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Seiner Umgebung entfremdete er sich mehr und mehr. Nie wieder sprach er von dem Bilde, in Gegenwart anderer sah er es nicht einmal an. Es war unausbleiblich, daß sein verändertes Wesen auffiel. Mit fremd leuchtenden Augen kam er zu Tisch, antwortete nicht, wenn ihn sein Vater anredete, und fuhr erst empor, wenn man laut seinen Namen nannte. In der Schule ward er nachlässig, die Strafzettel mehrten sich. Frau Elisabeth suchte den Grund herauszufinden für seine Änderung, aber er wich bei jedem näheren Wort zurück, und ihm heimlich nachzugehen, ihn zu belauschen, diesen Gedanken wies sie als unwürdig vor sich und ihrem Sohne ab, obwohl der Justizrat sagte, es sei ein jedes Mittel zu ergreifen, wenn es sich um das Wohl der Kinder handele.
Ursula hatte sich nie sehr um ihren Bruder gekümmert, sie war stets viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Und mit was für Dingen! Halb in Mitleid, halb in Verachtung blickte Thomas auf sie. Ihre neueste Schwärmerei war eine große Puppe, die ihr vor kurzem ihre Mutter schenkte, da sie fand, daß Ursulas Gedanken sich viel zu ausschließlich um sich selber drehten. Wenn Thomas, von Maos Bilde kommend, auf dieses Wesen stieß, das mit ewig gleichem, frohem Erstaunen, mit halbgespreizten Armen lebendig entseelt ins Leere lächelte, erschien ihm Ursula selber wie seelenlos.
Übrigens dauerte ihre Leidenschaft nicht lange. Daß die Puppe immer denselben Kopf behielt, mißfiel ihr, sie begann, ihr phantastische Trachten zu nähen, kleidete sie bald als Wickelkind und bald als Dame, bald als beides zugleich, bog ihr alle Gelenke nieder und behauptete, sie sei ein Hund, trommelte auf den Tisch und ließ sie tanzen, und prügelte sie endlich nur noch. Frau Elisabeth sah dem Treiben nicht mit Freude zu. Ursula aber sagte: »Es ist doch nur eine Puppe.« Dann klopfte sie mit dem Finger an den kleinen Kopf und sagte: »Hohl!« Und von der Zeit an nannte sie sie nur noch »Hohlkopf«, bis ihre Mutter endlich empört dem Unwesen ein Ende machte, indem sie vor Ursulas Augen Puppe, Kleider und Zubehör in einen großen Kasten packte, um alles zusammen einem armen Kinde zu schenken, das mehr Freude daran haben würde. Ursula sah ruhig zu, die Hände verschränkt auf dem Rücken haltend, ja sie holte noch einiges Vergessene herbei, und mit Händen und Zähnen verknotete sie endlich den schon geschnürten Kasten. Und wie sie alles so verpackt sah, bedauerte sie, der Puppe ein Bein ausgerissen zu haben, was Frau Elisabeth als ein Zeichen von Reue ansah. Sie wollte, überzeugt, daß sie sich Besserung vorgenommen und nur zu stolz sei, um zu bitten, ihr entgegenkommen, aber Ursula lachte, verhinderte sie am Wiederauspacken und sagte, sie sei froh, das Geschöpf los zu sein. – In solchen Augenblicken fühlte Frau Elisabeth sich wie gelähmt, und fast etwas wie Feindschaft stieg empor zwischen ihr und ihrem Kinde. Ursula aber merkte dergleichen nicht; fast in dem Augenblicke, wo sie gescholten wurde, stellte sie oft unbefangen Fragen, die sich schon wieder auf eine neue Sache bezogen, so daß Frau Elisabeth ihr ganzes erzieherisches Besinnen nötig hatte, um ihr richtig zu begegnen. Strafen verfingen bei ihr nicht; sie nahm sie alle auf sich mit bescheidener Miene, wie etwas Selbstverständliches, das nun einmal zum Leben gehört, das lästig ist, aber ertragen werden muß. – Wie schade, dachte ihre Mutter zuweilen, daß sie kein Knabe wurde, und Thomas nicht ein Mädchen!
Maos Bild war Ursula verschlossen. Ein wonniger Schwindel überlief ihn, als sie einmal zu ihm sagte: »Wenn so ein Bild über meinem Bette hinge, das überhaupt kein Bild ist, dann würde ich es einfach forttun!«
So verlor er mehr und mehr von seinem Mißtrauen und ward sorgloser. Wie aber bereute er es später! Als er einmal ahnungslos in sein Zimmer trat, um eine Blume zwischen Bild und Wand zu schieben, stand Ursula davor, bewegte den Arm wie einen Taktstock und murmelte halblaut: »Hokuspokus, hokuspokus.« Das Blut stockte ihm. Er wußte sofort und ohne Vermittlung, daß sie ihn verhöhnen wolle, daß sie auf irgendeine Weise in sein Geheimnis drang. – »Nun, Thomas,« rief sie, »es begibt sich ja gar nichts? Ich will, daß da oben was erscheinen soll, aber es kommt nichts.« – Sie begann wieder mit ihren Bewegungen, immer schneller, daß ihr Oberkörper mitpendelte. – Da trat er auf sie zu, zog sie langsam und stark empor und führte sie, die nicht wußte, was er vorhatte, hinaus, verschloß die Türe hinter ihr und sah mit brennenden Augen durch das Fenster über die Büsche hinweg zum Himmelsrande, ohne auf die Tür zu achten, die in plötzlicher Empörung dröhnte und zitterte, ohne seiner Schwester Antwort zu geben, die endlich mit der Drohung fortlief, sie sage alles ihrem Vater. – Er wußte, nun geschah etwas Schreckliches. Wie im Traum ging er herum. Gegen Abend ward er ins Arbeitszimmer des Justizrats gerufen. Es wurde ihm eröffnet, er solle zu Ostern bereits in die zweite Klasse des Gymnasiums aufgenommen werden. Er werde viel zu arbeiten haben, und das sei gut. Sein Vater selbst wolle ihn unterrichten, und da er des Tages beschäftigt sei, so habe er hierzu die frühen Morgenstunden ausersehen. Thomas würde ihn künftig auf seinen gewohnten Spazierwegen begleiten. Und abends habe er ihm jedesmal eine schriftliche Arbeit vorzulegen. Mit dem Bummeln sei es nun ein für allemal zu Ende. Zu was sein Umherträumen und Herumdämmern führe, habe er ja nun gesehen, und als vernünftiger Junge müsse er sich schämen, solchen aberwitzigen Unsinn zu treiben, wie Ursula ihn an der Tür behorcht habe. Er glaube doch wohl nicht im Ernste, daß ein Bild etwas anderes sei als eben nur ein Bild, und daß ein Mensch zaubern könne? – Und da Thomas nicht antwortete, wiederholte er seine Worte, die ja eigentlich gar keiner Antwort bedurften, mit plötzlicher Nähe als direkte Frage. Und Thomas sagte: »Nein,« da er fühlte, diese Antwort war besser als jede andere. – »Ich verbiete dir dergleichen Blödsinn ein für allemal!« fuhr sein Vater fort, »und wenn ich je dergleichen wieder merke, so geschieht etwas, das dich nicht freuen soll! Du brauchst mich nicht so anzusehen; du weißt, daß alles, was ich tue, stets nur zu deinem eigenen Besten geschieht. Das zu begreifen bist du alt genug. Reiß dich los aus deiner Weichlichkeit. Wir sind nicht auf der Welt, um zu träumen, sondern um zu arbeiten. Und die Eltern haben die Pflicht, ihren Kindern alle Hindernisse aus dem Wege zu räumen.«
Als Thomas zu Bette ging, war Maos Bild verschwunden. Die Stelle, wo es hing, zeichnete sich als dunkleres Viereck gegen die Wand ab.
Die Entdeckung seines Geheimnisses, die Entfernung des Bildes, alles erschien ihm als ein fürchterlicher Traum. Nachts riß es ihn aus seinem Schlaf, und am nächsten Morgen war alles noch ebenso unfaßbar. Zu Hause beherrschte er sich, aber auf dem Weg zur Schule war es mit seiner Fassung aus. Der Lärm der Schüler in den Klassen klang gespenstisch, die Lehrer, alle Menschen überhaupt erschienen ihm wie Schatten; zu Hause stand er wieder vor dem leeren Viereck, das einzige, was ihm von Maos Bild geblieben war.
Frau Elisabeth war tief erschreckt über die Erschütterung, die in Thomas' Wesen durchklang. Sie hatte nichts geahnt von seiner Liebe für das Bild; daß es ihm nun genommen war, erschien ihr grausam, und sie drang in ihren Mann, es ihm zurückzugeben. Daß Thomas nie – auch jetzt nicht – zu ihr darüber sprach, schmerzte sie; es schmerzte sie, daß er keinen Schutz bei ihr suchte. Wie tief und zart sein Gefühl sein mußte, sah sie erst, als er bei ihrem leisen, liebevollen Tasten scheu zurückwich, so daß sie sich fast zudringlich erschien. – Der Justizrat aber lachte und schüttelte den Kopf: »Gib acht,« sagte er, »in ein paar Tagen ist das alles vorbei.« – Und wirklich schien es so. Eines Tages hatte Thomas lange vor dem Fleck gekniet, der nun Maos Bild vertreten mußte, und als er endlich aufstand, fühlte er sich gefestigt und getröstet. Wie wenig Glauben hatte er bis jetzt gehabt! Als ob sie dadurch, daß sie Maos Bild ihm nahmen, ihm Mao selbst genommen hätten! Das Bild war fort, aber Mao selbst war nun allgegenwärtig. Und das Haus stand um ihn, fest und ruhig und wie immer. Mao hatte es nicht verlassen; das fühlte er mit unerschütterlicher Stärke; er brauchte nicht einmal zu zaubern, ja seine ganze Zauberei erschien ihm jetzt beinahe kindisch, so deutlich empfand er die starke Wirklichkeit. – Ursula sagte voll kindlicher Genugtuung, das Bild sei nun verbrannt. Er antwortete ihr gar nicht: er wußte es besser. Wäre es verbrannt worden, dann wäre er nicht so ruhig, dann wäre irgend etwas mit ihm und mit dem Haus geschehen. Verschlossen war es irgendwo, und es war ihm beinah gleichgültig, den Platz zu erfahren. in dem Augenblick, wo andere von ihm Besitz nahmen, veränderte es sich. Er war nicht einmal böse auf seinen Vater, auch nicht auf Ursula, die doch an allem die Schuld trug. Er empfand eher etwas wie Mitleid für beide.
Eine große Ruhe überkam ihn, er wurde heiterer, wie es schien, und umgänglicher im Verkehr mit Ursula und seinen Eltern. Frau Elisabeth wunderte sich über seine anscheinende Gelassenheit; ihr kam wieder in den Sinn, wie schnell er einst Alexander vergaß, nachdem er ihn so schwärmerisch geliebt, und sie fragte sich vergeblich, in welche unbekannten Gegenden all das, was er an Wärme und Innigkeit besaß, entströmte. Zuweilen erschien er ihr wie seelenlos, und zuweilen nur wie Seele.
Die angekündigten Vorbereitungen für die neue Schule wurden nun wirklich wahr. Thomas, der bis jetzt allein geschlafen hatte, ward in das Schlafzimmer seines Vaters quartiert.
Ein sonderbares Gefühl war es, als er, durch ein Geräusch aus erstem Schlaf erwachend, die Augen öffnete und im Kerzenlichte seinen Vater im Nachtkleid am Bette stehend seine Uhr aufziehen sah. Er hing sie an das kleine Gehäuse, die Kette glitt mit leichtem, körnigem Klirren nieder. Darauf zog er die schönen, funkelnden Ringe von den Fingern; einer fiel zu Boden, er bückte sich, ihn aufzuheben, und Thomas sah ihn voll Verwunderung an. Er erschien ihm mit einem Male wie jeder andere Mensch. Ehe er sich niederlegte, wandte er sich zufällig zur Seite, und Thomas, der ihn durch seine scheinbar geschlossenen Lider betrachtete, sah, wie er für einen kleinen Augenblick überrascht schien. Offenbar hatte er vergessen, daß sein Sohn nun bei ihm schlief. Thomas schloß sogleich die Augen ganz und lag so eine Weile, bis er ein kurzes, energisches Blasen vernahm, und sie wieder öffnete, mit dem Gefühl, als habe ihm jemand ungreifbar eine schwarze Kappe über den Kopf gezogen.
Nun war alles ganz still. Regelmäßig tönten die Atemzüge von dem anderen Bette her; Thomas lauschte lange; er fühlte deutlich, daß sein Vater schlief. Wie sonderbar das war! Er selbst lag stets eine lange Zeit mit offenen Augen.
Nun schläft der Herr des Hauses! dachte er, und zugleich stieg ihm die Gewißheit auf, daß Maos Herrschaft jetzt begann:
Unhörbar flogen alle Türen des Hauses auf, lautlos schritt er durch alle Räume, und ein fernes, leises Klingen ging durch sie, flimmernde Töne, die keine Töne waren: feinste Silberfäden, feiner als Spinnweben, die wie zarte Nebelschichten als Oberfläche eines dunstlosen Meeres still dahinzogen. Und das geheimnisvollste war: Mao trug eine weiße Laterne, und doch war es etwas anderes: ein schimmerndes Ding, das er sich seitwärts gegen das Gesicht hielt; eine weiße Scheibe; doch nur die letzten Ränder leuchteten; er sah die Stirn- und Nasenlinie, Mund und Kinn als schmale, milchweiße Bänder glühen. So zog er lautlos den Gang hinab. Thomas war ganz wach; deutlich hörte er seinen Vater atmen. Er war Maos Feind, er hatte Besitz von Maos Reich genommen und sein Bild verbannt. Und doch wußte er von alledem selbst nichts; er würde den ausgelacht haben, der es ihm sagte. Trotzdem war es so; er hatte den untrüglichen, gewissen Glauben. – – Wieder sah er die schlanke, unhörbar schreitende Gestalt, an der alles dunkel war außer der Gesichtslinie, die als ein weißes, formenvolles Band im Dunkel schimmerte. Zuweilen nahm er die Scheibe herab, dann verlosch sie gleich, in größerer Ferne schimmerte sie wieder, matter und matter, dünner und scheinartiger, bis er sie nicht mehr sah. –