Friedrich Huch
Peter Michel
Friedrich Huch

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7. Kapitel

Nach solchen Tagen traumhaften Umherwandelns sollte Peter endlich die Lösung seines Rätsels erfahren. Durch eine geschäftliche Arbeit zurückgehalten, verließ er das Schulhaus eines Tages später als gewöhnlich. Wie er über den Hof schritt, erblickte er die helle Gestalt Frau Ottilies in ihrem Garten. Sie sah ihn ebenfalls, und plötzlich hielt sie eine große, dunkle Blume empor, wie um sie ihm zu schenken. Schwindelnd ging er auf sie zu, sie streckte ihren schönen Arm über das Gitter, und er konnte sie nur ansehen und immer wieder ansehen, ängstlich, selig zitternd. – »Warum wollen Sie mich nicht mehr kennen!« preßte er endlich hervor. »O Liesel!« – Er drückte beide Hände fest gegen seine Augen. – Sie sah ihn ganz erschrocken an. – »Warten Sie!« sagte sie endlich. »Ich hole meinen Hut, und Sie gehen unten an die Allee; hier kann ich nicht mit Ihnen reden.« – Peter ging wie im Traume; sie kam sogleich. – »Jetzt sagen Sie mir, was Sie von mir wollen!« sagte sie mit voller Stimme und sah ihn unruhig an. Sollte ihr Mann recht gehabt haben, als er sagte, Peter Michel sei nicht gesund im Kopfe? Sie hatte ihn gern, lieber als alle anderen Lehrer. – »Sie nannten mich vorhin Liesel; Sie nannten mich schon einmal so. Ich kann Ihnen versichern, daß ich Ihre Liesel nicht bin!« – »Nicht?« rief Peter und starrte sie traumhaft und ungläubig an. – »Nein. Überdies heiße ich Ottilie . . . Sie haben Ihre Liesel wohl recht liebgehabt?« – Sie errötete etwas bei den letzten Worten. – Peter konnte nicht antworten. Er blickte nur in diese dunklen Augen. Das Bild der Liesel und das Frau Ottilies waren im Laufe der Zeit in seiner Seele zu einem einzigen verschmolzen; jetzt wurden sie gewaltsam auseinandergerissen, und jedes von ihnen drohte zu versinken. Von seinem eigenen, ursprünglichen Bilde konnte er fast nichts mehr fühlen, denn seine ganze Seele hing hier an dem lebendigen. Gleichzeitig aber empfand er eine Abneigung, fast einen Haß gegen diese Frau, als habe sie ihn betrogen und ihm sein Liebstes geraubt. Und hatte sie ihm nicht stets zugelächelt, als hätten sie ein Geheimnis mitsammen? War sie nicht sogar errötet, wenn sie ihn sah? – Er blickte sie an, und für einen Augenblick noch mischten sich in seiner Seele beide Bilder.

»Warum haben Sie mich immer so angesehen?« stieß er leise hervor. – »Wie angesehen . . .?« – »Als ob – als ob Sie Liesel wären!« – »Habe ich das?« Eine liebliche Röte überflog ihre Züge. – »Das wissen Sie doch sehr gut! Weshalb taten Sie das?« – »Nun – weil ich Sie –, ja, weil ich Sie gern habe! Aber so habe ich Sie doch nicht angesehen, als ob ich Liesel wäre!« sagte sie rasch und sah ihn fast ein wenig schelmisch von der Seite an – »wir zu Hause sind freier erzogen als manche andere in anderen Kreisen – mein Mann wirft es mir immer vor, ich sei zu offen im Verkehr mit den Menschen. Aber ich meine, es ist doch nichts Böses dabei, wenn man den Menschen zeigt, daß man sie gern hat?!« – Peter wußte hierauf nichts zu antworten. Nach einer Weile sagte er: »Ja, nun kann ich Sie nicht mehr liebhaben!« – »Warum denn nicht?« rief sie beinah erschreckt. – »Weil Sie Liesel nicht sind!« – »Und wenn ich Liesel wäre?« – »Dann gehörten Sie mir!« – Frau Ottilie war nachdenklich geworden. »Erzählen Sie mir doch von ihr!« sagte sie zögernd. »Ich habe ja nun ein gewisses Anrecht darauf!« – Aber Peter war es, als sei ihm diese Frau ganz fremd, als wollte sie sich in sein Geheimnis eindrängen und als müsse er es um so sorgsamer verschließen. Gleichzeitig stieg ihm das Bild der echten Liesel, wie er sie als Kind gesehen, mit einer Deutlichkeit vor seine Seele, daß er jetzt auch sah, wie sehr sich Frau Ottilie von ihr unterschied. Diese war in eine etwas peinliche Lage geraten. Sie merkte, daß sie hier eigentlich nichts mehr tun könne. Und doch wußte sie nicht, wie sie der Unterredung ein Ende machen sollte. – »Wir können aber doch immer gute Freunde bleiben, nicht wahr?« sagte sie endlich. Peter nickte. Sie reichte ihm die Hand, und als sie sie ihm entzog, da war es ihm, als schwände mit ihr alles Glück von ihm. Dann starrte er ihr nach, die grüne, dämmernde Allee hinunter.

Es dauerte lange, bis ihm klar wurde, daß er sich ja im Grunde freuen müsse: Liesel war nicht mit dem Rektor verheiratet, und er konnte hoffen, daß sie ihm einst noch gehören könne. Aber es war sonderbar: dieser Gedanke gab ihm nichts von der erhofften Seligkeit, es war, als sei er plötzlich leer und blutlos geworden. Peter befand sich vor einem Nichts. Er konnte sich für Momente vergessen. Mit Glück dachte er dann an Liesel, in Wahrheit jedoch an Frau Ottilie. Im nächsten Augenblick aber verlosch das schöne Bild, und er befand sich wieder in unruhevollem Halbdunkel. Ihm war, als habe er sein Glück leichtsinnig verscherzt. Er kam sich vor wie ein ganz schlechter, gefühlloser Mensch. Alle Vernunftgründe halfen nicht dagegen; er war sich selbst zum Rätsel geworden.

Frau Ottilie vermied zunächst, ihm zu begegnen. Sie fragte sich sehr gründlich, ob sie ihrem Manne diese ganze Sache mitteilen müsse, und fand schließlich, daß sie diese Pflicht nicht habe. Sie wußte, daß er ihre Mitteilung verständnislos aufnehmen, daß er nur das Tatsächliche an ihr begreifen würde, ja, daß er vielleicht darüber lachte. Und das wollte sie nicht. Aber noch ein anderes hielt sie zurück: Ein derartiger Schritt wäre ihr, Peter Michel gegenüber, als ein Vertrauensbruch erschienen, als etwas Unzartes, Rohes, auch wenn er selbst nie davon erfuhr. – Ihr Gefühl zu ihm hatte fast etwas Mütterliches angenommen; sie hätte ihm gerne etwas Gutes angetan und wußte doch nicht was. Er kam ihr schutzbedürftig, hilflos vor, und sie, die zierliche Frau Ottilie, sie fühlte sich so stark und glücklich! – »Nicht wahr, Maxel«, rief sie und faßte mit ihren geschmeidigen Händen ihren Jungen mitten um den Leib, hob ihn im Schwünge hoch empor, daß er über ihrem Kopfe wie ein Frosch im Wasser zappelte, »nicht wahr, Maxel, wenn du deine Mutter nicht hättest?!« Dann schüttelte sie ihn, daß er laut aufjuchzte. – »Theodor, komm mal herein! – Sieh mal: könnte man ihn nicht ganz genau so als einen kleinen Engel oben an die Decke malen?«

 

Peter sollte seinen Freund Lottermeyer verlieren. Die Einleitung zu ihrem Bruche war eine ganz harmlose. Herr Ohlmüller nämlich, ein schöngeistiger, junger Lehrer, welcher in Peter Michel einen stillen Dichter witterte, schlug ihm eines Tages vor, ob sie nicht einen Verein gründen wollten von nur ganz wenigen Personen: solche, die Gesinnungsgenossen sind, nur ganz besondere Menschen. – »Wen?« fragte Peter. – »Ja, ich weiß auch eigentlich nicht viele außer uns beiden. Aber wir müssen unbedingt noch jemand finden; denn sonst ist es ja kein Verein. Was meinen Sie: Selch? Der redet prachtvoll über Geschichte! Solche Leute brauchen wir. Jeder soll wöchentlich einen Vortrag halten aus dem Gebiete, welches ihm eigen ist. Das kann sehr interessant werden. Denken Sie doch, wir können über manche Dinge ganz universell reden! Nehmen Sie die Belagerung von Syrakus! Selch gibt das Geschichtliche nach genauen Quellen, Sie demonstrieren die Pläne des Archimedes, und ich, nun ja, man hat mir ja hier leider Religion und Turnen aufgebürdet – aber ich könnte zum Beispiel das Philosophische dazu geben, höhere Gesichtspunkte andeuten, Völkerpsychologie und dergleichen. Was meinen Sie?« – Peter war dieser Vorschlag sehr unbequem. Aber er wollte nicht widersprechen – »Lottermeyer könnte dazu aus einem lateinischen Schriftsteller die betreffenden Stellen übersetzen!« sagte er. – »Lottermeyer? Nein, den wollen wir nicht. Der Mensch – ich weiß nicht, der kriecht immer so am Boden. Es fehlt ihm jeder Sinn für Höheres.« – »Dann kann ich auch nicht eintreten!« sagte Peter sehr bestimmt. »Er würde mir das furchtbar übelnehmen.« – Herr Ohlmüller fügte sich nach einigem Widerstreben. Für den nächsten Nachmittag berief man die Mitglieder zur Vorbesprechung. – »Kommt noch jemand?« fragte Lottermeyer, während er Peter und Ohlmüller seine etwas klebrige Hand reichte. – »Ja, Selch.« – »Selch? O du mein Himmel, den wollen Sie doch nicht mit aufnehmen?« – »Warum denn nicht?« – »Aber ich bitte Sie, der hat ja eine Kebse!« – »Eine was?« – »Eine Kebse!!« – »Ach so!« sagte Herr Ohlmüller etwas verächtlich. »Nun, das ist doch nicht so schlimm!« – »Und das sagen Sie, ein Religionslehrer?« – Jetzt trat Selch herein. An dem plötzlichen Verstummen und den verlegenen Gesichtern merkte er sogleich, daß man über ihn geredet hatte. Er entschuldigte sich, daß er so spät käme; er habe eine Abhaltung gehabt. – Aha! dachte Herr Lottermeyer und suchte einen verständnisvollen spöttischen Blick mit Peter auszutauschen, der steif an ihm vorbeisah. Selch hatte den Blick aufgefangen und errötete bis an die Ohren. »Weshalb haben Sie eben gelacht?« fragte er mit sehr starker Stimme. Lottermeyer fuhr erschreckt zusammen. – »Bitte – ich weiß nicht, es war gewiß nicht mit Absicht, es kam ganz aus Versehen.« – »So! Na, wenn ich Ihnen mal ein paar hinter die Ohren schlage, dann können Sie meinetwegen auch annehmen, es käme aus Versehen!« – Hierauf herrschte ein allgemeines peinliches Stillschweigen; Herr Lottermeyer war sehr blaß geworden, und um sich zu beschäftigen, putzte er sich die Nase; einmal, zweimal, dreimal. Als er fertig war, sagte Selch: »So. Jetzt sagen Sie mir: Worüber haben Sie gelacht?« – Herrn Lottermeyer griff es kalt ans Herz: »Aber ich habe bestimmt nicht gelacht. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich nicht gelacht habe!« – Jetzt hielt sich Peter nicht länger, er sagte Lottermeyer ins Gesicht, daß er ihn für einen Feigling halte. Da fuhr Lottermeyer auf ihn los, zischte, stotterte, lispelte und wisperte und verließ mit einem: »Pfui!« sehr schnell den Ort. Selch schlug Peter auf die Schulter: »Das haben Sie brav gemacht!« Peter aber war die Sache unendlich peinlich, obgleich er sich sagte, daß sein Verkehr mit Lottermeyer nun abgebrochen war. – »Wissen Sie«, sagte Ohlmüller, sich an Selch wendend, »was er vorhin für einen prachtvollen Ausdruck gebrauchte? Sie hätten eine Kebse!« – Selch verstand nicht gleich, aber dann brüllte er vor Lachen; das Wort gefiel ihm dermaßen, daß er es akzeptierte, und zwar für Lottermeyer selbst, den er fortan nur »die Kebse« nannte. –

Die Vereinsfrage löste sich nun wieder. Selch war auch eigentlich nur gekommen, um zu sagen, daß er nicht mittun wollte. – »Er hätte auch gar nicht dazu gepaßt!« sagte Herr Ohlmüller zu Peter später. »Er hat so etwas Geschorenes, so etwas: ich möchte sagen Männchenhaftes!«

Als Peter denselben Abend nach Hause kam, fand er einen Brief von Lottermeyer vor, welcher folgenden Wortlaut hatte:

»Lieber Freund, Du wirst mein Betragen von heute nachmittag vielleicht etwas sonderbar gefunden haben. Ich kann Dir aber versichern, daß alles von mir wohlberechnet war. Als Feigheit mochte erscheinen, was in Wirklichkeit eine Überlegenheit war. Dadurch, daß ich auf die Beleidigung Selchs nicht einging, erhob ich mich moralisch über meinen Gegner. Ich sagte mir: ›Wer Kot anfaßt, besudelt sich.‹ Und demgemäß handelte ich auch. Ich habe für Selch nur ein mitleidiges Lächeln übrig. – Daß ich mich Dir gegenüber hinreißen ließ, magst du dem Umstande zugute halten, daß ich all meinen Zorn, meine gerechte Entrüstung zurückhalten mußte und daß diese sich nun gewaltsam einen anderen Ausweg bahnte. Ich kenne Dich gut genug, um zu wissen, daß Du mir nichts übelgenommen hast. Wenn Du es jedoch verlangst, so revoziere ich hiermit alles, was ich gegen Dich geäußert habe. Damit ist die Sache, hoffe ich, abgetan. Heute abend gegen neun Uhr werde ich zu Dir kommen, dann wollen wir die Angelegenheit noch einmal sine ira et studio mündlich besprechen.

Lottermeyer«

Peter war des höchsten erschreckt über diesen Brief. Es hatte sich ihm bereits die Schärfe dieses Bruches etwas abgeschliffen, und der Umschwung, den er für ihn bedeutete, war ein so großer, daß ihm allein die paar Stunden, die er jetzt, nach jener Szene, mit der Aussicht auf eine freie Zukunft, ohne seinen Freund verbracht hatte, wie eine festliche Ewigkeit erschienen waren. Und nun sollte alles wieder zusammensinken? Er war fest entschlossen, unter keiner Bedingung den Verkehr wieder aufzunehmen. – Er setzte seinen Hut auf, um nicht zu Hause zu sein, wenn Lottermeyer käme. Aber er überlegte sich, daß das feige erscheinen könne – und außerdem würde er ihn ganz bestimmt auf der Straße treffen. So blieb er. Um sich zu zerstreuen, wollte er ein wenig lesen, und wie er so in seinen Büchern kramte, da fiel ein kleines Kreuz zur Erde. »Peter« leuchtete ihm durch die Dämmerung entgegen. Er starrte lange daraufhin, und seine Seele verlor sich in ferne Vergangenheit. Sie flog hinüber zu Frau Ottilie – ihre große Blume war inzwischen längst verwelkt –, wieder hörte er ihr helles Lachen, und dann sah er nur noch ihre – Liesels glimmerige schwarze Augen. Es läutete. Alles Blut lief ihm zu Herzen. Und dann kam Lottermeyer mit tadellosen kleinen Schritten auf ihn zu und sagte: »Freut mich sehr, daß du mich erwartet hast. Ich sehe daraus, daß alles zwischen uns beim alten ist.« – Peter konnte im ersten Augenblick kein Wort hervorbringen. »Nein«, sagte er endlich, »es ist nicht alles beim alten.« – »Nun ja«, erwiderte Herr Lottermeyer, »gewiß nicht; leider nicht. Aber ich bin ja nun auch gekommen, um alles, wenn du es verlangst, auch noch einmal mündlich zu revozieren. Aber ich denke, damit ist die Sache dann auch abgetan!« – »Nein«, sagte Peter, »damit ist sie nicht abgetan. Ich kann nicht mehr mit dir verkehren; meinetwegen revoziere, was du willst; was ich gesagt habe, revoziere ich nicht!« – »Aber lieber Freund, hast du denn meinen Brief nicht gelesen? Darin habe ich mich doch genug verteidigt! Und eigentlich sollte man das einem Freunde gegenüber gar nicht nötig haben! Aber es ist ja wahr; ich erschien vielleicht in der Angelegenheit in einem etwas schiefen Lichte. Aber nun weißt du ja auch den Grund dafür, und das sollte dir genügen! Du bist doch so aufgeklärt, daß du weißt: es gilt nicht ein und derselbe Ehrenkodex für alle Fälle! Es wäre mir ein leichtes gewesen, dem Menschen ein paar um die Ohren zu hauen, aber erstens liebe ich dergleichen Tätlichkeiten nicht, und dann heißt es bei mir auch: ›odi profanum vulgus et arceo!‹ Und außerdem, bedenke doch, was das für einen Skandal gegeben hätte! Denn das wäre doch natürlich herumgekommen; und was wäre das für ein Beispiel, das man der Jugend gäbe! Das alles habe ich sehr wohl überlegt. Ich wußte wohl, was ich tat. Ich habe mich selbst bezwungen. Ich gebe dir mein Ehrenwort darauf!« – »Das hast du heute schon einmal gegeben, als du sagtest, du hättest nicht gelacht!« sagte Peter und wunderte sich, wie schlagfertig er war. – »Nun ja – das ist ja wahr. Das war nicht recht von mir. Ich habe es auch hinterher bereut. Aber gerade daraus, daß ich dies Opfer brachte, kannst du sehen, wie schwer es mir geworden sein muß, mich zu überwinden.« – Peter wurde stutzig. Sollte er sich wirklich in Lottermeyer getäuscht haben? Hatte er wirklich mit voller Überlegung gehandelt? War das alles Selbstüberwindung gewesen? Er sah zweifelnd in das Gesicht seines Kameraden, dessen Mäuseaugen ihn durch ihre runde schwarze Umrahmung aufmerksam anblickten. Aber er schwieg. Lottermeyer erhob sich: »Also adieu«, sagte er; »nichts für ungut.« Dann ging er auf den Tisch zu, um seinen Hut aufzunehmen. »Was ist denn das?« fragte er und nahm das Buchzeichen auf, welches noch dort lag. »Na, na, ich will es dir ja nicht stehlen!« – Er dachte noch einen Moment nach, biß an seinem Schnurrbärtchen und sagte plötzlich: »Übrigens, könnte ich nicht deinen schwarzen Spazierstock mit dem Horngriff mitnehmen, den du mir neulich versprochen hast?« Peter holte ihn, und Lottermeyer bedankte sich. »Also adieu, schlaf gut!«

Peter seufzte tief, wie jemand, der meinte, eine Bürde los zu sein, und der nun sieht, daß sich der Weg, den er sie zu tragen hat, noch endlos in die Weite dehnt. – Aber es sollte anders kommen. Am nächsten Morgen erhielt er einen zweiten Brief von Lottermeyer, folgenden Wortlauts:

»Ich bereue, einen Schritt getan zu haben, von dessen Erfolglosigkeit ich von vornherein hätte überzeugt sein müssen. Ich habe Ihre Freundschaft auf die Probe gestellt, und sie hat sich nicht bewährt. Da Sie die Qualitäten nicht besitzen, die mir an einem Freunde unerläßlich scheinen, so spreche ich Ihnen hiermit meine Absicht aus, unsere Beziehungen, welche seit gestern abgebrochen sind, nicht wieder zu erneuern. Gleichzeitig rate ich Ihnen, jeden Wiederannäherungsversuch zu unterlassen, da ein solcher nur von einem vollständigen Mißerfolg begleitet sein würde.

Kuno Lottermeyer«

Peter schoß das Blut zu Kopfe. Sein erstes Gefühl trieb ihn, hinzugehen und den Menschen durchzuprügeln. Das also war das Ende! Nun war er der Abgewiesene! Der andere hatte den Spieß umgedreht! Durch Mogelei umgedreht! Dieser Feigling, dieser Schuft! – All sein Gleichgewicht hatte ihn verlassen. Er schrieb einen wütenden Brief zurück. Aber wie er ihn überlas, da war es ihm, als sähe er seine eigene Karikatur vor sich; er wurde ruhiger, bedachte sich und zerriß ihn wieder. Es war das beste, dem Lumpen in keiner Weise zu antworten. – Und nun hörte ihr Verkehr in Wirklichkeit auf. –

Hiermit war die Sache aber noch nicht abgetan: Lottermeyer schrieb einen Brief an den Rektor: Er hielte es für seine Pflicht, ihn von einer Sache in Kenntnis zu setzen, deren Geheimhaltung er nicht länger vor seinem Gewissen verantworten könne, da sie bereits auf die moralische Führung der Schüler ihre Schatten werfe und die Jugend wenigstens vor sittlicher Verseuchung bewährt bleiben müsse. Selch habe ein illegitimes Verhältnis, die Schüler seiner Klasse wüßten dies und sprächen darüber in wollüstiger Weise. Material zum Beweis stände ihm zu Gebote. – Der Rektor wußte nicht recht, wie er sich zu dieser Sache stellen sollte. Einerseits war er ein Mann der Aufklärung, der einen weiteren Blick zu haben glaubte als seine Umgebung, anderseits empfand er es als seine Pflicht der Schule und der Obrigkeit gegenüber, hier einzuschreiten. Das Verhältnis Selchs war ihm längst bekannt. Aber was übersieht man nicht alles, solange man es noch nicht offiziell weiß. Wenn das jedoch der Wahrheit entsprach, was Lottermeyer über die schädlichen Folgen geschrieben hatte, so war es allerdings die höchste Zeit, hier einzuschreiten und das Feuer zu ersticken, solange es noch kein Brand war. – Er lud also die beiden Herren zu einer privaten Besprechung in seinem Gemache ein. Selch warf Lottermeyer schmetternde Blicke zu, denen dieser bescheiden auswich. Er gab ohne weiteres zu, ein illegitimes Verhältnis zu haben. – »Sehen Sie«, sagte der Rektor, »an der Tatsache für sich nehme ich ja . . . natürlich ebenfalls Anstoß, aber Herr Lottermeyer behauptet, auch die Schüler wüßten darum, und ihr moralisches Gefühl würde verwirrt.« – »So!« – knurrte Selch. »Was haben denn die Schüler gesagt?« Herr Lottermeyer nahm seinen Zwicker ab und sagte: »Erstens führt Herr Selch den Spitznamen Philippine.« – »Ist das wahr, Herr Selch?« »Jawohl, Herr Rektor.« – »Heißt die Dame so?« – »Nein, Herr Rektor.« – »Das ist ganz gleichgültig«, fuhr Herr Lottermeyer emsig fort. »Das zeigt um so mehr, daß es sich in dieser Sache nicht um einen einzigen speziellen Fall, sondern um ein ganzes Gebiet handelt! Daß die Schüler durch diesen Namen einfach seinen Hang zum Niedrigen bezeichnen wollten.« – Jetzt nahm Selch das Wort und erklärte folgendes: »Ich habe in meinen Geschichtsstunden immer mit Vorliebe die rührende Geschichte von König Ferdinand und Philippine Welser erzählt und die Schüler stets darauf aufmerksam gemacht, wenn das bekannte Stück im Theater aufgeführt wurde. So kam es, daß mich die Schüler untereinander erst Philippine Welser nannten und später der Kürze wegen einfach Philippine. Das ist blödsinnig, aber es ist so. Sie können von den Schülern fragen, wen Sie wollen, ein jeder wird es Ihnen bestätigen. Jeder Lehrer hat einen Spitznamen, und Herr Lottermeyer wird wohl auch wissen, warum er ›die Ratte‹ heißt.« – Lottermeyer wollte ihm ins Wort fallen, aber Selch ließ es sich fürs erste nicht nehmen und erzählte jetzt dem Rektor seinen Vorfall der letzten Tage, um die Handlungsweise Lottermeyers ins rechte Licht zu setzen. Dieser verteidigte sich mit der ganzen Mäusehaftigkeit seines Wesens, sagte ziemlich wörtlich den Brief her, den er an Peter geschrieben hatte, und schloß damit, daß Herr Michel, ehe er ihn einen verächtlichen Menschen nenne, lieber selbst bei sich zusehen möchte, ob seine Sache so rein stände; gewisse Damen könnten wohl auch ein Wörtlein darüber aussagen. – »Was, wer?« fragte der Rektor. – »Nun, ich will gar nichts gesagt haben.« – »Bitte, sprechen Sie sich deutlicher aus.« – »Nun, ich meine, es war ja wohl schließlich klar, weswegen er immer auf Ihre Rosen aufpaßte. Ganz so dumm bin ich ja nun auch nicht, wie er denkt. Und dann habe ich sie ja auch zusammen gesehen.« – »Wen?« – »Herrn Michel und – nun ich meine, es war ja ganz offenkundig, daß er – daß er– daß er – eine so schöne Dame! Er hat sich wohl nichts Böses dabei gedacht.« – »Zum Teufel, jetzt reden Sie!« fuhr der Rektor auf, während Selch große Augen machte. – »Nun also, da Sie mich so drängen – Herr Michel ist ja mein Freund nicht mehr – also ich will sagen – daß des Herrn Rektors Frau Gemahlin – daß er sie immer angesehen hat, und daß er immer vor ihrem Fenster gestanden hat.« – Der Rektor war völlig sprachlos. – »Und was wollen Sie damit sagen?« fragte er endlich. – »Um Gottes willen, auch nicht den Schein eines Verdachtes gegen Ihre Frau Gemahlin aussprechen«, lispelte die Kebse, »Gott behüte mich! Aber auf der Allee, da haben sie ganz lange zusammen gesprochen!« – »So«, sagte der Rektor. »Wissen Sie, was ich von Ihnen denke? Ich will es lieber für mich behalten!« – »Ein Schuft ist er«, rief Selch, »ein Schuft und ein Kriecher!« – Der Rektor mahnte ihn zur Ruhe und verbat sich solche Ausdrücke. – »Jetzt sagen Sie mir, Herr Lottermeyer, was wissen Sie von der anderen Sache? Sie schreiben da in Ihrem Briefe, die Schüler hätten unsittliche Äußerungen getan über Herrn Selch. Erinnern Sie sich dieser Äußerungen?« – »Ja, Herr Rektor; ich habe sie mir sogar wörtlich gemerkt und aufgeschrieben. Hier, Herr Rektor, hier, in meinem Notizbuche! Am 25. August, Montag, morgens in der Pause zwischen 9 und 10 Uhr, als die Schüler der dritten Klasse Coetus b das Zimmer verließen, sagte der Schüler Morsbach zu dem Schüler Schulz: ›Der kam gewiß wieder von seiner Paula!‹« – »Heißt die Dame Paula, Herr Selch?« – »Nein, Herr Rektor.« – »Woher wissen Sie denn, daß mit ›er‹ Herr Selch gemeint war?« – »Nun, es war doch nach der Geschichtsstunde bei Herrn Selch, und die Schüler kamen gerade aus der Klasse! Und der Schüler Morsbach sagte das mit einem Gesichte, Herr Rektor, mit einem Gesichte! Und mit dem Tone!« – »Welche Äußerungen sind Ihnen noch bekannt?« – »Keine, die ich wörtlich zitieren könnte«, sagte Herr Lottermeyer zögernd. – Der Rektor schwieg eine Weile, dann ergriff er das Wort zu einer längeren Rede.

»Nun passen Sie mal auf!« hub er an. »Ich sitze nun zweiundzwanzig Jahre im Amt, mein Lieber; das heißt, ich bin seit zweiundzwanzig Jahren an der Schule tätig; vor drei Jahren wurde ich Rektor, und jetzt bin ich fünfundvierzig! Na, da können Sie sich denken, es ging nicht immer alles so glatt, wie ich es wünschte. Es gab hier Reibereien, es gab da Reibereien, ich hatte hier zu tun, ich hatte da zu tun; hier Mißhelligkeiten zu beseitigen, dort zu verhüten, daß Mißhelligkeiten entständen; hier sah ich die Personen sich entzweien, dort wieder sich versöhnen; man rief mein Urteil an, und ich gab mein Urteil; das heißt: ich ließ mir den Fall vortragen, unterzog das Material einer kritischen Prüfung und entschied erst dann, wenn ich die Sache Punkt für Punkt auseinandergenommen und sie darauf ebenso wieder Punkt für Punkt zusammengesetzt hatte. Vor allem stellte ich aber die berechtigte Forderung: ›Wenn ihr meine Zeit in Anspruch nehmt, so tut dies nicht für nichts und wieder nichts, sondern gebt mir eine Sache, die Hand und Fuß hat.‹ Und Ihre Sache, mein Lieber, sehen Sie, hat nun weder Hand noch Fuß. Sie kommen hierher, erheben planlos Beschuldigungen, die sich in nichts auflösen, bis auf die eine Tatsache, die wir alle längst wußten, daß Herr Selch eine Liaison hat. Mein lieber Freund: Herr Selch wird die Dame wohl heiraten – nicht wahr, Herr Selch, Sie werden die Dame heiraten?« Selch zuckte die Achseln und knurrte ein undeutliches »Ja.« »Nun sehen Sie wohl, mein lieber Freund. Herr Selch wird die Dame heiraten. Herr Selch ist mit der Dame verlobt, nicht wahr, Herr Selch?« – »Nein, Herr Rektor.« – »Nein?! Aber dann ist es allerdings die höchste Zeit, daß Sie sich mit ihr verloben. Na also, Herr Selch wird sich verloben, wird die Dame heiraten, und Sie, Herr Lottermeyer, können meinetwegen dann zu ihren Kindern Gevatter stehen. Und Ihre Paula wird wohl eine Tanzstundenliebe von irgendeinem Schüler sein, und nun ersuche ich Sie beide, mich zu verlassen, da ich beschäftigt bin.«

Draußen stand Selch und wartete auf Lottermeyer, welcher sich noch lange in dem Vorplatze zu schaffen machte, um endlich mit gespitzten Ohren ins Freie zu treten, forschend, ob die Luft rein sei. »Lassen Sie mich vorbei!« sagte er verzweifelt-bissig. Selch verabreichte ihm zwei schallende Ohrfeigen, die er geduckt über sich ergehen ließ. – »Schleich dich, Kebse!«

Der Rektor war am Tische stehengeblieben und dachte über das Gehörte nach. Sollte Michel wirklich seiner Frau wegen immer vor dem Fenster gestanden haben? – Es fiel ihm ein sonderbares Betragen bei ihrer ersten Begegnung ein. Das hatte er sich damals als übergroße Schüchternheit ausgelegt. Und was hatten sie auf der Allee zu bereden? Denn daß Lottermeyer dies rein erfunden habe, glaubte er keinen Augenblick. Dann überlegte er: Wie bekomme ich das wohl am besten heraus? Und schließlich dachte er, am klügsten würde er tun, wenn er sie ganz aus heiterem Himmel danach fragte. Als sie nach dem Abendessen auf dem Sofa saßen, sah er sie plötzlich fest an und sagte: »Was hast du denn mit Michel auf der Allee zu bereden gehabt?« – »Auf der Allee?« Sie überlegte schnell, ob sie Peter Michel kürzlich auf der Allee gesprochen habe, und dann wußte sie, daß ihr Mann jenes eine Mal meine. – »Wann?« – »Wann?! Nun, ich meine, was habt ihr denn so Wichtiges zu bereden gehabt?« – »Wer hat dir denn das gesagt?« Sie war ganz rot geworden. – »Das kann dir ja ganz egal sein. Es braucht mir überhaupt niemand gesagt zu haben.« – Sie aber hatte das sichere Gefühl, daß er es von Lottermeyer wisse, der des Nachmittags bei ihm gewesen war, der es durch irgendeinen Zufall erfahren und es ihm aus irgendeinem Grunde mitgeteilt haben mußte. Er sah sie noch immer an. »Nun?« – »Mein Gott, was sollen wir miteinander geredet haben! Geschwatzt haben wir halt! Du weißt doch, daß ich ihn gern mag.« – Diese letzte freimütig-unbefangene Äußerung beruhigte ihn etwas. Aber er war seiner Sache doch noch nicht ganz sicher. – »So! Geschwatzt habt ihr. Nun, worüber habt ihr denn geschwatzt?« – »Gott, über allerlei; aber was interessiert dich denn das so?« – »Höre, Ottilie, dahinter steckt noch etwas! Worüber habt ihr geredet? Ich will es wissen!« – Sie wußte gar keinen Ausweg. – »Nun?« – Sie faßte ihn an seiner Weste: »Frage doch nicht so viel, ich weiß ja gar nicht, was ich dir antworten soll!« Jetzt wurde er sehr ernst: »Willst du es mir nun sagen oder nicht?« – »Nein!« sagte sie ganz kläglich. – »Warum nicht?« – »Weil – weil es eine Vertrauenssache ist! Ja, eine Vertrauenssache.« – »Eine Vertrauenssache? Wie kommst du denn dazu, mit Michel Vertrauenssachen zu haben?« – »Ach, das ist so lang zu erzählen, und dann habe ich ihm auch versprochen, mit niemandem darüber zu reden!« – »Ottilie! Hat er dir vielleicht irgendwelche unehrenhafte Anträge gemacht?« – Da fing sie aber an dermaßen zu lachen, daß er ein ganz verlegenes Gesicht machte. »Nun ja!« sagte er etwas gereizt, »du weißt nicht, was es alles in der Welt gibt!« – Sie lachte noch immer. »Michel mir unehrenhafte Anträge machen! Das ist zu komisch.« – »So, na, dann hat er wohl nur den schüchternen Liebhaber gespielt, wie?« – »Nein! Du bekommst gar nichts zu wissen. Männer müssen nicht so neugierig sein; ich kann auch einmal ein kleines Geheimnis haben!« Er fragte noch ein paarmal, aber sie ließ nur noch kleine, klingende Gelächter hören, sagte, er sei ein alter Bär, und sah stillvergnügt und zufrieden vor sich hin. – Er sah, daß da nichts zu machen war. So viel aber fühlte er doch, daß die Ehre seines Hauses noch aufrecht stand.

So ging der Sommer hin. Peter war durch seine Schultätigkeit so in Anspruch genommen, daß ihm nicht viel Zeit zum Träumen übrigblieb. Und wenn er hinüberdachte zu Liesel-Ottilie, so geschah es mit einer stillen Trauer. – Und so kam der Herbst herbei, und dann war es ganz spät im Herbste, aber an einem Tage, wo der Sommer sein letztes, leuchtendes Fest zu feiern schien. Peter war viel in Wald und Feld herumgestreift, er wandte sich dem Heimweg zu, und da erblickte er plötzlich Frau Ottilie, welche einen Hang herab gerade auf ihn zu kam. Sie trug ein schmalstreifiges, weiß und hellviolettes leichtes Kleid, das ihren schönen Hals frei ließ, ihr dunkles Haar hatte sie umkränzt mit rostrotem und gelbem Blätterwerk; die Abendsonne leuchtete in ihren Augen und übergoß ihr Gesicht mit einem braungoldenen, warmen Schimmer, und hinter ihr lag der gründunkle Fichtenwald, und über ihr blaute der tiefe, stille Herbsthimmel. – So schön hatte er sie noch nie gesehen. Er verzögerte seine Schritte. Ihre Gestalt hob sich leicht und elastisch, ihre Augen lächelten ihn an, und jetzt stand sie vor ihm. Ihr Körper war durch das schnelle Gehen in eine sanfte Erregung geraten, ihre Nasenflügel bebten leise. – Wie kann man nur so schön aussehen! dachte er, so schön und glücklich! Sie streckte ihm wortlos ihre Hand entgegen, und er sagte: »Sie sind wunderschön!« Und sie antwortete: »Ja, das gehört sich auch an einem solchen Tage! Sie sollen sich auch schmücken, kommen Sie!« Sie beugte sich zur Erde nieder, pflückte eine rote Sommerblume, die sich dort verspätet hatte, und steckte sie ihm vor die Brust. – »Gehen Sie ein Stück mit mir herunter? Ich bin vorausgelaufen. Mein Mann wird wohl gleich da herauskommen!« Sie deutete auf den Wald. »Sehen Sie, da kommt er schon!« – Da kam in der Tat der Rektor aus dem Wald geschritten. Er hatte den Hut seiner Frau und seinen eigenen in der Hand, seine Schläfen schmückte ein Kranz von Eichenlaub, den er mit Würde trug. – »Nun sieh mal einer an!« rief er. »Ich gehe da ahnungslos und gemächlich im Walde spazieren, und derweil vergnügt sich meine Frau hier mit jungen Herren!« Er wollte ihr zeigen, daß er keineswegs der schwerfällige Pedant sei, für den sie ihn vielleicht halten konnte. – »Haben Sie schon gemerkt, Herr Michel«, fuhr er fort, indem er stehenblieb und sich langsam im Kreise umschaute, »daß sich hier ganz andere Bäume befinden als innerhalb der Stadt? Hier gedeihen die Tannen. Bei uns können sie nicht leben; das macht die verdammte schwefelige Säure, die unsere Kohlen entwickeln!« – Peter bedauerte höflich, daß dies so sei, aber Frau Ottilie rief: »Wenn ihr von Chemie redet, so laufe ich davon! Ich bin keine gelehrte Frau.«

Am Tore der Stadt, dort, wo die Verlängerung der Hauptstraße ausmündete und neuangelegte, jungbepflanzte Seitenalleen im Bogen abzweigten, wollte sich Peter verabschieden; aber der Rektor war in besonders jovialer Laune: »Begleiten Sie uns doch noch ein Stück, Herr Michel. Warum wollen Sie denn schon davonlaufen?« – So gingen alle drei in die Stadt hinein. Der Rektor redete noch einiges über die Schönheit der Natur, die nur von den Menschen verunstaltet würde › er deutete auf die beschnittenen Bäume am Wege –, über die geringe Eigenart der modernen Architektur, die er an den Häusern demonstrierte, und über die Lohnverhältnisse der Arbeiter. Nun wußte Peter nicht recht, wie und wo er sich verabschieden sollte; auch konnte er den Rektor nicht wohl unterbrechen. So kam es, daß sie schließlich alle drei vor dem Schulgebäude anlangten. Peter hatte hie und da ein paar Bemerkungen eingeworfen, die dem Rektor recht wohl gefielen, da sie genau mit seinen eigenen Ausführungen übereinstimmten. Jetzt dachte er einen Augenblick nach, als ob ihm ein besonderer Gedanke gekommen wäre, dann nahm er seine Frau beiseite und flüsterte etwas. Sie brach aber diese Heimlichkeit sogleich ab und wandte sich an Peter: »Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie heute den Abend mit uns verbrächten!« – »Bei einem frugalen Schmause!« erläuterte ihr Gatte. – Peter erschrak vor Angst und Freude.

So saß er bald darauf wirklich im Wohnzimmer der Rektorsfamilie und wußte fast nicht, wie er da hineingekommen war. – Frau Ottilie hatte sich sogleich zurückgezogen und war in der Küche beschäftigt. Der Rektor saß auf dem Sofa, rauchte und entwickelte Peter seine Ideen über das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern und Lehrern und Rektor einerseits und zwischen den Lehrern und Schülern unter sich andererseits, so wie er es sich dachte, wie es aber leider nicht der Wirklichkeit entspräche. Peter hatte hierbei einen leichten Stand, denn er brauchte nicht viel zu sagen, und wenn er etwas redete, so nahm ihm der Rektor den Faden alsbald mit Liebenswürdigkeit und Nachdruck aus der Hand und spann ihn selbst mit Ernst und Umsicht weiter, kein Nebenfädchen übersehend, ja sogar scheinbar abgelegene Dinge mit in den Bereich seiner Beobachtungen ziehend, auf solche Weise seinen Ausführungen Gründlichkeit und verschiedene Beleuchtung und seinem Faden wechselreiche Farben gebend. Dazwischen trat einmal Frau Ottilie ins Zimmer, in einer leuchtend-weißen Schürze, geradewegs vom Küchenherde kommend. Und dann erschien sie abermals, ohne Schürze, frisch und heiter, und erklärte, das Essen stände auf dem Tische.

Der Rektor verlangte durchaus, Peter solle seine Frau zu Tische führen, was ihn in die größte Verlegenheit setzte. Und da er sich nicht rührte, faßte ihn Frau Ottilie leicht und fast unmerklich, unter den Arm und führte ihn zu Tische. – Das Söhnchen saß bereits auf seinem hohen Kinderstuhle und schaute mit erhobenem Löffel ernst und wartend drein. Der Rektor meinte, das Kind hätte wohl vom Tische entfernt werden können, aber Frau Ottilie sagte, Herr Michel würde das wohl nicht übelnehmen, sie hätten ihn doch zu einem Familienabendessen eingeladen, und zur Familie gehöre auch das Kind! Dabei strich sie über ihres Jungen Backen. Der Herr Rektor fand dann auch alles in Ordnung und lud Peter ein, tüchtig zuzugreifen. So aßen sie denn alle; der Rektor mit Behagen und sichtlichem Wohlgeschmack, Frau Ottilie mit Zierlichkeit und in einer Art, daß man eigentlich kaum merkte, daß sie aß, und das Kind mit der Regelmäßigkeit einer kleinen Maschine. Da Peter sah, wie es sich alle schmecken ließen, so schwand seine Befangenheit, er benahm sich mit Takt und Umsicht und wußte bald hier ein Brötchen, bald da ein Stückchen Butter oder eine Scheibe Schinken ohne Aufsehen zu erreichen. Für die Unterhaltung sorgte Frau Ottilie, die allerhand Neuigkeiten wußte und sie in einer spielenden Art vortrug. – Das Kind fühlte sich durch den ungewohnten Gast beunruhigt. Es schielte ab und zu von seiner Suppe zu Peter hinüber und erwiderte dessen freundliches Lächeln mit ernsten Blicken. Frau Ottilie bemerkte dies und sagte: »Nun, Maxel, Herrn Michel kennst du doch! Der hat dir doch damals deine Peitsche so schön zurechtgemacht! Ach, das weiß er nun nicht mehr!« – Aber der Rektor meinte, er wisse doch nicht, ob Herr Michel so geheuer sei. Er habe schon manchmal von Räubern gehört und von Menschenfressern! – Maxel hielt mitten im Essen inne, den Löffel im Munde behaltend, und sah Peter mit erschrecktem Blicke an. – »Sieh dich nur vor!« fuhr sein Vater mit erhobenem Zeigefinger warnend fort. »Paß auf, gleich kommt er und frißt dich: eins – zwei –« Aber ehe er drei gesagt hatte, warf sich Maxel mit einem lauten Schrei seitwärts auf den Schoß seiner Mutter. Da ihm die große, umgebundene Serviette zugleich als privates Tischtuch diente, so gingen die auf ihr befindlichen Gegenstände mit. Frau Ottilie rettete durch einen schnellen Ruck ihr Kleid vor dem Verderben und verschwand mit dem Kinde, das gewaltig schrie, im Nebenzimmer. Ihr Mann war verblüfft und etwas aufgebracht. – »Siehst du wohl«, sagte er, als sie wieder eintrat, »ich habe es dir doch gleich gesagt: Das Kind paßt nicht an einen Tisch mit Gästen! Da sieht man wieder, was dabei herauskommt, wenn die Frau klüger sein will als der Mann!« Frau Ottilie aber lachte nur, legte ihre Hände auf sein Haar, sagte, er habe immer recht, und es solle nicht wieder vorkommen.

Bald nach dem Essen klingelte es, und der älteste Professor trat ins Zimmer. Er hatte das Vorrecht, ohne Einladung zu erscheinen. Peter wurde in die Geheimnisse des Kartenspieles eingeweiht, aber da er sich ungelehrig bewies, gab man es wieder auf. »Ihr spielt doch sonst allein!« sagte Frau Ottilie. »Ihr braucht euch wegen Herrn Michel nicht zu genieren. Der nimmt auch ganz gern einmal mit mir allein vorlieb!« – Sie ging mit Peter in das Wohnzimmer, damit der Gang des Spieles durch ihre Unterhaltung nicht gestört würde.

So saßen sie beide nebeneinander auf dem Sofa. Ihm klopften die Schläfen. Jetzt war er mit ihr allein! Das nahm ihm fast den Atem. – Sie stellte die Lampe auf einen Schrank hinauf. – »So taten wir zu Hause immer«, sagte sie. »Das Licht hoch oben, und dann noch ein buntes Papier herum – aber das Papier hat mir mein Mann verboten. Er findet es unpraktisch und phantastisch. Aber heute wollen wir uns das doch einmal leisten.« – Sie kramte in einer Lade und holte ein großes dunkelrotes Seidenpapier hervor, wand es um die Lampe, und im Nu war das Zimmer in ein Purpurmeer getaucht. Dann holte sie Krachmandeln und Früchte, schälte ihm eine Orange, und er mußte ihr Nüsse knacken. – Das war eine gänzlich neue Situation für ihn. Er war glücklich-still. Von Zeit zu Zeit warf er einen scheuen Blick zu ihr hinüber, sah aber gleich zur Seite, wenn sie ihn ebenfalls anblickte.

Frau Ottilie war nicht ganz so unbefangen, wie sie erschien. Was steckte eigentlich in diesem Peter Michel, der so wenig sagte und so viel für sich zu behalten schien? Was war ihr an ihm so tief sympathisch? Sein Gesicht war kein schönes. Nur in seinen Augen, ja, in denen lag etwas Seltenes. – Sie sah ihm unwillkürlich voll ins Gesicht; er wollte den Kopf zur Seite wenden, aber es ging nicht mehr, und so lächelte er sie hilflos an. Nun war es wieder für sie zu spät geworden, ihren Blick ohne weiteres von ihm fortzuwenden, Und deshalb erwiderte sie sein Lächeln. So saßen sie eine kleine Weile. Sie sah, er litt an einem dumpfen Unglück. – »Kann ich Ihnen helfen?« sagte sie plötzlich, fast unwillkürlich. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und sah ihm voll und eindringlich in die Augen. Da saß er ganz still, in heftigster Anstrengung, aber endlich zuckte es um seine Lippen – er entzog ihr seinen Arm, erhob sich und kehrte langsam von ihr ab. Es folgte ein kleines Schweigen. – »Habe ich Sie gekränkt?« – Er schüttelte den Kopf. – »Ich möchte so gerne, daß Sie glücklich wären!« sagte sie nach einer Weile; »sehen Sie, halten Sie mich nicht für unzart, aber ich möchte so gerne, daß Sie – daß ich einmal ganz frei und herzlich mit Ihnen reden könnte. Sie sagten mir damals, daß Sie ein Mädchen lieben; es sind Monate darüber verflossen. Damals waren Sie traurig, und Sie hatten einen Grund dazu. Sie glaubten, jenes Mädchen gehöre einem anderen. Dann erfuhren Sie, daß dies nicht der Fall sei, es sind Monate darüber vergangen, und jetzt sind Sie noch immer in Ihrer schweren, gedrückten Stimmung. Wie kommt das?« – Peter schwieg und sah zu Boden. – »Hat sie Ihnen geschrieben, daß sie Ihre Liebe nicht erwidert?« – »Sie hat mir überhaupt nicht geschrieben.« – »Nicht?« – »Nein, warum hätte sie mir denn schreiben sollen?« – »Aber sie mußte Ihnen doch wenigstens antworten!« – »Auf was denn?« – »Haben Sie ihr denn nie geschrieben und ihr gesagt, daß Sie sie lieben?« – Er schüttelte den Kopf. – Frau Ottilie war sehr erstaunt. – »Aber das war doch das erste, was Sie hätten tun müssen! Weshalb taten Sie es denn nicht?« – Peter blickte in ihre dunklen, dämmernden Augen und sagte hilflos: »Ich weiß es nicht!« – »Was sind Sie für ein Kind!« sagte sie fast zärtlich. »Natürlich hätten Sie schreiben müssen, denn sonst erfährt sie ja nie, daß Sie sie lieben, und dann heiratet sie vielleicht einen anderen, und dann ist es für immer zu spät für Sie! Schreiben Sie ihr! Wollen Sie mir versprechen, daß Sie ihr schreiben wollen?«

Peter stand wieder vom Platze auf, machte langsam einige Schritte von ihr weg und blieb dann unbeweglich. – »Ich kann ihr nicht schreiben!« sagte er endlich. – »Warum können Sie nicht?« – Er rang mit sich selbst. – »Ach, ich weiß ja gar nicht, ob ich sie liebe!« – Frau Ottilie fühlte plötzlich, daß hier etwas lag, was sie nicht kannte. – »Sie wissen es nicht?« fragte sie etwas unsicher. »Aber damals, als wir uns in der Allee sprachen, als Sie Ihren Irrtum erkannten, da wußten Sie es doch? Was hat sich denn seitdem geändert?« – Peter fühlte, wie ihm das Atmen schwer wurde, als, würde er über Stromschnellen fortgerissen. – Sein Blick brach sich in ihren Augen. – »Alles!« stieß er hervor und drückte sein Gesicht gegen die Wand. – Jetzt verstand sie ihn; sie war sehr erschrocken. – »Kommen Sie!« sagte sie nach einer Weile, »setzen Sie sich zu mir auf das Sofa!« – Er wandte ihr den Kopf zu, vor seinen Augen schwamm eine nebelhafte dunkle Röte, aber dann tauchten ihr Gesicht und ihre Gestalt wieder vor ihm auf. Sie reichte ihm die Hand. Er ergriff sie und preßte sie gegen seine Stirn. – »Ich glaube, daß Sie sich selbst nicht genau kennen!« sagte sie leise und zart. »Was Sie mir damals sagten, war gewiß das tiefe und echte Gefühl in Ihnen, und wenn auch manches dazwischengekommen sein mag, so glaube ich doch, daß es mit Ihrer Liebe nicht ein für allemal vorbei ist. Sie werden sehen, das Gegenteil ist der Fall. Sie haben das junge Mädchen jetzt lange Zeit nicht gesehen, Sie haben sich ein verändertes Bild von ihr gemacht, und Sie werden sehen, daß sie dieses Bild in Wirklichkeit bei weitem übertrifft! Sie müssen es auf irgendeine Weise möglich machen, daß Sie mit ihr zusammentreffen. Reisen Sie in den Ferien zu ihr hin; oder vielleicht kommt sie mit ihrem Vater hierher. Das kann man ja alles nicht wissen. Aber jedenfalls tun Sie doch alles, was Sie können, um sie wiederzusehen. Wenn sie Ihnen dann nicht mehr so viel ist wie früher, so ist das traurig für Sie; aber jedenfalls haben Sie doch dann Gewißheit, und die ist unter allen Umständen Ihrer jetzigen unklaren Stimmung vorzuziehen, die Sie nur unglücklich macht ohne jeden wirklichen Grund! Tun Sie es! Nicht wahr?« – Peter starrte vor sich hin und fühlte, wie ihre Augen auf den seinen ruhten. Was sie gesagt hatte, war ja nicht ganz unmöglich, und wenn er es auch nicht glaubte, so konnte er ja doch einen Versuch machen, das war das einzige, was überhaupt Aussicht für ihn hatte. Er nickte langsam. Aber ein Gefühl großer Trauer senkte sich auf seine Seele. Ihm war, als habe ihn Frau Ottilie in eine Einsamkeit begleitet und ließe ihn nun plötzlich stehen, allein und ohne daß es ihr weh tat. Aber das verminderte nichts von seiner Liebe, es gab ihr nur etwas noch Stilleres und versenkte sie noch tiefer in sein Inneres.

Aus dem benachbarten Zimmer ertönten jetzt Geräusche. Die Tür öffnete sich. – »Ja, was ist denn das?! Sehen Sie nur, Hannemann, was sieh die beiden für eine Illumination gemacht haben!« Professor Hannemann schüttelte den Kopf: »So habe ich mir immer die Hölle vorgestellt! Die Hölle habe ich mir so vorgestellt, die Hölle!« Der Rektor entfernte das rote Papier, und das Zimmer lag wieder im fahlen Lampenlichte. »Ja, aber wenn uns dort Teufel in so artiger Gestalt aufwarten«, fuhr der Professor mit einer Verbeugung gegen Frau Ottilie fort, »so will ich mir die Hölle schon gefallen lassen.« – »Sie alter Don Juan!« rief der Rektor, »Sie alter Don Juan!« und lachte aus vollem Halse. Dann entdeckte Herr Hannemann die Krachmandeln und wollte durchaus ein Vielliebchen mit Frau Ottilie essen. Um sich zu beschäftigen, begann Peter sie alle aufzuknacken, aber es zeigte sich, daß auch nicht eine einzige doppelte Mandel unter ihnen war. So meinte denn Herr Hannemann, dies sei eine Lektion des Himmels, und empfahl sich. – Bald darauf ging auch Peter Michel.

»Worüber habt ihr denn miteinander geredet?« fragte der Rektor Frau Ottilie. – Sie schwieg, dann antwortete sie: »Über seine baldige Verlobung.«


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