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Peters Reise verzögerte sich bis zum Sommer. Er schrieb dem Kantor, er gedächte in den Osterferien ihn und seine verehrte Familie zu besuchen, und der Kantor schrieb in liebenswürdigster Weise zurück, er habe geglaubt, Peter sei schon lange tot, da er nie etwas von sich habe hören lassen, und er und seine Frau würden sich eine Freude daraus machen, ihm ihre Gastfreundschaft anzubieten – allerdings nicht für Ostern, da seien sie alle nicht daheim, aber für die großen Ferien, wo er bei ihnen wohnen könne, so lange er wolle. Die Pensionäre wären alsdann fort – »ja ja, Herr Peter – ich darf Sie doch noch so nennen? –, in Ihrem alten Bette haben, seit Sie fort sind, manche Pensionäre geschlafen!« – und somit sei das Zimmer dann unbewohnt und stehe für ihn bereit, und dann hätten sie wieder, wie in alter Zeit, ihre beiden Kinder, Peter und Liesel.
So erfuhr er, daß Liesel unverheiratet war und noch bei ihren Eltern wohnte.
Frau Ottilie riet ihm, die Sache nicht so lange aufzuschieben, sondern sich einfach ein paar Tage Urlaub geben zu lassen und hinzureisen. Aber das wollte er auf keinen Fall. Der tiefe und ihm selbst unbewußte Grund seines Aufschubes war, daß seit jenem Abend, wo er sich mit Frau Ottilie ausgesprochen hatte, die Gestalt der Liesel ihm wieder in den Hintergrund getreten war. Von dem Augenblick an, wo Frau Ottilie durch ihn erfahren hatte, daß er sie liebte, war es, als sei ein Bann von ihm genommen; seine dunkle Unruhe war gewichen, sein Verhältnis zu ihr ein ruhiges geklärtes, fast heiteres geworden, und ein melancholisch-stilles, wunschloses Glück füllte seine Seele. Er wurde jetzt öfters in das Haus des Rektors geladen und sonnte sich an Frau Ottilies heiterer Nähe. Er wußte, wie auch er ihr liebgeworden war und daß sie ihn ungern entbehrte. So fühlte er denn dunkel voraus, jene Reise werde ihn aus seinem Frieden reißen und alles das, was langsam in ihm zur Ruhe ging, von neuem wecken. Doch sprach er hierüber mit ihr nicht. Und je näher der Zeitpunkt seiner Reise rückte, um so mehr hing er an der Gegenwart, fürchtete er die Zukunft, um so mehr fühlte er, wie die Ferne an ihm sog, wie die verblaßte Vergangenheit nicht tot war, sondern lebendig und mit erneuter Kraft vor seine Seele trat.
»Nein, wie prachtvoll Sie aussehen, Peter, wirklich prachtvoll! Willibald, sag mal aufrichtig, hast du je so einen prachtvollen Menschen gesehen! Und immer noch das alte, liebe Kindergesicht!« Frau Annette streichelte ihm die Backen und gab ihm plötzlich einen Kuß: »Ich weiß, das mögen die jungen Herrn nicht, wenn alte Leute sie küssen, aber von mir müssen Sie es sich wohl gefallen lassen, Peter. Ich bin ja so eine Art Mutter von Ihnen!« – »So laß mich ihn doch auch mal anschauen, Annette!« sagte der Kantor, legte Peter seine beiden gewichtigen Hände auf die Schultern und blickte ihm mit etwas durchbohrender Herzlichkeit in die Augen.
»Alter Junge!« sagte er und schüttelte ihn. »Alter Junge! Nein, das freut mich, daß Sie uns einmal wieder aufgesucht haben.« – Peter wurde es weich ums Herz. Das waren dieselben Leute wie früher, unverändert in ihrer Liebe. Ja, es schien fast, als ob der Kantor jetzt eine herzlichere Zuneigung zu ihm habe als ehedem, wenigstens gab er ihr einen viel freieren Ausdruck: »Peter, mir als einem alten Freunde darfst du es wohl erlauben, daß ich dich wieder du nenne! Und ich bitte dich darum, daß du mich auch du nennst und Onkel Willibald! Und du, Annette, du sagst natürlich auch du zu ihm, und er soll dich Tante nennen.« – Aber dagegen protestierte seine Frau: »Dann soll er mich lieber Mutter Annette nennen, denn das paßt viel besser als Tante!« – So saßen sie wieder wie in alter Zeit beisammen, und Peter bemerkte mit nachdenklicher Freude, daß der Kantor noch ebenso wild in das Essen hieb wie früher. Er war etwas dicker geworden; an den Schläfen zeigten sich graue Haare, und mit einem Male sah Peter, daß er jetzt eine Brille trug. Das war ihm vorher gar nicht aufgefallen. Dann sah er zu Frau Kantor hinüber, deren Blicke mit mütterlichem Wohlgefallen auf ihm ruhten. Auch sie war etwas rundlicher geworden, schien aber, wie er allmählich bemerkte, nicht mehr ganz so frohgemut wie früher. – »Wo ist denn Liesel?« fragte er endlich nach langem Zögern und fühlte, wie seine Stimme nicht ganz sicher war. – »Liesel?« Der Kantor blickte von seinem Braten auf. »Die wird wohl gleich kommen. Sie weiß natürlich, daß du hier bist, aber sie verspätet sich immer beim Mittagessen.« – »Sie ist nicht verheiratet oder verlobt?« fragte Peter weiter, und eine heiße Welle schlug ihm über Stirn und Wangen. »Nein«, sagte Frau Annette, indem sie aufmerksam zu ihm hinüberblickte. »Das ist sie nicht. Ich glaube, da ist sie!« Sie horchte hinaus. Da ging die Tür auf, und eine elegant gekleidete junge Dame trat herein. Peter war aufgestanden, sein Blut rann ihm jäh zu Herzen, er blickte auf sie hin. Es war, als solle dieser eine Blick ihm Jahre voller Fragen und Angst beantworten. – Aber er empfand nichts von der überquellenden Freude, die er sich oft und oft ausgemalt hatte, wenn er an ein Wiedersehen mit ihr dachte. – Sie sah ihn durch einen hellen Schleier mit neugierigen, erstaunten Augen an. »Peter!« sagte sie halblaut und hielt ihm ihre behandschuhten Finger hin. »Nein! Bist du es wirklich?« – »Ja«, sagte er und ergriff ihre Hand; »und du, du hast dich auch verändert!« – »Nein, aber furchtbar!« fuhr sie fort, ohne ihn zu beachten, »ein ganz anderes Gesicht hast du bekommen. Hübsch bist du geworden!« – Sie legte Hut und Schleier ab und setzte sich zu Tisch. – Wie konnte er nur jemals Frau Ottilie mit ihr verwechseln! Dies war ja ein ganz anderes Gesicht! Er sah fast gar keine Ähnlichkeit mit ihr. Ihr Haar zeigte ein rabenglänzendes Schwarz, Frau Ottilie erschien fast blond dagegen; ihr Mund war voller und roter geworden; ihre Gesichtsfarbe matter, aber schön und fleckenlos, und ihre Hände hatten die Beweglichkeit von früher; sie waren kleiner als Frau Ottilies; auch ihre Figur war zierlicher und schmaler. Und es fehlte ihr ganz und gar jene wundervolle Ruhe, die durch Frau Ottilies Wesen ging, bei aller Lebendigkeit. Dafür hatte sie etwas Zähes, Stumm-Geschmeidiges.
»Da, natürlich! Da hat sie wieder ihre Handschuhe in die Suppe gelegt. Liesel, wo soll das noch hinaus, wenn du so mit deinen Sachen umgehst!« – »Papa, du weißt, daß du mich nicht Liesel nennen sollst!« sagte sie mit einem Tone, als habe sie den anderen Teil der Bemerkung nicht gehört. – »Also Elise!« sagte er etwas gereizt. – »Ja, sie mag ihren alten Kindernamen von früher nicht mehr hören«, sagte die Frau Kantor. »Er ist ihr nicht mehr gut genug!« Dann seufzte sie und ermahnte Peter, beim Essen ordentlich zuzugreifen. Der sah fast unverwandt zu Liesel hinüber und fing gerade einen Blick ihrer Augen auf. Sie hatten sich doch verändert. Sie hatten etwas verloren und dafür etwas Neues bekommen. Was dies war, wußte er nicht; aber es machte ihn gespannt, unruhig und beklommen. Man fragte ihn nun, ob er eine größere Reise vorhätte, und bat ihn, doch recht lange zu bleiben. Hierauf wußte er nichts Rechtes zu antworten, aber Liesel sagte: »Bleib nur ein bißchen hier; man kann sich hier ganz gut amüsieren.« Dabei sah sie ihn wieder aufmerksam an mit ihren unpersönlichen Augen, daß es ihm fremd zumute wurde. Er spürte etwas wie Angst vor ihr, ohne sich erklären zu können, woher das kam. Gleichzeitig aber ward er von ihr stark angezogen, in einer seltsamen, ihm unbegreiflichen Weise, und dieser Gegensatz in seinen Gefühlen machte ihn nach außen hin unsicher und verwirrt. Er fühlte sich als doppeltes Wesen. Ich habe sie nicht lieb! Sie ist nicht die Liesel von früher! sagte der eine traurig und mit Bestimmtheit. – Sie ist eine neue Liesel! sagte der andere, und es trieb Peter das Blut zu Herzen. – Und die Nacht darauf hatte er den Traum, daß sie ihn lachend und im Scherz in den Abgrund hinunterstieß. – Ich will meinen Koffer packen und wieder abreisen! sagte er zu sich. Weshalb bleibe ich denn hier? Bin ich nicht ganz enttäuscht von ihr!? Habe ich denn irgendwelche Freude gefühlt, als ich sie wiedersah? Und bin ich ihr denn nicht ganz gleichgültig? Ich reise ab! – Aber wenn ich hierbleibe, kann sich nicht vielleicht manches ändern? – Und er reiste nicht ab, sondern blieb. Im Hintergrunde seiner Seele stand das Verlangen, dasjenige kennenzulernen, was ihn auf eine rätselhafte Weise zu ihr hinzog und von ihr abstieß. Doch war er sich dessen gar nicht bewußt und schob die Schuld seines Zögerns auf seine mangelhafte Energie, einen entscheidenden Schritt zu tun, und dann: Es konnte sich ja »manches ändern« – worunter er sich gar nichts vorstellte.
Die Frau Kantor hatte inzwischen ein langes Gespräch mit ihrem Manne gehabt. Daß Peters Besuch mit Liesel im Zusammenhang stand, war für sie außer Zweifel. Dem Kantor war das erst unglaubhaft, aber als sie ihm ihre Beobachtungen mitteilte, leuchtete es ihm ein. Beide waren sehr erfreut.
Das Liesel nämlich hatte sich zu einem sehr lebenslustigen jungen Mädchen entwickelt, bald hier, bald da Verbindungen angeknüpft und ihre Eltern in steter Angst und Besorgnis gehalten, da bei ihrem Temperamente nicht abzusehen war, wie weit sie sich würde hinreißen lassen. – Aber die Dinge lagen in Wahrheit noch weit schlimmer, als sie dachten. Denn Liesel führte in aller Stille eine gänzlich außermoralische Lebensweise, sie griff zu, wo etwas zuzugreifen war, und genoß, wo sie genießen konnte. Dabei hatte ihre Ursprünglichkeit und Natürlichkeit nicht das mindeste verloren, und alles, was sie tat, geschah so, daß im Grunde niemand dagegen hätte etwas einwenden dürfen, denn sie tat nur Selbstverständliches. Aber so dachten wenige oder niemand, und deshalb lästerte man über sie, was ihr im übrigen gleichgültig war. Anfangs erhielt ihre Mutter wohl Besuche von älteren, wohlmeinenden Damen, die ihre Tochter auf den Weg der Tugend zurückführen wollten und von ihrer eigenen Jugend, Tugend, Verlobung und Ehe erzählten. Aber die Frau Kantor hatte jene Besuche unsanft abgebrochen und erklärt, sie verbäte sich alle fremden Einmischungen in ihre Familienangelegenheiten. Darauf hatte sie mit ihrer Tochter ein eindringliches Verhör angestellt, Liesel leugnete schlankweg mit der größten Offenheit alles und bat ihre Mutter, sich doch nicht um den dummen Stadtklatsch zu kümmern: Sei einmal jemand da, der etwas freier wäre als die anderen, so dichte man ihm auch gleich die tollsten Dinge an. – Diese große Selbstverständlichkeit und Unbefangenheit hatte die Frau Kantor wieder beruhigt, denn daß ihr eigenes Kind sie so skrupellos und ruhig anlügen konnte, auf den Gedanken kam sie nicht. Sie teilte das Ergebnis ihres Verhöres ihrem Manne mit, der ohne weiteres zu seiner Tochter sagte: Käme ihm Unehrenhaftes zu Ohren, so würde er sie verfluchen und enterben. Das hörte das Liesel ebenfalls mit Ruhe an und antwortete: Daran würde er dann sehr recht tun. Gottlob sei ja ein solcher Fall auch ausgeschlossen. – Etwas Angst hatten ihr aber diese Worte doch gemacht, da sie wirklich nicht wußte, was sie hätte anfangen sollen, wenn man sie aus dem Hause warf. Aber alsbald bekam sie ihre alte Zuversicht wieder; sie sagte sich, daß ihr Vater ein leicht aufbrausender Mann sei, den man im Grunde lenken könnte, wie man wollte. Und so bereitete sie sich für den äußersten Fall, indem sie sogleich anfing, Geld zu sparen, das für eine Woche etwa zum Lebensunterhalte für sie hinreichen sollte. In der zweiten Woche würde ihr Vater sie wohl wieder heimholen. Sich im Notfall zu einem ihrer Freunde zu begeben, auf den Gedanken kam sie nicht; auch hätte ihre Selbständigkeit darunter gelitten. Das Geld wanderte Stück für Stück in eine Sparbüchse; ab und zu klapperte sie mit dem Ding, prüfte die wachsende Schwere und machte sich ein unbestimmtes Bild von einem kleinen Häuschen mit einer Dachkammer, in der sie sich Kaffee kochen würde. – Ihre Freundinnen hatten sich alle von ihr zurückgezogen. Sie verachteten, haßten und beneideten sie. Denn die Freunde der Liesel waren stets auch begabte und anziehende junge Männer, die fast alle der Zufall in ihr Städtchen verschlagen hatte.
Bei dieser Lage der Dinge war es begreiflich, daß ihre in steter Unruhe schwankenden Eltern den neu ankommenden Peter Michel mit Freude begrüßten. – »Sieh, Willibald, es ist ein Glück für uns alle! Wenn sie sich auch wirklich nichts Unehrenhaftes hat zuschulden kommen lassen, so wissen wir doch: ›Die Welt urteilt nach dem Schein!‹ Und das ist ja wahr, daß Liesel nichts, aber auch gar nichts tut, um alle die über sie umlaufenden Gerüchte zu zerstreuen. Wenn man, wie sie, frei und natürlich ist, so sollte man um so mehr an sich halten, um auch den Schein des Unrechtes zu vermeiden; – ach, wir haben das alles ja schon soundso oft durchgesprochen und wissen, wie nutzlos es ist, darüber zu reden; aber das ist sicher: Es wird ihr schwer werden, einen guten Mann zu bekommen. Denn jeder sagt: ›Etwas daran muß doch wohl wahr sein!‹ Einen besseren Schwiegersohn als Peter könnten wir uns gar nicht wünschen. Aber ich fürchte, ich fürchte, Liesel selbst wird uns einen Strich durch die Rechnung machen, denn ich glaube, daß sie zu Peter gar keine Neigung hat.« – Ihr Mann zuckte unglücklich mit den Schultern und meinte, das könne man nicht wissen. Dann raffte er sich auf und sagte, schließlich seien doch auch die Eltern da, die ein Wort mitzureden hätten; – »ich meine nicht, daß wir sie zu der Heirat geradezu zwingen wollen, aber wir wollen doch den nachdrücklichsten Einfluß auf sie ausüben. Das Leben mit ihr hier im Hause wird nachgerade unhaltbar; schon der Pensionäre wegen möchte ich sie fort haben; und ich glaube, Peter ist der rechte Mann für sie; er hat so etwas Ruhiges, Bestimmtes; wenn er einmal etwas will, dann setzt er es auch durch. Er wird ihr schon die Flügel beschneiden!« – Seine Frau machte ein Gesicht, als ob sie nicht ganz zustimmte, aber sie schwieg. Das konnte sich ja später finden; es würde sich schon alles gut machen. Wenn er sich nur bald erklären wollte! – Aber Peter erklärte sich nicht, sondern wurde zunehmend unruhiger und aufgeregter. Dem Liesel aber machte der Kantor jetzt die Mitteilung, daß Peter sie liebe und wie sie dankbar sein solle, daß sie noch zu einem solchen Glücke käme. Darauf lachte sie, aber er runzelte die Stirn und sagte, er habe ernsthaft mit ihr zu reden. Da lachte sie noch mehr und lief hinaus, während er ihr nachstarrte.
Sie hatte es schon längst bemerkt, daß sie Peter beschäftigte.
»Du, Peter, sag mal, liebst du mich?« fragte sie unvermittelt. Er wurde dunkelrot; sie blickte ihn mit Augen an, in denen Neugier, Überlegenheit und Interesse lag. Aber im selben Augenblick trat ihre Mutter ein, und damit war das Gespräch abgebrochen. Bei Tische überlegte sie sich, ob sie sich wohl in ihn verlieben könne, und musterte unbekümmert seine Züge, so daß er zur Seite sah. Sie hatte sich diese Frage gleich nach ihrem ersten Wiedersehen gestellt und gedacht: Eigentlich nein. Aber jetzt fand sie, er sei gar nicht so übel, und daß er sich in sie verliebt hatte, das fand sie sehr hübsch. Aber er war doch ein schwerfälliger Mensch, daß er es ihr gar nicht zeigte! Sie wollte es aber! – »Wir müssen sie allein lassen!« sagte die Frau Kantor zu ihrem Mann. »Ich kam heute gerade dazu, wie die beiden Kinder etwas mitsammen zu bereden hatten, und ich merkte, wie ich störte!« – So überließ man denn Peter und Liesel sich selbst.
Er stand am Tisch und trat mit dem Fuß gegen einen Stuhl. – »Wie lebt man denn in deinem Ort?« fragte sie. »Sind viele junge Mädchen dort?« – »O ja.« – »Und lebt sich's dort hübsch?« – »O ja.« – »Hast du dich schon oft verliebt?« – »Nein; – du dich?« setzte er hinzu, da er fühlte, daß seine ewige Einsilbigkeit sie langweilen mußte. – »M-ja-ja«, antwortete sie in etwas gleichgültigem Tone und spitzte geringschätzig den Mund. »Hast du dich denn noch nie in deinem Leben verliebt?« fragte sie ihn wieder und sah ihn erwartungsvoll an. – Er warf ihr einen Seitenblick zu. Weshalb fragt sie ihn das? – »In wen hast du dich denn schon verliebt?« fragte sie beharrlich weiter; immer in kleinen Tönen und wie nebenbei. – »Ach Liesel! Es interessiert dich ja doch nicht.« – »Sieh mal den schönen Ring, den ich habe!« – »Du bist doch nicht verlobt?« fragte er erschreckt. – »Gott bewahre – den habe ich bloß so bekommen. Schön, nicht wahr?« – Sie stand ganz dicht vor ihm und lachte ihm unter die Augen. Herr Gott! War er ein schüchterner Mensch! Das war ja schrecklich! – »Weißt du noch, wie wir uns adieu sagten, als du damals von uns fortfuhrest? Da gabst du mir einen schönen Kuß!« – Das klang fast wie eine Aufforderung. Er sah sie brennend an. »Nun?« sagte sie und dachte: Ja, wenn er mich liebt, warum packt er mich nicht?! Da waren ihre Augen dicht vor ihm, wie er sie im Traum gesehen. – »Warum küßt du mich nicht?« – Wortlos schlang er seine Arme um ihren Hals, drückte seine Lippen auf ihren Mund und umfaßte sie mit beiden Händen. »Liesel! Wußtest du nicht, daß ich mich immer nach dir gesehnt habe?« sagte er leise und ohne es zu wollen. Er drückte sie fester an sich, sein Körper fühlte ihren Körper, ihm war, als strömte etwas von einem zum anderen über. – »Laß mich«, flüsterte sie, »laß mich! Es kommt jemand!« Sie standen horchend. Sie hatte sich von ihm losgemacht. – »Ach Gott, wie heiß ist es hier!« sagte sie und öffnete ein Fenster. Peter öffnete das andere. Beide schauten hinaus, eine ganze Weile. Da ging die Tür auf. »Nanu?« rief die Frau Kantor. »Was seht ihr denn da so Interessantes im Hofe?« – Liesel wandte sich vom Fenster fort. – »Ja-a, weißt du, Mama, ich habe Peter die Stelle gezeigt, wo wir als Kinder immer mit der Springschnur spielten, und Peter erinnert sich gar nicht mehr daran. Nicht wahr, Peter?« – Sie sah ihrer Mutter unbefangen in die Augen. »So?!« sagte diese mit einem prüfenden Blick auf die beiden. »Aber Peter, ist das wahr? Ich dachte, du hättest ein so gutes Gedächtnis?« – »Habe ich auch!« rief er, ohne sich umzusehen, »aber das weiß ich nun doch nicht mehr!« – Er wollte Liesel zeigen, daß er sich ebenso sicher benehmen könne wie sie, ohne jedoch recht zu wissen, warum sie sich so benahm. Gleichzeitig aber drückte er seine Finger so fest gegen den Steinsims, daß sie knackten. Liesel schloß jetzt ihr Fenster und ging darauf zu dem, aus welchem Peter sich lehnte. »Komm! Ich will es schließen!« Sie bog sich nieder und kroch unter seinem erhobenen Arme durch, geschmeidig wie eine Katze, und wie er sie so unter sich sah, den schimmernden Hauch ihres Nackens, den Duft ihrer Haare spürte, da stieg in ihm ein unwillkürlicher Ärger gegen die Frau auf, die ihn von hinten so beschaute. Er machte eine ungeduldige Bewegung mit den Schultern und sagte: »So; na also, nun sind die Fenster ja geschlossen.« Frau Annette sah ihn etwas erstaunt an. Das klang ja gar nicht wie Peter Michel! – Bei Tische war er schweigsam und sah fast unausgesetzt zu Liesel hinüber, welche unbefangen und gesprächig war wie immer. Er suchte nach einer Verständigung mit ihr, und plötzlich kam ihm der Gedanke, mit seinen Füßen unter dem Tisch zu ihr hinüberzutasten. Es war derselbe Tische an welchem sie einst als Kinder gesessen, unter dem ihn Liesel mit ihren kleinen Füßen stieß und dann beleidigt war, daß er auf ihr Spiel nicht einging. Sie begriff ihn augenblicklich und erwiderte seinen Druck auf eine heftige und unmittelbare Weise. Aber dann behielt er ihren Fuß zwischen den seinen geklemmt. Sie biß sich auf die Lippen und sah fast drohend zu ihm herüber. Aber er hatte Kraft. – Nun konnte sie sich doch in ihn verlieben. – Man redete über dies und jenes, aber Peter gab einsilbige und zerstreute Antworten.
Sie hat ihm einen Korb gegeben! dachte die Frau Kantor und warf ihrer Tochter einen bekümmerten Blick zu. Diese deutete ihn falsch, indem sie meinte, ihre Mutter habe von dem heimlichen Spiel unter dem Tisch etwas bemerkt, und deshalb erwiderte sie ihn durch ein geringschätziges Zurückwerfen ihres Kopfes. Nun meinte die Frau Kantor vollends auf der richtigen Fährte zu sein. Auch Peters sonderbares Benehmen, seine Einsilbigkeit, seine auffällige Antwort von vorhin erklärte sie sich auf diese Weise. Sie blickte teilnahmsvoll zu ihm hinüber, und er senkte den Kopf. Da seufzte sie tief und erhob sich langsam. – In der folgenden Nacht fand Peter sehr wenig Schlaf. Jetzt liebte er Liesel, und es war nicht mehr die alte Liesel von früher, sondern die neue; seine Liebe hatte nichts mehr von der Schwärmerei von ehedem. In seiner Phantasie wiederholten sich die Vorgänge des Tages, er küßte sie von neuem, er hielt sie in seinen Armen, er fühlte ihren warmen Nacken.
Liesel aber hatte am selben Abend noch eine Unterredung mit ihrer Mutter. – »Hat er sich dir erklärt?« – Liesel hatte sich Peter Michel betreffend noch gar keinen Plan gemacht und antwortete blindlings: »Ja natürlich.« – »Und du? Was hast du ihm geantwortet?« – »Ich habe ihm gesagt, daß ich ihn nicht will!« Ihre Mutter nickte wie traurig-bestätigend vor sich hin. – »Nun, dann wird er wohl morgen wieder abreisen!« – »Abreisen?« – Auf den Gedanken war Liesel noch gar nicht gekommen. »Nein, abreisen soll er nicht!« sagte sie sehr schnell; »er soll noch hierbleiben!« – »So? Was soll er denn hier noch?« – »Ich freue mich, wenn er noch hierbleibt. Ich habe ihn ja doch so gerne! Und dann, überhaupt –« fuhr sie plötzlich fort, indem ihr ein neuer Gedanke durch den Kopf schoß –, »wenn ich ihn heiraten soll, so muß ich ihn doch erst einmal näher kennenlernen!« – »Dazu hast du Zeit genug gehabt!« – »Nein, er war einmal hier, einmal da; und dann kamt ihr immer dazwischen, und so war ich nie recht mit ihm allein!« – Inzwischen war ihr Vater ins Zimmer getreten. Er hielt seine großen, schwarzen Augen auf seine Tochter geheftet und wartete, bis sie ausgeredet hatte. – »Ich dächte, wir hätten euch heute nachmittag lange genug allein gelassen! Nein. Zeit genug hast du gehabt! Und das ist es auch nicht, weswegen du ihn nicht willst. Du willst ihn nicht, weil du es lieber hast, wenn alle dir den Hof machen, weil du ein kokettes Mädchen bist, weil du keine Tiefe des Gefühles hast und weil du deine Eltern nicht liebst. Aber du hast ganz recht! Peter ist viel zu gut für dich. Er ist viel zu gut für ein – für eine –« – »Aber Willibald!« – »Papa, wenn du so reden willst, so wollen wir lieber gleich alles abbrechen.« – Ihr Vater wischte sich die Stirn mit dem Taschentuch. Seine Tochter warf ihm einen kalten Blick zu. »Wenn ihr schon so über mich redet«, fuhr sie fort, »wie sollen dann erst die Leute über mich reden?« – »Kind, ich habe ja gar nichts gesagt«, sagte Frau Annette. »Dein Vater hat sich etwas hinreißen lassen. Du kennst doch deinen Vater. Du weißt doch, er meint es nicht so schlimm, wie er es sagt! Sei doch etwas vernünftig, und denk nicht immer nur an dich allein! Komm, Willibald, wir wollen sie in Ruhe lassen. Überlege es dir noch einmal, Kind! Wir raten dir zu deinem Besten!«
Am nächsten Morgen hatte Liesel ihren Plan fertig. Sie sagte zu ihrer Mutter, sie glaube wirklich, sie liebe Peter Michel, sie habe sich mit ihrem Entschlusse übereilt, sie nähme alles zurück und hoffe, daß es zwischen ihr und ihm noch zu einem guten Ausgang kommen würde. – Ihre Mutter war überrascht und glücklich und stimmte freudig zu, als Liesel bei Kaffee vorschlug, sie wollten alle mitsammen einen großen Ausflug machen. Der Kantor, welcher von der neuen Wendung noch nichts wußte und nur vom Ausflug hörte, brummte mürrisch, Liesel denke immer nur an Ausflüge.
Jetzt trat Peter Michel herein, blaß und etwas nervös; er wünschte allen einen guten Morgen und setzte sich. Es war fast, als vermiede er Liesel anzublicken. Man unterrichtete ihn von dem Plane, er errötete, schwieg zuerst und sagte dann, er habe sich überlegt, daß er lieber abreisen wolle. – In Wahrheit war auf die Erregung des gestrigen Abends ein Niederschlag erfolgt. Liesel war ihm plötzlich gleichgültig geworden, ja, er spürte fast eine Abneigung gegen sie. Sie warf ihm einen raschen, erstaunten Blick zu: »Wieso willst du denn abreisen?« In ihrem Gesichte lag ein Ausdruck zwischen Enttäuschung und Verwunderung. Gleichzeitig berührte sie ihn unter dem Tische mit ihrer Fußspitze. – Er blickte sie unsicher an. – »Du denkst gar nicht daran abzureisen! Warte nur noch ein bißchen!« setzte sie hinzu, geheimnisvoll-verheißungsvoll. – Der Kantor, dem Frau Annette inzwischen flüsternd die neue Wendung der Dinge mitgeteilt hatte, hielt sich nicht länger. »Da, Liesel!« rief er, indem er sein Portemonnaie zog und ihr ein Talerstück hinwarf! »Da! Das ist für deine Sparbüchse. Braves, Mädel!« – Liesel steckte das Geld vergnüglich ein; aber als sie merkte, daß ihr Vater eine Art Verlobungsrede halten wollte, sprang sie auf und hielt ihm den Mund zu. Peter begriff nichts von dem Vorgange um sich; Liesels halb lustige, halb kokettverliebte Blicke machten ihn verwirrt, sein Vorsatz war im Nu vergessen, seine Seele geriet wieder in den Strudel. Der Kantor aber sagte später zu seiner Frau: »Das Liesel ist doch ein verrücktes Mädel! Diese Sache hat mir rechten Kummer bereitet. Aber nun ist es, als seien mir Bergeslasten von den Schultern gewälzt, und jetzt sehne ich mich ordentlich danach, in Gottes freie Natur hinauszutreten und unserem Schöpfer recht aus freudigstem Herzen ein Dankgebet hinaufzusenden! Sie ist doch im Grunde ein gutes Kind bei all ihren Härten! Sie tut immer, als ob unsere Worte keinen Einfluß auf sie ausübten, aber im geheimen denkt sie doch darüber nach! Das siehst du an diesem Beispiel wieder ganz deutlich!« – »Ich meine«, sagte seine Frau, »wir lassen die beiden sich heute noch an ihrem Geheimnis freuen, am Abend oder morgen früh reden wir dann mit Peter, und dann feiern wir Verlobung, lassen sofort die Anzeigen drucken, und alles Gerede und Geklatsche ist mit einem Male aus der Welt geschafft.«
Am Abend desselben Tages saßen die beiden wieder beisammen, aber nicht heiter wie am Morgen, sondern in ziemlicher Verstimmung. – Peter und Liesel waren noch nicht heimgekehrt. Sie hatten sie im Walde verloren und seitdem nichts wieder von ihnen gesehen.
Liesel war vorausgelaufen, hatte Peter aufgefordert, sie zu fangen, und bei einer Wegkreuzung einen Seitenweg gewählt, von dem sie genau wußte, daß ihre Eltern, welche auf der Biegung noch nicht sichtbar waren, ihn nicht einschlagen würden. Dann folgte sie noch abgelegeneren Wegen, und so war sie schließlich mit dem ahnungslosen Peter in einen ganz einsamen Teil des weit sich hinziehenden Waldes geraten. Jetzt lief sie wieder vor ihm her, und plötzlich faßte sie seinen Arm, legte ihn sich um die Hüfte und schlang ihren eigenen um seinen Körper. »Aber Liesel! Wenn uns jetzt deine Eltern sehen!« sagte er glücklich, indem er sie, ohne es zu wollen, fest an sich drückte. – »Ach was, die sind weit weg!« Und jetzt endlich erklärte sie ihm ihren Streich. – »Aber Liesel, wie konntest du das tun! Jetzt müssen wir gleich umkehren und sie suchen!« Liesel aber lachte ihn aus und meinte, wenn er den ganzen Tag suchte, würde er sie doch nicht finden. – »Kennst du denn den Weg auch nicht?« rief er. Sie schüttelte den Kopf: »Gott bewahre! Aber wenn es Abend wird, dann gehen wir nach Süden, bis wir an den Rand des Waldes kommen; von da aus können wir uns leicht durch die paar Dörfer nach Hause fragen.« – »Und ich habe den ganzen Proviantkorb mitgenommen!« rief Peter plötzlich, indem er ein unförmiges Ding in die Höhe hob, das er am Arme trug. »Nun haben deine Eltern nichts zu essen und nichts zu trinken!« – »Desto besser! Um so mehr haben wir!« Sie schlug die Hände zusammen und tat einen Sprung, daß ihr der Streich so gut gelungen war. Peter sah sie halb ratlos, halb glücklich-verlangend an. – Sie gingen weiter, durch Busch und Dickicht, und endlich hielten sie an einem Plätzchen, das besonders lieblich von hohen Farnen umstanden war. »So. Und nun machen wir es uns bequem.« Sie schleuderte ohne weiteres ihr Oberkleid in einen Haselstrauch. »Komm Peter, zieh mir meine Schuhe aus!« Er bückte sich nieder und tat es, und sie packte ihn beim Kopf und rief: »Nun laß ich dich nie wieder los!« Jetzt lagen sie dicht nebeneinander im Grase und blickten in das wogende Grün und Blau über sich. Sie hielten sich noch immer gefaßt, und während sie ganz in den Anblick des Lichtes vertieft schienen, begannen ihre Hände unmerklich ein Spiel miteinander, ein Fragen und Antworten, ein leises Auf- und Niederfluten. – »Nein, wir wollen Wein trinken!« rief sie plötzlich, sprang auf, holte den Becher, trank, ließ Peter trinken, füllte von neuem, und dann blickten beide auf den dunkel-purpurnen blanken Spiegel, auf dem sie ihre eigenen Köpfe, die Kronen der Bäume in den Himmel leuchten sahen. – »Allen Wein müssen wir austrinken!« rief sie, »allen!« Sie lehnte sich zurück und setzte den Becher wieder an ihre Lippen. Und während sie trank, kam ihm der Gedanke, wie schön es wäre, wenn jetzt der Wein zu leuchten begänne und ihre weiße Kehle von innen rubinrot erstrahle. – Da goß sie ihm die letzten Tropfen ins Gesicht und warf ihm den Becher in den Schoß; und er füllte sich das letzte Glas.
»Oh, die Hitze! Liesel, ich zieh mir auch meine Jacke aus, und meinen Kragen und meinen Schlips.« – Sie flogen den Sachen der Liesel nach, in den Haselstrauch. – »Still! Kommt da nicht jemand?« Sie horchten und spähten nach allen Seiten durch die Farne. Aber es waren die Tannenzapfen, welche von den Bäumen fielen und mit dumpfem Geräusche auf den weichen Waldboden niederklopften. »Hierher kommt niemand!« sagte Liesel leise. Er wandte sich ihr wieder zu. Wie schön sie war! – Sie rüttelte ihn: »Da! Sieh nur!« Peter folgte der Richtung ihres ausgestreckten weißen Armes, und im nächsten Augenblick hatte sie mit schnellem Griff einen grünlich schillernden Käfer gefangen. Er wollte ihn haben, aber sie hielt ihn fest. Er erwischte nur ein Bein von ihm. »Ich will ihn aber ganz haben!« – »Du bekommst ihn aber nicht!« – »So, das wollen wir doch sehen!« – Er bekam abermals ein Bein. »Siehst du wohl!« rief sie, während er zum dritten Male zugriff. Diesmal war er glücklicher und erwischte das ganze Tier, das er in seiner ausgestreckten Hand besah, wie es langsam davonhumpeln wollte. Sie packte es abermals. Er sah sie glühend an. »Du sollst ihn aber nicht haben!« rief er leidenschaftlich und stürzte sich auf ihre Hand. Und als es ihm endlich gelang, ihre kleine geballte Faust zu öffnen, da lag das harte glänzende Tierchen darin, ohne sich zu rühren! Er riß es ganz auseinander. »So! Nun ist das unverschämte Tier tot!« rief er und schleuderte es in das Gras. Aber dann packte er Liesels Hand aufs neue und preßte sie, daß alles Blut aus ihr entwich. – »Komm, gib mir den Rest aus deinem Becher!« rief sie schnell atmend, indem sie sich frei machte. »Den müssen wir noch austrinken.« – »Wir wollen ihn zusammen auf einmal austrinken!« rief er. Sie lehnten ihre glühenden Wangen aneinander und schlürften den Wein bis zum letzten Tropfen, während ein kleines Rinnsal in der Mitte niederlief. Und dann hielten sie den Becher noch immer am Munde, ihre Gesichter noch fester aneinandergepreßt, während ihr heißer Atem zu ihren Schläfen hinaufstieg. – »Tanzen müssen wir, tanzen!« rief sie plötzlich, glühend. – »Tanzen?« Peter war verwirrt und erstaunt. Aber sie warf den Becher in den Rasen und sprang auf. Aus dem Boden riß sie eine lange Efeuranke und schlang sie sich dreimal um ihren schönen weißen Hals. Da stand er denn auch im Grase, und die flimmernde Sonne, die glitzernden Blätter, die nickenden Farnen und das Liesel selbst, alles sah er wie etwas Neues, das auf ihn eindrängte, ihn überflutete. Sie fielen sich um den Hals und drehten sich im Taumel, Bäume, Kräuter und das ganze Himmelsgewölbe tanzten mit, und dann lagen sie beide atemlos im Grase. Sie kniete über ihm, ihre Lippen waren auf den seinen. »Au!« rief er plötzlich, »hast du mich gebissen?« Er packte sie um den Leib, es entspann sich ein heftiges, wortloses Ringen. Aber er war stärker als sie und stemmte beide Arme gegen ihre Schultern. Da lag sie nun unter ihm, mit geöffneten Lippen und durstenden heißen Augen. Ihre Haare hatten sich gelöst; der Efeu hing ihr zerzaust am Halse. Aber die stählerne Kraft seiner Hände löste sich, und jetzt begann ein Spiel ihrer zwanzig Finger auf ihrer weichen, lebendigen Brust, ein Beben, ein Greifen, ein Tasten, ein Gleiten, von Augenblick zu Augenblick hastiger, leidenschaftlicher, wilder – da riß sie ihn mit der ganzen Kraft ihres Körpers an sich, und beide sanken in das Moos zurück.
»Sieh, wie die Sonne schon tief durch die Bäume blitzt! Komm, wir müssen fort!« Liesel lehnte gegen einen Baumstamm und sah auf den am Boden liegenden Peter. Der aber rührte sich nur eben und sagte: »So bleib doch noch! Wir finden schon nach Hause!« – Liesel ging ein paar Schritte, dann trat sie ungeduldig mit der Fußspitze ein Stück Rinde von dem Stamme. »So komm doch!« rief sie abermals, aber er hielt die Augen geschlossen und gab nur einen unverständlichen Ton von sich. Da flog ihm etwas Schweres aufs Gesicht; es war seine Jacke. Dann folgten Kragen und Schlips. Er erhob sich langsam und begann sich anzukleiden, während Liesel ihm zusah. Er blickte zur Seite. – Als er sich jetzt vollends aufgerichtet hatte und sich umsah, wie der Wald so ruhig und flammend um ihn stand, da überkam ihn ein sonderbares Gefühl: als habe er die lange Zeit mit Liesel allein zu sein geglaubt, während in Wirklichkeit tausend Augen auf sie niederschauten. – Und Liesel stand da, als ob sie jemand zum Spazierengehen abholte und nur etwas warten müßte. – Jetzt war er fertig. – »Vergiß den Korb nicht. Gott, bin ich hungrig!« Und sie biß tüchtig in die Brote hinein. Er aß ebenfalls etwas. – »Nun haben wir allen Wein ausgetrunken; wirklich zu dumm! Da, pack den Becher ein!« Er nahm ihn und sah gedankenvoll in seine Tiefe. Aber aus dem leichtgewölbten Grunde blickte ihm eine so erschreckliche, aufgedunsene kauende Fratze entgegen, daß er ihn augenblicks in den Beutel schob. Jetzt schritten sie nach Süden, fort und fort, Liesel voran; Peter ihr dicht auf dem Fuße, während nur das dumpfe Geräusch ihrer Schritte auf dem weichen glatten Nadelboden die Stille unterbrach. Sie erreichten den Rand des Waldes, und Liesel fand sich nun sehr gut zurück. Jetzt schritten sie die hohen gelben Kornfelder entlang, immer noch wortlos. – »Ich will noch heute mit deinen Eltern reden«, sagte Peter endlich. »Was hast du denn mit ihnen zu reden?« fragte sie zurück. Er sah sie erstaunt an. »Aber Liesel! Ich muß ihnen doch sagen, daß wir nun verlobt sind!« – »Verlobt sind?« wiederholte sie. »Wir sind doch gar nicht verlobt.« – »Aber Liesel!« Er errötete und blickte sie völlig verwirrt an. – »Ach so!« meinte sie. »Deshalb braucht man sich doch nicht gleich zu verloben!« – »Du kannst es ja nennen, wie du willst, Liesel. Aber ich meine, wir sind doch nun verbunden und heiraten uns!« – »Aber wir denken gar nicht daran!« rief sie, indem sie stehenblieb. – »Ja – aber, wie wollen wir es denn machen?« Peter war ebenfalls stehengeblieben. – »Gar nicht!« – »Gar nicht? Ja aber –, Liesel, ich verstehe dich nicht, wir müssen doch! Was willst du denn machen?« Liesel stutzte einen Augenblick. »Ach so!« sagte sie endlich, begreifend. »Ja, du glaubst doch nicht etwa –«, sie zog die Augenbrauen in die Höhe und blickte ihn halb lustig-gespannt und halb verwundert an. – Peter wurde brennend rot. Jetzt brach sie in ein helles Lachen aus: »Ich denke gar nicht daran! Niedlicher Peter! Du bist doch wirklich ein dummer Junge!« – »Aber Liesel, ganz gewiß, ganz gewiß; das weißt du nur nicht so! Möchtest du mich denn nicht heiraten?« Sie schüttelte energisch den Kopf. – »Aber Liesel, hast du mich denn gar nicht lieb?« – »Lieb? Nein. Hast du mich etwa lieb?« – Ihre Augen machten ihn verwirrt. Es lag etwas darin, das ihn leise erschauern machte, abstieß und anzog; etwas Kaltes, Grausames, Heimatloses. Er antwortete ihr nicht, sondern starrte in die violette Dämmerung, die sich jetzt mählich herabsenkte. So schritten sie wieder eine Weile stumm nebeneinander fort. – »Du bist doch ein komischer Junge«, sagte sie endlich. »Hast du denn noch nie in deinem Leben ein Verhältnis gehabt?« – »Nein«, antwortete er laut und bestimmt; »du etwa?« Sie erwiderte nichts, und als er deshalb sein Gesicht ihr zuwendete, sah er, wie sie vielsagend in die Dämmerung lächelte, während ihre Zähne ein paar reife Getreidekörner zerbissen. – »Hast du?« Er blieb wieder stehen und sah ihr erschreckt in die Augen. Sie blickte ihn jetzt voll an und sagte lachend: »Ist dir der Gedanke noch nie gekommen?« – »Nein, Liesel, niemals! Also, ich meine: ein wirkliches, richtiges Verhältnis?« – »Habe ich gehabt!« nickte sie und sah ihm triumphierend an die Nasenspitze. – »Ja, aber Liesel, dann bist du ja –« – »Eine ganz gemeine Person, willst du sagen. Weißt du, Peter, mit solchen Redensarten brauchst du mir nicht zu kommen; die haben keine Wirkung auf mich. Ich tue, was ich mag, und kümmere mich nicht darum, ob das gut ist oder schlecht.« – »Und deine Eltern?« – »Die brauchen davon gar nichts zu wissen; das gäbe nur unnötigen Zank und Aufregung. Und es käme doch nicht das geringste dabei heraus, denn sie würden mich absolut nicht ändern und nur sich und mir das Leben sauer machen! Ach, Peter, du bist eigentlich ein Schaf!« – »Liesel«, sagte er, »du gehörst mir, und ich heirate dich.« – »So! Glaubst du denn, daß ich dich ewig um mich haben mag? Glaubst du denn wirklich noch, daß ich dich liebe?«
»Weshalb hast du dann aber – weshalb hast du dann aber –«, er stockte. – »Doch nicht etwa, weil ich dich liebe?! Du gefielst mir plötzlich – das ist das ganze Geheimnis. Armer Peter! Sieh nicht so dumm aus!«
Ihm war es, als habe seine Seele einen Schlag mit einem Stock erhalten. »Adieu, Liesel«, sagte er auf einmal und reichte ihr die Hand.
Das letzte Dorf lag hinter ihnen, vor ihnen flimmerten die Lichter der Stadt. – »Was willst du denn machen?« – »Fort will ich; ich kann deinen Eltern nicht mehr vor die Augen treten.« – »Du kannst doch hier nicht im Freien übernachten.« – »Das ist mir ganz egal, wo ich übernachte; aber ich will nicht in euer Haus zurück!« – »So begleite mich doch wenigstens in die Stadt! Meinetwegen kannst du ja dann in ein Hotel gehen; aber hier mitten im Felde stehenzubleiben, das ist doch das Albernste, was du tun kannst! Überhaupt hast du doch all deine Sachen bei uns!« – Sie faßte ihn unter den Arm und zog ihn vorwärts. »Sei doch nicht so wie Blei! Geh doch mal wie ein anständiger Mensch!« – Er ließ den Kopf hängen und schwieg. Er war der unglücklichste aller Menschen; was nun kommen würde, wußte er nicht.
Zu Hause empfing man sie beide mit einer Flut von Fragen. Liesel erklärte alles, indem sie behauptete, sie hätten sich verirrt, und dann hätten sie die Eltern gerufen, laut und viele, viele Male, aber niemand habe geantwortet; sie wären den halben Weg zurückgegangen, und dann seien sie schließlich auf eigene Faust losmarschiert. – »Hoffentlich hat euch da niemand gesehen.« – »Nein, Mama.« – »Na, Gott sei Dank, daß du wenigstens mit Peter gingst!« Sie strich ihm mütterlich über die Backen. »Nun, Kinder, habt ihr euch denn jetzt miteinander ausgesprochen?« – »Ja-a, das haben wir, Mama; laß es dir nur von Peter erzählen! Gute Nacht, ich bin gräßlich müde!« Und sie ging pfeifend auf ihr Zimmer. »Nun?« wandte sich die Frau Kantor etwas verwundert an Peter, »das ist ja ein komisches Benehmen für eine Braut.« – »Ach, das ist sie ja gar nicht; wir sind ja gar nicht verlobt!« sagte er tief niedergeschlagen. »Sie will mich nicht!«
»Sie will dich nicht?« rief jetzt der Kantor, des höchsten erstaunt; »sie will dich nicht? Ja, ist denn das Mädchen reinweg von Gott verlassen? Ist sie plötzlich irrsinnig geworden? Heute morgen ist alles so gut wie abgemacht, sie zeigt ganz offen, daß sie dich liebt, dann macht ihr eine Partie zusammen ganz tête à tête, und nun liebt sie dich plötzlich nicht mehr? Habt ihr euch denn auf der Partie gezankt? Ist da etwas zwischen euch gekommen?« – »Nein«, sagte Peter, ohne ihn anzusehen. – »Hat sie dir denn mit klaren Worten gesagt, daß sie dich nicht will?« – »Ja.« – Der Kantor fuhr in die Höhe und durchmaß den Raum mit großen, Schritten. »Da soll doch gleich – na, warte nur!« Er stürmte zur Tür hinaus, kam aber bald zurück und sagte, Liesel habe sich eingeschlossen und behaupte, sie liege schon zu Bett. »Na, morgen früh! Das soll ihr schön bekommen!« – Frau Annette war wie vor den Kopf geschlagen. »Ich reime es mir nicht zusammen! Ist wirklich nichts auf der Partie vorgefallen? Du mußt offen reden, lieber Peter. Du hast doch Zutrauen zu uns; und Wahrheit ist hier vor allem am Platze!« Sie sah ihn mit großen, forschenden Augen an. Er wandte den Blick fort. »Ich sehe es dir an, Peter! Irgend etwas ist geschehen! Willst du es mir denn nicht anvertrauen? Was ist es, Peter?« – »Nichts, gar nichts!« sagte er tonlos und mit trockener Kehle und ging hinaus.
Der nächste Morgen brachte große Aufregung. Liesel weigerte sich entschieden und schroff. Ihre Mutter sprach von den Pflichten einer Tochter, von den Pflichten der Eltern und zog viele junge Mädchen zum Vergleich heran, die alle gut und glücklich verheiratet seien; nur sie allein scharwenzle noch mit jungen Herren herum; alle ihre Freundinnen hätten sich von ihr zurückgezogen; und sie hätten auch recht daran getan: Ihre Führung entspräche nicht der einer Tochter aus guter Familie: »Worauf in aller Welt bildest du dir eigentlich so viel ein? Bist du etwa was Besonderes? Dir ist da etwas angeflogen gekommen, Gott weiß woher, und nun trittst du auf wie eine Komtesse. Alles ist dir nicht gut genug, wenn wir dir etwas sagen, so hörst du nicht einmal zu, sitzt geistesabwesend dabei oder lachst vielleicht noch hinter unserm Rücken über uns – wer kann das wissen –; und nun wartest du, daß da irgendein Prinz ankommen soll, um dich zu heiraten. Ein guter, ehrlicher, einfacher Mann ist dir zu schlecht!«
»Ich warte auf gar keinen!« sagte Liesel sehr kurz; »ich will überhaupt nicht heiraten; aber so einen Schullehrer, den würde ich am wenigsten nehmen!« – Jetzt kam ihr Vater mit großen Schritten auf sie zu und nahm sie sehr unsanft beim Handgelenk: »Du dumme Gans! Du alberne dumme Gans: Was verstehst denn du vom Leben? Hat deine Mutter mich nicht geheiratet, und war ich etwas anderes als ein Schullehrer? Nun sag mir bloß mal: Was für ein Bild machst du dir eigentlich von deiner Zukunft? Irgendein Bild mußt du dir doch machen! Du lebst doch nicht wie das Vieh oder wie die Lilien auf dem Felde, die der liebe Gott kleidet! Irgendein Bild mußt du dir doch machen! Daß dies Promenieren, das Eislaufen und der übrige Kram nicht ewig dauern kann, das wirst du dir doch an den fünf Fingern abzählen können! Und wenn du nicht das geringste Ernsthafte in deinem Wesen hast, so werden deine sogenannten Verehrer auch endlich deiner müde werden. Was finden sie denn eigentlich an dir? Ich weiß überhaupt nicht, was ein Mann an dir besonders finden kann. Über was redet ihr denn immer zusammen? Sag mir bloß mal, über was redet ihr eigentlich immer zusammen?« – Liesel war schon längst ungeduldig geworden. »Papa, das verstehst du doch nicht!« – »Verstehst du doch nicht! Natürlich! Die übliche Antwort! Ich möchte wissen, was dabei groß zu verstehen ist. Jetzt will ich dir eines sagen: Entweder, du heiratest Peter Michel, oder wenn du das nicht willst – gut, dann müssen wir dich anderswie beschäftigen. Dann stecken wir dich in eine Nähschule, oder du wirst Erzieherin oder sonstwas. Es gibt da noch genügend Auswege. Aber das sage ich dir: Irgend etwas geschieht!« – »Ich gehe nie in eine Nähschule!« sagte Liesel kurz. »Eher laufe ich euch davon.« – »So! Aha! Ist ja reizend! Davonlaufen will sie uns. Ich möchte mal wissen, wohin, und wovon du da leben willst! Du hast ja nichts und bist ja nichts! Zu wem willst du denn laufen?« – »Zu irgendeinem von meinen Freunden«, sagte sie sehr schnell, wie hingeworfen, ohne ihre Eltern anzusehen. – Große Pause. – »Also so weit ist es gekommen!« sagte ihre Mutter mit trauriger Stimme. »So weit, daß sie nicht davor zurückschrecken würde, etwas Unehrenhaftes zu tun. Liesel, Liesel; du befindest dich auf einem gefährlichen Wege: Von dort ist nur noch ein Schritt, und du –« sie brach ab und vergrub das Gesicht in ihren Händen. – »Aber dann bist du unser Kind nicht mehr!« donnerte ihr Vater, »dann bist du verstoßen von uns für immer und ewig.« – Liesel war doch ein wenig erschreckt. Gereizt durch die Reden ihrer Eltern, war sie bereits auf dem Punkt gewesen, Dinge zu sagen, die eine Katastrophe herbeigeführt haben würden. Jetzt hielt sie an sich und schwieg. Es schien ihr plötzlich nicht mehr so sicher, daß ihr Vater sie schon nach acht Tagen zurückholen würde, und dann hätte sie doch zu einem ihrer Freunde gehen müssen; und wenn der sie dann satt bekommen hätte – ihr Stolz sträubte sich dagegen. – »Gut!« sagte sie nach einiger Überlegung, »dann gehe ich noch lieber in eine Nähschule!« und dachte: Das ist noch lange hin.
Jetzt trat Peter ins Zimmer; er sah ohne weiteres, was da besprochen wurde, und wollte sich zurückziehen. Aber der Kantor hielt ihn fest und sagte: »Du kannst ruhig dableiben, Peter. Was hier geredet wird, geht dich gerade so an wie Liesel. Also, um es gleich herauszusagen: Sie will dich nicht!« – Peter stand wie mit heißem Wasser übergossen. – »Ich habe meine Sachen schon gepackt«, sagte er dumpf. »Liesel, du weißt, was du tust!« Er sah ihr ins Gesicht, mit einem Blick, den nur sie verstehen konnte. Doch sie erwiderte ihn mit einem sorglosen Lächeln.