Friedrich Huch
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Friedrich Huch

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Viertes Kapitel

Es dauerte geraume Zeit, bis Thomas das Durchlebte überwand. Das Eigentliche, Wirkliche daran trat zurück, das Phantastische ward zur Wirklichkeit. Die Gestalt seines Feindes verlor in seiner Erinnerung allmählich alle Persönlichkeit, sie ward zu einem ungewissen Dämon, der verbannt war, dessen Macht hinabklang. Zuweilen erschien er ihm noch in seinen Träumen, aber niemals mischten sich in sie Schulerinnerungen: fahl und hager stand er vor seinem Bett und sah auf ihn nieder, nicht höhnisch, nicht grausam, nicht voll Haß, sondern mit verwestem Lächeln und mit den entrückten Augen eines Toten, dessen schwimmend-offener Blick mit ungewissem Grauen füllt.

Aber diese Bilder wurden seltener und verblaßten mit der Zeit. Das aber, was an jenem Erlebnis scheinbar zurücktrat, überschimmerte bald alles andere.

Bruchstücke aus seinen lichten Traumvisionen blieben in seiner Seele und verbanden sich mit anderen, flossen zusammen zu einem nebeligen, ahnungsvollen Grunde, und aus diesen Tiefen winkte ein Gesicht herauf, quälend, rätselvoll, beglückend; er wähnte, es sei Alexander.

Er ward ihm allmählich zu einem höheren Wesen, das sich erniedrigte, hier auf der Erde zu wandeln, während er in Wirklichkeit vergangenen alten Zeiten angehörte. Seine Heimat aber war das alte Haus; er selbst sein Schutzgeist. Seine wache Seele sagte ihm, das alles sei unmöglich, aber für sein tiefstes und letztes Gefühl war es doch so. Und diese Gewißheit ward ihm bestätigt durch das Wappenschild, das hoch oben unter dem Giebel des Hauses die Jahrhunderte überdauert hatte. Bis zur Unkenntlichkeit verwittert, zeigte es noch Spuren seines früheren Aussehens: Zwei pyramidenförmig zueinander gestellte Streifen, ähnlich zwei Schwertern, deren verloschene Spitzen sich einst kreuzten. Lange grübelte Thomas darüber, was sie bedeuteten, bis es ihm mit einem Schlage vor der Seele stand: Es war der Anfangslaut in Alexanders Namen.

Ihm selbst zu begegnen vermied er nach wie vor; zu sehr brannte in ihm noch die Scham der Vergangenheit. Aber zu Hause saß er sinnend im Garten, sah auf zum Wappenschilde und gedachte jenes Traumes, wie Alexander ihm erschien und wie er später ihm entwich, immer ferner, durch die grüne Wand des Zimmers. Von seiner Umgebung hatte niemand eine Ahnung von diesen Gedanken, in die Thomas sich immer mehr versenkte. Was man sah, war nur ein träumerisches, abgeschlossenes Wesen. Der Justizrat sprach davon, ihn in Pension zu geben; erst gestern – so sagte er – als er durch Zufall einen der dunklen Räume betrat, habe er ihn überrascht, wie er versunken, an nichts denkend in einem Winkel saß und vor sich hinstarrte. Was sei Ursula dagegen für ein Kind! Es sei eine Freude, sie nur anzusehen! Die spränge einem entgegen, wisse immer etwas Neues, habe immer Geist und Witz und stände schon jetzt eigentlich mitten im Leben!

Frau Elisabeth gab ihrem Manne mit dem Verstande recht; der Gedanke, ihren Sohn fortgeben zu sollen, war ihr schrecklich. So sprach sie mehrere Male eindringlich mit ihm, forderte ihn auf, sich Bekannte, Freunde zu suchen, und er versprach es. Aber er tat es nicht, und sie hatte Angst vor neuen Unterredungen mit ihrem Mann. Vielleicht, so dachte sie einmal, als sie über Thomas' Wesen nachgrübelte, behandeln wir ihn ganz falsch; wozu müssen es gerade Knaben sein, mit denen er umgehen soll. Vielleicht würde er sich unter Mädchen viel wohler fühlen. Aber dann verwarf sie diesen Gedanken wieder halb; denn das hätte sich doch längst von selber zeigen müssen.

Ursulas Geburtstag stand dicht bevor. Sie half selbst an den Vorbereitungen, sie gab sogar Gedanken. Sie wollte ein großes, schönes Gewinde um ihren Tisch sehen, aus Lorbeer und roten Rosen. In der Mitte sollte ein Baumkuchen ragen und in ihm ein einziges riesiges Licht. Die vielen kleinen Lichte seien nur für Kinder. – Frau Elisabeth waren diese Vorkehrungen zu prunkvoll, und ganz gegen ihren Sinn war ihr der Gedanke, daß Ursula das Zimmer dunkel wünschte, bis auf das eine brennende Licht. Wie sie aber hinzusetzte, niemand solle dann in das Zimmer hinein außer ihr selbst, die anderen sollten draußen stehenbleiben und warten, bis sie wieder herauskäme – da lehnte sich ihr Gefühl plötzlich gegen das Ganze mit Entschiedenheit auf; sie schlug ihr rundweg alles ab und sagte, ein Kind mit einfachem, natürlichem Gefühl komme auf solche Gedanken gar nicht, im Gegenteil, es überlasse alles seinen Eltern und ließe sich von ihnen zu seinem Geburtstag überraschen. – »Was bleibt uns denn noch für eine Freude«, sagte sie, »wenn du sie uns vorwegnimmst, ja wenn wir nicht einmal dabei sein dürfen, wenn unser Kind sich freut?!« – »Aber der Geburtstag ist doch für mich und nicht für euch; und wenn ich mich so am meisten freue, wie ich möchte, dann muß das doch euch wieder am meisten freuen, denn ihr freut euch doch an meiner Freunde!« – Frau Elisabeth sah traurig auf ihr Kind, das da Gefühle zergliederte, so jung es war; Gefühle, über die sie selber noch niemals nachgedacht hatte, da sie selbstverständlich und unanstastbar waren. – Sie erwiderte mit etwas anderen Worten dasselbe, was sie schon einmal gesagt hatte; Ursula beharrte auf ihrem eigenen Standpunkt. Da wurde sie schließlich heftig und sagte: »So tue, was du willst.« – Dieses Wort wirkte wie eine lebendige Kraft. Ohne sich einen Augenblick aufzuhalten, eilte sie hinaus; dann blieb sie stehen: Was wollte sie eigentlich? – Sie ging ins Arbeitszimmer ihres Vaters. Dort saßen fremde Männer auf Stühlen an den Wänden, einer stand am Schreibtisch und redete in sehr merkwürdigem Deutsch, und sie war überrascht, ihren Vater in derselben Sprache antworten zu hören. Sie stand mit offenem Munde und vergaß ganz, weswegen sie gekommen war. – So sprachen die Dienstmädchen draußen in der Küche, wenn sie sich unterhielten. – Er erschien ihr in einem neuen, und zwar sehr komischen Lichte. Schließlich aber dauerte ihr die Verhandlung doch zu lange, sie drängte sich an ihn heran, indem sie sich wie eine Katze die Seitenwand des großen Schreibtisches entlang strich, und blieb dann dicht vor ihm stehen, mit einem ganz verzwickten Ausdruck in den Augen. »Was willst du?« fragte er, sich plötzlich unterbrechend, in seiner gewöhnlichen Sprechweise, mit einer raschen Seitenbewegung des Kopfes nach ihr hin. Sie nannte eine Summe Geldes und setzte in aller Geschwindigkeit auseinander, wozu sie sie benötige. Er hörte sehr aufmerksam zu, gab ihr das Verlangte, mit schnellem Danke eilte sie hinaus. An der Tür aber rief sie ihr Vater, der sofort die Unterhaltung mit dem Bauern wieder aufgenommen, noch einmal zurück, indem er sagte, er habe überlegt, sie reiche mit dem Gelde nicht. Erfreut streckte sie noch einmal die Hand aus. – Da sie aus den letzten Worten ihrer Mutter abnahm, sie wolle mit den vorgeschlagenen Vorbereitungen zum Geburtstage nichts zu tun haben, kümmerte sie sich selbst um diese Dinge, besorgte das Notwendige und flocht das Gewinde mit ungewohnter Beharrlichkeit. – Thomas kam dazu. – Er wunderte sich über das große Licht. Sie sagte, es solle ganz allein im dunklen Zimmer brennen. Und während sie sich wieder ihrer Beschäftigung zuwandte und zu neuen Blättern griff, sann Thomas noch immer ihren letzten Worten nach, die längst verklungen waren: An was erinnerte ihn das nur? Er grübelte und grübelte. Gedanken lösten sich in ihm, die er selbst nicht fassen konnte, schnell wie Schatten, irre Vorläufer des Bildes, das wie aus den Tiefen der Erde langsam aus dem Boden seiner Seele emporstieg und sich nun verdichtete vor seinem inneren Auge: Einsam, tiefgolden, ölig glomm eine Kugel im grenzenlosen, finsteren Raum; die Wände, die Decken waren verschwunden; über dem Bodenlosen schwebte das Licht, schwarz umwölbt vom Haus. – – Hatte ihm das einmal geträumt? Er sann darüber nach; das mußte lange, lange her sein; – aber so sehr er auch grübelte – seine Erinnerung zerbröckelte wie graues, altes Gestein. –

»Ich bin es selbst!« sagte Ursula. – Er kam wieder zu sich. »Was bist du selbst?« – »Das Licht! Und du sollst schon sehen, daß ich recht habe! Ich werde einmal sehr berühmt; ich werde Schauspielerin.« – Jetzt war er wieder ganz in der Wirklichkeit und sah Ursula erstaunt an. – »Ich sage doch jetzt schon die besten Gedichte in der Klasse auf, und unsere Lehrerin sagt, es sei erstaunlich, was für ein Mienenspiel ich hätte! Wenn ich einmal erwachsen bin, dann gebe ich die größten Rollen, jeden Abend eine andere, und eine immer ganz anders als die andere.« – Ein einziges Mal war Thomas im Theater gewesen, aber was er da gesehen hatte, das war ihm ein Erlebnis, so feststehend wie jedes andere. Er hatte nie darüber nachgedacht, daß das alles nur gespielt sei, und daß ein und derselbe Mensch Verschiedenes spielen könne. Ursula ging öfters ins Theater, öfter, als Frau Elisabeth lieb war; aber ihr Vater begünstigte diese Neigung. – »Wie willst du eigentlich mal berühmt werden, Thomas?« Ihm war diese Fragerei unbehaglich, und das Wort »berühmt« klang so schrecklich. Sie lachte und zupfte im nächsten Augenblick an einer Stelle des Gewindes. Ihr Gesicht war schon wieder ganz ernst, auf der Stirne standen ein paar kritische Falten. Sie hob das Ganze hoch, er mußte helfen, und nun trug sie das Gewinde zu Frau Elisabeth, um sich am nächsten Morgen, ihren Angaben gemäß, überraschen zu lassen. Ihre Mutter nahm die Dinge, machte aber ein Gesicht, als ob sie etwas ganz Besonderes wisse.

Am folgenden Tag fand Ursula auch alles ganz genau nach ihrer Vorschrift. Aber sie suchte vergebens nach Geschenken und zeigte sich etwas unwirsch wieder an der Tür, starrte aber, noch halb geblendet von der Dunkelheit, auf einen vollen Geburtstagstisch mit Kuchen und Lichtern, so wie es sich nach ihrer Mutter Ansicht für ein Kind gehörte. Sie zog die Augenbrauen hoch und trabte leise darauf zu, überwitterte das Ganze und streckte ihrer Mutter mit einer wunderlichen Bewegung die Hand zum Dank entgegen. Frau Elisabeth fragte sie mit entgegenkommender Herzlichkeit, ob nun nicht dieser Geburtstagstisch sie mehr erfreue als der nebenan, worauf sie den Mund hin und her zog, als finde sie seine richtige Lage nicht, und plötzlich zu ihrem Vater sagte: »Papa, sprich doch noch einmal so wie gestern, das war zu komisch.« Der Justizrat freute sich über ihre unbefangene Weise, Unbequemes von sich abzuschütteln, und sagte ihr dies auf die verlangte Art. – Das gelbe Licht brannte noch vergessen in dem dunklen Zimmer; Thomas stand davor und sah es lange an, aber dann kehrte er ihm enttäuscht den Rücken: Es war ganz anders, als er dachte.

Nachmittags war Ursula in geschäftiger Aufregung. Sie war die Hauptperson des Tages und in bester Laune. Thomas mußte dabei sein, wie sie ihr schönstes Kleid anlegte, schließlich verriegelte sie gar die Türe, niemand außer ihm dürfe ihr behilflich sein, und dann gab sie ihm einen Kuß, so plötzlich, daß er den Gedanken erst fassen konnte, als er schon vorbei war. Dann zog sie ihn zu einem Fenster, von wo aus sie gemeinsam das Treppenhaus überblicken konnten, denn sie wollte sehen, welche von ihren Freundinnen wohl als die erste käme. Es war jenes Fenster, dem gegenüber das Regenrohr und der Schornstein ragten, die Thomas in früheren Jahren so oft betrachtete. Und während Ursula zur Treppe niederspähte, sah Thomas seit langer Zeit zum ersten Male wieder mit Bewußtsein dort hinauf. Alles schien genau wie früher und doch anders. Er sah sie lange an, die Wand, das Dach, das Rohr, das alles unerschütterlich und unbeweglich all die Jahre stand. Wie war es eigentlich in Wirklichkeit?

Er spürte einen leichten Stoß: Ursula deutete mit vorsichtigem Finger hinab durch das hohe, helle Treppenfenster. Da sah er ein Mädchen, das sich auf sonderliche Weise emporbewegte. In kleinen, aber hohen Sprüngen erreichte sie die Treppenstufen so, daß das vordere Bein auf die höhere, das zurückstehende aber gleichzeitig auf die darunterliegende niederstieß. Einmal irrte sie sich und mußte zwei Stufen zurückgehen. Ursula kicherte in sich hinein, und dann begrüßte sie das Mädchen mit überlegenen Blicken, so wie man jemand ansieht, auf dessen Rücken etwas Lächerliches befestigt ist, ohne daß er selbst davon weiß. Rasch eingeweiht war sie als Dritte die eifrigste am Fenster. Thomas aber zog sich zurück. Leer und langweilig kam ihm das Ganze plötzlich vor; und dann: Dies Mädchen hart an seiner Seite, dessen warmen Ellbogen er fühlte, ärgerte ihn. Von hinten betrachtete er sie nun mit Abneigung. Er gab Neueintretenden die Hand, wenn es nicht zu umgehen war, horchte, wie die Sprechenden lauter und lauter redeten – denn es kamen immer neue Stimmen dazu, und bald war das ganze Zimmer voll weißgekleideter Gestalten – und dachte: Wenn doch wenigstens das Fenster offen wäre! – denn in der Luft lag etwas Unbekanntes, das nicht hineingehörte. Die Mädchen waren ihm noch fremder als die Knaben, die doch wenigstens Knaben waren so wie er.

Frau Elisabeth trat nun herein, im hellblauen Seidenkleide, geschmückt mit der goldenen Kugelkette, errötete leicht und richtete an jede einzelne ein freundliches Wort. Man ging in den Garten, bald glich er einem öffentlichen Tummelplatze. Sie warfen mit Bällen gegen die Wand des Hauses, Thomas' selbstgezimmerter Holunderbaumplatz ward entdeckt, die Keckste wagte sich hinauf, sie winkten mit Taschentüchern zum Turm empor, als sie dort oben auf der Galerie einen Menschen erblickten, stöberten in dem folgenden Versteckspiel Plätze auf, die Thomas heilig waren, und überboten sich in Auslegungen des Wappenschildes. Sie wurden Thomas immer unleidlicher, immer abgeschmackter. Ursula war bei allem stets die erste, leitete das Ganze. Sie hatte Thomas schon längst vergessen. Frau Elisabeth schien in ihre Kinderjahre zurückgekehrt, sie klatschte in die Hände und nahm die kleinen Geschicke, die den zuletzt allein Übrigbleibenden in Kreisspielen zu ereilen pflegen, mit Wichtigkeit und Pflichtgefühl auf sich. Thomas ward ins Gartenhaus geschickt, etwas zu holen; er kam nicht zurück, er drängte sich durch die Buschreihen fern von der Gesellschaft weg, immer an dem schwarzen Lattenzaun entlang, blieb endlich stehen und sah gedankenlos auf das düster ziehende Wasser in der Tiefe. Von ferne scholl das laute Lachen der Mädchen, die schon längst nicht mehr auf seine Rückkehr warteten. Das machte ihn traurig, obgleich er doch froh war, ihnen entronnen zu sein. Er kam sich einsam, ausgestoßen vor. – Lange saß er unbeweglich. Auf einmal bemerkte er, daß der Lärm verstummt war; man mußte wieder in das Haus zurückgekehrt sein. Nun war er allein in dem weiten Garten. Unten gurgelte das Wasser, sonst vernahm er keinen Laut. Er horchte schließlich aufmerksam auf die kleinen Töne, die kein Ende nahmen. Und er dachte: Ob wohl das Wasser schon lange so rauscht, schon das ganze Jahr, schon damals, als ich immer zur der Dachrinne und dem Schornstein aufsah, schon seit ich geboren bin – – oder noch viel länger? – Er schloß die Augen und dachte, wie sonderbar das doch alles sei. Dann hörte er wieder die kleinen Töne in der Tiefe. Er nahm sich vor, beständig auf sie zu lauschen, er vermochte es auch eine Weile, aber dann rauschten sie ferner, verloren sich ganz, und wenn er sie endlich wieder hörte, zerrann ein ungesehenes Bild vor seiner Seele. –

Er sah hinab zur Tiefe, so lange, daß es ihm endlich vorkam, als fließe nicht das Wasser, sondern als zöge er selbst auf einem unbekannten Schiffe still den Strom hinauf. Dann stand es plötzlich wieder still, und er sah, daß in Wirklichkeit das Wasser floß. Und eine ähnliche Verwechslung ging in seiner Seele vor: Er wußte, daß er, Thomas, hier am Gitter stand und hinabsah, aber wenn er gerade dieses mit Angestrengtheit dachte, so war er sich selbst ganz fremd, ein anderer, es löste sich dieselbe Gestalt in zwei gesonderte, um im nächsten Augenblick, beim wachen Hinschaun, wieder nur eine einzige zu sein.

Vom Turm her rief das Wächterhorn, unten floß das Wasser, leise und eintönig. Ihm war mit einem Male unheimlich an diesem Ort. Er drängte sich weiter durch die Büsche und immer weiter, bis er das Ende des Zaunes erreichte; es war ein Platz, den er kaum kannte, wild und dicht verwachsen. Rechts lag der Mauerbau mit den Eisenringen bis beinah dicht zu ihm heran. Hier war ein Durchblick durch den Zaun, der im Winkel hart an die Mauer schloß. Tiefer unten, jenseits des Zaunes, sah er drei alte, dunkle Kastanienbäume. Niemals hatte er sie gesehen, niemals von hier herabgeschaut. Und doch kannte er sie. Erinnerung zog leise in ihm wie der stillbewegte Grund unter einem tiefen Wasser. So wie im Dunkel schimmernde, geheimnisvolle Ringe vor dem müden Kind, das sich die Augen reibt, erscheinen, die es nur sieht, wenn es sie nicht ansieht, die es niemals erhaschen kann, da sie sogleich entweichen, wenn es die Augen nach ihnen dreht – so stand in Thomas' Seele ein Bild der Erinnerung, das vor seinem wachen, grübelnden Bewußtsein in die Tiefe tauchte, um wieder aufzudämmern, wenn er das Denken aufgab.

Lange, lange saß er so. Ein ferner Ton strich hoch durch die Luft, durchzog den ganzen Himmel und klang klagend am Horizont hinab. Thomas sah, daß seine Hände kalt und blau geworden waren; die Dämmerung war hereingebrochen, ohne daß er es bemerkte. Er teilte die dichten Sträucher auseinander und sah den Garten vor sich; still und hoch standen die Bäume im Abendnebel, leichter grauer Schleierduft lag auf dem Grase. Es war, als habe ihn noch nie ein Mensch betreten. Scheu ging er durch die Büsche. Nun stand er mitten auf dem Rasen.

Von zwei Seiten her umschlossen ihn die düsteren Fronten des Hauses, in denen hie und da ein Fenster matt erleuchtet war, hinter ihm lag der schwarze Mauerbau, auf der letzten Seite starrten die Massen der Büsche wie ein hoher Wall. Da legte er sich nieder in das Gras. Gegen den Abendhimmel hob sich fern der höchste Giebel, schwarz wie ein ungeheueres Dreieck. Vom Wappenschilde war nichts zu erkennen.

So lag er einst im Traum, als er dort oben Alexander sah.

Er kehrte sein Gesicht zu Boden, preßte die Wange gegen die Erde und breitete die Arme über sie.


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