbstbewußte Individuum, will etwas ganz anderes, er will die Macht als Selbstbehauptung ohne Kampf, er will, wie Dostojewski es einmal ausdrückt, Macht und Einsamkeit. Er möchte etwa nach dem Muster Philipps II., in einem Kabinett eingeschlossen, am Schreibtisch sitzend, die Welt regieren; den Kampf, den Wettstreit scheut er; er möchte Macht, ohne die Person einzusetzen.
Das Tier setzt im Kampf ums Dasein fortwährend die Person ein – allerdings deshalb, weil es noch keine Person ist –, und so tut noch der primitive Mensch und tut das junge Volk, das im Wettstreit mit anderen um sein Dasein kämpft; je mächtiger, älter und selbstbewußter es wird, desto mehr sucht es sich dem Kampfe zu entziehen, ohne den Genuß der Macht aufgeben zu müssen. Die Veranstaltungen des Menschen, die diesem Zwecke dienen, nennen wir die Welt; es ist die Veranstaltung des Satans, der die göttlichen Impulse, die zum Kampf und zur Selbstaufgabe führen, hemmt, um sich nicht mehr verwandeln zu lassen, sondern um sich selbst zu behaupten. Der selbstbewußte Mensch redet sich ein und lügt sich vor, Gott wolle den ordentlichen, den nichtswollenden, den moralischen Menschen, während Gott den kraftvollen Menschen will, der die Impulse seines Machttriebes bejaht, um Leiden und Not entstehen zu lassen, über die sich der zweite Impuls der opfernden Liebe erhebt.
Das göttliche Ziel ist an Kampf und Leiden gebunden und fordert Opfer, während der Mensch sich selbst behaupten, dauern will. Gott will immerwährende Verwandlung, er läßt nichts Einzelnes bestehen, sondern das Einzelne, wie hoch es auch ragte, im Strome des Ganzen wieder untergehen, damit Neues entstehe; der Mensch will das Einzelne dem Strome entreißen. Gott ist immer, der, welcher sein wird, der Zukünftige; er kann also nichts mit dem zu tun haben, was wir Fortschritt nennen, weil der Fortschritt in unpersönlichen Dingen gesucht wird, die ihrer Natur nach endlich und beschränkt sind. Der Fortschritt muß immer ad absurdum führen und in sich selbst zusammenbrechen; denn er bezweckt eigentlich gar keinen Fortschritt, sondern Selbstbehauptung. Er geht auf Leugnung des Künftigen, auf Vergewaltigung der Zukunft aus, also Gottes, auf Befestigung des Gegenwärtigen und Sichtbaren.
Auch der Sternenhimmel ist das ewig wechselnde Ergebnis eines unendlichen Kampfes zahlloser Kräfte; nur sind diese Kräfte die Geister des Stoffes, nicht des Fleisches, das die Fähigkeit hat, die geraubte Kraft für sich zu behalten und durch diese Hemmung in die unaufhaltsame Bewegung des Lebens den Tod einzuführen.
Der Geist aber des Herrn wich von Saul, und ein böser Geist vom Herrn machte ihn sehr unruhig. – 1. Sam. 16. 14.
Ein Impuls, der nicht in Kraft tritt, ist ein Reiz. Solange Saul gehorchte, war er gesund und glücklich; als er stolz und eigenwillig, selbstbewußt wurde, verfiel er in Untätigkeit und tiefe Schwermut. Der Impuls, dem nicht gehorcht wird, ist immer noch Impuls, immer noch ein Geist vom Herrn; aber dadurch, daß der Mensch ihm nicht gehorcht, wird er für ihn böse und quälend, ein böser Geist vom Herrn. Er weicht nicht und steht da, fordernd und drohend, dunkler und zorniger, je länger man ihn warten läßt. Er wird Traum, Vision oder Halluzination; wer unfähig zum Entschluß ist, wird ein Träumer, ein Plänemacher, ein Phantast.
Durch das Selbstbewußtsein entsteht Ich und Nicht-Ich, Innen und Außen; der Impuls des unbewußten Gefühls will eine Brücke dazwischen schlagen und die Welt wieder ganz machen. Selbstbewußtsein, das nicht weichen will, ist schuld daran, wenn die Verbindung nicht zustande kommt, aus dem Impuls, der nicht in Kraft tritt, ein Reiz wird, der, furchtbare und folgerichtige Strafe, die Hemmung vermehrt.
Es war ein äußerst gescheiter Gedanke, aus den Träumen eines Menschen die Impulse kennenlernen zu wollen, denen er nicht gehorchte, da in der Tat aus unterdrückten oder unverstandenen Impulsen Träume werden; aber für diesen Menschen selbst ist aus dem Kennenlernen etwaiger Impulse nichts gewonnen. Denn hat er damit, daß er sie kennt, die Kraft, zu gehorchen, bekommen? Er kannte sie ja vorher schon gut genug. Ein Geschoß, das von einem Schilde abprallt und zur Erde fällt, kann man aufnehmen und untersuchen; die Kraft, die ihm an seinem Ausgangspunkte mitgegeben wurde, gibt man ihm damit nicht wieder. Sowie ich weiß, was ich wollen soll, ist meinem Willen schon die Schwungkraft genommen; nur wenn ich weiß, was ich will, kann ich handeln. Zwar kann ich bewußt jede Handlung ausführen, die ein Impuls von mir verlangt; wir nennen solches nach der Einsicht, auf bewußten Willen hin ausgeführtes Tun mechanisch; aber es ist in seiner Wirkung für uns wesentlich verschieden von der impulsiven Handlung, die vom Impuls ausgeht und uns gleichzeitig oder nachträglich als gewollt zum Bewußtsein kommt. Die mechanische oder bewußte, das heißt vom Bewußtsein ausgehende Handlung befreit uns nicht vom Selbstbewußtsein, sondern verstärkt es, und unser Ich äußert sich nicht in ihr, das wollende Ich, das unserem Wesen zugrunde liegt. So kann unser ganzes Leben mechanisiert werden: wir haben dann gelebt, ohne unsere Person einzusetzen, wie man sagt. Unser Ich hat sich nicht geäußert, weil unser Selbstbewußtsein es verhinderte.
Denn von innen, aus dem Herzen der Menschen, gehen heraus böse Gedanken: Ehebruch, Hurerei, Mord, Dieberei, Geiz, Schalkheit, List, Unzucht, Schalksauge, Gotteslästerung, Hoffart, Unvernunft; alle diese böse Stücke gehen von innen heraus und machen den Menschen gemein. – Markus 7. 21. 22. 23.
Tiere sind nur gefährlich, wenn es sie hungert oder wenn sie sich oder ihre Brut verteidigen müssen; Tiere wie Kinder haben Selbsterhaltungstrieb. Der Mensch aber hat durch den Ungehorsam der Eva Machttrieb und Herrschsucht: er will soviel wie möglich an sich reißen und sich unterwerfen. Es ist der ärgste Irrtum, anzunehmen, der Mensch wäre von Natur gut; das Herz ist selbstsüchtig, es will beständig, und sein Wollen ist Habenwollen und Besitzenwollen, um zu wachsen und Mehrer seines Reichs zu sein. Auch die natürliche Liebe ist ein Sicheinverleibenwollen; ihre Verwandtschaft mit dem Ernährungstriebe zeigt sich in dem verbreiteten Ausdruck, jemand vor Liebe fressen wollen.
Das Herz kennt von Natur nur sich: es will sich und sein Glück, seine Macht, seine Herrschaft, seine Dauer.
Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. – 1. Mos. 8. 21.
Der Mensch ist nicht von Gott dazu verdammt, böse zu sein; aber er ist es durch den Ungehorsam des Selbstbewußtseins. Er ist böse, weil er sich, von Gott mit göttlicher Kraft ausgestattet, im göttlichen All-Ich wurzelnd, für einzig hält; erst im Kampfe mit anderen, gleichartigen Wesen lernt er, daß Gott der Herr ist und daß alle Wesen Gottes Kinder sind. Da der Mensch nun einmal böse ist, söhnt Gott sich mit der Tatsache aus; nicht natürlich in dem Sinne, daß er ihn böse wolle bleiben lassen, sondern in der Absicht, ihn gut zu machen. Ja, das Bösesein hat die eine gute Folge, daß das böse Geschöpf gut werden kann, was dem ganz unbewußten nicht möglich ist. Die nötige Voraussetzung des Gutwerdens ist die bessernde Strafe, welche wieder zur Voraussetzung hat, daß der Mensch das Böse, das in ihm ist, nicht versteckt. Erst durch die Folgen seiner bösen Handlungen wird der Mensch inne, daß er böse ist. Die natürlichen Folgen allein aber könnten die Wirkung nicht haben, wenn sie nicht mit dem Worte verbunden wären: dem Wort aus dem Munde Gottes, dem Wort der Gerechtigkeit und Liebe.
Das eigensüchtige Herz des Kindes lernt die Liebe durch das Wort der Liebe von den Eltern; es lernt das Böse in sich selbst kennen durch ihr strafendes Wort, dem das Richtmaß Gottes zugrunde liegt.
Laß dich's nicht wundem, daß ich dir gesagt habe: ihr müßt von neuem geboren werden. – Joh. S. 6. 7.
Es besteht das Problem, daß die Natur nicht anders als böse sein kann, und daß Gott, der gut ist, doch nur durch die Natur wirken kann. Er will infolgedessen die Natur, obwohl sie, als individuell, böse ist, nicht unterdrücken, da er sonst sich überhaupt nicht äußern könnte; daraus folgt, daß er sie verwandeln muß. Die Wiedergeburt ist eine Richtungsänderung: von sich selbst auf andere. Dies kann aber nicht von außen geschehen, so etwa, daß man einen selbstsüchtigen Menschen zwingt oder antreibt, sich für andere aufzuopfern; darauf kommt es an, daß er sich von innen heraus umkehrt, was eben mit dem Ausdruck Neugeborenwerden bezeichnet ist. So wenig wie das optische Sehen für sich allein Sehen und die geschlechtliche Liebe für sich allein Liebe ist, so wenig ist der Mensch durch seine fleischliche Geburt schon ein geistiges Wesen. Er muß noch einmal geistig geboren, das heißt durch das Wort von Gott mit der Welt, im Sinne vom Nicht-Ich, in Beziehung gesetzt werden. Das Wort muß immer von außen in sein Inneres kommen, da es ihn ja gerade nach außen locken soll. Paulus wurde berufen oder wiedergeboren, als er der Steinigung des Stephanus beiwohnte, Moses, als er einen israelitischen Leibeigenen durch einen Ägypter mißhandelt werden sah, Luther durch das Wort Liebe von den Lippen des Staupitz, das er von seinen Eltern nicht vernommen oder nicht verstanden hatte, und als er Zeuge war, wie sein Volk durch den Ablaßhandel Tetzels betrogen wurde, die Jungfrau von Orleans durch die Kunde vom Kampf und Untergang ihres Volkes. So geht die Wiedergeburt immer von einem großen Mitgefühl aus, das sich bei den Helden der Geschichte auf ein ganzes Volk erstreckt.
Natürlich kann die Wiedergeburt nicht stattfinden, ehe nicht die fleischliche Geburt in Kraft getreten ist. Der moderne Mann wird meistens gar nicht glauben, daß er wirklich böse ist, weil seine Natur von den Schranken der Konvention und Moral so gehalten wurde, daß er die Triebe seines Herzens gar nicht kennen lernte, beziehungsweise keine mehr hatte. Denn der Trieb nach Macht und Einsamkeit ist kein Trieb mehr, sondern eine Hemmung.
Christus war der Einzige, bei dem die Wiedergeburt sich vollzog, bevor das Böse in Kraft getreten war; wir dürfen deshalb nicht von Bekehrung sprechen, sondern nennen sie Versuchung.
Die Bekehrungen der Großen und Kraftvollen pflegen gewaltig und erschütternd zu sein wie die des Paulus oder die Luthers. Diese beiden wurden plötzlich durch den Impuls der göttlichen Liebe, von der sie nichts gewußt hatten, ergriffen und in ihre strahlende Bahn geschleudert. Es ist sicher, daß Paulus und Luther, vermutlich durch väterliche Erbschaft, sehr tyrannische, selbstsüchtige Menschen hätten werden können, wenn sie nicht durch ihre Mutter die Empfänglichkeit für göttliche Impulse gehabt hätten. Dieselbe Kraft, mit der sie sich selbst durchgesetzt hätten, kam nun dem Volke und der Menschheit zugute. Bei den meisten Menschen vollzieht sich die Wiedergeburt allmählich durch den Übergang der sinnlichen Liebe in Gattenliebe, Eltern- und Geschwisterliebe, endlich Nächstenliebe; namentlich bei Frauen, seltener bei Männern, findet der Übergang auch statt ohne das Mittelglied der Gatten- und Elternliebe, einzig durch die Liebe zum Nächsten. Es gibt unzählige Wege, auf denen die Widerstandskraft, die selbst wachsen will, wieder in Urkraft gewandelt werden kann, die wachsen läßt; unfruchtbar ist nur der eine, der die Natur unterdrückt oder gar ausrottet. Man kann vielmehr als ein Gesetz der Natur erkennen, daß, je stärker die Natur sich äußert, desto mächtiger auch das Wunder des göttlichen Umschwungs sich vollziehen kann.
Denn seinen Freunden gibt er's schlafend. – Ps. 127. 2.
Das Selbstbewußtsein kann man als eine Mauer betrachten, welche das Willenswort von der Willenskraft trennt, welche den Impuls verhindert in Kraft zu treten; oder, da diese Mauer verschiebbar ist, als ein Ventil. Ist das Ventil offen, so strömen Wort und Kraft zusammen, und an einem Punkte im Raum tritt die göttliche Allmacht in Kraft, und der Einzelne verschwindet für sein eigenes Bewußtsein. Er ist in diesem Augenblicke zwar für andere da, für sich aber nur durch ein Gefühl der Selbstvergessenheit, welches der Seligkeit nahekommt. Wäre der Mensch nicht Geschöpf, sondern seiner selbst mächtig, so könnte er sich selbst, seinen eigenen Willen, sein Selbstbewußtsein tragen; da aber das Ich, das ihn trägt, das göttliche Ich ist, der göttliche Wille, der ihn will, so muß sein Selbstbewußtsein von Zeit zu Zeit verschwinden, das Ventil sich ganz öffnen, und das geschieht in regelmäßigen Abständen im Schlafe. Die Heilkraft des Schlafes kommt daher, daß das Selbstbewußtsein aufhört, und der Mensch Teil des All wird, widerstandsloser Gegenstand der Allmacht Gottes. Im Schlaf wäre der Mensch allmächtig, wenn er nicht schliefe; da er aber schläft, kann er sich nicht in Besitz der Kraft setzen; nur das Gefühl des Neugeborenseins nach tiefem Schlafe erinnert ihn daran, daß er nachts im Reiche Gottes war. Genialität besteht eigentlich in dem Vermögen, zugleich schlafen und wachen zu können.
Schlafend sinken wir in den Quell der göttlichen Liebe und werden von den geheimnisvollen goldenen Säften durchdrungen, die wachsen und blühen machen. Jeder wache Zustand, in dem wir unbewußt sind, kommt dem Schlafe gleich, weswegen das Volk glaubt, daß dem Kinde ein Schutzengel zugesellt sei, und nicht nur dem Kinde, sondern auch dem Trunkenen, dem Schlafwandler und dem Blödsinnigen. Ebenso verleihen Mythologie, Sage und Märchen der unschuldigen Jungfrau übermenschliche Kraft, die sie verliert, wenn sie einen Mann liebt; denn sinnliche Liebe ist Machttrieb und verstärkt das Selbstbewußtsein. Diesen Volksglauben hat Schiller in der Jungfrau von Orleans aufgenommen; das göttliche Mitleid mit ihrem Volke, das sie in der Schlacht fliehen sieht, gibt ihr die Walkürenkraft wieder, die sie durch die sinnliche Liebe verloren hatte. Das männliche Vorbild gibt die Bibel im Simson. Man muß viele überlieferte Sitten bewundern, die jetzt im Verschwinden sind und die auf diesem Glauben beruhen: daß man zum Beispiel die Mädchen früh verheiratete, bevor ihre Leidenschaft, ihr eigenes Wählen erwacht war. Auch die erzieherische Richtung, daß besonders die Mädchen stets beschäftigt sein sollen, lernt man von diesem Gesichtspunkt aus als weise bewundern.
Eine Art Schlaf ist auch der Gehorsam, ein Jasagen, das die Negation des Selbstwollens aufhebt; indessen ist zu bedenken, daß, nachdem das Menschsein auf der Fähigkeit des Neinsagens beruht, auch die volle Kraft der Bejahung an die Kraft der Verneinung gebunden ist. Gehorsam ist nicht Selbstzweck, sondern Schule und Vorbereitung zum Befehlenkönnen, ebenso wie der Schlaf die Vorbereitung des wachen Lebens ist, ein Schöpfen der Kraft, die mit Überwindung der hemmenden Schranke verschwendet werden soll, um neu geschöpft zu werden. Erstrebenswert ist nicht ein stets offenes Ventil, der grundsätzliche Gehorsam der katholischen Kirche, sondern ein starkes, gut federndes, wo Befehl und Gehorsam, wie Wachsein und Schlafen, rhythmisch wechseln.
Träume sind ein Beweis, daß das Ventil nicht gut federt, nicht gut schließt. Drückt das Selbstbewußtsein es während des Wachens allzufest nieder, heben die gehemmten Impulse es nachts, während des Schlafes, und strömen als Reize aus. Werden sie am Tage zu Taten und Werken, bleibt das Ventil nachts geschlossen, und der Schlaf bleibt traumlos.
Eine Leuchte des Herrn ist des Menschen Geist, die geht durch alle Kammern des Leibes. – Sprüche 20. 27.
Das Organ des Geistes ist das Nervensystem, durch welches wir mit der Außenwelt verbunden sind. Diese Verbindung ist doppelter Art, indem wir von der Außenwelt abhängen, aber auch auf sie einwirken können. Das erste Verhältnis der Geschöpfe zur Außenwelt ist das der Abhängigkeit, die darin besteht, daß das Einzelwesen in Mitleidenschaft zur Umwelt gesetzt wird. Der Name des Nervus sympathicus zeigt seine Aufgabe an; er ist der Vater des Geistes im Geschöpfe, der Träger der unmittelbaren Beziehung, auf welcher die Einheit des Ich mit dem Nicht-Ich beruht, und er ist, so vermute ich, mit den weiblichen Geschlechtsorganen verbunden. Außer dieser unmittelbaren, gefühlsmäßigen Verbindung entsteht jedoch eine zweite, durch die Sinnesorgane vermittelte, deren Träger Gehirn und oberes Rückenmark sind. Durch dieses Organ greift der Mensch selbsttätig in seine Welt ein, das Menschentum ist daran gebunden. Vor der vollständigen Entwicklung dieses Organs ist der Mensch kein selbstbewußtes Ich, nicht selbständig. Das Organ spaltet sich in zwei Hauptteile, von denen, wie es scheint, der eine, die Basis, Träger des Instinktiven, Geregelten ist, während der andere, das Großhirn, die Welt in Vorstellungen enthält, nicht nur als Abbild der Welt, sondern auch als selbstgeschaffenes Vorbild durch neue, eigene Ideenverbindungen.
Die Basis des Gehirns verträte demnach mit dem Rückenmark die männliche Seite des Menschen, das Instinktive oder Unbewußte, die Kraft als Widerstandskraft, den Charakter; das Großhirn die weibliche, die Vorstellung oder das Wort. Diese beiden Gehirnhälften machen zusammen den Menschen aus, aber auch nur zusammen, und sie werden eins durch den Nervus sympathicus, diesen Nerven, den Schleich (Carl Ludwig Schleich, Von der Seele) den Vater unseres Nervensystems nennt. Durch ihn ist vielleicht das Großhirn mit den weiblichen Geschlechtsorganen, wie die Basis des Gehirns durch das Rückenmark mit den männlichen Geschlechtsorganen verbunden; doch könnte dieser Zusammenhang ja auch auf anderem, chemischem Wege hergestellt sein.
Solange die Urnerven das Übergewicht über das Zentralnervensystem haben, steht das Geschöpf unmittelbar unter Gott. Mit dem Augenblick, wo durch die Entwicklung des Großhirns das Zentralnervensystem sich im Gleichgewicht der Kraft mit dem sympathischen Nervensystem befindet, ist das Geschöpf selbständig geworden, und das Gefühl kann es nur noch mittelbar beeinflussen, indem es den Umweg über das Großhirn nimmt. Es kann also auch der selbstbewußte Mensch noch unter Gott stehen; aber er neigt dazu, sich immer abhängig vom Nervus sympathicus zu machen, uneingedenk, daß er, sein Zentralnervensystem, aus diesem hervorgegangen ist und immer noch von ihm abhängt. Das Unabhängigmachen geschieht durch den Nervus vagus, welcher das vom sympathicus erregte Herz hemmen kann. Es ist dies die eigentlich satanische Hemmung, welche Gott nicht verzeiht. Alle, auch die blutigsten Sünden des Machttriebes kann Reue abwaschen; die Sünde, die die Einwirkung Gottes auf den Menschen hemmt, die Gott ausschließt, ist eben deshalb unverzeihlich.
Ich nehme an, es sei wahr, was Schleich (Von der Seele) sagt, daß die Tätigkeit des Gehirns, das Denken, das bewußte Geistesleben, vom Nervus sympathicus geregelt wird; daß er die Hand ist, welche auf dem himmlischen Instrument spielt. In diesem Falle ist es von höchster Wichtigkeit, daß dieser Nerv stets stärker ist als der Nervus vagus, welcher ihn zu unterdrücken bestrebt ist. Wenn die Hand schwach, gelähmt, unsicher, zitternd in die Saiten greift, erklingen falsche Akkorde, und vielleicht reißen die Saiten. Da nun jedes lebendige Glied durch Übung gekräftigt wird, infolge von Nichtübung verkümmert, so müßte unsere erste Sorge sein, diesen Nerv, wenn auch nicht zu überanstrengen, so doch zu üben und anzustrengen. Dickens erzählt, daß die Gefangenen in gewissen Gefängnissen der Vereinigten Staaten, welche das System der Einzelhaft streng durchführen, schwerhörig wurden und das Sprechen verlernten. Jedes Organ verkümmert, wenn es nicht geübt wird. Wodurch aber übt man den Nervus sympathicus? Ich glaube dadurch, daß man lebt. Leben tut aber nur, wer erlebt, wer nicht in vorgeschriebenen Geleisen geht, sondern Impulse empfängt und als Impuls wirkt in bösem oder gutem Sinne. Denn das Herz ist ja der Brunnen, aus dem Süß und Bitter quillt. Der Nervus sympathicus wäre also wahrhaft der Herr des Lebens, wie Schleich ihn, ich weiß nicht, ob ganz in diesem Sinne, nennt. Daraus würde sich erklären, warum Dichter, Helden und Frauen so oft an den Unterleibsorganen leiden, die mit dem sympathischen Nervensystem so eng verflochten sind. Denn sie sind es, die vorzugsweise leben, die sich durch die Erregungen, die von außen auf sie einströmen, mächtig erregen lassen, bei denen Impulse in Kraft treten, und zwar desto gewaltiger, je stärker das Zentralnervensystem und die von ihm ausgehende Hemmung ist.
Der geniale Mann ist in der Regel nicht groß und überhaupt weiblich gebaut; sein stark entwickeltes Großhirn kann dadurch unter der Herrschaft des sympathischen Nerven bleiben. Er ist der ganze Mensch, weil er, vom göttlichen Mittelpunkt aus beherrscht, handelt. Er tut, was er muß, nämlich was Gott will. Er ist empfänglich nicht für alles, aber für das Wesentliche, was von außen auf ihn eindringt. Ich besitze nicht die genügenden Kenntnisse, um diese Möglichkeiten weiter zu verfolgen; auch mag es sein, daß in dieser Hypothese manches zu berichtigen ist. Mir scheint aber, daß davon, wie überhaupt vom Wissenschaftlichen, nicht viel abhängt. Es genügt die Erfahrung, daß es für den körperlich-geistigen Organismus verderblich ist, wenn die natürlichen und geistigen Impulse nicht in Kraft treten, und daß aus diesem Grunde die Zivilisation zur Entartung führt, die dahin strebt, das Leben vom persönlichen Willen unabhängig zu machen und unter Gesetze und Grundsätze, wie die Heilige Schrift es nennt, unter die Menschensatzung zu stellen. Der Mensch bedarf der Freiheit, und er darf sie genießen, wenn er an Gott glaubt, der dem Machttriebe des Einzelnen ein Ziel setzt, und sich der Strafe, die auf dem Überschreiten des Maßes steht, freiwillig unterwirft.
Der Sohn kann nichts von ihm selber tun, sondern was er siehet den Vater tun. – Joh. 5. 19.
Bewegt man sich in dieser verkürzten Ausdrucksweise weiter, so wird man sagen dürfen, das Zentralnervensystem oder der Kopf, wie man volkstümlich sagt, sei der Sohn, der eigentliche Mensch, der dadurch, daß in ihm die Kraft zentralisiert ist, handelnd, als ein selbsttätiges Wesen in die Welt eingreifen, ein Geschehen, eine Geschichte machen kann und sich für einen Selbstherrscher hält. Tatsächlich aber ist er nur selbständig, solange er in Abhängigkeit von seinem Ursprung bleibt; denn auf dem ursprünglichen, nicht zentralisierten Nervensystem beruht der unmittelbare Gefühlszusammenhang des Einzelgeschöpfes mit seiner Umwelt, durch diese Nerven leitet ihn Gott. Vom Standpunkte des Menschen, des Zentralnervensystems aus, liefert ihn der Einfluß dieses Nerven dem Zufall aus; gerade das aber, was wir Zufall nennen, weil es nicht von unserem Willen bewirkt, von unserer Einsicht durchschaut, weil es unlogisch ist, dient göttlicher Absicht, die weiser ist als wir, obwohl unsere klügsten und berechnetsten Gedanken vor ihr nicht gelten. Durch die Weltsympathie sind wir ein Glied im Weltganzen, mitschwingend im großen, ewigen Weltzusammenklang. Durch das Zentralnervensystem flechten wir mit neuen Tönen selbst die ungeheure Symphonie weiter; ob aber diese eigenen Töne aufgenommen werden können in die Weltharmonie, das hängt vom Grade ihrer Einstimmung oder Absonderung ab; es ist ein Lebensgesetz, daß das von seinem Ursprung Abgerissene nicht mehr erneuert werden kann und also entartet. Das Disharmonische, das von der Harmonie nicht aufgelöst werden kann, wird ausgestoßen.
Nachdem einmal das Zentralnervensystem entwickelt ist, hängt das geistige Leben von der bewußten Beziehung des Einzelwesens zur Welt ab. Der Mensch kann zu der glücklichen Unverantwortlichkeit des Tieres, welches, gänzlich unselbständig, durch die Instinkte von Gott geleitet war, nicht zurückkehren. Es kann also niemals das Ziel des Menschen sein, das Zentralnervensystem verkümmern zu lassen; es sollte aber sein Bestreben sein, es nicht zu überanstrengen, da es ermüdbar ist. Durch die Unabhängigkeit vom Zufall und von der Natur, welche der Mensch erstrebt, indem er sein Geschick auf sich selbst, sein Wissen, seine Logik, sein Können abstellt, fördert er allerdings seine Welt, die Summe des von ihm Gemachten, die Zivilisation; aber dies Übergewicht seines Einzel-Ich im Volksganzen und seiner Art im Weltganzen rächt sich durch das Schwinden dieses Einzel-Ich und dieser Art. Solange aber der Nervus sympathicus regiert, welcher das Einzelwesen in der Abhängigkeit vom höheren Ganzen erhält, kann die Grenze, die die göttliche Vernunft und Liebe dem Einzelgeschöpf gesetzt hat, zu seinem Heile nicht überschritten werden. Genie beruht jedenfalls hauptsächlich auf einem stark entwickelten Zentralnervensystem, das aber von einem ebenso stark entwickelten Sympathicus in Schach gehalten wird: der Mensch, der mit Gott ringen kann und Gott überwindet, weil er sich vor Gott beugt. Die großen, die schaffenden, genialen Gedanken bedürfen eines reich entwickelten Großhirns, als des Instrumentes, auf dem sie gespielt werden; aber sie entspringen nicht dort, sondern im Herzen, das durch den sympathischen Nerven unmittelbar von der Einwirkung der Außenwelt abhängig ist.
Je mehr die Menschen gewohnt sind, sich selbst zu regieren, desto weniger vernehmen sie Gottes Wort an sie. Je zivilisierter, je weltlicher wir werden, desto weniger handeln wir frei, von göttlichen Impulsen getrieben; je eigenwilliger wir sind, desto weniger tun wir Gottes Willen. Wenn jemand ertrinkt, so kann ich ihn retten, weil mein Pflichtbewußtsein es von mir fordert oder weil etwa mein Amt es mir vorschreibt, schließlich weil das Mitleid mich unwiderstehlich treibt. Im letzteren Falle bin ich frei, obwohl ich so handeln mußte, denn ich gehorchte einem göttlichen Impulse; in den beiden anderen gehorchte ich dem Zwange meines eigenen oder eines fremden menschlichen Willens.
Man kann sagen, es wäre gleich, ob aus Pflicht oder Ordnungssinn oder einem Impuls der Liebe, wenn der Mensch nur gerettet würde; ja, wo Moral oder gute Organisation herrsche, würde er sicherer gerettet, als wo seine Rettung davon abhinge, ob etwa ein Vorübergehender einen entsprechenden Impuls hätte. Der moderne Mensch läßt sich nicht durch die Entgegnung aus dem Felde schlagen, daß die Liebe schöner ist als Pflicht und Organisation; eher mit der, daß die Hemmung der Impulse zur körperlich-geistigen Entartung führe. Es gibt nur zweierlei: Gottesherrschaft oder Selbstherrschaft, Freiheit oder Menschensatzung. Jede Art von Selbstbeherrschung muß aber mit der Zeit zur körperlich-geistigen Verkümmerung führen. Der Mensch ist ganz, wenn die drei, das zweigeteilte Zentralnervensystem und der Nervus sympathicus, einig sind; wenn die drei auseinanderfallen, geht er zugrunde.
Denn das Blut ist die Seele. – 5. Mos. 12. 23
Die Seele spielt die Vermittlerrolle zwischen Geist und Körper wie das Wasser zwischen Himmel und Erde. Sie vermittelt zwischen Geist und Körper und also, da die Nerven die Träger des Geistes sind, zwischen den Nerven und den Organen.
Durch die Nerven sind wir mit Gott verbunden, der sich außer uns, in der Welt, offenbart, durch das Blut mit unseren Vorfahren und Nachkommen. Durch das Blut verdichten wir uns zu einer Art, einer Familie, zu Einzelnen; durch das sympathische Nervensystem lösen sich diese Verdichtungen wieder auf, indem sie uns fremde Impulse zuführen. Das Ich-Gefühl ist vom Blute, das Welt-Gefühl von den Nerven getragen. Offenbar gehört zur Gesundheit des Blutes eine gewisse Gegensätzlichkeit; Mischung mir zu nah verwandtem wie mit allzu fremdem Blute zersetzt und entkräftet gleichermaßen.
Bei der Übertragung der Impulse durch die sympathischen Nerven auf das Zentralnervensystem fällt dem Blut ein wichtiger Anteil zu durch eine hemmende oder bindende Kraft, die ihm eigen zu sein scheint. Es erklingen dadurch gewisse Töne des Instrumentes, während andere still bleiben.
Ich will mit diesen kurzen und oberflächlichen Andeutungen nur darauf Hinweisen, wie das Wort der Bibel, daß die Seele im Blute sei, aufzufassen sein kann.
Und er blies ihm den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele. – 1. Mos. 2. 7. – Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der Herr war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen. – 1. Könige 19. 12.
Wir sind aus den vier Elementen zusammengesetzt: die Erde ist in unserem Skelett und Fleisch, das Wasser im Blut, das Feuer in den Nerven und die Luft im Atem. Aller bedürfen wir; aber das unsichtbare Element der Luft ist das Wesentliche, das Lebengebende. Wo keine Luft ist, kann kein Leben gedeihen, und wo kein Atem mehr ist, ist kein Leben mehr. Luft und Geist ist in der Sprache dasselbe; wir sagen, daß jemand ausgeatmet oder daß er den Geist aufgegeben hat, um seinen Tod auszudrücken.
Schleich sagt gelegentlich in dem erwähnten Buche, die Tätigkeit des Nervus sympathicus hänge ab von Puls- und Atemverhältnissen. Danach wäre unser Hauch der verborgene Meister, der die Symphonie unseres Lebens spielt. Nun wissen wir, daß unsere Gefühle unseren Atem starker oder matter, schneller oder langsamer gehen lassen. Die leisesten Regungen von Furcht, Sehnsucht, Neid, Hoffnung beeinflussen unseren Atem und durch, ihn das Spiel unserer Gedanken, so daß man tatsächlich sagen kann, wir denken unsere Gefühle oder wir denken, was wir wollen.
Der friedliche Atem eines kleinen Kindes ist der reine eingeblasene Hauch, der eine lebenzeugende Wärme in den Nerven anfacht. Eine Ablenkung erfährt der Hauch durch das erwachende Selbstbewußtsein; denn in jeder Sache, die uns selbst angeht, sind wir nicht mehr vollkommen ruhig: »Was er lügt, das redet er aus seinem Eigenen.« Im Maße, wie wir selbst beteiligt sind, weicht das Spiel unserer Vorstellungen von dem göttlichen Urbilde ab; je stärker das Selbstbewußtsein, desto stärker die Ablenkung. Das Kind oder der selbstvergessene Mensch sehen richtig, so wie Gott sieht, weil sie richtig atmen; der unruhige, von Angst, Furcht und Sorge bewegte Mensch sieht falsch. Aus diesem Grunde warnt die Heilige Schrift vor Sorgen, Grämen und Erschrecken; aus diesem Grunde sucht man namentlich von der Frau, die ein Kind im Schoße trägt, Angst und Schrecken fernzuhalten, weil der gestörte Atem die nervösen Strömungen auch im Kinde stört. Heiterkeit und Gottvertrauen sind der Reichtum und der Adel der Frau, das Zeichen der göttlichen Gnade, von der sie umfangen ist. Diejenige, die stets in Sorgen um dies und jenes ist, die unfrohe, die keinen Frieden hat, ist die gottlose, die ihre eigenen Kinder vergiftet.
Wir wissen aber auch, daß wir anders atmen, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf etwas lenken, also wenn wir unbewußt denken. Das Denken, bei welchem wir von uns selbst ausgehen und auf uns selbst Bezug nehmen, vollzieht sich unter anderen Atemverhältnissen als das freie Denken, welches auch das geniale oder sprunghafte Denken genannt wird. Man kann jenes das Zweckdenken und dies das zwecklose Denken nennen, welche Zwecklosigkeit allerdings nur in bezug auf uns, nicht in bezug auf Gott besteht. Bei diesem, dem impulsiven oder inspirierten Denken, wird der Denkvorgang nicht durch unser Bewußtsein beeinflußt; beim aufmerksamen Denken halten wir den Atem an. Ohne den Einfluß unseres Gefühlslebens auf unser Denken durch den Atem wären wir seelenlos; seelische Erregung steht aber wiederum dem genialen Denken viel mehr entgegen. Dies hat eher Ruhe des Gemütes nach vorangegangener Aufwallung zur Voraussetzung, wobei denn die Aufwallung das zeugende Element wäre. Das unbewußte Denken, das dem unbewußten Denken des Kindes gleichzusetzen wäre, also das Denken des begeisterten oder gläubigen Menschen, muß man sich nicht als Aufwallung, sondern als ein dauerndes Gehobensein vorstellen, durch welches die Störung des Selbstbewußtseins wieder ausgeglichen wird. Dies ist das stille, sanfte Sausen, in dem der Heilige Geist ist.
Man hat neuerdings gefunden, daß der moderne Mensch falsch atmet, was bei der Beschaffenheit unserer Zivilisation, unserer Ungläubigkeit und steten Unruhe ganz begreiflich ist. Atemübungen werden die Fehler aber nicht ausgleichen können; denn es ist ja auch gerade hier wieder das Überhandnehmen des bewußten Lebens im Verhältnis zum unbewußten, woran wir leiden, und was auf bewußtem Wege nicht wieder gutgemacht werden kann.
Der Herr sprach zu dem Satan ... du aber hast mich bewegt, daß ich ihn ohne Ursache verderbet habe. – Hiob 2. 3.
Satan erscheint unter den Kindern Gottes vor Gott: die Verneinung Gottes, die den zum Gott macht, der sie überwindet. Er ist die höchste Berufung, die letzte Prüfung, die mitten durchs Feuer führt; wer nicht darin umkommt, vor dem springen die Pforten des Paradieses auf. Hat Gott die Menschen geschaffen, um seine Ebenbilder zu sein, so müssen sie auch seinen Urgedanken denken können: Ich bin ich. Der Gottgedanke ist die Versuchung Satans, den Gärten der Armida, Hannibals Capua vergleichbar; wer nicht weiterdenkt: Ich bin in dir, ich werde du, hat den Gottesgedanken nicht zu Ende gedacht.
Hiob hat keine Sünde begangen; aber seine menschliche Größe und Reife ist an sich eine Herausforderung Gottes als des Vertreters des Ganzen: sein eigenes Selbst ist es, das ihn vor Gott verklagt. Trotz seiner Frömmigkeit und seines aufrichtigen Glaubens ist er nicht mehr unter Gott, weil er ein selbstdenkender Mensch ist; ja sein Wissen von Gott verrät, wie sehr er sich selbst weiß. Da er sich selbst gedacht hat, streckt er seine Hand aus nach dem Baume des Lebens, um zu essen und ewig zu leben. Satan schlägt als schwerste Prüfung das Leiden am eigenen Fleisch vor; denn der unbewußte Mensch leidet wie das Tier körperlich verhältnismäßig wenig, während mit dem steigenden Selbstbewußtsein die Empfindlichkeit zunimmt. Der selbstbewußte Mensch muß sich um jeden Preis erhalten wollen, auch besserer Einsicht zum Trotz; Liebe kann ihn bewegen, sich zu opfern, aber Opfer wird es sein, weil Selbstbewußtsein nun einmal Sichselbstwollen ist.
Ich weiß deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist. Ach, daß du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. – Offenbar. 3.15.16.
Es gibt Geschichtsforscher, die die Größe Gustav Adolfs durch Untersuchung seines Verkehrs mit den neutralen Staaten glauben herabsetzen zu können, die er mit herrischer Leidenschaft zwingen wollte, sich für oder wider ihn zu erklären. Aber gerade da springt seine Größe naiv hervor: der Prophet, der Vertreter Gottes, haßt das Neutrale, wie Gott es haßt. Der das Tor der Gegenwart sprengt und den Weg ins Künftige einschlägt, möchte alle mit sich reißen; denn die dahinten bleiben, verfallen dem Tode. Der Große, der groß ist durch sein Aufgehen in der Welt, durch seine Liebe und seinen Haß, die er in Taten äußert, leidet die nicht, die unter dem Deckmantel der lauen Tugend nur sich selbst leben wollen, die ein Ideal aufstellen, dem nur durch Heuchelei oder von geistig Toten nachgelebt werden kann.
Denn alles zu lieben ist unmöglich: auch Gott liebt nur das Lebendige und haßt das Tote; niemand kann stärker hassen, als Christus die Heuchler haßte. Das Tier haßt, was sein Wachstum hindert, der Mensch noch dazu, was der Entfaltung seiner persönlichen Eigenart im Wege ist; der Neutrale, als derjenige, der um jeden Preis seine persönliche Eigenart erhalten möchte, ist besonders stark mit Haß geladen. Da es Liebe aller nicht gibt, er aber eine Vorliebe nicht äußern darf, gewöhnt er sich zur Gleichgültigkeit gegen alle; aber diese Gleichgültigkeit verbirgt nur notdürftig den Haß gegen alle diejenigen, die die bequeme Selbstbeschränkung der Neutralität stören möchten. Nichts beunruhigt und reizt den Neutralen mehr, als wenn man ihn bewegen will, aus sich herauszugehen, Farbe zu bekennen, wie man das nennt. Es beunruhigt ihn, weil er, wenn er schon lange neutral gewesen ist, es überhaupt nicht mehr kann; wer sich nicht mehr äußern will in Liebe und Haß, kann es zuletzt nicht mehr: Gott speit ihn aus seinem Munde, er hat keine Impulse mehr.
Geist ist freiwillige Beziehung des Ich auf das Nicht-Ich in Liebe oder Haß; wo diese freiwillige Beziehung fehlt, fällt die Dreieinigkeit auseinander, und es tritt Dekadenz ein.
Ein Staat, der nicht mehr handelt, an dem Kampf ums Dasein der Staaten sich nicht beteiligt, ist wie ein Mensch, der nicht mehr handelt: sein Größenwahn nimmt zu im selben Maße, wie die Betätigung seines lebendigen Ich schwindet. Verheimlichte Liebe und verheimlichter Haß erzeugen Schuldgefühl und Melancholie, Nichtäußern der Gefühle endigt mit Schwinden der Gefühle. Was nicht mehr kämpft und nicht mehr im Kampfe verwandelt wird, muß erstarren.
Ein kleiner, zum Unterengadin gehöriger Ort war jahrelang vom Hauptlande abgetrennt, bis er kürzlich durch den Bau einer Straße mit ihm verbunden wurde. In diesem Orte befanden sich damals eine große Anzahl von Zwergen, entarteter Menschen. Nicht Haß ist böse, da er ja die Menschen in lebendige Beziehung zueinander setzt, und auch, falls er nicht das wahrhaft Hassenswerte haßt, dadurch, daß er Leidende macht, Mitleid erregt; wahrhaft böse ist nur die Gleichgültigkeit oder Selbstgenügsamkeit, die die lebendigen Beziehungen aufhebt und die Menschen vereinzelt. Die Lauen sind die Beziehungslosen, die auf sich selbst Beschränkten, die Gott aus seinem Munde speit, so daß sie erstarren und entarten.
Man denke aber nicht, es sei mit Beziehungen getan; sondern es müssen lebendige, das heißt freiwillige Beziehungen sein. Alles macht der Affe Gottes nach; aber es ist ein Trost, und eine Enttäuschung für den Satan, daß das Nachgemachte niemals das Lebendige ersetzen kann. Weder Verachtung und Herablassung, noch Zwang und Unterwürfigkeit, noch Pflicht, noch Beflissenheit und Betriebsamkeit können die Liebe mit ihrer Kehrseite, dem Haß, ersetzen, die einzig das Band der Vollkommenheit ist. Der Beamte ersetzt niemals den Freiwilligen, wenn man den Sinn der Worte recht versteht. Nicht etwa daß, was man jetzt zum Beispiel freiwillige Wohltätigkeit nennt, besser wäre oder mehr wirkte als besoldete Fürsorge; denn hier ist der einzige Unterschied, daß die einen ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, die anderen es nicht nötig haben. Die Triebfeder wird bei allen eine menschliche sein: Gewohnheit, Pflicht, Ehrgeiz, Langeweile; bei wenigen wird es die göttliche der Liebe sein, aber sie kann es bei den einen so gut wie bei den anderen. Im allgemeinen aber weht Gott, wo er will: die Organisation verscheucht ihn. Wo Kampf ist, erstehen Götter, die wachsen lassen; wo nur menschliche Ordnung ist, entarten die Menschen zu Mißgeschöpfen, die weniger sind als Tiere. Denn die Tiere sind unter Gott, die entarteten Menschen hat Gott aus seinem Munde gespien.
Neutralität ist Gefühllosigkeit oder Nichtäußern des Gefühles, und beides fällt schließlich zusammen; da aber das Gefühl der Träger unseres Wesens ist, muß Neutralität, schon ein erstes Zeichen vom Schwächerwerden des Gefühls und Neigung zur Selbstgenügsamkeit, zur Dekadenz und zum vollständigen geistigen Tode führen.
Er aber sprach: So laß mich deine Herrlichkeit sehen. Und er sprach: Ich will vor deinem Angesicht alle meine Güte vorübergehen lassen und will ausrufen des Herrn Namen vor dir. Wenn denn nun meine Herrlichkeit vorübergehet, will ich dich in der Felskluft lassen stehen, und meine Hand soll ob dir halten, bis ich vorübergehe. Und wenn ich meine Hand von dir tue, wirst du mir hintennach sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen. – 2. Mos. 33. 18. 19.22. 23.
Das Künftige können wir nicht sehen, außer hintennach, wenn es Vergangenheit geworden ist. Gott ist in seinen großen Taten und Werken, die um uns her in Raum und Zeit entfaltet sind; sein Angesicht, das in die Zukunft strahlt, können wir nicht sehen. Ebenso ist es mit uns selbst: wir sind in unseren Taten und Werken, und folglich sind wir überhaupt nur, soweit wir handeln und wirken. Handelnd und wirkend sind wir aber nur mit Beziehung auf andere Menschen; für uns allein sind wir nichts als ein Ansatz, eine Hälfte, ein Traum. Wir sind nicht in unserem Selbstbewußtsein, denn in diesem sind wir nur für uns da, sondern in unseren Äußerungen. Nicht jedes Wort und jede Handlung ist aber Äußerung: zur Äußerung gehört die Mitbeteiligung des Herzens, das Einsetzen der Person. Luther war zuweilen betrübt darüber, daß Gott ihm nicht beschieden hatte, seinen Kampf mit dem Märtyrertode zu besiegeln; dennoch hatte er die Person eingesetzt. Der Heldentod oder Märtyrertod ist ein Besiegeln des Lebens, ein Sichaufzehren in der Tat, das dem heroischen Menschen als das höchste Glück erscheinen muß; aber auch wer seine Tat überlebt, kann in ihr aufgegangen sein. Gustav Adolf und die Jungfrau von Orleans zum Beispiel wurden in ihrer Tat aufgezehrt, Luther und Garibaldi überlebten sie; aber diese sind deswegen nicht weniger groß. Nur darauf kommt es an, daß ein Mensch göttliche Impulse hat und sich ihnen ganz hingibt.
Die Tragik des Menschen besteht darin, daß es möglich ist, zu handeln, sich zu äußern, ohne die Person einzusetzen, und das heißt nichts anderes, als vom bewußten Willen aus. Unsere Zeit ist dadurch charakterisiert, daß viel gehandelt und geschaffen wird, ohne daß aber das Ich, die Person, darin ist. In diesem Falle kann man von Taten und Werken, von Schöpfungen, eigentlich nicht sprechen. Ist die Person nicht eingesetzt, so fehlt der Mittelpunkt, und es entsteht das Unendliche: die unendliche Melodie, das unendliche Gedicht, der unendliche Tanz, die unendliche Schlacht. Die Schlacht, die von dem, der sie gedacht hat, auch persönlich geführt wird, ist endlich, weil sie persönlich ist; das Unpersönliche ist unendlich und ungeformt. Es rundet sich nicht, weil es sich auf keinen lebendigen Mittelpunkt bezieht; es ist erwürgend langweilig, weil kein Wunder, das nur aus dem göttlichen Ich entspringt, die logische Schlange durchbrechen kann. Was ein persönlicher Wille hervorgerufen hat, kann ein persönlicher Wille enden; was von selbst entstanden ist, aus der Logik der Tatsachen, läuft weiter.
Das Selbstbewußtsein entsteht durch Aussparung, durch Ausschaltung alles dessen, was nicht Ich ist. Das Kind ist noch eins mit der Welt und darum eins mit Gott; denn Gott ist ja in der Welt. Durch Abstraktion der Welt von Gott bleibt der Mittelpunkt übrig, der aber für sich allein nichts ist, eine bloße Negation. Das Ich an sich ist nichts und könnte gar nicht bestehen, wenn nicht zugleich mit ihm wieder die Welt entstände, die Welt in Idee und Kraft, die die Idee zur Tat werden läßt. Gottes Wille ist Offenbarungswille, er will sich äußern und spaltet sich deshalb in Ich und Nicht-Ich oder Ich und die Welt. Mit den unterscheidenden Sinnen bildet sich das Bewußtsein von der Welt; wenn das Geschöpf Gott die Welt durch seine Sinne geraubt hat, hat es zugleich sein Ich ausgespart, den bewußten Mittelpunkt oder Gott minus die Welt, die Gott wäre, wenn es außerhalb der Welt Gott geben könnte. Um wahrhaft Gott zu werden, muß das Ich die Welt wiedergewinnen, in ihr aufgehen; das zu tun, widerstrebt ihm aber, da sein Dasein auf Abstraktion von der Welt beruht.
Das Ich muß selbständig werden, aber doch unter Gott bleiben, da es als Negation für sich allein nicht bestehen kann, sondern der dauernden Ergänzung durch die Welt, das Nicht-Ich, bedarf. Es ist Gott selbst, sowie es einsieht, daß es sterben muß, um leben zu können; es wird satanisch, sowie es sich einredet, es könne für sich allein bestehen oder herrschen. Sowie das Selbstbewußtsein dauert, erzeugt es Depression, Melancholie, Zweifel, Verzweiflung, Erscheinungen, die stets Zeichen eines über das Maß hinausgehenden Selbstbewußtseins sind, Hemmung Gottes, der Kraft. Zum Wesen des selbstbewußten Ich gehört notwendig Sehnsucht nach der Welt, durch welche es sich ergänzt, es leidet an Weltschmerz. Andererseits gehört zu seinem Wesen, daß es von der Welt abstrahieren, sie ausschalten will, während es sie nur gewänne, indem es sich ihr hingäbe. Dies ist der furchtbare Zwiespalt des Menschen: er wird Gott im Augenblick, wo er sich seiner selbst bewußt wird, und wird weniger als Tier, wenn er dies Selbstbewußtsein, das ihn zum Gott macht, nicht freiwillig wieder opfert, wenn er die Kluft, die dadurch zwischen Ich und Nicht-Ich entsteht, nicht überbrückt.
Moab ist von seiner Jugend auf lässig gewesen und auf seinen Hefen still gelegen und ist nie aus einem Faß ins andere gegossen; darum ist sein Geschmack ihm geblieben und sein Geruch nicht verändert worden. – Jer. 48. 11.
Gott ist das Subjekt, welches die Welt denkt und die Welt liebt, welches in der Welt aufgeht, ohne in ihr unterzugehen; denn sonst wäre es kein Subjekt, kein Ich mehr. Es nimmt fortwährend Welt auf, verschmilzt mit ihr und ergießt sich wieder in sie als Ich. Dies fortwährende sich in Beziehung zur Welt setzen, Eindruck empfangen und Eindruck austeilen ist das Wesen Gottes: er ist nur Subjekt, weil er sich fortwährend in Objekte verwandelt. Insofern können wir sagen, daß Gott im Fleisch, daß das Ich sich entwickelt, weil es durch die Beziehung zum Nicht-Ich sich verwandelt, ohne sich doch zu verlieren. In Beziehung zur Welt treten wir, indem wir lieben und hassen, herrschen und dienen, Eindrücke empfangen und Eindrücke austeilen, leiden und handeln; diesen Wechsel von Leiden und Handeln nennen wir Kämpfen. Nur der Kämpfende ist unter Gott, der Nichtkämpfende ist unter sich selbst, unter der Hemmung. Je weniger er sich äußert und verwandelt, desto mehr wird aus seinem Selbstbewußtsein Größenwahn, der mit Nichtigkeitsbewußtsein abwechselt; das Selbstbewußtsein, das nicht in Taten und Werken fortgeschwemmt wird, schwillt zum Größenwahn an. Es ist göttlich, Impulse zu geben; aber das Geschöpf vermag es nicht, außer wenn es Impulse empfängt. Es ist ein verhängnisvoller Irrtum, zu meinen, wir wären etwas Fertiges, das sich nun auslebt; das Erbe, das wir empfangen, wird erst etwas dadurch, daß wir es der göttlichen Allmacht opfern, die mit ihm ins Künftige strömt.
Der selbstbewußte Mensch sucht sich dem Kampfe zu entziehen und richtet sich zu diesem Zwecke die Welt ein. Sie hat denselben Namen wie das Universum oder All; aber sie ist etwas diesem Entgegengesetztes, da sie nicht unter Gott, sondern unter dem Menschen steht. Die Welt sucht den Impuls auszuschalten und den Grundsatz oder die Menschensatzung an seine Stelle zu setzen, welche das Nützliche und Verständige, das Regelmäßige will. In Gottes Welt herrscht die Freiheit, in der Menschenwelt der Zwang, und nennte er sich auch Demokratie oder Volksherrschaft. Gott ist nur, wo Kampf der Kräfte ist; andererseits kann freier Kampf der Kräfte nur sein, wo Gott ist. Es gibt nur zwei wahre Menschenrechte: das Recht sich zu äußern und das Recht auf Strafe.
Wie jedem natürlich und gesund empfindenden Kinde das Musterkind verhaßt ist, so sollte jeder Mensch den Weltmenschen hassen, der stets korrekt handelt, um nie strafbar zu sein und folglich nie zu leiden.
Du sollst mit Schmerzen Kinder gebären. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen. – 1. Mos. 3.16.19.
Seid fruchtbar und mehret euch! Dies Geheiß gab Gott seinen Geschöpfen mit. Als er dem Abraham sich gnädig zeigte, wies er ihm die Fülle der Sterne am Himmel und versprach ihm Nachkommen, zahllos wie sie. Auch die Hexen lassen den Macbeth die Reihe seiner Söhne und Enkel sehen: die Künftigen sind die Sehnsucht des Frommen wie des Sünders. Die Liebe, die Menschen schafft, ist der Mittelpunkt unseres Lebens, und ein Kind, das geboren wird, das Wunder aller Wunder. Mit dem Geschlechtstrieb hängen deshalb die höchsten geistigen Kräfte des Menschen zusammen. Friedrich der Große sah einen Grund der Minderwertigkeit der Fürsten in ihrer schlechten Erziehung, die zum Teil darin bestehe, daß Geistliche und törichte Eltern den Sohn, besonders in bezug auf die Liebe, zum Musterbilde machen möchten. »Die guten Leute begreifen nicht, daß er ein Trottel wäre, wenn er keine Leidenschaften hätte.« Andrerseits zerrüttet den Geist nichts so sehr wie der Mißbrauch dieses Triebes, denn er ist nicht um seiner selbst willen da, sondern um durch allmähliche oder plötzliche Übertragung vom kleinsten Kreise weiterglühend die Welt zu umfassen.
Die Liebe soll im allgemeinen familienbildend wirken, und sie tut das auch, solange der Mensch naiv, unbewußt ist. Sowie er aber selbstbewußt wird, nimmt die Triebkraft der Liebe ab; er möchte die Liebe noch als Genußmittel gelten lassen, aber ihre Folgen erscheinen seiner Selbstsucht als ein Opfer. Er will nicht sterben, sich seines Selbstbewußtseins nicht entäußern.
Gott aber befreit ihn nicht davon, im Gegenteil, er wiederholt seinen väterlichen Ruf zum Leben: Freuet euch in eurem Gott! Seid fruchtbar und mehret euch! als strafenden Befehl: Arbeitet im Schweiße des Angesichts! Gebäret unter Schmerzen! Was aber Strafe scheint, ist Errettung von dem Tode, der als Strafe auf die Selbstsucht gesetzt war. Leben entsteht durch den Willen Gottes zur Offenbarung; das Individuum erstarrt, wenn das Selbstbewußtsein den göttlichen Willen verhindert, sich durch dasselbe zu äußern. Zwei natürliche Wege der Äußerung gibt es: für den Mann die Betätigung in seiner Arbeit, für die Frau das Bilden, Hervorbringen und Erziehen der Kinder. Solange Mann und Weib diesem väterlichen Befehl sich unterziehen, entgehen sie der Strafe des Todes. Sie sterben zwar, denn was Erde war, muß Erde werden; aber sie sterben nach dem Worte der Heiligen Schrift, wie Garben eingeholt werden zu ihrer Zeit. Sie werden nicht gelötet, sondern verwandelt.
Siehe, ich richte mit euch einen Bund auf und mit eurem Samen nach euch und mit allem lebendigen Tier bei euch. – 1. Mos. 9. 9. 10.
Die Götter erscheinen in Begleitung von Tieren: der Adler sitzt auf der Schulter des Zeus, der Rabe auf der des Wodan, Panther ziehen den Wagen des Dionysos und Tauben den der Aphrodite. Nicht nur Ägypter und Inder verehren Tiere als heilig, sondern alle ursprünglichen Völker erkennen den Zusammenhang des Göttlichen mit dem Tierischen, die Tatsache, daß das Tier unmittelbar unter Gott steht. Gott lenkt es durch seine Triebe, durch den Instinkt, der es in den Kampf ums Dasein verwickelt, und es wäre das Tier durch seinen Instinkt dem Menschen weit überlegen, wenn der Mensch es nicht durch sein höheres Ziel überragte. Das Ziel des Tieres ist das vollkommenste Tier oder die Menschenart; das Ziel des Menschen ist persönlich: der Gottmensch, der sich freiwillig opfert.
Es gehört zu den gänzlich unberechtigten Anklagen, die gegen die jüdisch-christliche Religion vorgebracht werden, als kümmere sich Gott nicht um die Tiere, gebe sie der Grausamkeit des Menschen preis; entsprechend der willkürlichen Meinung, das Christentum lehre die Unterdrückung der Natur. »Der Gerechte«, so heißt es in der Heiligen Schrift, »erbarmt sich seines Viehs.« Ist das nicht ein klares Gebot? Viele Menschen können sich Gott leider nur wie einen Beamten vorstellen, der Verordnungen erläßt: 1. Du sollst den Fröschen nicht die Beine ausreißen, 2. Du sollst die Krebse nicht lebendig sieden, und so weiter. Ist es nicht genug, daß Gott keinen Bund mit den Menschen eingeht, ohne die Tiere einzuschließen, daß er, wie es in der Heiligen Schrift heißt, Menschen und Vieh hilft, daß die Tiere zu ihm um Nahrung schreien und sie von ihm empfangen? Gott faßt Tiere und Menschen stets als zusammengehörig, wenn auch so, daß das Tier Vorläufer des Menschen ist und als solches unter ihm steht. Nachdem das Tier das ihm unbewußt vorschwebende Ideal des Menschen erreicht hat, ist es nicht mehr entwicklungsfähig, hat es keine Zukunft mehr und steht unter dem Menschen, wie der Mensch unter dem Gottmenschen steht.
»Es ist eine Kette zwischen den Tieren und der Gottheit«, sagte Napoleon einmal. »Der Mensch ist nur ein vollkommeneres Tier als die übrigen. Er urteilt besser ... Ein Pferd besitzt Gedächtnis, Einsicht und Liebe. Es unterscheidet seinen Herrn von den Bedienten, obschon die letzteren viel länger bei ihm sind.« Das »Besserurteilen« ist das Sichselbstdenken und Gottdenken. Dies stellt den Menschen neben Gott, macht ihn aber auch fähig, sich von Gott abzuwenden. Das Tier dagegen ist immer unter Gott und kann daher nicht böse sein. Diese Sicherheit und Unschuld verleiht dem Tiere im Auge des Menschen etwas Heiliges und Rührendes, ähnlich dem Kinde und dem kindlichen, unbewußten Menschen; nur wird der Christ sich nie so weit verirren, diese Art der Heiligkeit, an der das Geschöpf gar keinen Anteil hat, mit der zu verwechseln, die der selbstbewußte Mensch erreichen soll. Es ist ein Merkmal der Dekadenz, Tiere und Kinder als göttlich zu verehren, die vielmehr dem gerechten Willen des Menschen unterstellt sein sollen.
Indessen bleibt der Mensch, obwohl zu Gottes Ebenbild bestimmt, immer tierisch und natürlich und muß es bleiben, weil Gott unzertrennlich mit der Natur zusammenhängt, nur in ihr sich offenbarend. Die menschliche Besonderheit ist das Selbstdenken und Selbstwollen, ein Feuer, das zwar den Menschen gottähnlich macht und seine tierische Natur verzehrt, aber zugleich aus ihr sich nährt.
So wie die tierische Natur die Grundlage des einzelnen Menschen bildet, sollte auch der natürliche Mensch die Grundlage des Volkes sein, der unbewußte, natürliche Mensch, der Bauer. In der freien Bauernschaft liegt die Kraft des Volkes, die, vom Wort des gottberufenen Herrschers gelenkt, unüberwindlich ist. Solange ein Volk als Kern eine freie und wohlhabende Bauernschaft hat, ist es noch wachsend, noch entwicklungsfähig; verkümmert dieser Kern, löst es sich auf oder erstarrt es; denn es ist nicht mehr unter Gott. Unter Gott sind nur der geniale Mensch und der natürliche Mensch, weshalb alle Herrscher von Gottes Gnaden ihre Stütze im Volke gesucht haben. Der erbliche Herrscher stützt sich auf die sogenannten höheren Stände und verursacht dadurch die Auflösung der Volkseinheit.
Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solcher ist das Reich Gottes. – Lukas 18.15.
Der Zauber, den das Kind für den Erwachsenen hat, ist sein Unbewußtsein, daß es noch nichts von sich weiß. Sein Auge sieht die Welt rein, weil es noch nicht durch die Brille der Individualität sieht; es ist ein unentweihter, klarer Spiegel, jener Zauberspiegel, dessen sich die Menschen der Welt vergeblich durch List und Künste zu bemächtigen suchen, in dem die Wahrheit erscheint. Weil es noch nicht aus seinem Eigenen redet, darum lügt es noch nicht: Gott spricht durch seinen Mund. Hätte es Willenskraft, so wäre es allmächtig; aber Willenskraft ist Widerstandskraft, und es ist noch eins mit der Welt, daher hat es noch keine. Es begehrt noch nichts Bestimmtes für sich, sondern greift spielend nach allem in stiller Freude am Licht. Die Welt ist sein, weil es mitten in ihr ruht. Sowie sein Selbstbewußtsein erwacht, tritt es, seiner Eigenart gemäß, in Beziehung zu Einzelheiten in der Welt, Einzeldingen und Einzelgeschöpfen, es ist nicht mehr all-liebend. Sowie sein Wille auf einen bestimmten Punkt innerhalb der Welt gerichtet ist, versinkt ihm die übrige Welt; je mehr es ein selbständiges, selbsttätiges Ich wird, desto ärmer wird es an Welt. Wenn wir Gott in unserem Willen, als Ich, erfahren, verlieren wir ihn als Welt oder Vorstellung, und doch ist er in der Verbindung von beidem. Man kann sagen: das unbewußte Kind hat Gott, ohne es zu wissen, der selbstbewußte Mensch ist Gott, ohne ihn zu haben; Gott wäre nur, wer zugleich selbstbewußtes Ich und unbewußtes Kind wäre, und zu seinem Glücke ist das wirklich bis zu einem gewissen Grade dem Menschen möglich.
Indessen muß man bedenken, daß das Kind ein Keim ist, aus dem Individualismus und Selbstwollen notwendig sich entwickeln, bei dem einen früher, beim anderen später. Ein immer braves Kind wäre verstockt oder krank. Im Innern der Natur ist nicht nur Gott, sondern auch Satan verborgen, die Neigung, sich abzusondern und zu herrschen, und wenn das Kind dem Erwachsenen auch oft ein Orakel und in manchen Dingen ein Muster sein kann, so bedarf es doch des Wortes, der Erziehung und der Strafe. Was uns am Kinde entzückt, das ist ja sein Gehorsamsbedürfnis und seine Gehorsamsfähigkeit. Man macht Kinder unglücklich und versündigt sich an ihnen, wenn man ihnen die Stütze des Gehorsams entzieht, an der das Lebendige hinaufwächst. Damit es aber der Gehorsam des Glaubens sei, muß das Kind eine höhere Macht in den Eltern verehren können, die mit Gerechtigkeit und Liebe herrscht.
Die Menschen wollen sich von meinem Geiste nicht mehr strafen lassen; denn sie sind Fleisch. – 1. Mos. 6. 23.
Als das Volk Israel von Gott abgefallen war und das goldene Kalb angebetet hatte, ließ Moses dreitausend Mann erschlagen, und das Volk unterwarf sich der Strafe. Auch David beugte sich der Strafe demütig, wenn er gesündigt hatte, und erkannte sie als gerecht und gelinde. Sowie aber der Mensch selbstbewußt geworden ist, sucht er sich in einer selbstgeschaffenen Welt der göttlichen Strafe zu entziehen. Die Mittel dazu sind entweder das Geld, der Herr der Welt, oder die Aszese, Moral oder Konvention, kurz die Selbstbeherrschung oder Unterdrückung der Triebe nicht aus Liebe zu Gott, sondern um sich nicht strafen zu lassen. Durch die göttliche Strafe erkenne ich erst den göttlichen Willen; ich habe also ein Recht darauf, daß die Folgen etwaiger unsittlicher Handlungen, die ich begehe, mit vollem Nachdruck auf mich fallen, denn nur in diesem Falle bleibe ich unter Gott. Ja, auch darauf habe ich ein Recht, daß andere Menschen mit ihren guten oder bösen Handlungen auf mich einwirken können; denn Gott straft und hilft durch Menschen, und ich entziehe mich Gott, wenn ich mich der Liebe und dem Hasse, dem Kampf der menschlichen Willenskräfte entziehe.
Die Welt zielt dahin, dem Einzelnen die freie Betätigung seines Machttriebes unmöglich und damit zugleich ihn unverantwortlich zu machen, indem die Verantwortung geteilt wird; die Entpersönlichung ist das Wesen des Staates. Nur der Verantwortliche ist eine freie Persönlichkeit; aber nur der vermag es zu sein, der freiwillig unter Gott steht. Wer willig ist im Glauben an Gottes Gerechtigkeit und Gnade, die Folgen seiner Handlungen auf sich zu nehmen, wagt zu handeln, zu tun, was er muß; der Weltmensch zieht Gesetzbuch und Konvention zu Rate und tut nur das, was ihm keine Strafe zuziehen und was ihn nicht lächerlich machen kann, außer wenn ihn Geld und Geldeswert, Titel oder Stand, überhaupt vor allen unangenehmen Folgen schützen. Er bleibt immer obenauf, aber er setzt nie die Person ein, handelt nie frei; denn eine freie Handlung ist nur die, welche Gott der Strafe würdigt, auf welche er als auf eine Frage antwortet. Wer nie gelitten hat, hat auch nie gehandelt, und wer gehandelt hat, hat auch gesündigt; denn der natürliche Mensch kann nicht von innen heraus handeln, ohne zu sündigen. Es versteht sich von selbst, daß derjenige es kann, der vom Heiligen Geist der Liebe erfüllt ist.
Je mehr die Entwicklung des Staates dem Manne die Betätigung seines Machttriebes im öffentlichen Leben verwehrt, desto mehr äußert sich derselbe im Liebesleben; diese Beobachtung hat man in auffallender Weise in Spanien gemacht, als durch Philipp II. das Leben des Volkes entpersönlicht wurde. Es sind die Zeiten, wo man in die Annahme verfällt, um die geschlechtlichen Beziehungen drehe sich das ganze Leben; dies ist in der Tat der Fall, wenn die männliche Kraft sich nicht mehr in Taten äußern kann. Damit nun dieser Trieb sich straflos austoben kann, richtet die Welt dem Manne die Prostitution ein. Dadurch wird aus einer gottentstammten Kraft ein Geschäftsbetrieb gemacht, sie wird verweltlicht, ihrer schaffenden Natur beraubt. Würde man aber auch die öffentliche und die heimliche Prostitution abschaffen können, so würde die Welt die freie Liebe an ihre Stelle setzen, und an die Stelle der Heuchelei würde die Schamlosigkeit treten. Bis dahin stand wenigstens die Frau noch unter Gott; würde das letzte Gefühl für die Strafe, die der Ausschweifung zu folgen hat, wegfallen, müßte eine allgemeine Vertierung eintreten. Alle Versuche, die ledige Mutter als sittlich, ja, als verehrungswürdig hinzustellen, sind im Grunde Versuche, auch die Frau der Herrschaft Gottes zu entziehen; womit natürlich nicht gesagt ist, jede Frau stehe deshalb, weil sie rechtmäßig verheiratet ist, unter Gott.
Italien ist, soviel ich weiß, das einzige westeuropäische Land, in welchem der Verführer eines Mädchens oder einer Frau noch die Rache der Familie zu fürchten hat. Dergleichen Reste einer kraftvolleren Zeit sind immerhin ehrwürdig, wenn sie auch nicht als mustergültig eingeführt werden können, wo sie nicht aus dem Glauben gehen, der Ausdruck eines natürlichen Sittlichkeitsgefühls sind. Alle Versuche, den Verkehr der Geschlechter bewußt zu regeln, können nur zur Entartung führen, sei es durch Verdrängung und Einschachtelung des lebenschaffenden Triebes, sei es durch seine zügellose Entfesselung. Glücklich geregelt kann er nur werden durch den Glauben, durch die freiwillige Unterwerfung unter ein Maß, das dem Menschen gesetzt ist, und dessen Übertretung durch Strafe gesühnt werden muß. Das ist nicht das Schlimme, daß männliche Kraft und weibliche Schwachheit und Phantasie die Grenze überschreiten; verhängnisvoll ist es aber, wenn das Gewissen die Schuld nicht mehr anzeigt und Klugheit und Heuchelei sich der Strafe zu entziehen wissen. Unter Gottes Herrschaft kann das grandiose Spiel freier Kräfte sich entfalten, weil sie sich legen müssen, bevor sie sich gegenseitig erdrückt oder sich selbst erschöpft haben.
Und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze. – 1. Mos. 3. 7.
Das Paradies, aus welchem Adam und Eva vertrieben wurden, ist das Reich der Natur, die unter Gott steht, die von einer in ihrem Inneren verborgenen Kraft ohne ihr Wissen und Wollen zu einem ihr von Gott gesetzten Ziele getrieben wird. Durch den Genuß des Apfels, der die Erkenntnis des Guten und Bösen verleiht, drängt sich eine neue Kraft zwischen Gott und das Tier, nämlich der sich selbst denkende Mensch. Wie die erste Handlung des selbstwollenden Menschen, diejenige, durch welche er sein Dasein erhält und offenbart, Ungehorsam ist, so ist seine zweite, daraus folgende, Sichverbergen und Heuchelei: der Mensch, der durch sein Selbstbewußtsein Kind Gottes geworden ist, Teilhaber an Gottes Geheimnissen, will Gott selbst sein und schämt sich seiner Tierheit, seines Müssens. Das Feigenblatt ist die Maske, hinter der der Mensch seine natürlichen Instinkte versteckt, sei es, um ihnen heimlich zu frönen, sei es, um sie ganz zu ersticken. Der vom Satan verführte Mensch, der Gottes entbehren zu können glaubt, weil er sich Gott gleich dünkt, verachtet die natürlichen Instinkte, durch die Gott ihn führte. Von Erziehern ist keine Eigenschaft mehr zu fürchten als Verstecktheit und Verstocktheit, keine mehr zu entwickeln als Freimut.
Ist damit gesagt, der Mensch solle sich blind seinen Trieben überlassen? Viele Anhänger Luthers zogen sich später vom Luthertum zurück, weil sie fanden, daß bei seinen Bekennern mehr Unsittlichkeit herrsche als anderswo. Luther selbst war betrübt darüber, daß die Seinigen roher waren als zum Beispiel die Böhmischen Brüder, eine Sekte, die sich durch Ehrbarkeit und Sittenstrenge auszeichnete; allein dies änderte, was mir besonders groß zu sein scheint, seine Auffassung des Glaubens nicht. Denn wo durch den Glauben an Gott ein Maß anerkannt wird, von dem abzuweichen als Sünde empfunden wird, die Sühne fordert, wird durch die Sünde zur Heiligung gegangen. Nur das Böse, das sich äußert, kann Gutes schaffen; versteckt wird es Gift, das nach innen frißt. Durchaus verkehrt ist es allerdings, das Böse und die Äußerung des Bösen als verdienstlich aufzufassen, denn böse ist böse und strafbar. Nur wo Gott gelehrt und geglaubt wird, darf man wagen, den offenen Sünder dem Heuchler vorzuziehen. Sichausleben an sich kann keinen Kranken gesund machen, allein verbunden mit Erkenntnis und Gehorsam Gottes. Wer sich der göttlichen Gerechtigkeit vertraut und unterwirft, wird irren, eben weil er dem Leben vertraut; aber er wird nie aufhören zu hoffen und zu streben.
Und nun, warum sollen wir sterben, daß uns dies große Feuer verzehre? Wenn wir des Herrn, unseres Gottes, Stimme weiter hören, so müssen wir sterben. Denn was ist alles Fleisch, daß es hören möge die Stimme des lebendigen Gottes aus dem Feuer reden wie wir und lebendig bliebe? Tritt du hinzu und höre alles, was der Herr, unser Gott, mit dir reden will, das wollen wir hören und tun. – 5. Mos. 5. 22-24.
Wäre Gott sichtbar oder ließe Befehle vom Himmel herab, so wäre es leicht, sich ihm unterzuordnen; aber Gott ist nicht selbst sichtbar, sondern läßt sich durch Menschen, durch Mittler vertreten. Auf den Mittler überträgt der Gläubige sein Selbst, er vergöttert ihn, wie der Sprachgebrauch es nennt, oder er personifiziert ihn. Götzen sind solche Mittler, die wir selbst dazu gemacht haben, die wir also auch wieder absetzen können; sie betet der Ungläubige und Eigenwillige an, der seinen Willen niemandem unterordnen will. Solche Götzen können persönlich oder auch unpersönlich sein, wie zum Beispiel das Geld oder der Ismus, irgendein System.
Dem Frommen zur Weisung hat Gott natürliche Mittler eingesetzt, denen Gehorsam geleistet werden soll: den Kindern die Eltern, den Frauen ihre Männer, den Männern ihre jeweiligen Vorgesetzten. Wenn wir aber die Kette aus göttlichem Befehl und freiwilligem Gehorsam verfolgen, welche den Menschen vor der Selbstherrschaft bewahren, so kommen wir doch zuletzt zu einem, der den Befehl des göttlichen Willens unmittelbar empfangen muß, die höchste Schale, in die der göttliche Wille sich ergießt, um von dort aus durch unzählbare Röhren in das ganze Volk verteilt zu werden. Solche Heilande und Retter müssen namentlich dann erscheinen, wenn durch das Überhandnehmen des menschlichen Eigenwillens die lebendige göttliche Kraft gleichsam vermauert ist und die Erde von neuem mit dem Himmel verbunden werden muß. Diese Mittler, durch welche Gott sich ausnahmsweise offenbart, um die verirrten, in Not gestürzten Völker zu erlösen, sind die genialen Menschen. Ihre Aufgabe ist, Völkern, die in eine Sackgasse geraten sind, eine Bahn zu zeigen, die in die Zukunft führt. Der eiserne Vorhang, der sich zuweilen herabläßt, erstickende Sichtbarkeit, schmilzt unter ihrem Feuerblick, sie schreiten voraus in das Zauberland, das unter ihren Füßen erst wächst und die Gläubigen aufnimmt, die ihnen folgen. Die verfolgenden Feinde zerschmettert die sich wieder schließende Mauer, wie das Rote Meer den Pharao verschlang.
Indessen auch der auserwählte Führer genießt die Zukunft nicht, die er schuf: Moses sah das Gelobte Land nur von ferne. Das große Feuer verzehrt ihn. Jeder echte Prophet, den Gott zum Verkünder seines Wortes macht, ist ein Todgeweihter, der sein Schwanenlied singt. Wir müssen uns den Impuls, der in Kraft tritt, in der Art eines elektrischen Vorgangs im Organismus denken, der unter Umständen tödliche Kraft hat; das Genie muß eine besondere körperlich-geistige Beschaffenheit haben, welche es instand setzt, starke göttliche Impulse zu empfangen und zu verwirklichen, ohne doch unmittelbar von diesem Blitze getötet zu werden. Es muß sozusagen ein guter Kraftleiter sein.
Und geschieht nichts Neues unter der Sonne. – Prediger 1. 9.
Es war sehr tiefsinnig von jenen Zürichern, Bodmer und Breitinger, daß sie das Neue und Wunderbare für das Wesentliche der Poesie erklärten. Das Neue und Wunderbare ist das, wonach alle Kreatur sich sehnt: es ist nicht nur Schmuck des Lebens, sondern die Schwinge, die das im Staub des Lebens Erstickende aufwärts in leichtere Luft trägt. Nicht nur um Langeweile oder Melancholie handelt es sich: diese Langeweile und Melancholie sind Anzeige und Vorläufer von etwas weit Schrecklicherem, von Entartung und geistigem Tode. Man könnte denken, wenn der Mensch und die Menschheit eine gewisse Höhe der Entwicklung erreicht hätten, könnten sie auf derselben bleiben und so weitergehen; aber das ist nicht der Fall. Das Lebendige, das sich nicht auf ein höheres Ziel hin entwickelt, geht zurück, hört auf zu leben.
Geist erklärt Jakob Burckhardt als die Beziehung des Vergänglichen auf das Ewige; das Ewige ist aber das Künftige. Die Wirklichkeit genügt niemals. Gott ist ewig künftig, und das Geschöpf lebt nur, solange der Gott, der sein wird, vor ihm herschwebt und sein Inneres zur Entfaltung drängt. Das Leben steht niemals still, es ist fortwährend auf ein Höheres gerichtet. Das Wirklichgewordene, Festgewordene, Bewährte ist an sich unanfechtbar und muß doch fortwährend umgeschaffen und weitergebildet, an Künftiges geknüpft werden. Sowie das Künftige im Sichtbaren gesucht wird, ist der Umkreis eng.
Die Klage, daß es nichts Neues unter der Sonne gebe, der Verzweiflungsschrei: Wozu lebe ich? ertönen häufig unter denen, die Geld genug haben, um alle Länder zu bereisen, um alle Kunstwerke zu betrachten, Zeit genug, um alle Bücher zu lesen, alle Gesellschaften zu besuchen. Ferner unter denen, die kritischen Verstand genug haben, um allem Bestehenden auf den Grund zu kommen; unter denen schließlich, die in eine Organisation, in ein System hineingeschraubt sind, welches ihnen die Zukunft abschneidet. Wir bedürfen der Hemmung, aber der überwindlichen.
Der sozialistische Staat, in dem alles verstandesgemäß geregelt ist, wie der anarchische, in dem jeder tun kann, was er will, würde die Menschheit der Entartung preisgeben; lebensfähig macht nur die Phantasie, die Neues schaffen kann, die verjüngt.
Könnte also eine neue Erfindung, wie zum Beispiel das Luftschiff, eine neue Kunstrichtung, eine neue Lebensvorschrift das erlösende Neue sein? Aus der Geschichte des sinkenden Römischen Reiches wissen wir, daß die Ansammlung aller Götter, aller Religionen, aller Künste den Durst nicht löschen können; es wäre damals mit der Menschheit zu Ende gewesen, wenn nicht in der Person des Erlösers ein neues Ideal, und wenn nicht in den Germanen ein junges Volk erschienen wäre.
Das Neue, das erlöst, sind neue Menschen, Personen, die Taten tun, in denen das Alte untergeht. Der Bringer des Neuen ist ein Zerstörer, der, wie Simson, einen Tempel zerbricht, dessen Trümmer ihn selbst begraben. Jedes Kind, das geboren wird, ist in gewissem Sinne ein kleiner Erlöser, weil es ein neuer Wille ist, dem Raum zu lassen, das Lebendige freiwillig stirbt, das seinen Silberblick, die vollkommene Äußerung seines Inneren, schon gehabt hat.
Gedenket nicht an das Alte und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will ein Neues machen. – Jes. 43. 18. 19.
Gott schafft die Welt durch zwei Kräfte, die er der männlichen und der weiblichen Natur verliehen hat: durch Charakter und Phantasie, und zwar ist der Charakter, das unbewußte Gedächtnis, die besondere Kraft der männlichen, die Phantasie die der weiblichen Natur. Der bekannte Barnardo, der in England Heimstätten für verlassene Kinder gründete, ließ die Knaben eine Uniform tragen, weil sie sich diese Gleichförmigkeit zur Ehre rechneten, die Mädchen dagegen sich verschieden, je nach Geschmack und Eigenart kleiden, weil sie unter der Einförmigkeit leiden würden. Der Mann ist überwiegend auf das Festhalten des Gewordenen, auf Gehorsam gestellt, er hat Gedächtnis; die Frau dagegen weicht vom Gewordenen ab, die Arge liebt das Neue, wie Schiller sagt, sie ist neugierig, ungehorsam und eigenwillig, wie die Bibel es ausdrückt. Das Gedächtnis will die Idee als Form befestigen, die Phantasie springt von der überlieferten Form ab und steigert sie; sie wirkt variierend und idealisierend. Die abweichende Richtung der Phantasie bewirkt die unendliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, die idealisierende entwickelt das Niedere zum Höheren, zum Ganzen und Vollkommenen. Die Entstehung jeder neuen Art in der Natur war ein Sieg der Phantasie über das Gedächtnis, welches die Art erhalten wollte, und eigentlich ein Sieg Gottes über Gott; denn Gott ist zugleich der Herr des Vergangenen und der Herr des Künftigen, der da war und der da sein wird. Das Festgewordene prägt sich körperlich im Skelett, seelisch im Charakter aus; vom Vater, heißt es in dem bekannten Goetheschen Vers, hab ich die Statur, des Lebens ernsten Führer. Der Vater vererbt dem Kinde den Artcharakter, den die fabulierende Frau abwandelt. Ihre Kraft, sich das Unsichtbare einzubilden, befähigt sie, das Überlieferte ins Künftige zu leiten, immer höhere Stufen hinauf.
Da der Vater der Vererbende ist, so ist es vernünftig, daß der Mann der Namensträger ist; denn was die Mutter dem Kinde mitbringt, ist das Namenlose, Neue, Unsichtbare, ist Gott oder Geist. Durch sie wird die individuelle Erbmasse, die der Vater trägt, mit dem höheren Kreise verknüpft, von dem sie abgesondert war; und eben diese Verbindung des Einzelnen mit dem Ganzen, des Vergangenen mit dem Künftigen ist Geist. Je schwerer und starrer die Erbmasse ist, desto stärker muß die Liebe sein, die sie auflösen und an die äußere Mitte knüpfen soll.
Fragt man, warum es gerade die Frau ist, die Phantasie hat, so läßt sich antworten: Mann und Frau sind Teile eines Ganzen, und die Frau als der schwächere Teil trägt das Bild des Ganzen. Sie hat die Kraft, die Mangelhaftigkeit des Sichtbaren durch das Unsichtbare zu ergänzen; jedes Einzelne durch das Ganze, dessen Glied es sein soll. Man umgibt wohl schwangere Frauen mit schönen Bildern, damit ihr Kind diesen gleich werde; so unterstützt der Sohn die Mutter, denn von einer Mutter hatte ja der Künstler die Phantasie, die das Schöne schuf. Die Frau, wie sie sein soll, bedarf solcher Nachhilfe nicht: ihre Phantasie würde vielmehr dadurch gestört und gelähmt werden.
Wie aber die Frau Gott denken kann, so auch sich selbst: von ihr kommt das Selbstbewußtsein und das Gottbewußtsein, der Glaube an das Ideal.
Alle Pflanzen, die mein himmlischer Vater nicht pflanzte, die werden ausgereutet. – Matth. 15. 13. – Alle Menschen sind Lügner. – Ps. 116. 11. – Wenn er die Lüge redet, so redet er aus seinem Eigenen. – Joh. 8. 44.
Das Abweichen vom Gewordenen, vom Bewährten, vom Wirklichen ist ein Umlügen des Wirklichen, weshalb die Alten wohl den Dichter einen Lügner und die Phantasie eine Lügnerin schalten. Allerdings sprechen wir nicht nur von schaffender Phantasie, sondern auch von ungesunder, krankhafter, verworrener, verzehrender; jene, die Goethe die exakte nannte, die man auch die organische nennen könnte, entspricht dem göttlichen Willen, diese dem menschlichen; jene beflügelt und erneuert, erweitert das Gewordene, diese verzerrt es. Die exakte oder organische Phantasie ist die unbewußte, von Gott eingegebene, die lügnerische ist die des selbstbewußten Menschen. Die organische vereinigt sich mit dem in der Natur verborgenen Willen Gottes und schmilzt das Gewordene um, das verwandelt werden soll; der bewußte Gedanke findet das Zauberwort nicht, vor dem die Pforte aufspringt. Alles Gewachsene, Gewordene, alles, was aus dem Unbewußten kommt, besteht; was der selbstbewußte Mensch macht, die Menschensatzung, ist dürres Zeug, das, wie es auch etwa Zeitgenossen blenden möge, nicht wurzeln kann. Die Phantasie gliedert, der bewußte Gedanke organisiert. Nach Gottes Willen zum Beispiel gliedern sich Völker in Stämme und danach in Provinzen; der Mensch macht willkürlich Abteilungen zu Regierungszwecken, zum Zwecke der Übersicht des Verkehrs. Auf lange hinaus kann die Lüge die himmlische Pflanze der Wahrheit so überwuchern, daß man sie nicht mehr sieht und nicht mehr an sie glaubt.
Gott sucht wieder auf, was vergangen ist. – Prediger 3. 15.
Es gibt Menschen, die auf Neuerung erpicht sind, steten Wechsel aufsuchen, das Alte hassen, weil es alt ist, das Neue um so mehr bewundern, je krasser es dem Alten entgegengesetzt ist. Gott hingegen knüpft das Neue an das Alte und das Alte an das Neue und wählt einen Zeitpunkt für das Durchbrechen des Neuen, der unserer Trägheit oft zu früh und unserer Ungeduld zu spät kommt. Plötzlich, mit aufschreckendem Rhythmus, klopft das Schicksal an die Pforte; andere Male überhören wir den überirdischen Finger im Geräusch der Welt. Gott ist deshalb immer künftig, weil er immer da ist, im Inneren des Stoffes verborgen. Unendlich viele Male war er da, entfaltet, wie die Knospe sich öffnet, um den Kelch zu enthüllen, entfaltet wie der Funke, der aus dem Stein springt, und ebenso unendlich viele Male wird er sich noch offenbaren. Er tut es oft gerade dann am wenigsten, wenn die Menschen fortzuschreiten glauben, und gerade da, wo sie zu versinken glauben, ist er oft nah.
Das Gesetz, daß Gott wieder aufsucht, was vergangen ist, läßt sich natürlich, da der Mensch immer Gott nachahmt, in allem verfolgen, was der Mensch macht, selbst in der Mode; das Neue, was Gott schafft, ist aber weder Fortschritt noch Mode, sondern neue Menschen, neue Taten, neue Werke.
Die neue futuristische Richtung möchte die Museen verbrennen, in der die Kunstschätze der Vergangenheit aufbewahrt werden, sie möchte nicht nur die alten, sondern auch die älteren Leute auf den Misthaufen werfen und die Jugend regieren lassen, damit das Vergangene nicht das Künftige erdrücke. Hat es aber in irgendeinem europäischen Lande an Fortschritt, an Neuerungen aller Art gefehlt? Woher der Haß des Vergangenen, dieser Schrei nach Jugend und Neuem? Es ist allerdings richtig, daß der Fortschritt nur die Welt angeht und mit neuem Geistesleben nichts zu tun hat; ferner, daß die Ansammlung von Kunstschätzen mit zu der Aufhäufung des Sichtbaren und zur Verweltlichung des Unsichtbaren gehört, welche das Sterben und Auferstehen des Lebendigen verhindert. Ich zweifle, ob das Verbrennen aller Kunstschätze die jungen Futuristen sofort schöpferisch machen würde; aber sicher ist, daß in einer stetig frei lebenden, kämpfenden und sterbenden Menschheit die Kunstwerke nicht in dem Grade aufgespeichert wären, wie es jetzt der Fall ist. Welche ungeheure Wirkung ging einst von den ersten wiederaufgefundenen Trümmern des Altertums aus! Vielleicht von einem Rumpf, einem zerschlagenen, einst göttlichen Antlitz! Weil eine Welt begraben war, konnte sie auferstehen und neues Leben entzünden. Was haben wir von der Vollständigkeit in Kunst, Literatur und Geschichte, von der ganzen, an die lebendige göttliche Offenbarung angehängten Wissenschaft? Ein losgerissenes Dichterwort, das wir nur ahnend verstehen, wie kann es oft die Seele erschüttern! Es haben im Laufe der Weltgeschichte immer von Zeit zu Zeit einmal große Zerstörungen von Schätzen der Kunst und Wissenschaften stattgefunden, ebenso wie von Menschen und Völkern durch Seuchen, Kriege, Naturereignisse. Beides darf man beklagen, und doch ist beides zum Erstehen neuen Lebens notwendig. Je mehr Sichtbares befestigt und vererbt ist, ein desto stärkerer Einsturz des Alten muß stattfinden, damit ein Neues durchgreifen kann.
Auf deinem Bauch sollst du gehen und Erde essen dem Leben lang. – 1. Mos. 3. 14.
Die Selbst-Sucht, der bewußte Gedanke, kann nur zweckmäßig, zu eigenem Nutzen handeln; auch wo sie den Nutzen eines anderen im Auge hat, ist irgendwo der eigene Nutzen inbegriffen, sei es auch nur als Vergnügen erfüllter Pflicht. Sie ist dem göttlichen Willen, der Eingebung, entgegengesetzt, ist für sie eine Hemmung. Sie knickt die Flügel der Phantasie und zieht das Göttliche in den Staub der Erde; darum trifft die Schlange die Strafe, auf dem Bauche zu kriechen.
Gott führt die Menschen in den Kampf des Lebens, damit sie kämpfend sich entwickeln; der selbstbewußte Mensch will nicht vollkommen werden, sondern will das Vollkommene verweltlichen, genießbar machen. Er will nicht gut werden, sondern Güter haben und benützen. Anstatt Großes und Schönes zu tun, es selbst hervorzubringen, möchte er es fertig auf Erden vorfinden und zürnt mit Gott, wenn es nicht da ist. Der Ideologe allerdings geht nicht wie der materielle Mensch schlechtweg auf sinnlichen Genuß aus, aber mittelbar doch auf das Nützliche. Denn welchen Zweck kann jeder Plan menschlicher Gerechtigkeit, den Ideologen verwirklichen wollen, haben außer die Nutznießung irdischer Güter? Jede menschliche Ordnung, jede Organisation, auch wenn sie Armenpflege und Krankenpflege zum Zweck hat, geht von weltlicher Gesinnung aus und kommt der Welt zugute; denn sie will das Übel ausschalten. Die Liebe Gottes bekämpft die Bösen und beschützt die Schwachen, überwindet das Übel in jedem einzelnen Falle, will aber nicht das Übel abschaffen. Satan in seiner Majestät möchte eine Welt herstellen, in der es keinen Krieg, keine Armut, keine Krankheit, keine Schmerzen mehr gibt, kurz, keine Freiheit und keinen Gegensatz mehr und also keinen Gott.
Diese Menschheit würde bald an körperlicher und geistiger Entartung zugrunde gehen. Sie mag in ihrem selbstgemachten Käfig zittern, wenn der Sturm des Irrationalen, des Zufälligen, das künstliche Gitter zerreißt, hinter dem sie sich geschützt wähnen; das, wovor ihnen graut, der Kampf, in den sie gegen ihren Willen geschleudert werden, ist ihre Rettung, denn er ist das Leben.
Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Samen und ihrem Samen. Derselbe soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen. – 1. Mos. 3.15.
Die alte Schlange habe ihn greulich gebissen, sagte Luther; denn er war ein Selbstdenkender und Selbstwollender, in jeder Hinsicht leidenschaftlich selbsttätig, ein Neinsagender, ein Protestant. Er hatte Zeiten, wo er in Melancholie versank und sich in Zweifeln krümmte; aber der Zweifel lehrt auf das Wort merken, der Zweifel rüttelt an den Toren, hinter denen Gott verborgen ist, vorausgesetzt, daß Empfänglichkeit für Gott vorhanden ist. Mit dem Sohne des Weibes ist im obigen Spruche der Sohn desjenigen Weibes gemeint, das nicht eigenwillig, sondern gehorsam, nicht selbstbewußt, sondern gottbewußt ist. Ist er denn auch selbsttätig, so kann er doch auch, selbstvergessen sein und Eingebungen von Gott empfangen, für die er seine Person einsetzt. Nicht der herrische Priester, sondern der Verkündiger der Freiheit ist es, der die Faust auf die Bibel legt; denn indem er unter Gott stellt, macht er frei.
Kein menschlicher Wille ist frei, kann sich selbst beherrschen; frei wird er, wenn er sich freiwillig einem höheren Willen beugt. Da Gott der höchste Wille ist, ist der vollkommen frei, der sich unmittelbar von Gott führen läßt. Wer das tut, ist vom Heiligen Geiste getrieben, der Sohn der Magd des Herrn; er wird immer der Feind des selbstbewußten Menschen sein. Und dennoch auch selbstbewußt? Dies ist eben das Geheimnis, daß Gott sich in seinem Gegensatz offenbart; täte er das nicht, könnte er auch den Gegensatz nicht überwinden.
Joseph, du Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, dein Gemahl, zu dir zu nehmen; denn das in ihr geboren ist, das ist von dem Heiligen Geist. – Matth. 1. 20.
Moses wurde von der Tochter Pharaos als Findling aus dem Wasser gezogen; die Geburt Simsons wurde seiner Mutter, die bis dahin unfruchtbar war, durch einen Engel des Herrn verkündigt und war die Verlobte Gottes vom Mutterleibe. Hanna, die von ihrem Manne sehr Geliebte, aber dennoch Unfruchtbare, erflehte ein Kind von Gott und empfing Samuel, den sie Gott weihte als dem Herrn, der ihn ihr gegeben. Das alles ist nichts anderes, als wenn die Griechen Alexander einen Sohn des Zeus nannten, oder wenn der moderne Forscher sagt, der geniale Mann empfange seinen Intellekt von der Mutter. Die Zusammengehörigkeit des genialen Mannes mit seiner Mutter ist von jeher dunkel empfunden worden. Der leibliche Vater steht, wie Joseph, im Schatten; er stellt die Widerstandskraft dar, die von dem todgeweihten Sohne als Urkraft verschwendet wird.
Eva ist die Ungehorsame, die eben deshalb durch die Liebe an den Mann gebunden ist; Maria ist die Gehorsame, die unter Gott steht. Sie ist ihren Eltern gehorsam, auch wenn diese etwa ungerecht wären, und sie würde auch, etwa als Magd, ihrer Herrschaft gehorsam sein, nicht aus sklavischem Sinne, sondern aus Gehorsam gegen Gott. Aus Gehorsam gegen Gott wird sie auch ihrem Manne gehorsam sein und ihn treuer lieben als die Verliebte, eben weil sie nicht vom Manne abhängt, sondern innerlich frei ist. Sie ist nicht selbstbewußt und auch nicht unbewußt in der Art des unbewußten Mannes, sondern selbstvergessen oder gottbewußt, voll Güte. Denn selbstvergessen, gläubig und gottbewußt sein ist dasselbe: es ist die zweite Offenbarung Gottes als des Heiligen Geistes im selbstbewußten Weibe, die weibliche Naivität oder Phantasie, die das Unsichtbare, das Ideale glaubt und ihm nachfolgt. Weil sie, die Maria, nichts von sich weiß, ist sie nicht gefallsüchtig, darum gefällt sie auch nicht vielen; sie reizt nicht.
Die Eva oder die Hetäre hat abweichende Phantasie, das, was man gewöhnlich unter Phantasie versteht, sie kritisiert das Sichtbare; die Maria liebt das Sichtbare, weil sie es durch ergänzende Phantasie idealisiert. Sie fordert nichts von anderen, aber sie selbst tut aus Gehorsam gegen Gott das Gute. Man stellt sich oft, sehr mit Unrecht, unter einer Madonna, einer unschuldigen Jungfrau, etwas Frömmelndes, Sentimentales, Schmachtendes, Tugendhaftes und Tugendstolzes vor; wie wäre aber das mit Naivität zu vereinen? Im Gegenteil, sie ist heiter und zuversichtlich. Sie schreibt Gott nichts vor, darum gehört ihrem Sohne die Zukunft. Daher der ins Künftige gespannte Blick des Genies: hingerissen und selbstvergessen hängt er an dem stürmischen Saume dessen, der sein wird. Ihre Phantasie hat keinen Vorhang vor sein Auge gespannt; es schweift ungehemmt ins Weite. Der Durchschnittsmensch trottet im ausgefahrenen Geleise, krankhafte Geister bestimmen früh schon ihren Lebenslauf in allen Einzelheiten; der geniale Geist, wenn er auch ein ahnendes Gefühl seiner Bestimmung hat, wartet auf die Feuerzeichen, die zuweilen vor ihm auflodern, und folgt ihnen; er trinkt die Schale, die jeder Tag ihm reicht, schaudernd, wenn sie bitter ist, aber dennoch immer wieder durstig hingegeben. Eine Maria war sicher die Mutter des Rubens; ferner, wenn auch auf einer anderen Lebensstufe, die Großmutter Maxim Gorkijs, die er so schön in seinen Kindheitserinnerungen schildert. Wie ergreifend ferner ist die herzliche Güte, die von dem Bilde der Mutter Rembrandts ausstrahlt!
Offenbar sind solche Mütter imstande, ihren Kindern die Empfänglichkeit für göttliche Impulse zu übertragen.
Sicherlich hängt es mit diesen Erfahrungen zusammen, daß die Griechen weder die Hetäre noch die Sklavin heirateten, sondern die gehorsame Haustochter, aus welcher die Mutter kraftvoller Söhne und eine Herrin des Hauses wurde. Denn nur der Gehorsame lernt befehlen, und es ist nicht der Wille der Natur und nicht die Meinung der Heiligen Schrift, daß das gehorsame Mädchen immer auf dieser Stufe bleiben, sich nicht entwickeln sollte. Wir finden im Gegenteil, daß die Frau in der Bibel, wenn sie auch andere Aufgaben hat als der Mann, doch eine dem Manne ebenbürtige Stellung einnimmt; konnte sie doch sogar Richterin werden. Zu den größten Herrschern der Geschichte zählen Frauen: Isabella von Spanien, Elisabeth von England, Katharina von Rußland und Maria Theresia. Diese hatten die Mütterlichkeit vereint mit der Willenskraft eines Mannes.
Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen. – 2. Mos. 20.11.
Es gibt Menschen, welche von allem, was sie wahrnehmen und erleben sollen, sich zum voraus eine Vorstellung bilden und immer enttäuscht sind; sie klagen Gott, Natur und Leben an, daß ihre Erwartungen sich nie erfüllen. Der naive Mensch hofft und erwartet viel vom Leben, aber er macht sich kein Bild, wie es sein soll: er empfängt Impulse, und dadurch, daß er sich ihnen hingibt, macht er selbst das Leben groß und schön.
Man hat aus dem: du sollst dir kein Bildnis machen, das Gebot abgeleitet, nichts Gegenständliches zu malen. Gemeint ist, daß der frei schaffende Gott von der menschlichen Vorstellung nicht gehemmt sein will. Der Künstler, der Prophet ist, raubt dem Geschöpfe sein Bild nicht, sondern er sieht das Künftige und weiß den göttlichen Willen; weit entfernt, die Entwicklung zu hemmen, leitet er sie den rechten Weg. Die göttlichen Ideen, die Urbilder oder Vorbilder sind es, die die Wirklichkeit bestimmen. Sind wir von lauter Wirklichkeitsbildern umgeben, Wiederholungen der gegenwärtigen Erscheinungen, so wie unsere Sinne sie wahrnehmen, sind wir allerdings in diese Gegenwart eingekerkert, und die freie Entfaltung ins Künftige ist gehemmt. Unsere Phantasie schafft, indem sie ein Ziel aufrichtet; die stete Wiederholung des Gewordenen tötet. Wer das Neue, das Künftige bildet, öffnet dem Leben die Pforte; wer das Gewordene, das Gegenwärtige abbildet, stößt den Riegel vor. Der Volksglaube hält es für eine Todesverkündigung, wenn der Mensch sich selbst sieht; denn wir sollen uns nicht sehen, bevor wir vollendet sind. Unser Ideal soll vor uns schweben, das Bild, das wir nicht sind, aber sein sollen; gleichen wir ihm, so ist unsere Entwicklung abgeschnitten, und wir müssen sterben, um nicht zu erstarren. Der natürliche Mensch schreckt davor zurück, sein Bild in dem Zimmer aufzustellen, wo er sich aufhält; er meidet auch den häufigen Blick in den Spiegel; Bilder derer, die er liebt, werden ihm niemals genügen. Auch die Bilder der Heiligen würden wir am besten nur in der Kirche, in den Stunden der Andacht und Erhebung, sehen. Was nicht idealisiert, was nur Wiederholung der Augenblickserscheinung ist, ist überhaupt vom Übel; aber auch die große Kunst sollte uns nicht beständig umgeben. Denn sie ist da, um die vergängliche Natur an das Ewige zu knüpfen, und sie kann das nicht, wenn sie selbst ins Alltägliche herabsinkt.
Etwas Erstickendes geht von unseren Museen und Galerien, unseren mit Kunstwerken überfüllten Wohnungen, unserem ganzen Kunstbetrieb aus. Es ist bekannt, daß die häufige Wiederholung desselben Eindrucks den Eindruck abschwächt. Das Lebendige verändert sich beständig, so daß wir von ihm nie denselben Eindruck empfangen; das Kunstwerk hingegen ist unveränderlich. Wir können uns deshalb an ihm messen; aber wir sollten es nicht zu oft tun, wie wir auch Gottes Namen nicht unnütz anrufen sollen. Nach Jakob Burckhardt nähme die Eindrucksfähigkeit des Menschen schon nach dem achtundzwanzigsten Jahre ab; jedenfalls ist sie begrenzt. Der Mensch kann Eindrücke empfangen bis zu einem gewissen Grade, dann ist er voll, ist er überprägt; es hat auf dieser Platte nichts mehr Platz, er kann nichts mehr erleben. Eine noch nicht abgenützte Empfänglichkeit ist es jedenfalls, was der geniale Mann von seiner jungfräulichen Mutter erbt. Jungfräulich wie Erde, die noch nie von Menschen bebaut, das ist bezwungen wurde. Die moderne Kunst will nicht Vorbild der Wirklichkeit sein, sondern nimmt die Wirklichkeit zum Vorbilde, wovon die Folge eine Verhäßlichung, Verengung und schließlich ein Ersticken sein muß. Die moderne Kunst ist keine Kunst mehr, sondern Wissenschaft, und nirgends entrinnen wir mehr uns selbst. Was für Vorbilder waren im Altertum etwa Alexander der Große, im Mittelalter Friedrich Barbarossa oder Franz von Assisi! Man stelle sich vor, was die moderne Kunst und Geschichtswissenschaft aus diesen herrlichen Gestalten machen würde.
Das heißt nicht etwa, man solle Geschehenes, falls es schrecklich war, beschönigen, verfälschen, damit es angenehm wirke; das tun Weltmenschen. Der Dichter aber ist eben dadurch Dichter, daß er den Sinn des Geschehenen oder den Willen Gottes erkennt, der darin verborgen ist, und durch welchen das Gegenwärtige mit dem Künftigen verbunden wird. Vor diesem Willen beugt sich der Einzelne mit seinem Schicksal, sei es noch so herbe, weil er weiß, daß es zum Heile des Volks ist; wenn nicht zum Heile des Volks, zum Heile der Menschheit; wenn nicht zum Heile der Menschheit, zum Heile der Welt, im Sinne von Weltall natürlich.
... und hilf dem Sohne deiner Magd. – Ps. 88. 16.
Der Durchschnittsmann fühlt sich als der Sohn seines Vaters, erbt dessen Eigenart und Talente und betreibt sein Gewerbe. Andere Männer gibt es, die sich als Sohn der Mutter und durch sie vom Vater abgelenkt fühlen; das Erbe der Mutter überwiegt in ihnen das des Vaters. War die Mutter des Herrn Magd, nicht selbstbewußt, sondern all-liebend, dem durch die Natur sich offenbarenden Gott hingegeben, so ist die Bahn vor ihm frei, er hört die Berufung und folgt dem Dämon in seiner Brust. Wäre die Mutter aber des Herrn Magd, wenn sie den Sohn sich ganz vom Vater, das Künftige vom Vergangenen sich losreißen ließe? Das väterliche Erbe darf nicht liegen gelassen, es muß mitgenommen und mit dem Neuen verschmolzen werden. Verwirklicht doch jedes menschliche Ehepaar das Ideal, welches das Ideal des Heiligen Paares, die Dreieinigkeit, vorbildet, in seiner individuell beschränkten Form. Es kommt ein Augenblick, wo der selbständig gewordene Sohn sich vom Vater trennt, vielleicht ihm widerstrebt; aber nicht, um ihn zu hassen, sondern um ihn in sich zu überwinden. Ohne den Vater könnte er nicht das Ganze vertreten, den individuellen Gelüsten, die von allen Seiten anbranden, ein Ziel setzen in seiner Person; aber es ist nicht der Vater mehr, wie er war, sondern der im Sohne durch die Liebeskraft der Mutter aufgelöste. Wohl spürt man noch Heinrich den Achten in der Königin Elisabeth; aber wider Willen muß er in seiner großen Tochter seinem Volke dienen.
Ja, ich rief dich bei deinem Namen und nannte dich, da du mich noch nicht kanntest. – Jes. 45. 4.
Unter den zehn Geboten sind sechs, die verbieten, die ersten vier, die vornehmsten, gebieten. Sie gehören unzertrennlich zusammen in ihrer Lehre vom Gehorsam gegen Gott und gegen die Eltern; denn es ist im Gehorsam gegen die Eltern, daß der Gehorsam gegen Gott sich verwirklicht. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist das Urbild der Religion. Es gäbe keine Religion, wenn es nicht Elternliebe gäbe, und da die Elternliebe zuerst im Weibe erschien, kann man sagen, es gäbe keine Religion, wenn es keine Mutterliebe gäbe. Es charakterisiert die Verwilderung der modernen Denkart, daß man neuerdings in der Eltern- und Kindesliebe die ersten Spuren geschlechtlicher Liebe hat sehen wollen, da vielmehr die Eltern- und Kindesliebe der Punkt ist, wo die Flamme der göttlichen Liebe zum erstenmal das Fleisch durchbricht, wo zum erstenmal in der Natur das göttliche Ich seinen auf das Wachstum eines Gegenstandes gerichteten Willen im Geschöpf selbst offenbart. Ich will also nicht etwa sagen, der Gottesbegriff habe sich aus dem Verhältnis von Eltern und Kindern entwickelt oder sei daraus abgeleitet, wie man es wohl ausdrücken möchte, sondern daß sich tatsächlich die göttliche Dreieinigkeit in Vater, Mutter und Kind darstellt, natürlich nur annähernd. Das weibliche Säugetier ernährt in sich ein neues Geschöpf mit seinem eigenen Fleisch und Blut, dies Geschöpf zerreißt den Leib der Mutter, indem es ans Licht tritt, und die Mutter, anstatt es zu hassen, schmilzt in Liebe und opfert den schon einmal geopferten Leib aufs neue, um das Geborene vor Gefahren zu schützen. Der göttliche Opferwille hat sich offenbart. Die junge Brut der Tierwelt hat eine gewisse Anhänglichkeit an die Mutter, die mit deren Abhängigkeit von ihr zusammenhängt und aufhört im Maße, wie diese geringer wird. Je länger die Abhängigkeit dauert, desto lebhafter entwickelt sich im Kinde das Gefühl der Dankbarkeit, des Gehorsams, der Furcht und Ehrfurcht. Das menschliche Kind erwächst als Gegenstand einer liebenden, fürsorgenden, leitenden und strafenden Macht, die ihm ihrerseits Gegenstand wird, aber Gegenstand der entsprechenden Gefühle; die Kraft der Elternliebe ist von oben nach unten, die der Kindesliebe von unten nach oben gerichtet. Dem Kinde sind die Eltern das Ideal: allweise, allmächtig, allgegenwärtig, alliebend, gerecht und gütig, die Schuld strafend und der Reue verzeihend.
Wenn sich im weiblichen Tiere der göttliche Opferwille offenbart, so im männlichen der göttliche Herrscherwille. Das Leittier, das an der Spitze der Herden steht, die sich in der Tierwelt bilden, ist nicht immer, aber meistens männlichen Geschlechts. Tauglich zu dieser Herzogsstellung sind Tiere mit besonders gut ausgebildeten Sinnesorganen, wachsame, aufmerksame, mutige, kraftvolle. Sie haben jedenfalls die Witterung für gute Futterplätze, für die Wege, die dahin führen, für Gefahren, die durch die Natur oder durch andere Tiere drohen, und sie haben einen Kraftüberschuß, der sie treibt, solche Gefahren zu überwinden.
In der Tierwelt sind die männlichen und weiblichen Eigenschaften scharf auf zwei wesentlich verschiedene Geschöpfe verteilt: das männliche, zeugende Tier ist mutig, kampflustig, wild, das weibliche, gebärende, ist furchtsam und lenksam; erst als Mutter, die ihre Brut beschützen will, zeigt es plötzlich männliche Angriffskraft. Die menschliche Mutter kann ihrem Sohne ihr Wesentliches, den göttlichen Opferwillen, übertragen, durch den er Gott-Mensch, Vertreter eines Ganzen durch Gerechtigkeit und Gnade werden kann.
Es fällt auf, daß in allen heidnischen Religionen neben dem Gott eine Göttin, des Gottes Weib, erscheint, und man könnte meinen, in diesen Religionen wäre dem sogenannten natürlichen Ursprung der Religion weit mehr Rechnung getragen als in der jüdisch-christlichen. Aber gerade hier sieht man, wie alle anderen Religionen Mythologie sind, die jüdisch-christliche allein Wahrheit. Denn solange noch von Mann und Weib die Rede ist, sind wir noch auf Erden, im Fleisch, dem gespaltenen Strahl gegenüber; Gott dagegen ist die Eine Kraft, die die Welt trägt und die der Vorstellung als Ideal vorschwebt. Dies Ideal muß allerdings doppelgesichtig sein, wie einem das bei großen Malern augenfällig wird: es erscheint bei ihnen ein männliches Ideal, das von ihren eigenen Zügen ausgeht, und ein weibliches, dessen Ausgangspunkt in der Regel die Mutter ist. Über diesen beiden aber schwebt noch das Ideal, in dem Vater und Mutter verschmelzen, der zugleich gerechte und gnädige Allvater. Wenn er männlich gedacht ist, so ist das, weil die Kraft, das Männliche, die erste Offenbarung Gottes im Fleisch ist. Erst erscheint die Willenskraft, dann die Idee, die ihr die Richtung gibt. Der Wipfel ist des Baumes Krone; aber bevor nicht Wurzel und Stamm da sind, um sie zu tragen, kann sie sich nicht entfalten. Wir können uns Gott nicht als Jüngling vorstellen, sondern als Vater; Vater ist der Mann, der nicht mehr sich selbst liebt, sondern sich selbst in seinen Ebenbildern, über die er aus Liebe herrscht. Er ist nicht mehr nur Mann, sondern Mann-Weib, weil die opferfähige Liebe des Weibes in ihm aufgegangen ist. Entsprechend ist die Mutter nicht mehr nur das unbewußte, gehorsame Mädchen, sondern die kraftvolle Herrin geworden, die, wenn es nötig wäre, auch für ihre Kinder kämpfen könnte. Dies wäre nicht möglich, wenn nicht im Manne ein weiblicher Keim und im Weibe ein männlicher wäre, zwei Gegensätze in einem Wesen, an denen der Funke des Selbstbewußtseins sich entzünden kann wie an dem positiven und negativen elektrischen Strome. Das stabile, gesunde Selbstbewußtsein des Menschen hängt von dem Grade der Gegensätzlichkeit seiner Eltern ab: dieselbe darf weder zu gering noch zu groß sein, damit die Einheit im doppelten Bewußtsein erreicht werden kann. Gott ist der Eine, in dem eine Mehrheit ganz wird.
Und er sprach: Laß mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber er antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Er sprach: Wie heißest du? Er antwortete: Jakob. Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und bist obgelegen. – 1. Mos. 32. 27. 28. 29.
Das Verhältnis Gottes zu den Menschen ist aus dem Verhältnis der Eltern zu den Kindern abgeleitet; daraus abgeleitet, weil es darin vorgebildet ist. Nicht etwa also, als hätte sich aus der Elternliebe und Kindesliebe die Idee Gottes entwickelt, sondern die Macht der göttlichen Liebe hat sich hier zuerst offenbart.
Jakob war der Liebling seiner Mutter, der gläubigen Rebekka; den Segen des Vaters hatte er sich erlistet. Wenn Esau ihm nach dem Leben stellt, so hat er es verdient; aber er verwandelt die Rache in Liebe, indem er sich freiwillig dem Zürnenden unterwirft. Nach der Logik der Tatsachen hätte Esau ihn getötet; da er es wagte, seine Person einzusetzen, lenkte er den Strom des Geschehens in ein anderes Bett.
Zuweilen gelingt es Menschen, anderen Menschen ihren Willen einzubilden und dadurch den Willen Gottes, wie er sich im Bestehenden ausgeprägt hat, zu verdrängen; das sind Wundertäter, und wir nennen sie genial. Als Moses den Stab in seiner Hand in eine Schlange verwandelte, als Josua die Sonne stillstehen hieß, ward ihre Kraft Herr über die Menschen, daß sie sehen und erleben mußten, was jene wollten. Man sage nicht: »Also sie bildeten es sich ein als leichtgläubige, ungebildete Menschen! So haben wir es auch immer aufgefaßt.« Denn was ist nicht Einbildung? Wir sind immer von einer starken Schwinge Gottes getragen, wenn wir die Welt in uns aufnehmen, von einem inneren Sinn, der innen aufbaut, was die Sinne zutragen. Gott bildet uns immer ein, was er will, so übereinstimmend, daß wir Gesetze daraus ableiten. Gott selbst aber, der Gesetze gibt, ist nicht an Gesetze gebunden. Von seinen Lieblingen, die vom Heiligen Geist erfüllt sind, läßt er sich überwältigen, so daß sie die Herren Gottes werden. Sie sind Erzeuger und schaffen wie Gott: sie recken den Arm aus, und was sie wollen, steht da; ja, sie sind, nicht aus eigner, sondern aus göttlicher Kraft, mehr als Gott; denn was Gott zuvor wollte, stürzt ein, um ihren Gesichten Raum zu machen. Sie sind Rebellen, weil sie selbst denken und selbst wollen, und Gott stürzt sie hundertmal aus seinem Himmel zurück, den sie titanisch stürmen. Raffen sie sich aber immer wieder auf zu neuem Kampf, obwohl aus tiefen Wunden blutend, vom Heiligen Geist getrieben, durch den sie sich selbst überwinden, so erkennt Gott die erprobten Söhne, setzt sie zur Rechten seiner Kraft und reicht ihnen vom Baume des Lebens.
Du aber bist nun der Gesegnete des Herrn. – 1. Mos. 26. 29.
Der geniale Mensch, der die Entwicklung in neue Bahnen lenkt, ist ein Rebell gegen Gott, weil er als Einzelner über das Ganze hinausragt, als Einer gegen alle. Insofern scheint er Abenteurern, Schwindlern, Geisteskranken ähnlich zu sein, als auch diese vom Überkommenen, von der Wirklichkeit abweichen; aber der wesentliche Unterschied ist der, daß diese im Kampfe mit Gott unterliegen, während jener ihn besteht und von Gott gesegnet wird. Aus dem Empörer ist ein Auserkorener geworden, erkoren, weil Gott sich selbst in seinem Willen erkannte und ihn besiegelte. Hat nun dieser Einzige deshalb den Kampf bestanden, weil er ausdauernder, mutiger, besser war? Nein, offenbar nicht deshalb. Beschränkte, auch Geisteskranke, können sehr beharrlich sein, und es gibt viele Menschen, die im moralischen Sinne besser sind als der geniale. Man denke an die Königin Elisabeth und wie gering sie vom moralischen Standpunkt einzuschätzen wäre; aber sie war groß, weil sie die Liebe des Volkes hatte, zu ihrem Volke als Gesamtheit in der mystischen Wechselbeziehung der Liebe stand. Das siegreiche Ringen mit Gott besteht darin, daß die Gesamtheit sich in ihm wiedererkennt, sich in ihm liebt, weil er sich in ihr liebt. Das Volk überragend ist er doch des Volkes Sohn, so wie Christus die Menschheit überragend doch der Menschheit Sohn war. Er steht nicht abseit vom Volke wie ein Geisteskranker oder Abenteurer, sondern mitten darin und darüber; darum kann er sein Maß sein. Weil er die Fähigkeit hat, abwechselnd sich selbst zu wollen und sich dem Ganzen hinzugeben, um das Ganze in sich wirken zu lassen, kann er das Ganze in seiner Person vertreten. Der geniale Mensch muß ein Mann an Willenskraft und zugleich ein Kind an Phantasie und Liebe sein; er muß vor allen Dingen nicht vom eigenen Willen, sondern vom göttlichen Willen ausgehen, der ihn beruft, er muß unbewußt sein. Wo Eitelkeit, Eigennutz, Ehrgeiz, ja selbst die feinsten Arten der Selbstsucht, Ruhmsucht und Stolz, Triebfedern sind, da ist kein Genie; Genie hat keinen Grund des Handelns als die innere Notwendigkeit, die sich in Liebe und Haß äußert. Vielleicht, ja sicher hat auch der geniale Mensch Sehnsucht, sich auszuzeichnen, es drängt ihn zu großen Taten; aber die große Tat ist zuerst in seinem dunklen Drange, nicht in seinem Bewußtsein. Der allererste Ruf ist leise, fast beiläufig; nur wir, die Nachkommenden, wissen, wer den träumerischen Knaben Samuel rief, als er nachts vom Lager auffuhr. Der falsche Prophet drängt sich zur Tat, der wahre sträubt sich und muß wieder und wieder von Gott überwunden werden.
Wie wenig aber daran gedacht werden kann, das Wesen des Genies aus der Beschaffenheit der Eltern zu erklären, wie bestimmend diese auch sein mag, das geht aus der Verschiedenheit seiner etwaigen Geschwister hervor. Die Berufung geschieht durch die Ereignisse: es besteht ein unerklärbarer Zusammenhang zwischen dem Genie und seiner Zeit. Moses war nur zur Zeit der Knechtschaft der Israeliten in Ägypten möglich, Napoleon nur zur Zeit der Revolution; und so ist das Erscheinen jedes großen Mannes die göttliche Erfüllung menschlicher Gebete in größter Not. Ein Volk, das im allgemeinen tüchtige, wehrhafte, willensstarke, entbehrungsfähige Söhne mit keuschen und frommen Mädchen verheiratet, das die Jugend durch Gewöhnung an Gehorsam zum Befehlen tauglich macht, wird im allgemeinen sich jung, blühend, entwicklungsfähig erhalten; aber ob, wie viele und wann geniale Männer aus seinem Schoße hervorgehen, das kann niemand zum voraus bestimmen. Sie kommen, wenn die Zeit erfüllt ist, daß etwas Altes stirbt und etwas Neues ans Licht soll. Verdienst haben sie so viel oder so wenig, wie Jakob an dem Segen seines Vaters hatte; er hatte das, daß er kraftvoll und liebevoll war und dem Wort der Mutter gehorchte. In ihrer Kraft und ihrer Liebe zeigt sich, daß sie gesegnet sind: sie sind nun einmal in der Gnade.
Niemand soll sich zu seiner nächsten Blutsfreundin tun. – 3. Mos. 18. 6.
Das Neue, das das Alte mit dem Künftigen verbindet, soll dem Kind durch die Mutter vermittelt werden, die Mutter soll jung sein. Die Jugend ist aber nicht durchaus an die Zahl der Jahre gebunden. Denn was ist Jugend und Alter? Jugend ist Empfänglichkeit, Phantasie, vor allem Liebefähigkeit, Unbewußtheit; Alter ist Erstarrung, Gefühlskälte, Selbstsucht. Offenbar aber ist der Träger der Liebefähigkeit außer dem sympathischen Nerven das Blut, und es kommt also darauf an, daß die Mutter ein junges Blut ist. Jung ist aber dasselbe wie neu; das Blut der Frau soll auch neu für den Mann sein.
Luther bemerkt einmal, man erschrecke immer, wenn man in den Spiegel sehe, weil man ein ganz anderes Antlitz zu sehen erwarte. Dies begegnete Luther als einem genialen Manne, dem ein Ideal vorschwebte, welches von dem ihm vom Vater überlieferten sehr verschieden war. Unsere Kraft hängt ab von der Spannung, welche zwischen der vom Vater ererbten Natur und dem von der Mutter geschauten Ideal besteht. In der Regel wird das Phantasiebild der Mutter mit dem Bilde ihres Vaters verknüpft sein. Vater und Mutter verkörpern dem Kinde Gott, und zwar wird die Sehnsucht des Knaben auf die Mutter, die des Mädchens auf den Vater gerichtet sein, da der Charakter der Phantasie, die Phantasie des Charakters bedarf. Das Ideal des Mädchens in bezug auf den Mann wird demnach vom Vater ausgehen, und sie wird unbewußt das Bild ihres Mannes im Sohne durch das Bild ihres Vaters ergänzen wollen. Denn die Phantasie wirkt immer ergänzend, wenn sie nach dem Willen Gottes wirkt. Sind nun die Väter der Gatten einander sehr ähnlich, so besteht zwischen dem Gewordenen und dem Ziel des Werdenden nur eine geringe Spannung und also auch nur eine geringe Kraft. Es entspringen deshalb von Gatten, die einander sehr ähnlich sind, wohl begabte Kinder von ausgeprägter Eigenart, aber von geringer Kraft. Diese Menschen leiden an innerer Gegensatzlosigkeit, sie sind auf sich selbst beschränkt, stolz, aber schwach. Ihre Beziehung zu sich selbst ist stärker als die Beziehung zur Außenwelt, von welcher sie keine Impulse empfangen, um so mehr aber gereizt werden. Dementsprechend können auch sie der Umwelt keine starken Impulse geben, wohl aber reizen sie sie; sie sind also sehr für Stellungen geeignet, in welchen sie zu befehlen haben, und in welchen ihnen gemäß der weltlichen Ordnung Gehorsam entgegengebracht wird: sich aus eigener Kraft Gehorsam zu verschaffen, wären sie nicht imstande.
Da nun Gott sich in Beziehung auf einen Gegensatz offenbart, demgemäß es keine Selbstbefruchtung in der Natur gibt, führt Selbstbeschränkung allmählich zur Verzwergung und Entartung. Wo kein Gegensatz, kein Kampf, keine Reibung ist, da ist der Tod. Die großen Gesetzgeber des Altertums verboten deshalb mit Strenge die Inzucht. Wo Geschwisterehe stattfindet, ist das immer schon ein Zeichen von entarteter Kultur; Gott-Natur verwirft sie.
Wenn ein Fremdling bei dir in eurem Lande wohnen wird, den sollt ihr nicht schinden. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und sollst ihn lieben wie dich selbst. – 3. Mos. 33. 34. – Der ganzen Gemeine sei Eine Satzung, auch sowohl als den Fremdlingen; eine ewige Satzung soll das sein euren Nachkommen, daß vor dem Herrn der Fremdling sei wie ihr. – 4. Mos. 15. 15.
Wenn eine Gemeinschaft eine Zeitlang auf sich allein angewiesen war, und Männer und Frauen untereinander geheiratet haben, so werden alle einander ähnlich, und es entsteht Inzucht unter ihnen, wie wenn es eine Familie wäre. Deshalb kam bei den alten Völkern von Zeit zu Zeit Frauenraub vor, und deshalb schützten die Gesetze des Volkes Israel den Fremdling. Es ist eine Tatsache, daß die Tiere auf Inseln oder abgeschlossenen Plätzen verzwergen, das heißt entarten; ebenso entarten die Menschen, wenn sie sich nicht mehr durch neue menschliche Ideale ergänzen. Denn jeder Einzelne ist ein Teil und muß immer wieder durch Ausbildung neuer Seiten mit dem Ganzen verbunden werden. Inzucht entwickelt den Menschen in einer bestimmten Richtung; aber je vollkommener diese einseitige Richtung in ihm ausgeprägt wird, desto näher kommt er der Entartung, weil er sich desto weiter von Gott entfernt. Jede Familie, jeder Stand, jedes Volk, die sich nicht fortwährend durch neue Ideale ergänzen, müssen entarten. Auch Nietzsche hatte diese Einsicht: »Eine Ehe, eine Freundschaft sollte das Mittel sein, das seltene! unser eigenes Ideal durch ein anderes Ideal zu stärken.« Indessen sieht man an Nietzsche, daß es nicht von unserer Einsicht und von unserem Willen abhängt, uns durch andere Ideale zu stärken. Wenn durch Inzucht das vorschwebende Ich oder Vorbild dem überkommenen, gewordenen Ich so ähnlich ist, daß es anstatt Vorbild nur ein Spiegelbild zu sein scheint, verliert das werdende Ich die Entwicklungsfähigkeit, das heißt, es ist dann eigentlich kein werdendes und also kein lebendiges mehr, sondern ein starres. Diesen Zustand innerer Gegensatzlosigkeit kann man Selbstanbetung nennen, Unfähigkeit, ein neues Ideal auf sich wirken zu lassen. Wahre Liebe liebt das Entgegengesetzte, Ergänzende; denn Sichselbstlieben nennen wir nicht Liebe; aber der durch Inzucht Erstarrte liebt immer, auch wo er ein anderes zu lieben glaubt, nur sich selbst.
Hüte dich, daß du nicht einen Bund machst mit den Einwohnern des Landes, da du hineinkommst. – 2. Mos. 34. 12.
Andrerseits, wenn auch dem Volk Israel geboten wurde, Fremdlinge unter sich wohnen zu lassen, so wurde ihm doch verboten, sich mit anderen Völkern zu vermischen, die eine ältere Kultur hatten. Das junge, eindrucksfähige Volk konnte leicht, indem es fremde, weltliche Ideale auf sich wirken ließ, von dem hohen, unsichtbaren abgelenkt werden, das vor ihm herging. Daher das göttliche Gebot, die Völker, die vor dem Volk Israel Kanaan bewohnten, zu vertreiben, und die Warnungen der Propheten, als die Neigung im Volke Israel immer stärker wurde, sich den älteren Völkern mit ihrer blendenden, aber schon nicht mehr entwicklungsfähigen Kultur hinzugeben. Ein hochzivilisiertes Reich ist wie ein alles verschlingender Abgrund, wie sich das zur Zeit der Völkerwanderung im Römischen Reiche zeigte; viele hochbegabte junge Germanenstämme, die sich der Sirene hingaben, entfalteten nach der jähen Vermischung eine überraschende Blüte, die rasch verwelkte. Anders diejenigen Germanenstämme, die einen Kern bildeten, der sich durch Tropfen fremden Blutes ergänzte. Vollends unfruchtbar ist Völkermischung, wie sie in Amerika stattgefunden hat und stattfindet. Eine Familie, die sich durch nahstehende Familien ergänzt, kann so vielleicht langsam zu einem Volke erwachsen; eine persönliche Einheit muß als Samenkorn den Ausgangspunkt bilden, mit dem das Neue verschmilzt. Bis zu einem gewissen Grade ist Inzucht gut und notwendig, da sie die Individualität herausarbeitet und den Kern des Volkes eigentlich erst bildet; ist aber die Individualität durch Inzucht auf eine gewisse Höhe getrieben, so muß sie, um nicht zu erstarren, in Spannung zu einem anderen Ideal gebracht werden. Wird nämlich der rechte Augenblick versäumt, so wird das Individuum, sei es ein einzelner Mensch oder ein Volk, unassimilierbar, das heißt, es kann nichts Neues mehr in sich aufnehmen und selbst nicht als Neues aufgenommen werden. Es ist unverschmelzbar und deshalb unveränderlich, nicht mehr entwicklungsfähig. Über die Unassimilierbarkeit der Juden wurde schon im Altertum Klage geführt, es war die Eigenschaft, die sie verhaßt machte; sie wurden in jedem Volke als Fremdkörper empfunden, der sich nicht auflösen wollte, um aufgesaugt zu werden. Infolge von Inzucht waren sie kein Volk mehr, sondern nur noch eine Adelsschicht. Diese Erstarrung durch Absonderung ist das Schicksal jedes Einzelnen, jeder Familie, jedes Standes, das sich nicht beständig durch Verschmelzung mit anderen Individualitäten ergänzt.
Die Beschränkung der Völker auf sich selbst, wie sie in der Neuzeit angestrebt wird, müßte unweigerlich zu ihrem Untergange führen. Das fruchtbare, reiche Leben des Mittelalters beruhte auf dem fortwährenden Sichdurchdringen aller Völker. Dies fand merkwürdigerweise viel mehr statt, als es weniger bequeme Mittel zu Bewegung und gegenseitiger Berührung gab. Die Berührungen waren seltener, aber stärker und wirkungsvoller, wie alles, was nicht vom bewußten Willen, sondern von innerer Notwendigkeit abhängt. Je mehr die Menschen durch Schienen und Drähte verbunden sein werden, desto weniger werden sie es durch Geist und Seele sein.
Der Expansionstrieb der Völker, der zu Wanderungen und Eroberungskriegen, zu jeder Art von Ausdehnung führt, ist sicherlich ein Zeichen, daß irgendwo Bedürfnis nach frischem Blut und neuen Idealen ist. Ist das fieberhafte Suchen nach immer neuen Verbindungsmitteln zwischen den Menschen, die das Trennende von Zeit und Raum mehr und mehr aufheben, ein Zeichen, daß das Bedürfnis nach Gegensätzen immer leidenschaftlicher wird, je mehr der Mensch sich ihr durch Veräußerlichung des Lebens entzieht? Je vielfacher und weiter sich erstreckend unsere Beziehungen werden, desto seltener werden Freundschaft und Liebe. Gott ist verkehrt mit den Verkehrten. Wir bedürfen sicherlich der Ergänzung unseres Selbst durch neue Ideale mehr als je; aber auch die Berührung mit den Marsbewohnern würde uns nichts nützen, wenn wir uns nicht hingeben und nicht aufnehmen können, wenn wir nicht mehr verschmelzbar sind. Ein Ideal haben heißt nicht jemand anders schön oder interessant finden, sondern sich mit einem anderen Willen auseinandersetzen, miteinander ringen. Man beobachtet, daß Ehepaare einander ähnlich werden; aber sie werden es sicher nur, wenn sie miteinander und auch gegeneinander gelebt haben.
Die Heuchler werden voll Zorns; sie schreien nicht, wenn er sie gebunden hat; so wird ihre Seele in der Jugend sterben. – Hiob 36. 13. 14.
Hiob war geduldig; dennoch klagte er, ja, er stritt mit Gott und forderte in leidenschaftlichen Ausdrücken Vergeltung seiner Leiden von ihm. Ergebung in Gottes Willen ist etwas ganz anderes als Selbstbeherrschung; Selbstbeherrschung wenden wir an, um uns an dem, der uns Schmerzen zufügt, dadurch zu rächen, daß wir ihm einbilden, er erreiche seinen Zweck nicht, indem wir nicht litten. Die Kaiserin Maria, Frau und Cousine Karls V., eine portugiesische Prinzessin, ein nach dem Bilde Tizians und den Schilderungen der Zeitgenossen zartes, schlankes, höchst verfeinertes Wesen, stieß während ihrer Entbindungen, die immer besonders schwer waren, niemals einen Ton der Klage aus, weil sie das, wie sie einmal zu ihrer Pflegerin sagte, ihrer kaiserlichen Würde nicht angemessen hielt. Es würde ungerecht sein, diese anziehende Frau der Heuchelei zu zeihen; dennoch war sie es im Sinne der Bibel, insofern sie sich nicht äußern wollte, insofern sie, als spätes Glied einer durch lange Inzucht verdichteten Familie, zu erstarrt war, um noch selbstvergessen sein zu können. Ihr Wahn, eine gottähnliche Unerschütterlichkeit zur Schau tragen zu müssen, hatte die freiwillig aus dem Inneren fließende Bewegung gehemmt und schließlich aufgehoben. Sie wurde die Mutter Philipps II. und durch diesen, der wieder mit einer portugiesischen Cousine verheiratet war, Großmutter des unglücklichen Don Carlos. Es ist lehrreich, die entzückende Menschlichkeit Kaiser Maximilians I. mit der zunehmenden Erstarrung und Auflösung seiner Nachkommen zu vergleichen.
Natürlich verlangt Gott nicht, daß der Mensch bei jedem Nadelstich ein Geschrei erheben soll; das Kind, das seine Gefühle bei der leisesten Erregung äußert, also niemals in Gegensatz zu Gott tritt, wird niemals Gott ähnlich werden können. Gott hat sich selbst Hemmungen gesetzt, um sich durch ihre Überwindung zu offenbaren; nur darf die Hemmung nicht stärker werden, als der von außen kommende Antrieb ist. Dickens berichtet von der erstaunlichen Wahrhaftigkeit im Ausdruck der Gefühle bei den Taubstummen und Blinden; mit ihnen verglichen erscheine das Verhalten jedes normalen Menschen als Verstellung. Der Gebildete verlernt in der Welt, die er selbst gemacht hat, man kann sagen, durch Inzucht im weitesten Sinne, nämlich dadurch, daß er nach innen gezogen, auf sich selbst beschränkt ist, die Kraft, sich zu äußern. Durch das Mittel der rein tierischen Äußerung aber offenbart sich Gott; es ist der Geist, der im ersten tierischen Laut zur Offenbarung drängt und im menschlichen Wort sich ganz offenbart. Unsere Äußerung ist eine Antwort auf einen Reiz, der uns von außen trifft, sie ist der Ausdruck einer lebendigen Beziehung. Sie kann bejahend oder verneinend, liebend oder hassend sein, sie ist gut, wenn sie wahr ist, das heißt, wenn sie dem erregten Gefühle ganz entspricht. Gott ist unbestechlich gerecht: die Strafe für das Verstecken des Gesichtes unter der Maske ist allmähliches Verwachsen der Maske mit dem Gesichte, so daß man sie nicht mehr ablösen kann. Will nun das zurückgedrängte Gefühl sich doch noch äußern, so kann es das nicht tun, ohne die Maske des Selbstwollens zu zersprengen.
Joseph sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn ich bin unter Gott. Ihr gedachtet's böse mit mir zu machen; aber Gott gedachte es gut zu machen, daß er täte, wie es jetzt am Tage ist, zu erhalten viel Volks. – 1. Mos. 50. 19. 20.
Versetze man die wundervolle Geschichte von Joseph und seinen Brüdern, die die Herzen der Kinder und Erwachsenen erschüttern wird, solange es Menschen gibt, in einen modernen Staat. Voraussichtlich hätten die Brüder ihrem Neide nicht in einem Verbrechen Ausdruck gegeben, das ihnen schwere Verdrießlichkeiten hätte zuziehen können, sondern sie hätten versucht, den Bevorzugten durch Nadelstiche zu reizen, ihm Schwierigkeiten bereitet, durch kleinliche Angriffe ihn in den Bereich ihrer Kleinlichkeit gezogen. Die große Bahn, die ihr Verbrechen ihm erschloß, hätte der moderne Joseph natürlich nicht durchlaufen können. Wenn sie nun aber wirklich eine große Freveltat begangen hätten, so wären sie ins Zuchthaus gekommen und entweder dort zugrunde gegangen oder als elende gebrandmarkte Verbrecher entlassen, denen eine Höherentwicklung abgeschnitten wäre. Gesetzt, Joseph hätte es inzwischen zu etwas gebracht, und gesetzt, er hätte sich mit seinen aus dem Zuchthause entlassenen Brüdern versöhnt; der Minister hätte sich doch sicherlich mit diesen Sträflingen nicht öffentlich zeigen mögen. Ein fruchtbares neues Leben wäre nie aus dieser Versöhnung entsprungen; die Kluft zwischen Joseph und den Seinigen hätte sich nicht ausfüllen lassen. Der Joseph der Bibel aber war nicht unter dem Staate, sondern unter Gott. Gott nahm die wilden Triebe der Menschen, die sich unverhohlen zeigten, den noch träumerisch verhüllten Machttrieb Josephs und den Neid seiner Brüder in seine Herrscherhand, ließ das Spiel des Kampfes und der Schmerzen sich entrollen und Leben und Segen daraus sich erheben. Je mehr die Menschen unter Gott bleiben, desto mehr Kampf, Verwirrung und Schmerz entsteht, desto mehr Leben und Schönheit ergibt sich aber auch; je mehr die Menschen sich Gott entziehen und selbst regieren, desto mehr Ordnung, Erstarrung und Tod.
In bezug auf eine Novelle, das Bild der Mutter, wo die Helden aus Wohlerzogenheit und verständiger Berechnung der Folgen ihre Liebe unterdrücken, schreibt Jakob Burckhardt an Paul Heyse: »Wer soll heutigentags noch die Leidenschaft respektieren, wenn ihr Dichter sie nicht mehr respektiert? Wartet nur! Habt ihr denn nicht die Gewalt, alles mögliche Unheil daraus hervorgehen zu lassen? Dafür dürft ihr aber nicht der Leidenschaft im Entstehen den Hals umdrehen.« Der Dichter macht es wie Gott, er entrollt die Leidenschaften, um durch sie zu strafen und zu verklären.
Man wird sagen, Joseph habe doch auch dem Weibe des Pharao widerstanden. Hätte er das getan, so wäre der Beweggrund nicht Wohlerzogenheit und Berechnung der Folgen gewesen, sondern der Gehorsam gegen Gottes Gebote; aber er war kein moderner junger Mann, dem Liebe der gewaltigste, alleingewaltige Antrieb ist. Der Drang, ein Mächtiger zu sein, träumte in seiner Seele; Gott erzog ihn dazu, daß er es im edelsten Sinne wurde, »nicht als die da herrschen, sondern als ein Vorbild der Herde«.
Ist's nicht also? Da du klein warst vor deinen Augen, wurdest du das Haupt unter den Stämmen Israels.
Der Wahnsinn des Königs Nebukadnezar ist vielleicht das erste Beispiel dieser Krankheit, jedenfalls eines der ersten, das als solches in der Geschichte beschrieben ist, wie am König Saul einer der ersten Fälle von Melancholie geschildert wird; und es scheint zwischen diesen beiden Fällen ein Zusammenhang zu bestehen, der darin zu suchen ist, daß beide Könige waren.
Samuel hatte der Einsetzung von Königen widerstrebt, zugleich aber verkündigt, daß, wenn das Volk Könige haben wolle, es ihnen schlechtweg zu gehorchen habe, auch wenn sie Ursache hätten, mit ihnen unzufrieden zu sein; denn eher sollte das Volk Unwürdigen gehorchen, als daß der Gehorsam überhaupt aufgehoben werde. Dies folgt aus der Einsicht, daß der Mensch nicht leben kann, ohne einen Herrn, einen höheren Willen über sich zu wissen. Der König nun, welcher allein befehlen soll und deshalb für alle verantwortlich ist, nicht nur für das Wohl einzelner oder einer Gruppe, sondern für die Gesamtheit des Volkes, müßte Gott selbst sein; denn wie könnte jemals ein Mensch aus menschlichen Kräften das Wohl der einzelnen gegen das Wohl des Ganzen verrechnen? Es kann es nur Gott oder ein Stellvertreter Gottes, der Prophet, der von Gott berufen ist, an den das Wort Gottes gerichtet ist. Dieser glaubt an Gott, hat also einen Herrn über sich. Er regiert aber auch nicht in dem Sinne, wie es der König tut, sondern er läßt das Volk sich selbst verwalten durch erwählte Vertreter und ist selbst nur die Quelle des Rechtes und der Freiheit. Übrigens verrichtet er die Taten, zu denen er von Gott berufen ist und durch die er sich als Prophet bezeugt.
Anders ist es mit dem König, der, wie Saul und wie jedenfalls Nebukadnezar, die Stimme Gottes nicht hört, den angeborenen Sinn für die Gesamtheit, die All-Liebe, nicht hat, sondern auf sich allein angewiesen ist. Sein Machttrieb, der weder durch den Glauben noch durch den Machttrieb anderer, Ebenbürtiger ausgeglichen wird, schwillt unendlich an; er befiehlt nur und erhält Gehorsam, ihm befiehlt niemand. Einige nun helfen sich instinktiv dadurch, wie schon erwähnt, daß sie sich durch männliche oder weibliche Günstlinge befehlen lassen; andere, und so waren jedenfalls Saul und Nebukadnezar, sind dazu zu stolz; sie unterdrücken geflissentlich alle hingebenden Triebe, um sich selbst zu beherrschen, wie sie das Volk beherrschen. Der Wille aber, der seiner Natur nach Machttrieb ist, kann nicht auf sich selbst bezogen sein; er erdrückt sich selbst im selbstbewußten Menschen, wie er andere erdrückt.
Heinrich Zschokke erzählt, daß er als Kind sich eingebildet habe, er sei mit Gott, seinem Vater, allein, und die ganze übrige Welt sei eine Art Marionettentheater, das Gott zu seiner Unterhaltung vor ihm spielen lasse. Eine merkwürdige Vorstellung, die insofern natürlich ist, als das männliche Individuum sich, sobald es seiner bewußt wird, als Mittelpunkt der Welt betrachten muß, andererseits aber doch den Keim des Größenwahns in sich birgt, der in jedem Selbstbewußtsein schlummert und nur durch die Beziehung zu anderen Menschen, im Kampf des Lebens, oder durch das Schicksal, im Kampfe mit Gott, überwunden wird. Zschokke erkannte sich auch selbst als krankhaft veranlagt, so sehr, daß er zuweilen Angst vor fixen Ideen hatte; erst als er in lebendige Wechselwirkung zu anderen Menschen trat, schwanden diese beunruhigenden Anzeichen.
Der unter Seinesgleichen gesetzte Bürger eines Gemeinwesens hat immer Gelegenheit, sein Besonderssein, seine Individualität, im Umgang und Wettstreit mit anderen abzuschleifen; er begegnet nicht nur schwächeren Kräften, sondern auch stärkeren, seien es auch nur die Umstände, denen er sich beugen muß. Ja, man kann sagen, je mehr Machttrieb er hat, desto mehr Widerstand erweckt er, der ihm irgendwann und irgendwo einmal eine Grenze setzen wird. Etwas anderes ist es mit den Königen, die auf das Besonderssein gestellt sind, die als Maßstab gelten sollen, ohne selbst in Gott einen Maßstab zu haben; denn es ist vorausgesetzt, daß sie keinen Dämon haben, daß Gottes Wort an sie nicht gerichtet ist. Das normale Bewußtsein besteht aus zwei Punkten, dem Ichbewußtsein und dem Gottbewußtsein oder Weltbewußtsein, denn Gott offenbart sich nicht nur im Ich, sondern auch außerhalb des Ich in der Welt. Sowie dieser feste Punkt des höheren Nicht-Ich verloren geht, beginnen Bewußtseinsstörungen.
Betrachtet man die Bilder mancher ägyptischer Könige, so erstaunt man über die aufs äußerste gesteigerte Individualität, die wir nur unter uns Modernen zu finden glauben. Wo die Geschwisterehe in Übung war, wie bei gewissen alten Dynastien, wird vermutlich die höchstmögliche Steigerung der Individualität erreicht sein. An ihre Stelle ist bei unseren Herrscherfamilien die Heirat zwischen Vetter und Cousine oder anderen nahen Verwandtschaftsgraden getreten, die ähnliche Erscheinungen zur Folge hat. Wenn diese Inzucht zuerst auffallende Begabung, dann Entartung erzeugt, so muß sie doch nicht notwendig zum Wahnsinn führen; dies scheint mir besonders dann der Fall zu sein, wenn durch Vermischung mit einem anders gearteten Typus die schon erstarrte Individualität durchbrochen werden will. Ist sie schon allzu starr, so wird oft nach einigen überraschenden Anwandlungen von Genialität der Mensch als selbstbewußtes Individuum zerstört, wenn er auch als Tier, als bloßer Körper weiterlebt.
Wie die Reste der von Nebukadnezar geschaffenen Bauten beweisen, und wie das Bild ahnen läßt, das die Bibel in wenigen Zügen meisterhaft von ihm entworfen hat, war er durchaus kein unedler Mann, hochfahrend, gewaltsam, ausschweifend in seinen Forderungen an andere wie an sich selbst. Er hält sich für Gott, weil, was er will, geschieht; aber es geschieht, ohne daß er sich, das heißt Gott durch seine Person, äußert. Denn er befiehlt ja nur, ausführen tun die anderen, die Gehorchenden; er selbst gehorcht nicht göttlichen Impulsen, sondern seinem eigenen Willen.
Sowohl im Falle des Saul wie in dem des Nebukadnezar ist die Krankheit in der Bibel deutlich aufgefaßt als Folge menschlicher Selbstüberhebung über Gott, Absonderung von der Gesamtheit, wir würden sagen als Größenwahn, oder man könnte auch sagen Überwiegen des Selbstbewußtseins über das Unbewußte. Dies gewaltsam zurückgedrängte Unbewußte überschwemmt schließlich das Selbstbewußtsein und zerstört es.
Im Traume verkündigte Gott dem Nebukadnezar den Wahnsinn, in den er verfallen würde, durch die Stimme eines heiligen Wächters, der vom Himmel herab rief, das menschliche Herz solle von ihm genommen und ein viehisches Herz ihm gegeben werden. Er solle aber in ehernen Ketten auf dem Grase gehen, unter dem Tau des Himmels liegen und naß werden und solle sich weiden mit den Tieren von den Kräutern der Erde. Dieser Traumverordnung gemäß wurde er, als der Wahnsinn bei ihm ausbrach, von den Leuten hinweg verstoßen, »und er aß Gras wie Ochsen, und sein Leib lag unter dem Tau des Himmels und ward naß, bis sein Haar wuchs so groß als Adlersfedern und seine Nägel wie Vogelsklauen wurden«. Nach dieser Zeit, heißt es, kam er wieder zur Vernunft und lobte den Höchsten.
Das Heilmittel bestand also darin, daß man den des Selbstbewußtseins Beraubten, das den Menschen zum Menschen macht, wieder unter die Tiere, in die unbewußte Natur versetzt, von der er ausgegangen ist. Der im Selbstbewußtsein ausschweifte, wird durch Verlust des Selbstbewußtseins bestraft. Ist er noch heilbar, kann er sich von dieser Stufe wieder zur höheren erheben durch den Kampf mit anderen Kräften, von denen er sich hochmütig abgesondert hatte. Indem er der Natur überlassen wird, tritt er wieder unter Gott; seine Instinkte und seine Phantasie werden wieder erwachen. Die volkstümliche Auffassung des Wahnsinnigen als eines Bösen stimmt mit der Auffassung der Bibel überein: es ist der Hochmütige, der sich über alle und auch über Gott erhob, von Gott verworfen wurde und nur durch Demütigung geheilt werden kann. Ein ähnliches Mittel fällt oft Eltern eigensinnigen und trotzigen Kindern gegenüber ein, überhaupt Menschen im Umgang mit störrischen Menschen: man redet nicht mehr auf sie ein, schilt nicht, sucht nicht zu überzeugen, man läßt sie gehen; dann kommen sie früher oder später von selbst wieder und sind froh, wenn man sie annimmt.
Gerade entgegengesetzt ist die moderne Behandlung der Geisteskranken: durch das Einsperren und Absondern wird das, was die Ursache der Krankheit ist, das Absonderungsgelüste, vermehrt; durch das Versorgen der Kampf erspart; durch den Zwang der freiwillige Gehorsam, auf den es ankommt, gehemmt. Die allerneueste Behandlung vollends beschleunigt durch Anleitung zur Selbstbeobachtung und Selbstzerfaserung den Verlauf der Selbstzersetzung. Heilen ist Ganzmachen; ganz ist der Mensch aber, sowie er einem höheren Impulse gehorcht, im Auftrage eines höheren Willens handelt, wodurch sein Selbstbewußtsein geschwächt und sein Gottbewußtsein, der feste Punkt, auf dem die Einheit des Bewußtseins ruht, wieder geweckt wird. Einem höheren Willen dienen, unbewußt sein und Triebe haben, ist ein und dasselbe; fehlt uns das ganz, stehen wir gar nicht mehr unter Gott, sind wir geistig tot. Entweder wir müssen natürliche Instinkte haben, wozu auch der instinktive männliche Machttrieb und Gehorsam gehört, oder den Impuls der göttlichen Liebe, der dem mütterlichen Weibe entspringt; auch das stolzeste Streben des Selbstbewußtseins ist kein Ersatz dafür.
Was heilend, ganzmachend wirkt, ist der Gehorsam, und insoweit der Arzt den Kranken unter seinen Willen stellt, wirkt er in jedem Falle heilsam, je mehr, desto mehr sein Wille dem Kranken gegenüber tatsächlich ein höherer ist.
Niemand kann zweien Herrn dienen ... Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. – Matth. 6. 24.
Das gesunde Selbstbewußtsein beruht darauf, daß der Mensch sich als eine Einheit fühlt, als ein Ich. Der Monotheismus ist der Ausdruck des vollendeten Selbstbewußtseins, des Bewußtseins, das seine Spitze erreicht hat dadurch, daß Gott sich als Gewissen im Menschen offenbart, Gott und Selbstbewußtsein also zusammenfallen. Folgerichtig müßte der Mensch nun sterben, das heißt, nur noch für andere leben; allein in der Regel wird sein natürlicher Machttrieb noch vorhanden sein, und er wird öfters ihm dienen in den Augenblicken, wo er mächtiger in ihm ist als die Stimme Gottes. Falls er aber sich von seinem Machttriebe weiter hätte hinreißen lassen, als das Gewissen ihm erlaubte, würde das Gewissen ihn strafen, denn er würde unwillkürlich fortfahren, im Gewissen Gott zu verehren. Wir haben zwei Bewußtseinspunkte in uns, wie wir aus zwei Eltern geboren sind, und die zwei Seelen in unserer Brust werden auch als solche empfunden; eine aber muß der anderen übergeordnet sein, damit wir uns im seelischen Gleichgewicht befinden. Wer beiden zugleich folgen wollte, würde, da sie nach verschiedenen Seiten ziehen, sich selbst zerreißen oder sich selbst aufheben. Dasselbe träte bei dem ein, der keiner von beiden folgen wollte in der Meinung, nur sich selbst zu gehorchen; denn er selbst ist ja gerade in den vereinigten beiden.
Wehe denen, die Böses gut und Gutes böse heißen, die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen; die aus sauer süß und aus süß sauer machen. – Jesaja 5. 20.
Wüst ist schön und schön ist wüst, singen Shakespeares Hexen. Sie verrücken das Maß, an dem gemessen wird, ähnlich wie die modernen Künstler, die nicht mehr an die Schönheit, und viele Philosophen und Ethiker, die nicht mehr an das Gute und Böse glauben, sondern jedes Ding von dem Ding aus begreifen wollen.
Ein moderner Psychiater erzählt von einem hysterischen Mädchen, die in einen verheirateten Mann verliebt war und, während sie ihn scheinbar mied, auf umständliche und ränkevolle Weise ein Alleinsein mit ihm zustande brachte. Wäre sie naiv egoistisch gewesen, hätte sie dem Triebe ihres Herzens gefolgt, und die göttliche Strafe hätte sie in irgendeiner Form getroffen; hätte sie ein Gewissen gehabt, Gott gehorsam, so würde die Ehrfurcht vor Gottes Geboten sie zurückgehalten haben. Beides war nicht der Fall; sie wollte haben, was sie begehrte, zugleich aber schuldlos dastehen, nicht nur vor den Leuten, sondern vor sich selbst. Es genügte ihr durchaus nicht, von den Leuten nicht gestraft oder getadelt werden zu können, sondern sie wollte sich selbst nichts vorwerfen können, und zu dem Zweck mußte sie sich selbst betrügen. Solcher Betrug des Gewissens führt, wenn er gewohnheitsmäßig geübt wird, zur Zersetzung des Bewußtseins. Lügen ist immer schlecht und gefährlich; das Verhängnisvolle beginnt aber erst, wenn der Mensch aus Stolz und Selbstgefälligkeit an seine eigenen Lügen zu glauben anfängt und dadurch sein Bewußtsein spaltet. Denn sein geistiges Leben beruht darauf, daß sein Inneres ganz ist oder wenigstens sich beständig unwillkürlich wieder ergänzen kann. Zwar ist sich jeder Mensch in gewissen Augenblicken seiner zwei Seelen bewußt, doch aber gleichzeitig seiner Einheit, wenn auch oft nun in der Form, daß er sich vorübergehend nur der einen Hälfte bewußt ist und also eigentlich, ohne es zu wissen, halb ist. Sowie der Mensch sich dauernd als eine Zweiheit bewußt ist, wankt sein geistiges Leben, das auf dem einheitlichen Selbstbewußtsein begründet ist. Als Zweiheit nun fühlt der Mensch sich, sowie seine Natur sich Gott widersetzt, sowie er sündigt und deswegen durch sein Gewissen gestraft wird. In diesem Falle aber besteht jederzeit die Möglichkeit, daß die Einheit durch Reue und Sündenvergebung wiederhergestellt wird. Verhärtet er aber sein Gewissen, wie man sich ausdrückt, um nicht von demselben gestraft zu werden, so kommt er schließlich in einen Zustand, den man als moralischen Irrsinn bezeichnet, indem er unfähig geworden ist, Gut und Böse zu unterscheiden. Anstatt das Gewissen zu verhärten, kann man es aber auch verfälschen. Man betäubt nämlich nicht die Sprache des Gewissens, die Stimme Gottes, sondern man zeiht sie des Irrtums oder der Lüge, als könne sie nicht Gut und Böse unterscheiden, sondern als könne man selbst es besser. Man setzt also sich selbst an Stelle Gottes und hebt damit den zweiten, den höheren Punkt in sich auf, um nur auf einen Punkt, sich selbst, gestellt zu sein.
Wahrlich ich sage euch: alle Sünden werden vergeben werden den Menschenkindern, auch die Gotteslästerungen, damit sie Gott lästern. Wer aber den Heiligen Geist lästert, der hat keine Vergebung ewiglich, sondern ist schuldig des ewigen Gerichts. – Markus 3. 28. 29.
Dem unbewußten Menschen richtet Gott das Gesetz auf; er wird gestraft, wenn er sich gegen das Gesetz vergeht, und seien seine Sünden noch so schwer. Anders ist es mit der Sünde des selbstbewußten Menschen; denn ihm offenbart sich Gott nicht mehr durch das Gesetz, sondern in ihm selbst durch den Heiligen Geist, nämlich durch den Impuls der Liebe. Wenn er nun sündigt, sündigt er gegen den Heiligen Geist, und diese Sünde ist unverzeihlich, weil er dadurch zugleich gegen sich selbst sündigt; denn der Heilige Geist, das Gewissen der göttlichen Liebe, offenbart sich ja in seinem Selbstbewußtsein, und er zerstört also sein Selbstbewußtsein, indem er das Gewissen in sich zerstört.
Der unbewußte Mensch lügt nicht, er äußert unverstellt seine Triebe, auch die schlechten: Habgier, Neid, Rachsucht. Der selbstbewußte, der sich denkt, dessen Ich seine Vorstellung geworden ist, äußert sich nicht mehr so unbefangen, sondern neigt zur Lüge, entweder um sich der Strafe zu entziehen oder um für tadellos gehalten zu werden. Mit dem Selbstbewußtsein ist die Neigung gegeben, sich entweder überhaupt nicht mehr zu äußern, sich zu verbergen oder sich zu verstellen, sich anders zu äußern, als man sich getrieben fühlt. So richtet das Selbstbewußtsein eine Scheidewand auf zwischen dem Ich und der Welt; das Ich verschalt sich vor der Welt, es handelt nicht mehr von innen heraus, weil seine wahnhafte Vorstellung von seiner Größe und Einzigkeit in der Berührung mit der Umwelt angetastet und richtiggestellt würde.
Die Scheidewand des Selbstbewußtseins kann nur durchbrochen werden durch den Heiligen Geist der Liebe und der Wahrheit, die zweite Offenbarung Gottes im selbstbewußten Menschen, welche ihn drängt, aus Liebe zur Welt sich ihr zu öffnen, sich ihr mitzuteilen. Sowie das Selbstbewußtsein da ist, nimmt das natürliche Mitteilungsbedürfnis und der Geselligkeitstrieb ab; es bedarf eines stärkeren Anhauchs, um das Innere des Menschen aufzuschließen und mit anderen zu verbinden. Diesen Anhauch nennen wir Glauben, und man kann ihn auch Begeisterung nennen, wenn man darunter nicht die vergängliche Aufwallung des durch irgendeinen Anstoß erregten Gefühls versteht, sondern ein dauerndes Hochgefühl, eine Begeisterung, die zugleich Ruhe ist, wie man sie Rubens nachrühmt. Wenn einer diesen Anhauch unterdrückt, beraubt er sich der letzten Möglichkeit, sein Ich wieder mit der abgesonderten Welt zu verbinden.
Der Gottlose fleucht, und niemand jaget ihn. – Sprüche 28.1. Erhalte mich durch dein Wort, daß ich lebe. – Ps. 119. 116.
Wenn in der Heiligen Schrift vom Tode die Rede ist, der überwunden werden soll, so ist der geistige Tod gemeint, nämlich die Absonderung von Gott, die Sünde, welche, wenn sie als solche geleugnet und für Gerechtigkeit erklärt wird, zum Wahnsinn führt. Ein Symptom dieses krankhaften Zustandes ist die Angst: sie ist ihrem Ursprung nach Gewissensangst oder geradezu Selbstbewußtsein. Wer zum ersten Male lügt, hat Todesangst; nur die Gewohnheit stumpft ab. Da nun die Welt, die Absonderung im Gottesreiche der Natur und der Wahrheit, auf Lüge gegründet ist, so ist ein Keim der Lüge und somit des Wahnsinns in allen selbstbewußten Menschen, der aber, wenn er das durchschnittliche Maß hat, eben deshalb nicht bemerkt wird. Erst wenn die Zersetzung der Vernunft und damit unserer Persönlichkeit, welche auf der Vereinigung von Gott und Natur in einem Punkte beruht, so weit gekommen ist, daß die Persönlichkeit auseinanderzufallen beginnt, sprechen wir von Wahnsinn. Es ist für den Wahnsinn des einzelnen aber Inzucht und Welt (im Sinne von Zivilisation) verantwortlich zu machen, beides Beschränkung auf sich selbst und Lostrennung von Gott, dem höchsten Ideal oder göttlichen Willen, der das einzelne immer wieder mit dem Ganzen verbindet.
An C. F. Meyer können wir in ergreifender Weise den Kampf eines durch Inzucht abgesonderten, eines durch und durch selbstbewußten, gar nicht mehr unbewußten Menschen sehen, um sich dem Ganzen wieder zu verbinden. Inzucht nicht nur, weil seine Eltern einem engen gleichartigen Kreise von Menschen entstammten, sondern weil auch das Gemeinwesen, dem sie angehörten, vom Lande und damit vom Volke abgesondert war. Er gehörte einer ganz auf das menschliche Selbst beschränkten Kultur an, wo man wohl äußerst gewissenhaft war, aber weder natürliche Instinkte noch höhere Impulse hatte. Ganz unwillkürlich griff er deshalb nach Gott als dem Anker der Rettung. Auf sich selbst gestellt, im labilen Gleichgewicht des einseitigen Selbstbewußtseins, bedurfte er Gottes, um das stabile zu gewinnen. Trotz seiner Anstrengungen, dem Christentum zu entrinnen, schrieb er selbst, fühle er sich wider seinen Willen dazu gezogen. Es war keine naive Frömmigkeit, wenn er den Seinigen allmorgendlich aus der Bibel vorlas; sondern die Angst des Versinkenden, der sich an Gott klammert.
Nach allem Vorhergehenden brauche ich kaum zu betonen, daß die Absonderung vom Ganzen nicht nur in den höheren, sondern ebenso in unteren Klassen zu Krankheitserscheinungen führen kann. Sie kann auch rein äußerlich begründet sein durch die Unzugänglichkeit von Bergen und Tälern in Gebirgsgegenden, wo andrerseits das enge Verbundensein mit der Natur ein Schutz ist.
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht.
Das Wort, das durch den Mund Gottes geht, ist das wahre Wort, dasjenige, das unserem Gefühl entspricht, es genau deckt, das aus dem Unbewußten hervorgeht. Dies Wort ist das Wort der Wahrheit, und wir leben davon, weil Gott-Natur durch uns sich äußern, sich offenbaren will, uns zu sagen, was uns gut tut und not ist. Das Wort des selbstbewußten Menschen ist das Wort der Lüge, weil es keiner inneren Notwendigkeit entspricht, außer wenn der bewußte Mensch sich von Gott führen läßt, von Gott überwältigt wird. Wenn das Wort der Lüge überhand nimmt, weicht das Wort der Wahrheit zurück; dies Verhältnis ist charakteristisch für den Großstadtmenschen oder Weltmenschen, der, als solcher, nur Gedachtes oder Empfundenes (Sentimentales) sagt, nicht das, was mit Notwendigkeit aus seinem Inneren drängt, sei es Natur oder Geist. Im Gegensatz dazu trifft man Menschen, die diese Lüge des bewußten Wortes verschmähen, was einen höchst wohltuenden Eindruck von Wahrhaftigkeit macht, auch dann, wenn sie bewußt lügen, weil sie doch nicht Gott und sich selbst, sondern nur zu irgendeinem Zweck einen anderen belügen; die aber sich nur selten und oft fast gar nicht äußern, anfangs weil die wahre Äußerung ihnen Unannehmlichkeiten zuziehen könnte, schließlich weil kein dringender Antrieb mehr da ist.
Das Nichtäußern ist aber fast ebenso verhängnisvoll wie die selbstbewußte, lügenhaft veränderte Äußerung, weil das zurückgedrängte Wort das Wort ist, durch das wir leben, die Kraft, die uns trägt und erhält.
Erhalte mich durch dein Wort, daß ich lebe. – Ps. 119. 116. Und nimm ja nicht von meinem Munde das Wort der Wahrheit.
Gottes Wort ist das Wort der Wahrheit: es sind die richtigen Vorstellungen, diejenigen nämlich, die dem in der Natur verborgenen Sein, dem wahren Sein, entsprechen. Die Verführung der Eva durch die Schlange macht, daß wir nicht notwendig richtige Vorstellungen haben müssen, sondern auch Wahnvorstellungen haben können, irrige, die weder geworden sind noch werden können. Unser Selbstbewußtsein ist wie eine Brille, durch welche die Weltbilder verschiedenartig gefärbt oder gebrochen und abgelenkt sein können; nur das Kind, der unbewußte Mensch, sieht exakt, entsprechend dem die Natur beseelenden göttlichen Willen. Der Mensch lügt, sowie er nicht mehr ganz unter Gott ist. Solange aber der Mensch gläubig ist, ein Maß anerkennt, ist auch der Lüge ein Ziel gesetzt, so daß sie immer wieder zur Wahrheit ergänzt werden kann. Je mehr aber der Eigenwille und Eigensinn des Menschen zunimmt, desto mehr versteift er sich auf die Richtigkeit seiner selbstbewußten Ansicht und will sich keiner Richtigstellung unterwerfen. Darum spüren alle Menschen die Heiligkeit des Kindes, weil es vollkommen wahr ist; und je mehr die Menschen sich von Gott entfernt haben, je tiefer überrascht und erschüttert sie die Unschuld, die mit winzigem Finger die unzerreißbare Verstrickung von Irrtum und Lüge durchbricht, mit der die Erwachsenen sich umgeben. Wo Kinder oder unbewußte Menschen sind, ist das Paradies der Wahrheit; und mit Recht betrüben sich Eltern über die erste Lüge ihres Kindes, die erste Verführung der Schlange, die dem eigensinnigen Schuldigen neben dem allgemeingültigen ein abgesondertes Weltbild schafft, in dem nur er zu Hause ist, eine Wahnwelt.
... denn da die Kinder Gottes zu den Töchtern der Menschen eingingen, und sie ihnen Kinder gebaren, wurden daraus Gewaltige in der Welt und berühmte Männer. – 1. Mos. 6. 4.
Das heilige Paar, dessen Sohn Jesus war, bestand aus einem Menschen, in dem das Volk Israel vertreten war, einem letzten Sammelpunkte der besonderen Eigenart dieses Volkes, und einer Jungfrau, die des Herren Magd war, einem Kinde Gottes. In Jesus waren dadurch vereinigt ein Charakter, eine starke Willenskraft, ein festes Gewordenes, Gedächtnis mit Phantasie und Liebe, welche die aufgesammelte Kraft für die Menschheit verschwendete. Der Sohn des Menschen wurde durch ein Kind Gottes zu Gott zurückgeführt. Diese elterliche Zusammensetzung finden wir wieder in dem bekannten Reim Goethes, wo er sagt, daß er Statur und Charakter vom Vater habe, die Frohnatur und die Lust zum Fabulieren von der Mutter. Nun aber ist in der Bibel von einer umgekehrten Zusammensetzung die Rede, aus welcher die berühmten Männer und Gewaltigen der Erde hervorgehen, wo der Charakter und die Willenskraft von der Mutter, die Phantasie und Liebe vom Vater stammen. Eine derartige Abkunft scheint bei Napoleon vorzuliegen, dessen Vater ein warmherziger, gutmütiger, schwacher Mann war, dessen Mutter dagegen als höchst tatkräftig, pflichtbewußt, stolz, eine ausgeprägte Persönlichkeit erscheint, in der vermutlich die Essenz des korsischen Inselvolkes zusammengepreßt war. Diese Art der elterlichen Zusammensetzung finden wir auch bei Dickens und Fontane. In diesen beiden Fällen waren die Väter charakterschwach, aber liebevoll, phantasievoll, Herz und Phantasie der Söhne trotz ihrer Schwächen und Fehler magisch beherrschend; die Mütter streng, ehrgeizig, pflichtbewußt, dem Vater vorwurfsvoll feindlich gegenüberstehend, von den Söhnen anerkannt, aber, wenigstens in Fontanes Falle, sicherlich nicht geliebt. Gemäß der unbegrenzten Freiheit und unerschöpflichen Mannigfaltigkeit der Natur gibt es noch wesentliche Unterschiede zwischen diesen Männern; jedenfalls haben offenbar alle einen starken männlich-weiblichen Gegensatz in sich vereinigt, wie er nun auch verteilt war.
Es ist mir nun aufgefallen, daß bei den Eltern einiger Dichter, die geisteskrank wurden, das Unbewußte, die Wurzel des Wesens, womit das Ich-Gefühl verbunden ist, ganz zu fehlen scheint. Hölderlin, Nietzsche, Lenau, C. F. Meyer hatten alle frühverstorbene Väter, von denen die Erinnerung einer beinahe heiligen Güte blieb; die Mütter erscheinen nicht heiter, belebend, erquickend, wie zum Beispiel Goethes Mutter, sondern moralpredigend, drückend, auf Erfolg in der Welt bedacht und um das Urteil der Welt bekümmert. Die Schilderung von C. F. Meyers Vater zeigt einen feinen, zarten, nur am Schreibtisch sich wohlfühlenden Mann, ohne Lebenskraft und Lebenslust, ein erlöschendes Licht. Sehr viel persönliche Eigenart und Bewußtheit scheint diesen Söhnen mitgegeben zu sein, aber keine oder nur sehr schwache natürliche Instinkte und keine göttlichen Impulse, was eine strenge Gewissenhaftigkeit nicht ausschließt. Es ließe sich denken, daß der Gegensatz zwischen den elterlichen Keimen nicht stark genug war, damit sie durch Reibung so miteinander verschmölzen, daß ein neues Leben, ein neues Ich daraus hervorginge, der lebendige Punkt zwischen dem Vergangenen und dem Künftigen. Daher die uns so überaus seltsam anmutende Frage, die C. F. Meyer als Kind an seine Mutter stellte: Wer bin ich eigentlich? Sie erinnert an den bekannten Vers Hölderlins: Ich bin nicht mehr, ich lebe nicht mehr gerne.
Der Fels, auf dem der gesunde Mensch unerschütterlich steht, das Ich bin Ich, wankt unter ihm, weil dem Selbstbewußtsein der Spiegel des Weltbewußtseins fehlt, weil es zu sehr in einen Punkt zugespitzt ist. Wo das Ich-Gefühl, die unbewußte Treue gegen sich selbst, das persönliche Gedächtnis schwach ist, stellt sich zum Ersatz Neigung zum Größenwahn ein und die verhängnisvolle Eigenschaft, willkürlich Richtungen einschlagen zu können, denen keine innere Notwendigkeit entspricht. Mit dieser Wurzellosigkeit hängt eine Sucht zusammen, andere Menschen als Maske zu benützen, um sich hinter ihnen zu verbergen und durch sie zu äußern, da man es unmittelbar nicht vermag. Der Drang, sich mit Überwindung der Hemmung des Selbstbewußtseins zu äußern, ist das Geniale; die Gefahr liegt darin, daß die Liebe nicht groß genug ist, um das zu weit von Gott getrennte Ich wieder mit Gott zu verbinden.
Ich las eben über einen neuentdeckten Stern, wobei die Frage erwogen wurde, ob neue Sterne entstehen können, und auf welche Weise. Es wurde dabei die Möglichkeit angedeutet, daß zwei aneinanderstoßende und aneinander untergehende Sterne mittels der dabei entstehenden Reibung wirklich gleichsam einen neuen Stern erzeugen. Sicher ist es so: aus zwei Sterbenden ersteht ein Neues. Vermutlich kann aber der rechte Augenblick des Sterbens verpaßt werden. Der Mensch hat mit dem Wissendwerden die Neigung bekommen, ewig zu leben; aber gerade durch die Sucht, das Leben zu erhalten, verfällt er dem Tode. Die Verwandtschaft zwischen Genie und Wahnsinn scheint mir darin zu liegen, daß in beiden Fällen eine starke Verdichtung nach der Seite des Selbstbewußtseins hin eingetreten ist; aber im glücklichen Falle kann die Kraft des natürlichen Machttriebs und der göttlichen Liebe die Hemmung durchbrechen, im unglücklichen Falle kann sie es nicht.
Und wenn ich weissagen könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis, und hätte allen Glauben, also daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. – 1. Kor. 13. 2.
Nach seiner Trennung von Wagner schreibt Nietzsche einmal in bezug auf ihn: »Es ist nie zwischen uns ein böses Wort gesprochen worden, auch in meinen Träumen nicht, aber sehr viel ermutigende und heitere, und mit niemandem habe ich vielleicht so viel zusammen gelacht. Das ist nun vorbei – und was nützt es, in manchen Stücken gegen ihn recht zu haben! Als ob damit diese verlorene Sympathie aus dem Gedächtnis gewischt werden könnte!« Liest man das, so schlägt die unwillkürliche Abneigung, die die Verzerrungen seines Größenwahns einflößen, in unsägliches Mitleid um. Wäre er fest bei dieser Erkenntnis geblieben, daß kein Wissen, keine bessere Einsicht gut sein kann, die den Menschen von den Menschen abtrennt! Wahre Erkenntnis ist nur solche, die die Liebe zu den Menschen vermehrt. Alle die Einsichten und Inspirationen, die Nietzsche teils hatte, teils zu haben glaubte, trugen ihm vorübergehende Entzückungen ein durch den Selbstgenuß, den sie ihm verschafften; aber weit mehr Qualen der Einsamkeit durch den Abstand, den er dadurch zwischen sich und allen anderen Menschen geschaffen wähnte. Er suchte sich zu trösten, indem er sich einredete, Einsamkeit sei ein Beweis von Genie; inzwischen ging er unter entsetzlichen Leiden daran zugrunde.
Allen geistig Kranken ist ein Grundmangel gemeinsam, der mit dem Größenwahn zusammenhängt, der Mangel an Liebe. Der Geisteskranke ist der Liebeskranke in dem Sinne, daß ihm die Kraft der Liebe, das Band der Vollkommenheit, fehlt, weil er auf sich selbst beschränkt ist. Die Unfähigkeit, etwas außer sich selbst zu lieben, ist Abtrennung von der Welt, der anderen, schöneren Hälfte des Ich. Die Selbstliebe zeigt sich darin, daß nur solche Personen des anderen Geschlechts mit ausschließender Leidenschaft geliebt werden, die dem eigenen Selbst nahverwandt und von ihm abhängig sind. So hatten Nietzsche und C. F. Meyer eine Anhänglichkeit an ihre treuen, unbedingt ergebenen Schwestern, die hindernd zwischen ihnen und anderen Frauen stand; im Grunde ist eine Ehescheu vorhanden, weil der Wille nicht imstande ist, ein anderes Ideal zu ergreifen, das vom Throne und zugleich Marterpfahl des eigenen Ich ablenkte. Die Zeugungskraft, die den natürlichen Mann zur Liebe und zum Opfer erzieht, ist bei dem Sohne des schwachen Vaters schwach und nicht durch göttliche Liebe ersetzt; er will nicht durch die Familie, womöglich auch nicht durch einen Beruf gebunden sein und schließlich auch nicht durch Gott, sondern nur durch sich selbst und Aufgaben, die er sich selbst gesetzt hat. Burckhardt schrieb einmal an Nietzsche über eins von dessen Büchern, es vermehre die Unabhängigkeit in der Welt, und der selbst sehr unabhängigkeitsliebende Burckhardt hatte dies jedenfalls als Lob gemeint, das er augenscheinlich froh war, ehrlicherweise äußern zu können. Man sieht aber den Unterschied zwischen den beiden Männern an der Art, wie Burckhardt sich durch den Beruf, durch die Liebe zu seinen, ihm durch den Beruf gegebenen Schülern binden ließ.
Über sein ödes, widerspenstiges Herz klagte C. F. Meyer, und es ist nicht zu leugnen, daß selbst in den Briefen an seine Schwester eine unbehagliche Gefühlsleere herrscht. In den Schilderungen Adolf Freys, Meyers getreuem Biographen, spürt man deutlich den Nichtsfühlenden, der sich sehnsüchtig am Feuer des anderen wärmt, aber stets vom Mißtrauen gestört wird und sich eigentlich wie eine Larve, ein Gespenst zwischen Lebendigen bewegt, immer besorgt, ob er seine Rolle als Mensch unter Menschen auch gut genug spiele, daß man ihm nicht hinter das Todsein kommt. Nietzsche hat geradezu gesagt, daß er im Verkehre mit Menschen beständig Komödie spiele. Ein starkes, unbewußtes Ich, das sich schlechtweg äußert, wie es muß, hatte er nicht; was er aber in seiner Vorstellung war, der Herrscher, das wagte er nicht zu zeigen, weil er im Grunde wußte, daß diese Vorstellung nicht mit seiner Natur übereinstimmte, also Lüge war.
Dieselbe Schattenhaftigkeit mutet in den Briefen Meyers, Hölderlins, Nietzsches, Lenaus so fadenscheinig an. Wahr und ergreifend ist nur die Klage des Einsamseins und die Sehnsucht nach Liebe. Der Brief des sechzehnjährigen Knaben Hölderlin an den Diakonus Köstlin stellt den Zustand seiner Seele in schneidende Helligkeit, die den Menschen nur noch verachten oder denn ein willkürlich von ihnen vorgestelltes Trugbild anschwärmen kann, eine vom Bewußtsein ausgehende, nicht aus dem Herzen strömende Empfindung. »Etliche Betrachtungen, insonderheit seit ich wieder von Nürtingen hier bin, brachten mich auf den Gedanken, wie man durch Klugheit in seinem Betragen Gefälligkeit und Religion verbinden könne. Es wollte mir nie recht gelingen, immer wankte ich hin und her. Bald hatte ich viele gute Rührungen, die vermutlich von meiner Empfindsamkeit herrührten, und also nur desto unbeständiger waren. Es ist wahr, ich glaubte, jetzt wäre ich der rechte Christ, alles war in mir Vergnügen, und insonderheit die Natur machte in solchen Augenblicken (denn viel länger dauerte das Vergnügen selten) einen außerordentlich lebhaften Eindruck auf mein Herz; aber ich konnte niemand um mich leiden, wollte immer einsam sein und schien gleichsam die Menschheit zu verachten, und der kleinste Umstand jagte mein Herz aus sich heraus, und dann wurde ich nur desto leichtsinniger. Wollte ich klug sein, so wurde mein Herz tückisch, und die kleinste Beleidigung schien es zu überzeugen, wie die Menschen so sehr böse, so teuflisch seien, und wie man sich vor ihnen vorsehen, wie man die geringste Vertraulichkeit mit ihnen meiden müsse; wollte ich hingegen diesem menschenfeindlichen Wesen entgegenarbeiten, so bestrebte ich mich, vor den Menschen zu gefallen, aber nicht vor Gott.« Das heißt, so war ich äußerlich liebevoll, aber nicht innerlich, also ich verstellte mich und log. Schiller scheint für Hölderlin gewesen zu sein, was Nietzsche Richard Wagner gewesen war; solange sie diese höhere Kraft verehrten, waren sie gesund. Hält man sich an die Tatsachen, so scheint es fast, als habe Schiller den unglücklichen Hölderlin etwas unduldsam abgestreift, ähnlich wie Goethe Kleist. Aber haben nicht die beiden großen Dichter vielleicht etwas Unwahres, eine versteckte Herrschsucht in der ungestümen Verehrung empfunden, die ihnen entgegengebracht wurde? Suchten jene wirklich Mittler zu Gott und nicht sich selbst? Für Luther war Staupitz der Mittler; aber da Luther wirklich durch ihn die Macht der Liebe ergriff, hörte er nie auf, trotz der tatsächlichen Trennung, Staupitz zu lieben.
Schmerzlich ist es, das Absterben der Liebe bei Nietzsche zu verfolgen, die er selbst als zunehmende Vereisung seines Inneren deutlich empfindet, und die mit einem ihn ermüdenden Komödiespielen den Menschen gegenüber, so wie Hölderlin es schildert, verbunden ist und mit zunehmendem Größenwahn oder Selbstvergötterung. »Unsereins«, schreibt er 1885, »läuft der Wahrheit und solchen anderen blassen Schönheiten nach, und schließlich, wenn man es weit bringt, bringt man es so weit, bei dieser Leidenschaft daran zu zweifeln, ob man noch imstande ist, irgendeinen Menschen recht aus letztem Herzensgrunde zu lieben.« Im Jahre 1887, ein Jahr also vor dem Ausbruch der Krankheit: »Sonderbar: aber es scheint mir, daß in den letzten Jahren mein Mißtrauen dergestalt überhand genommen hat, daß es wie eine Krankheit ist. Auch wird mir Jahr für Jahr schwerer; und die schlimmsten und schmerzhaftesten Zeiten erscheinen mir nicht so drückend und hoffnungsarm nie meine jetzige Gegenwart.« Der Unselige, der in der Qual des Unglaubens den jasagenden, also den gläubigen Typus vor sich hinstellte, ging in der Hölle der Verneinung unter.
Und Gott der Herr sprach: es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. – 1. Mos. 2. 18.
Die Spaltung des Menschen in Mann und Weib zeigt schon an, daß der Mensch kein für sich allein bestehendes Wesen ist; er ist nur, was er sein soll, in Gemeinschaft mit anderen, er ist zur Liebe geschaffen. Unsere Sinnlichkeit ist die Brücke von uns zu anderen; schon darum ist sie geheiligt. Die Liebe zwischen Mann und Weib, die am meisten sinnliche und selbstsüchtige unter allen Arten der Liebe, ist zugleich der Ausgangspunkt der Kinder-, Geschwister- und Elternliebe, derjenigen natürlichen Liebe, die am meisten der göttlichen verwandt ist und zu ihr überleitet. Der natürliche Mensch ist eben durch seine Sinnlichkeit gesellig und nach Gemeinschaft strebend; die Abstumpfung der Sinnlichkeit, Stummheit und Taubheit, mangelhaft entwickelter Geschlechtssinn entfernt ihn von den Menschen.
So sehr aber die Familie Ausgangspunkt der Liebe und menschlichen Gemeinschaft ist und sein soll, so notwendig ist es doch, daß die Familie ihren Kreis öffnet und in weiteren Kreisen weitere Gemeinschaft sucht.
In der Mutterliebe des Säugetieres tritt der erste Impuls auf, der das Geschöpf antreibt, sich für ein anderes zu opfern, ein Trieb, der dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb entgegenwirkt und ihn überwindet. Dieser Trieb, der in der Mutterliebe mit einem Naturtrieb verbunden ist, so daß die Natur sich an dieser Stelle gleichsam umkehrt und sich selbst schneidet, erscheint in der Menschheit auch losgelöst von der Natur. Bei der Mutter gründet er sich auf Blutsverwandtschaft: wenn die Mutter sich für ihr Kind opfert, opfert sie sich für ihr eigenes Fleisch und Blut. Er kann aber, wie gesagt, ohne daß Blutsverwandtschaft vorhanden ist, übertragen werden auf jede Kreatur, die der helfenden Liebe bedarf, und in diesem Falle sprechen wir von göttlicher Liebe im Gegensatz zu natürlicher. Im Grunde freilich entbehrt auch die göttliche Liebe nicht der natürlichen Grundlage, da ja Verwandtschaft zwischen allen Geschöpfen besteht, nur nicht die engere der Familie. Man sieht, wie durch die Blutsverwandtschaft, auf der die Familie beruht, das Geschöpf zur Liebe erzogen wird, wie aber andrerseits durch die Blutsverwandtschaft das Individuum doch wieder auf sich selbst beschränkt wird, so daß sie eine Hemmung für die göttliche Liebe bedeutet. Das Charakteristische der göttlichen Liebe ist also, daß sie das Selbst erweitert. Sowie das Familienselbstgefühl entstanden ist, muß auch dieses zu einer größeren Gemeinschaft erweitert werden, schließlich auch das Volksgefühl zum Menschheitsgefühl.
Wir sehen oft Frauen, die für ihren Mann und für ihre Kinder die größten Opfer zu bringen bereit wären, von erschreckender Kälte aber gegen alle Menschen sind, die außerhalb dieses engen Kreises stehen: die Liebe ist zum Egoismus geworden. Jeder Kreis, der sich schließt, muß als abgesondert erstarren. So ehrwürdig Familiensinn ist, so lächerlich ist Familienstolz, was jedem klar wird, der nicht seine eigene, sondern eine fremde Familie betrachtet. Gerade die Liebe nun öffnet den Kreis der Familie immer wieder durch Verbindung mit anderen Familien; wo das aber nicht mehr körperlich durch die natürliche Liebe geschieht, müßte es um so mehr durch die göttliche Liebe geschehen. Bedarf der Verheiratete schon der Beziehungen über den Kreis der Familie hinaus, so der Unverheiratete noch viel mehr. Wir finden deshalb bei gewissen großen Heiligen ein ausdrückliches Lossagen von der Familie, wie bei Franz von Assisi. Die bekannten strengen Worte Christi an seine Mutter werden auch so zu erklären sein.
Nietzsche besaß einen außerordentlichen Familienhochmut, obwohl er nicht mit seiner Familie zusammenleben konnte. Er brachte es nicht zu einer Verbindung mit einer anderen Familie durch Heirat, hatte aber zunächst ein starkes Freundschaftsbedürfnis. Dies bewahrte ihn längere Zeit vor der absoluten Selbstbeherrschung und Selbstverzehrung, zu der ihn seine versteckte Herrschsucht doch heimlich hintrieb. Er wollte nur unter sich selbst stehen, was kein Mensch kann. Der auf den natürlichen Instinkt gegründeten Liebe kann nur der ohne Schaden entbehren, der von den Impulsen der göttlichen Liebe getragen wird; diese entspringen aber im Menschen aus der natürlichen.
Da ward Jesus vom Geist in die Wüste geführt, auf daß er von dem Teufel versucht würde. – Matthäus 4. 1. – Weh dem, der allein ist. – Prediger 4. 10.
Auch Luther wurde vom Geist in die Einsamkeit des Klosters geführt, um vom Teufel versucht zu werden; und es gibt wohl keinen Menschen, der zum Bewußtsein seiner selbst gelangt wäre und die Versuchung der Einsamkeit nicht kennte. Das Kind sucht immer Gesellschaft; man fängt erst an, die Einsamkeit zu lieben, wenn man an seinem Ich eine Unterhaltung in seinem Inneren findet. Ich will jetzt nicht von denjenigen sprechen, die allein sein wollen oder müssen, um irgendeine Arbeit zu verrichten, bei der die Gegenwart anderer sie stört, die sich also in einen außer ihnen liegenden Gegenstand versenken; sondern von denen, die die Menschen fliehen, um mit sich allein zu sein. Nur dies ist die wahre innerlich begründete Einsamkeit, denn sie gründet sich auf den Haß und die Verachtung der Menschen einerseits und den Stolz und die Selbstanbetung andrerseits. Je göttlicher ein Mensch ist, desto leichter könnte man begreifen, wenn er die Einsamkeit suchte und sich von den Menschen absonderte; aber gerade Gott ist nie allein, sondern ergießt sich immerwährend aus Liebe in die Welt. »Siehe,« heißt es im Buch Hiob, »Gott ist mächtig und verachtet doch niemand; er ist mächtig von Kraft des Herzens.« Aber selbst Jesus war nicht Gott selbst und wurde in der Einsamkeit versucht. Nietzsche ist der Versuchung erlegen, und es ist sehr belehrend, zu verfolgen, wie er an diesem Problem sich wundringt und endlich daran zugrunde geht. Schneidend dringt die Klage über sein Einsamsein aus allen seinen Briefen; gleichzeitig aber wehrt er sich leidenschaftlich gegen das Aufgeben dieser Einsamkeit, die allein ihm ermöglicht, den Wahn seiner Größe zu bewahren. Der Gedanke, daß das Genie notwendig einsam sei und daß Sicheinsamfühlen Beweis von Genie sei, wird ihm zum Rauschgift, das ihn über die Unerträglichkeit seines unnatürlichen Zustandes wegträgt.
Im Zusammensein mit anderen Menschen verdroß ihn, wie seine Schwester erzählt, weniger ihr Nichtverstehen, als wenn sie gleicher Ansicht mit ihm zu sein behaupteten; er wollte keine Menschen, die den Anspruch erhoben, etwas von ihm zu verstehen, weil sie dadurch bis zu einem gewissen Grade seinesgleichen geworden wären. Er erklärte sich für unbesiegbar, so wie er keinen Feind als sich selber oder unpersönliche Feinde habe. »Meine Feinde«, schreibt er stolz, »sind das Christentum, die Moral, die ›Wahrheit‹ ... Habe ich kein Recht, stolz auf diese Feinde zu sein?« Was aber sind Christentum und Moral, wenn es nicht durch Personen vertreten wird? Bequeme Feinde allerdings. Einem persönlichen Gegner gegenüber hatte Nietzsche so wenig Mut, daß er, als Richard Wagner ihm zutraulich von seinen Parsifalplänen erzählte, seinen Widerspruch verschluckte, nichts entgegnete, sich schweigend von dem einst Verehrten zurückzog, um seine Entgegnung in einem Buche zu veröffentlichen, das er am liebsten anonym herausgegeben hätte.
Die Trennung von Wagner fiel in das Jahr 1876. An die Stelle dieses Gottes, des einzigen Menschen, den er noch verehrt hatte, setzte er bewußt sich selbst. Er kündigte seinen Freunden an, daß er ihnen keine Briefe mehr schreiben könne, da er einem Amt und einer Aufgabe zu leben habe, das Leben eines Greises und Einsiedlers führen müsse. Auch erzählt seine Schwester, daß sie einen müden, gealterten Mann in ihm fand, als sie ihn im Jahre 79 nach längerer Trennung wiedersah. Bei dieser freiwilligen Selbstverbannung von den Menschen hatte er immer »eine Art schlechten Gewissens«; aber er legte sich das zu seinen Gunsten aus und setzte seinen Stolz hinein, diese anklagende Stimme zu unterdrücken. Es ist quälend, zu sehen, wie er stets bitterer unter der gewollten, zunehmenden Vereinsamung leidet und sich doch immer mehr hinein verbeißt. Im Jahre 1883 schreibt er: »Sobald ich jetzt sagen muß: ›ich halte die Einsamkeit nicht mehr aus‹, so empfinde ich eine unsägliche Erniedrigung vor mir selber, so bin ich dem Höchsten, was in mir ist, abtrünnig geworden.« Ende 1885 schreibt er seiner Schwester: »Sieben Jahre Einsamkeit sind nunmehr vorbei, im Grunde bin ich ganz und gar nicht für Einsamkeit gemacht, und es begegnet mir jetzt, wo ich nicht mehr absehe, wie ich sie los werde, beinahe alle Wochen ein so plötzlicher Lebensüberdruß, daß es mich krank macht.« 1886: »Verschaff mir einen kleinen Kreis Menschen, die mich hören und verstehen wollen – und ich bin gesund!« Kurz vor dem Ausbruch seiner Krankheit dichtet er die erschütternde Klage:
Zehn Jahre dahin – Und kein Tropfen erreichte dich? Kein feuchter Wind? kein Tau der Liebe?
An der bekannten Geschichte der taubstummen und blinden Helen Keller sehen wir, wie Liebe aus angeborener Geistesnacht die fehlenden, ins Licht führenden, mit der Menschheit verbindenden Brücken ersetzt und so eine Seele rettet; bei Nietzsche, wie eine reichgeborene Seele aus Stolz die Brücken abreißt und sich selbstmörderisch in ewige Finsternis stürzt.
Nietzsches Freund, Erwin Rhode, hat einmal gesagt: »Das war eben der Gegensatz zwischen Wagner und Nietzsche. Nietzsche hatte gar keine Veranlassung, sich nach Erlösung zu sehnen; ich wüßte auch nicht, von was, er war ja unglaubwürdig gut.« Fast alle, die mit Nietzsche in persönliche Berührung kamen, schildern ihn wie einen Heiligen. Vergleicht man damit die Äußerungen von Selbstvergötterung, die ihm oft schriftlich entschlüpften, die sich zuweilen bis zum Fratzenhaften, Widerwärtigen und Lächerlichen steigerten, seine unwillkürliche Abneigung gegen alle Menschen, die er als selbständige Individualitäten empfand, so stößt man auf einen inneren Widerspruch in seiner Person. Offenbar hatte er einen außergewöhnlich starken Machttrieb, war aber nicht imstande, ihn zu äußern, außer dadurch, daß er sich versteckte. Nicht umsonst erzählt seine Schwester, Nietzsche habe so besonders gut nach Basel gepaßt, der Stadt, wo niemand zu äußern wagt, was nicht mit einer bestimmten moralischen Konvention übereinstimmt. Er klagte selbst, daß alles, was er äußere, bei ihm nur Vordergrund sei, daß sein Eigenstes, sein Allerinnerstes niemandem bekannt sei.
Welches war denn nun das Allerinnerste? War es die hingebende Liebe, der Drang, sich aufzuopfern, diese an Heiligkeit streifende Selbstlosigkeit, die Erwin Rhode an ihm hervorhob und die er selbst von sich betonte, sowie jemand ihn als egoistisch bezeichnen wollte? Oder war es der Machtwille, der unleugbar in ihm versteckt war? Sein letztes Wort war, daß er sich selbst den Gekreuzigten nannte; seltsam verrät sich darin, daß er sich selbst als den Gottmenschen bezeichnete, seine Herrschsucht; und doch, kann man im Namen des Gekreuzigten etwas anderes tun als kämpfen und sterben aus Liebe? Gerade alles das, was Nietzsche durchaus teils nicht konnte, teils nicht wollte? Nietzsches Schwester erzählt, man habe sie öfters gefragt, welche Art Musik sich Nietzsche eigentlich gewünscht habe? Denn er stellt bald Mozart, Bach, Händel, in einem Worte klassische, geformte Musik als das Höchste hin, bald wieder gerät er in Entzückung über Wagner, den er doch so laut und ausdrücklich verdammte. »Ich suche heute noch nach einem Werke von gleich gefährlicher Faszination, von einer gleich schauerlichen und süßen Unendlichkeit, wie der Tristan ist, ich suche in allen Künsten vergebens.« Ja, er bekennt, daß er als Knabe ganz diese Art Musik gemacht habe, daß eine von ihm komponierte Musik, der Tod der Könige, ganz parsifalesk sei, die Identität von Stimmung und Ausdruck sei märchenhaft. Er sei sich mit einer Art von Schrecken bewußt geworden, wie nahe verwandt er eigentlich mit Wagner sei. Damit, setzt er hinzu, wolle er den Parsifal nicht gelobt haben. »Welche plötzliche Dekadenz! und welcher Cagliostrizismus! und welche Tragik!« Nietzsche war sich bewußt, daß die Wagnersche Musik ein Gift und eine Dekadenz-Musik sei. »Die Welt ist arm für den, der niemals krank genug für diese ›Wollust der Hölle‹ gewesen ist,« schreibt er stolz; aber an anderer Stelle: »Um dieser Schrift gerecht zu werden, muß man am Schicksal der Musik wie an einer offenen Wunde leiden. Woran ich leide, wenn ich am Schicksal der Musik leide? Daran, daß die Musik um ihren weltverklärenden, jasagenden Charakter gebracht worden ist, daß sie Dekadenz-Musik und nicht mehr die Flöte des Dionysos ist.«
Man muß gestehen, daß Dr. Rée, was für ein Mensch er auch gewesen sein mag, recht hatte, wenn er sagte: Nietzsche sei verrückt, er wisse nicht, was er wolle. Er liebte sich selbst und haßte sich selbst in Richard Wagner. Er verachtete Wagners Verlogenheit, der im Grunde ein Weltmensch war, auf Geld und Erfolg gerichtet und davon abhängig. Aber war er denn nicht so? Diese wohl von der Mutter ererbte Richtung suchte er in sich zu überwinden, nicht minder aber die vom Vater übertragene, seine eigentliche Wurzel, nach der er, wie es scheint, ein weichherziger, mitleidiger Mensch war.
War es denn wirklich Einsamkeit, was Nietzsche wollte? Nein, er wollte »Macht und Einsamkeit«, oder sein Machttrieb war selbstbewußt geworden. Er wollte von einem gesicherten Platz aus die Menschen beherrschen, etwa wie Philipp II. aus einem kleinen Kabinett und vom Schreibtisch aus, unpersönlich, ohne mit ihnen in Wechselbeziehung zu stehen. Kämpfen wollte und konnte er nicht, er war im persönlichen Umgang feige. Dagegen konnte er sowohl Bewunderung wie Mitleid fühlen; das aber verbot er sich in schmerzlichen Selbstüberwindungen. Andrerseits geht aus seinem Brief, an Lou Salomé hervor, daß er nichts mehr verabscheute als Selbstsucht, auch wenn sie naiv war. Es scheint, daß er die allerverfeinertste Selbstsucht hatte, sich selbst als Ideal zu wollen; aber worin kann das Vollkommene bestehen außer in der Wechselwirkung mit Menschen, mit dem Volke? Jedenfalls wußte Nietzsche nicht, was er wollte, und setzte sich deshalb selbst ein Wollen, das bloße Willkür war, nicht aus seiner Natur wuchs. Dieser Mangel an innerer Notwendigkeit, an einer bestimmt gegebenen Willensrichtung, fällt auch an C. F. Meyer und an Hölderlin auf.
»Man muß glauben,« schrieb C. F. Meyer an seine Schwester, »unser Charakter gestalte unser Schicksal, oder richtiger: unser Schicksal sei auf unseren Charakter berechnet. Weisheit wäre dann: ein freiwilliges Eingehen und womöglich ein selbständiges Ergreifen unseres notwendigen Loses und ein Ruhenlassen streitiger Punkte, bis wir wissen, ob oder ob nicht sie in der Linie unseres Lebens liegen.« Man sieht, da ist kein starker angeborener Trieb, der dem Leben die Richtung gibt. Der feste Wille eines Vaters hätte vielleicht Ersatz dafür gegeben; aber es fragt sich, ob in solchen Fällen ein starker väterlicher Wille vorhanden ist, auch wenn der Vater lebte, und ob das »widerspenstige Herz«, dem das Neinsagen im Blute liegt, sich dem übergeordneten Willen beugen würde. Das Wahrscheinliche ist, daß in allen solchen Fällen eine vernünftige elterliche Macht, eine Stellvertretung Gottes, nicht vorhanden ist, indem der gesunde Machttrieb durch Gesellschaft und Konvention verkleidet ist, die Liebe aber durch die weltliche Gesinnung, zu der ich auch das Pflichtgefühl rechne, gebunden ist. Naiver Lebenswille ist nicht mehr da, aber ebensowenig der Wille zum Opfer.
Suchet, so werdet ihr finden, klopfet an, so wird euch aufgetan.
Der naive Mensch, der unter Gott steht, findet eben deshalb seinen Weg von selbst: der in ihm verborgene Wille, der sich offenbaren will, treibt ihn so, wie es seinem Zweck entspricht. Die Willkür aber, das Selbstwollen und Selbstdenken, ist wie eine Mauer um diesen Willen, und je mehr er eingeschlossen ist, desto inständiger drängt der beklemmte Geist nach Befreiung. Seine Flügel schlagen an die Wände des Gefängnisses, versuchen hier und dort es zu sprengen. Mit wunderbarer Klarheit läßt sich dieser innere Vorgang in gelegentlichen Äußerungen C. F. Meyers verfolgen. »Und wie es nichts Niederschlagenderes gibt, auf sittlichem und geistigem Boden, als das Bewußtsein des Stillstehens, das heißt des Rückschreitens, so nichts Belebenderes als dasjenige eines namhaften Fortschritts, der uns dann als plötzlich und übernatürlich erscheint, obgleich er auf vielen, augenscheinlich vergeblichen Anstrengungen ruht. Wir sehen die Tür aufspringen und vergessen, wie lange wir daran gerüttelt haben.« Er hoffe durchzudringen, schreibt er einmal, wenn auch mit viel Schweiß; von den Qualen, die dieser seelische Befreiungskampf kostet, spricht er mit Schrecken. »Ich bin ganz durchdrungen«, schreibt er aufatmend in besserer Zeit, »von dem Gefühl, meiner Individualität endlich einmal ihren freien und natürlichen Wuchs zu gönnen nach allen den erbärmlichen Spalieren, an denen sie sich hingewunden hat ... Ich habe nun das Ruder ergriffen und das Ziel im Auge; es gilt, mein letztes Teilchen Kraft anzustrengen ... Andrerseits hat sich doch in der Drangsal ein Wille gebildet. Ich habe oft eine Ruhe, wo ich deutlich sehe, was mir frommt, und wie ich es nach und nach ergreife, wie aller Einfluß uns nicht entwickeln kann. Ich erstaune über das Gezwungene und Gewalttätige meiner Vergangenheit und will die Sachen künftig natürlich nehmen und meinen Willen brauchen, wo es recht ist, und meine Natur walten lassen, wo sie darf.« Instinktlos hatte er das fast Unmögliche unternommen, den verlorenen Instinkt wiederzufinden, denkend naiv zu werden: »Wie ist nun unser Weg annähernd zu erraten? Durch stete scharfe Vergegenwärtigung alles Verflossenen, ohne das Spiel der Phantasie und Hinhorchen auf unsere Herzenswünsche, wo dann in gewissen hellen Stunden, mehr durch ein Verschwinden alles Unmöglichen, als ein positives Erraten, aus den gegebenen Linien unseres Lebens das Weitere sich zu bilden und die Figur sich zu schließen scheint.«
War auch C. F. Meyer kein großer, kein klassischer Dichter, unsterbliche Gedichte hat er im heroischen Kampfe Gott abgerungen.
Dieselbe Gewalttätigkeit und Willkür, die C. F. Meyer in sich fand, fällt an Nietzsche auf; sie war offenbar ein Familienmerkmal. Seine Schwester erzählt, daß sie sich wohl für die Ansichten ihres Bruders entschieden hätte, wenn nicht dadurch ihr Vermittleramt zwischen ihrer Mutter und ihm erschwert wäre; darum sei sie »vorderhand bei ihren veralteten Ansichten geblieben«. Sie dachte also nicht, was sie mußte, sondern was sie wollte. In noch viel höherem Maße hemmte in Nietzsche selbst Willkür die natürliche Entwicklung. Er machte dieselbe schwere, langsame, qualvolle Entwicklung durch wie C. F. Meyer, auch er litt unter dem dunklen Gefühl des seelischen Gefangenseins: »es ist, als ob das Dasein mir zu eng wäre, und als ob ich ein neues entdecken oder schaffen müßte. Ich brauche Raum, eine sehr große, weite, unbekannte, unentdeckte Welt, es ekelt mich sonst.« Es war die Welt überhaupt, zu der er einen Ausgang suchte aus dem Käfig der von Gott-Natur abgeschnürten persönlichen Besonderheit. »Mitunter«, schreibt er einem Freunde, »läuft mir die Ahnung durch den Kopf, daß ich eigentlich ein höchst gefährliches Leben lebe, denn ich gehöre zu den Maschinen, welche zerspringen können!« Dasselbe Bild gebrauchend, nennt er das Genie eine unter höchstem Druck arbeitende Maschine. Es ist der Druck, den das Selbstbewußtsein auf den göttlichen Geist ausübt, der frei sein will, und dessen stets wachsender Drang sich nicht eher äußern kann, bis er dies Selbstbewußtsein, das in gleichem Maße seinen Druck vermehrt, gesprengt hat. Dem »Gesegneten des Herrn« ist durch das Unbewußtsein des Vaters oder die Gläubigkeit der Mutter ein natürliches Ventil gegeben, während die anderen sich an der geschlossenen Mauer blutig reißen, um eine Spalte zu öffnen.
Gott will, sagt Luther, daß wir Vieles und Großes von ihm erbitten; der Funken will aus dem Stein herausgeschlagen werden. Gott ist in der innersten Tiefe verborgen, die kein sichtbares Tor hat; keine Gewalt öffnet den Felsen; aber er tut sich von selbst auf, wenn das rechte Zauberwort gesprochen wird. Seinen Freunden gibt er es schlafend. Verfolgt man Nietzsches innere Entwicklung, so hat es etwas Erschreckendes, zu sehen, wie die Willkür, von der er sich befreien will, wenn es ihm eben gelungen ist, desto gewalttätiger zurückkehrt. Der Teufel, der vertrieben war, kehrt mit sieben anderen in die geputzte Wohnung zurück. Seine Trennung von Richard Wagner, sein Entschluß, ein großer Einsamer zu sein, waren vollständig willkürliche Akte, selbstgesetzte, in seiner Natur durchaus nicht begründete Ziele. Nach jeder Entladung nahm der Druck der Maschine zu, anstatt vermindert zu sein. Das willkürlich erweiterte Denkfeld wurde immer enger, bis nur noch das persönliche Ich darin war, ein Ausschnitt, der, von dem Augenblick an, wo er nicht mehr Teil eines Ganzen sein wollte, wie eine von der Wurzel abgeschnittene Blume verdorren mußte.
Das Ideal des Herrenmenschen, der blonden Bestie, des Renaissancemenschen, kurz, des naiven, wachsenden Menschen, welches Burckhardt zuerst aufstellte, und welches von Nietzsche und C. F. Meyer begeistert ergriffen wurde, ist das Ideal sterbender Menschen, die nicht mehr handeln wollen, um bei sich selbst zu sein, in einer heuchlerischen Zeit. Denn sie stirbt ja, weil sie sich verhinderte, die Triebe zu äußern und deshalb erstarrte. Einem wilden, jungen Volke, das ungebändigt seinem egoistischen Wachstumstriebe folgt, schwebt das göttliche Ideal vor, das Bild des Gottmenschen; einem infolge von Zivilisation und Moral geschwächten und kränkelnden Volke das Bild des Tiermenschen, des natürlich ungehemmt sich äußernden. Denn die Phantasie wirkt ergänzend und sucht das Bild des Menschen, der vollkommen, allseitig sein soll, nach oben oder nach unten auszufüllen. Nun ist es klar, daß ein Werdegang der natürliche ist: die Verklärung des Tieres zum Gott; daß der umgekehrte, die Rückverwandlung des Gottes zum Tier, der verkehrte ist. Indessen ist es ja nicht so; wird die Verwandlung des Tiermenschen zum Gottmenschen vollendet, so löst der Mensch sich auf; denn der Gottmensch ist der freiwillig Sterbende. Nicht der Gottmensch, sondern der denaturierte Mensch, die von Gott-Natur abgewendete zivilisierte Gesellschaft, die nicht leben und nicht sterben kann, sehnt sich zur Natur zurück und hält fälschlich die Natur, welche doch der Ausgangspunkt ist, für das Ziel. Sie möchte wieder wachsen, bevor ihr Wuchs im Tode vollendet ist, wieder jung werden, ohne durch den Schacht des Sterbens hindurchgegangen zu sein. Der nicht mehr Tatmensch ist, verwechselt Herrschsucht mit Tatendrang.
Es ist aber notwendig, daß in einem absterbenden Volke das Ideal des jungen Volkes, des Naturmenschen, sich bildet; denn bevor das nicht geschehen ist, kann ein absterbendes Volk nicht in einem jungen aufgehen. Wäre im alten Römerreiche nicht das Ideal der naiven Jugend lebendig gewesen, so hätten sich die Römer nicht mit den einwandernden jungen Germanen vermischen und fortpflanzen und neue Völker erzeugen können. Denn die Vermischung zweier verschiedener Wesen kann nur entwicklungsfähige Frucht tragen, wenn das Sterbende im Willen des Werdenden sein Ideal verwirklicht findet.
In einer Inhaltsangabe zum »Fall Wagner« schreibt Nietzsche:
»Aufsteigendes Leben – Herrenmoral – klassische Kunst.
Absteigendes Leben – christliche Moral – Dekadenz – Kunst.
Der moderne Mensch hat beide entgegengesetzte Moralen in sich; er ist physiologisch ein Widerspruch; er ist ›falsch‹, schielend.«
Dies ist folgendermaßen richtigzustellen:
Aufsteigendes Leben – Tatendrang – Glaube an den Herrn, der wachsen läßt – Heidnisch-klassische Kunst.
Absteigendes Leben – Sterbensdrang, Opfer aus Liebe – Christlich-klassische Kunst – Glaube an den Herrn, der sterben und auferstehen läßt.
Vollkommen richtig aber ist die Einteilung als Charakteristik von Nietzsches Zeit und ihm selbst. Er war tatsächlich ein Sterbender, aber kein freiwillig Sterbender; vielmehr wollte er ein Wachsender, ein naiver Egoist sein. Sein Verständnis für das Naive war indessen so gering, daß es in seiner Vorstellung immer etwas Selbstgefälliges, Edles, Schöngedachtes bekommt, so daß sein Herrenmensch dem marlittisch Gartenlaubenhaften nicht entgeht, das den Helden Wagners nach seiner eigenen treffenden Bezeichnung anhaftet.
Da man zweien Herren nun einmal nicht dienen kann, kommen die meisten modernen Menschen dazu, leicht schielend dem Mammon zu dienen, und so tat auch Richard Wagner. Nietzsche verbot sich das aus Stolz, und da er ein Gläubiger, das sage ich lieber als Idealist, doch nun auch nicht war, wurde er ein Selbstherrscher, nur von sich selbst abhängig, und damit geisteskrank.
Sturm erhebt sich, sobald Christus das Boot betritt; er wußte, daß er den Bruder gegen den Bruder, die Tochter gegen die Mutter erregte, und wollte das, er wußte, daß die Welt ihn haßte, weil er von ihr zeugte, daß ihre Werke böse seien. Wenn einer das Gute tut und die Wahrheit ausspricht, scheiden sich die Guten von den Bösen und die Lügner von den Frommen, und das ist auch, was Nietzsche anstrebte. Es soll nicht verkannt werden, wieviel Heroisches und Großes aus seinen Schriften sprüht, sobald er seinen Widerwillen gegen die Heuchelei der modernen Zivilisation äußert. Es ist unverkennbar, daß die Persönlichkeit des Erlösers ihn viel beschäftigte, und daß er sich im tiefsten Innern des Zusammenhangs mit seiner Lehre bewußt war. Aber ein wesentlicher Unterschied bestand: Christus entlarvte die Heuchelei als Maske über dem Egoismus und entfesselte die Liebe; Nietzsche entlarvte gleichfalls die Heuchelei, bestätigte aber den Egoismus, als sei dieser an sich etwas Gutes. Auch Christus zog den Sünder der verderbten, verlogenen moralischen Gesellschaft vor, aber er bekehrte die Sünder; hätte Nietzsche das getan, so hätte es ihm an Jüngern nicht gefehlt, aber er wäre nur ein Jünger Christi gewesen, nicht der Einzige. Man kann sich darüber nicht schöner äußern, als Nietzsches Freund Erwin Rohde tat mit den Worten: »Ich finde alle solche Betrachtungen, welche den Menschen, gleich anderen Tieren, als ein rein auf sich angewiesenes, an sich einzig nicht nur denkendes, sondern zu denken berufenes Wesen fassen, weder besonders scharfsinnig noch irgendwie überzeugend. Sind wir alle greuliche Egoisten (ich weiß, mein geliebter Freund, wieviel mehr ich das bin als du!), so soll uns doch niemand den Stachel ausreißen wollen, der uns mahnt, daß wir das nicht sein sollten.«
Es war die Sünde wider den Heiligen Geist, die Nietzsche beging, indem er, der ein Gewissen hatte, in dem der Heilige Geist sich offenbarte, diesen Heiligen Geist lästerte. Es kommt oft vor, daß sehr mitleidige, hilfsbereite Männer die schöne Flamme hinter einer gespielten Bärbeißigkeit verstecken; aber es ist eine leicht zu durchschauende und zum Durchschautwerden bestimmte Faschingsmaske, der verborgene Gottesfunke blitzt immer wieder, nur um so feuriger, um so wohltuender durch die diabolische Larve. So suchte auch der edle liebevolle Rohde das Rätsel seines Freundes zu lösen in den Versen:
Daß sein Glück uns nicht bedrücke,
Legt er um sich Teufelsrücke,
Teufelswitz und Teufelskleid.
Doch umsonst!
Aus seinem Blicke
Strahlt hervor die Heiligkeit.
War es nun so? Sicherlich war der heilige Funke vorhanden; aber stärker war die satanische Hemmung, die ihn ersticken wollte. »Man wird älter,« schrieb er einmal, »es ist mir schwer, mich von einer Gegend, und führe sie die berühmtesten Namen, zu überzeugen. Ich habe fehlerhafte Linien bei Sorrent gesehen.« Noch war Nietzsche nicht so krank, um nicht diese Kritik an der Natur als ein übles Zeichen zu empfinden, als ein Erkalten und Erstarren. Das Splitterchen aus dem Teufelsspiegel, den wir aus Andersens Märchen kennen, war ihm ins Auge geflogen. Der Künstler überträgt wohl die Natur ins Persönliche, aber nie anders, als indem er von ihr lernt. Es kann einem wohl eine Landschaft mehr oder weniger zusagen; aber sie kritisieren, damit fängt der Mensch schon an, sich über Gott zu setzen, das Selbstbewußte, die Verneinung, fängt an, das Unbewußte zu überwiegen. Fehlerhafte Linien können nur in dem sein, was der Mensch ersinnt; Gott-Natur ist immer gut und wahr.
Das ist es, was uns an den Griechen so sehr ergreift, daß sie immer unter Gott-Natur bleiben. Allerdings ist das für die Menschen unerreichbar, die nach der Zeit kommen, wo Gott Person geworden ist. Da wir neue Arten nicht mehr schaffen können, müssen wir nach persönlicher Größe streben: unsere Phantasie muß mit Gott ringen, an jenem, Kreuzweg vorübergehen, wo die Irrwege des Verbrechens und des Wahnsinns vom Wege der göttlichen Natur sich abspalten. Indessen ist es ja Gott selbst, der durch die menschliche Natur sich selbst überwindet; wir können auch sagen, der durch den Menschen in einer anderen Sphäre schafft. Deshalb werden Genie und Natur sich immer entsprechen, wenn nicht das menschliche Selbstbewußtsein sie auf immer trennt.
Nicht der Magd Kinder, sondern der Freien.
Peter Gast schreibt über Nietzsche: »Was er dort oben schaut, ist ein neues Bild des Menschen – zunächst des weisen Menschen, der sich über die Moral ›Gut-Böse‹ (über unsere Moral) erheben darf, weil er aus zu edlem Blute stammt, zu geistig und seiner selbst zu sicher ist, um die beschränkende Aussicht und den Fanatismus des sich moralisch erst binden- und erziehen-müssenden Menschen noch nötig zu haben.« Dieser neue Mensch ist also der Christ, der des Gesetzes nicht mehr bedarf, weil er innerlich frei ist. Anstatt des Ausdrucks »aus edlem Blute stammen«, spricht die Bibel von Gottessohnschaft; aus edlerem als aus Götterblut zu stammen, ist ja nicht möglich. Nachdem er nun einmal diesen vom Gesetze befreiten Menschen verkündigt hatte, machte Nietzsche die Erfahrung, daß die meisten Menschen ihn mißverstanden, und daß nur das Tier in ihnen, wie er schreibt, sich freute, eine Fessel abwerfen zu dürfen. Dieselbe Erfahrung machten Paulus und Luther; in den Briefen des Paulus an seine Gemeinden sehen wir, wie er beständig einerseits mahnt, sich nicht wieder von Satzungen einfangen zu lassen, anderseits durch die Freiheit nicht dem Fleische Raum zu geben. Aber welche tiefe Verlogenheit gehört dazu, nicht die Gemeinsamkeit dieser Erfahrung einzusehen, vielmehr den großen Namen des Paulus zu beschmutzen und ihn herabzusetzen.
Welche andere Fessel aber könnte es sein, die den Menschen bindet, nachdem er die Fessel des Gesetzes abgeworfen hat, als die Fessel des Heiligen Geistes, der Liebe, die den Einzelnen treibt, sich selbst dem Ganzen zu opfern? »Und wenn du sagen wirst,« heißt es im Zarathustra sehr schön, »ich habe nicht mehr Ein Gewissen mit euch, so wird es eine Klage und ein Schmerz sein. Siehe, dieser Schmerz selber gebar noch das Eine Gewissen.« Die Menschheit ist eine Einheit, ein lebendiger Organismus, wieviel mehr ein Volk. Nietzsche war vollkommen im Rechte, indem er die Heuchelei und gleisnerische Moral, die Unnatur der Gesellschaft durchschaute; aber war er deshalb im Rechte, als er sich von ihr absonderte? Wäre er auch klüger und besser gewesen als alle seine Zeitgenossen, was half ihm die Einsicht, wenn sie ihn vereinzelte? Kann das noch Recht sein, das die Liebe aufhebt? Deshalb ließ Christus sich ans Kreuz schlagen, anstatt die Welt zu zerstören. Christus heulte nicht mit den Wölfen, aber er gab dem Kaiser, was des Kaisers ist, um in der Welt zu bleiben, deren Bosheit er bekämpfte, und die ihn kreuzigte. Er aß mit den Sündern, lehrte die Einfältigen und entzog sich auch den Pharisäern nicht; allen sagte er frei und furchtlos seine großen Gedanken, so daß sie ihn verstehen konnten. Sein Gewissen wurde das Gewissen der Menschheit, weil sein Wort das Wort der Liebe des Guten und des Hasses des Bösen war. Ganz ohne Liebe zerfällt der Mensch nicht nur mit der Welt, sondern in sich selbst, weil er ohne Liebe die Einheit des Bewußtseins verliert. Einem Herrn muß er dienen, entweder dem Mammon, einem Götzen, oder Gott. Will er allein unter sich selbst stehen, so verzehrt er sich selbst.
Über die Sixtinische Madonna schreibt Nietzsche: »Hier wollte Raffael einmal eine Vision malen: aber eine solche, wie sie edle junge Männer ohne ›Glauben‹ auch haben dürfen und haben werden, die Vision der zukünftigen Gattin ... Mögen die Alten, die an das Beten und Anbeten gewöhnt sind, hier, gleich dem ehrwürdigen Greis zur Linken, etwas Übermenschliches verehren: wir Jüngeren wollen es, das scheint Raffael uns zuzurufen, mit dem schönen Mädchen zur Rechten halten, welche mit ihrem auffordernden, durchaus nicht devoten Blick den Betrachtern des Bildes sagt: ›Nicht wahr, diese Mutter und ihr Kind – das ist ein angenehmer, einladender Anblick.‹«
Traurig charakteristisch ist hier jedes Wort. Raffael malte immer Visionen, Gesichte der unsichtbaren Vollkommenheit, des Überirdischen, Übermenschlichen. Er malte bewußt die Himmelskönigin und erwartete sicher nicht, daß man sie einladend und angenehm fände. Sinnliche Gefühle soll sie nicht erregen, doch ist sie der Natur nicht fremd, so wenig wie die Gesetze, die Moses gab, unserem Herzen fremd sind.
Wie kommt es, daß Nietzsche, der den Übermenschen lehrte, da, wo er dem Übermenschlichen begegnet, es zurückweist und absichtlich nicht versteht, es eigentlich leugnet?
Der Unterschied ist allerdings groß: Für Raffael war das Übermenschliche das Ideal, an das er glaubte; für Nietzsche der Mensch, der herangezüchtet werden sollte, und eigentlich der Mensch, den er in sich selbst heranzüchten wollte.
Ähnlich verhält es sich mit den Inspirationen, deren er sich gelegentlich rühmte. Überwältigt von seiner eigenen Größe, schildert er, wie es dabei zuging und schließt mit den Worten: »Dies ist meine Erfahrung von Inspiration; ich zweifle nicht, daß man Jahrtausende zurückgehen muß, um jemanden zu finden, der fair sagen darf: ›Es ist auch die meine.‹« Es war besonders die Lehre von der Ewigen Wiederkunft, die er für eine Inspiration hielt; später wurde er mißtrauisch gegen ihre Geltung und ihren Wert und ließ sie fallen. Auch über Inspirationen äußert er sich nun in einem ganz anderen Sinne, daß man sich nämlich vor ihnen hüten müsse, und führte zum Beweise den Apostel Paulus an, wie er sich gerade an den größten Geistern gern vergriff. Gerade der Apostel Paulus wußte, daß sich sowohl Gott wie Satan durch die Natur offenbaren, und daß man das Wort Gottes vom Menschenwort scheiden muß, um die Wahrheit zu wissen. Bei Nietzsche aber überwog der eigene Wille so durchaus, daß er, obwohl er Inspirationen haben wollte, weil er darin das Höchste erkannte, doch nicht anders konnte, als sie wiederum sich selbst zuzuschreiben. Bei der Beschreibung seiner Inspiration sagt er: »Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheitsgefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit,« und gegen Dr. Paneth äußerte er: »Seine Werke seien immer ganz anders geworden, als er sie intendiere; man könne die Priesterin bloß auf den Dreifuß setzen, was sie sage, bleibe ihr überlassen.« Wo aber ist jene »mystische Bescheidenheit« des Genies, welche man in ihm hat finden wollen? Die zeigte Haydn, als er bei einer Aufführung der »Schöpfung« aufs tiefste ergriffen ausrief: »Das hat ein Höherer gemacht als ich!« Nietzsche war weit entfernt, an eine höhere Macht zu glauben, von der er abhängig sei, er wollte Inspirationen haben und sie zugleich selbst gemacht haben. Seine Herrschsucht duldete in ihm selber nichts, was nicht von ihm selbst kam; er wollte nicht Gottes Werkzeug sein.
Von Wagner sagt Nietzsche einmal, er sei nicht so besonders talentiert gewesen, das Hervorragendste an ihm sei ein gewaltiger Wille zu herrschen gewesen, und dieser Wille, die Menschen ganz zu besitzen, der habe sein Talent geschaffen. Diese Bemerkung war sehr zutreffend, und mir scheint, sie charakterisiert nicht nur Wagner, sondern die meisten modernen Künstler, wie zum Beispiel Hodler, und vor allem Nietzsche selbst. Überraschenderweise fährt er fort: »ob nicht ein gewaltiger Wille in einem Menschenleben das vollbringen könne, was sonst die Arbeit von Generationen sei.« Mit anderen Worten, ob nicht das Bewußte das Unbewußte, ob nicht der Mensch Gott ersetzen könne. Auch seine Begabung bestand hauptsächlich in seinem Willen, zu herrschen; diese Gesinnung war der Ausgangspunkt seines Tuns und Lassens. Er selbst sagt, daß sein Leben eine lange Kette von Selbstüberwindungen sei – in denen sein Selbst das Unbewußte überwand, nicht umgekehrt –, und er nannte sich selbst einen unerbittlichen Tyrannen, der immer triumphiert habe und es stets tun werde. Er war nicht der Sohn der Freien, der freiwillig gehorcht: er zwang sich selbst und glaubte, Gott zwingen zu können.
Wie sehr ergreifend und versöhnend sind nun aber die letzten Lebensjahre Nietzsches, wo sich nach der Erzählung seiner treuen Schwester nichts mehr offenbarte als seine Liebe. Nirgends so deutlich wie hier sieht man, daß geistiges Kranksein ein Besessensein und Gebundensein vom bösen Geiste ist. Nachdem die Maske des Selbstbewußtseins von dem Herrn, der allein Herr und ein verzehrendes Feuer ist, gesprengt war, erschien wieder ungetrübt die zarte, rücksichtsvolle Gesinnung, die dem Unglücklichen angeboren war. Man versteht die Zuneigung, die sein persönlicher Umgang erweckte, und die Qual, die er während seines Gebundenseins erlitten haben muß. Nun war er wieder frei, ein freiwillig Sterbender.
Ich habe in dem Kapitel »Der Gottlose fleucht, und niemand jaget ihn« vom Auseinanderfallen der Persönlichkeit gesprochen und möchte daran noch einige Bemerkungen knüpfen.
Lange nachdem ich diesen Satz geschrieben hatte, fiel mir eine kleine Geschichte, betitelt Konowalow von Maxim Gorkij, in die Hand, in der er einen Melancholiker und Quartalssäufer schildert, der durch Selbstmord endet. Da Gorkij selbst einen geisteskranken Großvater hatte, der in seinem Leben eine maßgebende Rolle spielte, ist anzunehmen, daß er nahe genug an dieser Krankheit vorübergegangen ist, um ihr Wesen unmittelbar nachfühlen zu können, und seine Schilderung gibt aus diesem Grunde bemerkenswerte Züge. Er stellt K. als einen außerordentlich fein denkenden und empfindenden Menschen dar, dem deshalb allgemeine Zuneigung entgegenkommt, der aber trotz dieser feinen Empfindung nicht liebefähig ist, keine Gefühle hat, die in Kraft treten, und der deshalb nicht glücklich, sondern unglücklich macht, wie er auch selbst unglücklich ist. In einem Augenblick nun, wo seine Krankheit zum Ausbruch kommt, läßt Gorkij ihn die Wendung gebrauchen: »Das Saufen kommt ... Bald fall ich wieder auseinander.« Dies Auseinanderfallen ist nach meiner Meinung das wirkliche Wesen der Geisteskrankheit und ein realer Vorgang im menschlichen Organismus. Ich denke mir, es ist bedingt durch das Aufhören der Beziehung zwischen dem sympathischen Nervensystem und dem Zentralnervensystem, wodurch zugleich auch die Beziehung zwischen dem Großhirn und der Basis des Gehirns aufhört beziehungsweise nachläßt; verkürzt könnte man also von einem Auseinanderfallen von Kopf und Herz sprechen. Dies Auseinanderfallen findet bis zu einem gewissen Grade im Schlaf und endgültig im Tode statt, und das Krankhafte scheint darin zu bestehen, daß diese vollständige innere Auflösung eintritt, ohne daß sich zugleich der Körper auflöst. Dies könnte so zu erklären sein, daß durch die überwiegende, nicht vom Herzen ausgehende und geregelte Tätigkeit des Gehirns das Herz geschont wurde und das Gehirn überlebt. Wie dem auch sei, so scheint es, daß die innere Beziehung im Menschen sich im ganz gleichen Maße auflöst, wie seine Beziehungen nach außen sich auflösen; seiner Absonderung von den Menschen entspricht eine Absonderung in seinem Inneren.
Mit dem Auseinanderfallen gewisser innerer Beziehungen hört die Einheit des Bewußtseins auf: Gott äußert sich nicht mehr persönlich in diesem Menschen. Daß die Einheit des Bewußtseins keine bestimmte, dauernde Größe ist, daß sie zuweilen nachläßt und zuweilen anschwillt, und daß das Nachlassen von Schwermut begleitet ist, erlebt wohl jeder, auch der gesunde Mensch an sich. Wer diese Ebbe und Flut überhaupt nicht kennt, wie mir das zum Beispiel im allgemeinen beim Amerikaner der Fall zu sein scheint, der möchte jenseit des Unbewußten überhaupt sein. Auch das gibt es offenbar: eine dauernd gewordene Dekadenz, eine Gottesferne, in der von Gott überhaupt nicht mehr die Rede ist, ein nur auf das bewußte Geistesleben gegründetes Leben; es ist der Westen, in dem die Sonne untergeht. Da es bei vollständiger Phantasielosigkeit nichts anderes als Mammonsdienst geben kann, ist das, was bei uns Schielen wäre, dort Wahrheit; wo es überhaupt nur bewußtes Wort gibt, fällt der Unterschied zwischen dem Wort der Wahrheit und der Lüge dahin.
Und sprachen untereinander: Sehet, der Träumer kommt daher. – 1. Mos. 37.19.
»Ich lebte nicht, ich war im Traum erstarrt,« schrieb C. F. Meyer von jener Zeit seiner Jugend, wo er gemütskrank war, die sich im Alter wiederholte. Im Schlaf sind wir dem All wiedergegeben, sind wir Gottes Gäste; im Traum dagegen ist man mit sich allein, außerhalb der Wechselbeziehungen zum Nicht-Ich, zur Umwelt. Im Traume sind wir halb oder starr, ein eingeschlossener lodernder Machttrieb, der sich selbst spiegelt. Ob und wie wir ihn äußern werden, das hängt von unserer Empfänglichkeit für die Berührungen mit Menschen und Ereignissen, von unserem Erwachen ab. Der Geisteskranke ist ein Mensch, der nicht aus seinem Traum erwachen kann, weil seine Liebesfähigkeit, sein Menschen- oder Weltsinn zu schwach ist. Der Träumer Joseph wurde schrecklich herausgerissen aus sich selbst, und die Flamme, die in ihm verhüllt war, wurde befreit zur Liebesflamme.
Wenn man das Zunehmen der Geisteskrankheit im allgemeinen als Absonderung vom Ganzen, als Schwinden der All-Liebeskraft oder des Gemeinsinns bezeichnen kann, so muß man sich fragen, woher dies Schwinden kommt? Ich glaube, es kommt daher, daß das Ganze nicht mehr durch Personen vertreten wird. Wir glauben nicht mehr an Personen, sondern an Ideen und Grundsätze, vielmehr an Begriffe und Grundsätze; denn Ideen werden Fleisch. Vergleicht man Shakespeare mit Schiller, so sieht man, wie sehr zu Schillers Zeit schon der Begriff das Persönliche verdrängt hatte; und wie viel mehr ist das jetzt der Fall. Es ist aber dem Menschen nicht möglich, Grundsätze zu lieben und Grundsätzen zu gehorchen: lieben kann man nur Personen. Die Idee der Familie ist nichts; aber Vater, Mutter und Kinder sind etwas; ebensowenig ist der Staat etwas, lebendig sind nur König oder Führer und Volk und die Scholle, wo man geboren ist. Nur das Ganze, das durch eine Person vertreten ist, ist göttlich, und umgekehrt nur die Person, die ein Ganzes vertritt. Die abstrakten Beziehungen, die an die Stelle der persönlichen und natürlichen Beziehungen getreten sind, machen uns gefühllos und deshalb geistlos, machen uns zu Träumern oder zu halben Menschen. Eingeführt haben wir sie, um die Person nicht einzusetzen, um nicht verantwortlich zu sein; denn wir wollen uns um jeden Preis erhalten, wollen nicht leben, um nicht sterben zu müssen. Wir wollen im Irdischen dauern über das Maß hinaus, das uns gesetzt ist; wir sind maßlos, und das ist soviel wie gottlos.