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Seitengasse. Altes hohes Haus. Neben dem Haustor ein Uhrmacherladen und eine kleine Blumenhandlung mit Rosen, Tulpen, Hyazinthen, Kakteen und Flieder – bis auf die Gasse hinaus. Darunter auch eine Stechpalme.
Die Besitzerin der Blumenhandlung ist blond, ledig und Mitte der Zwanziger. Mit dem Vornamen heißt sie Irene. In der Auslage des Uhrmacherladens hängen lauter Uhren – große und kleine, alte und neue. Auch Kuckucksuhren. Und ein Barometer. Es geht bereits gegen Abend. Ende Mai.
Albert, ein junger Mensch und ehemaliger Beamter einer Speditionsfirma, kommt mit Silberling und Nicolo langsam vorbei. Silberling, ein älterer Herr, macht auf den ersten Blick einen durchaus soliden Eindruck, aber auf den zweiten Blick wieder weniger. Und auch Nicolo sieht nicht gerade vertrauenerweckend aus, schon auf den ersten Blick nicht. Aber gekleidet ist er wie ein Gent.
Silberling Also das ist Nummer neun. Ein schönes Haus.
Albert Alt.
Silberling Wahrscheinlich. Und die Wohnung über den Uhren ist zu vermieten?
Albert Sie steht leer.
Stille.
Es ist das ein kleiner Laden, dieser Uhrmacherladen. Gleich rechts steht der Schrank und schlafen tut er hinten hinaus.
Nicolo Und dort ist das Kellerfenster.
Albert Ja.
Silberling Wieviel sagst du? Dreitausend?
Albert Garantiert.
Nicolo Ich habe ein gutes Gefühl.
Stille.
Albert Aber ich tu nicht mit.
Silberling Was heißt das?
Nicolo scharf: So plötzlich?
Stille.
Albert Ich hab euch hierhergeführt und zeig euch Chancen, aber ich tu nicht mit.
Nicolo ironisch: Willst ein neues Leben beginnen?
Silberling Also nur keine Unüberlegtheiten!
Stille.
Silberling Ein neues Leben – hm. Das geht natürlich nicht nach Wunsch.
Silberling grinst: Wahrscheinlich.
Albert Aber es dreht sich da um einen Menschen – nicht um mich!
Nicolo Sondern?
Albert schweigt.
Silberling Sicher um eine Madonna. Die wird oder will ihn verlassen oder sie hat ihn schon verlassen –
Albert grinst: Erraten.
Nicolo Kunststück!
Silberling Und jetzt hat sie schon längst einen anderen.
Albert Sie hat keinen anderen.
Silberling Wetten?
Albert Ich wette nicht.
Nicolo Er ist kein Hasardeur.
Albert Gut. Jetzt wette ich! Hundert gegen eins!
Silberling Abgemacht! Auch hundert gegen zwei!
Nicolo Zu gewagt!
Albert braust auf: Was versteht denn ihr schon davon!
Die beiden Herren sehen ihm verdutzt nach.
Nicolo Er muß. Wir zwei allein sind zu wenig.
Silberling Der kommt auch wieder – da wachsen mir keine grauen Haare.
Nicolo Aber die Finger eines Weibes im Spiele – das kann mir nicht gefallen. An Hand meiner reichen persönlichen Erfahrungen.
Silberling unterbricht ihn väterlich: Nanana! Nur nicht gar so von oben herab, Herr Casanova!
Nicolo fixiert ihn: Was weißt denn du schon von mir, junger Mann?
Silberling Nichts.
Nicolo Eben. Ab mit Silberling.
Jetzt verläßt Irene mit Emil, einem Bräutigam, ihre Blumenhandlung. Der will sich gerade ein Brautbouquet kaufen, ist aber immer noch unschlüssig. Er hat einen melancholischen Charakter und beriecht die Blumen auf der Straße.
Irene Auch Hyazinthen riechen gut.
Emil Zu streng.
Irene Dann bleiben wir doch bei den Rosen, Herr Emil, das ideale Brautbouquet. Rosen bringen Glück.
Emil schmerzlich: Glück?
Irene Sicher. Das ist nämlich so ein Aberglaube und ich glaub daran. Sie nicht?
Emil Zur Not.
Irene Sie sehen aber schon gar nicht aus, als hätten Sie einen Freudentag vor sich –
Emil Ich bin halt kein leichter Mensch – und Heiraten ist doch kein Kinderspiel. Sie waren doch auch schon mal verlobt. Man erfährt doch so manches, wenn man im selben Haus wohnt.
Irene fixiert ihn: Wie meinen Sie das jetzt?
Emil Ich meine halt nur, daß man sein Herz unter Umständen leicht an einen unwürdigen Partner verschwenden kann –
Irene Sie sind eigentlich ein boshafter Mensch, Herr Emil.
Emil Sie verkennen mich grausam. Schade. Wenn ich nicht schon eine Braut hätte, würde ich Sie heiraten – glatt. Sie haben einen schönen Charakter und Blumen sind eine angenehme Branche.
Irene Sehr aufmerksam.
Emil Was kostet diese Stechpalme?
Irene Die ist sehr preiswert.
Emil Übrigens: hätten wir nicht doch lieber Flieder –
Irene unterbricht ihn: Nein. Rosen bringen Glück.
Ernst, ein Vertreter, kommt mit seiner Tasche. Er hat ein sicheres Auftreten und kann äußerst zungenfertig sein.
Ernst grüßt: Servus Emil, guten Abend – Er gibt Irene rasch einen Kuß auf die Wange. Na was macht die Hochzeit?
Emil Wir debattieren gerade über das Brautbouquet –
Ernst Rosen bringen Glück!
Irene zu Emil: Sehen Sie!
Emil Ich höre. Also dann bleiben wir halt dabei – Zu Ernst. Du kommst doch heut zu meinem Polterabend?
Ernst Ehrensache!
Emil Wiedersehen!
Irene boshaft: Alles Gute zur Hochzeit. Und viele Kinder.
Emil Kinder bringen Glück –
Ab durch das Haustor in seine Wohnung.
Ernst sieht ihm nach: Ein armer Pessimist. Ein Kretin.
Irene Ernst. Wie oft hab ich dich schon gebeten, du sollst mich nicht vor fremden Leuten auf die Wange küssen –
Ernst Aber Maus! Meinst denn, die Leut sind blind? Glaubst, die wissen es nicht genau, wie oft ich hier in der Nacht – alles wird einem registriert, das ist nun mal Menschenart. Gott, bin ich müd und wieder kaum etwas verkauft! – Und du gefällst mir übrigens auch nicht. Das heißt: wir kennen uns ja erst seit drei Wochen, aber du hast mir zuviel depressive Zuständ – ich sorge mich um dich, Irene.
Irene Du bist lieb. Aber es ist halt keine Kleinigkeit, sich so plötzlich von einem Manne trennen zu müssen, mit dem man über zwei Jahre – das geht eben nicht spurlos, da bleibt einem eine offene Wunde zurück, Albert.
Ernst Ich heiße nicht Albert. Ich heiße Ernst.
Irene Verzeih mir, bitte.
Stille.
Ernst So nimm doch nur Vernunft an. Als alleinstehende Geschäftsfrau mußt du peinlichst auf deinen präzisen Ruf achten! Kannst doch nicht mit einem solchen Manne zusammen, einem ehemaligen Speditionsbeamten, der unterschlagen hat – bedenk!
Irene Ja, unterschlagen. So nennt man das offiziell. Trotzdem.
Ernst Nur Mut – Er will ihr wieder einen Kuß auf die Wange geben, doch sie wehrt ab. Wieso? Jetzt ist doch hier kein Fremder –
Irene Trotzdem –
Stille.
Ernst Darf ich mir nun die Hände waschen?
Irene Geh nur hinein. Ich muß nur noch die Blumen –
Ernst ab.
Irene begießt die Blumen. Albert erscheint – sie erblickt ihn, zuckt etwas zusammen und möchte in die Blumenhandlung.
Albert Halt!
Irene Aber ich hab doch zu tun!
Albert Dann geh ich mit.
Irene Du bleibst draußen.
Albert Wo hast du dein Herz, Irene? Stille.
Irene Daß du immer wieder kommst – so quäl mich doch nicht!
Albert Egal!
Theodor, ein Leidtragender, kommt in tiefer Trauer rasch vorbei. Er ist sehr lustig.
Theodor Guten Abend, schöne Frau! Ich wollt Sie nur mal rasch erinnern, daß Sie den Kranz nicht vergessen, das wär nämlich sonst eine schlimme Blamage!
Irene Der Kranz ist schon längst geliefert.
Theodor In die Wohnung oder gleich hinaus?
Irene Gleich ins Krematorium, mein Herr.
Theodor Dann ists schon gut. Und auf der Schleife steht?
Irene »Letzte Grüße«.
Theodor Bravo! Sehr schön, sehr brav! Das klappt ja alles prima! Na was macht denn die liebe Frau für ein trauriges Gesicht? Ihnen ist doch niemand gestorben, sondern mir! Aber sehens, ich laß mir meinen Humor nicht nehmen! Man lebt nur einmal! In diesem Sinne – Er grüßt und ab.
Albert sieht dem Leidtragenden nach: Es gibt noch lustige Menschen.
Irene wie zu sich selbst: Unlängst bin ich sehr erschrocken. Da hat mich nämlich ein Bekannter in einen Zirkel eingeführt, wo man sich mit dem Einfluß der Gestirne auf unser menschliches Leben beschäftigt hat –
Albert Was war denn das für ein Bekannter?
Irene Du kennst ihn nicht. Es hat alles gestimmt. Auch die Zukunft.
Stille.
Albert Ist er auch lustig?
Irene Wer?
Albert Dein neuer Bekannter mit den Sternen.
Stille.
Irene Du sollst mich nicht so anschaun, denn es hat keinen Sinn.
Albert Ich schau nur deine Brosche an – meine Brosche aus Venedig.
Irene Soll ich sie dir zurückgeben?
Albert Nein.
Irene Danke.
Ernst erscheint nun etwas ungeduldig in der Türe der Blumenhandlung.
Ernst Irene, wo bleibst denn so lang? Er erblickt Albert. Ach! Schon wieder?!
Irene Reg dich nur nicht auf, bitte! Denk an dein Herz!
Ernst Nein laß mal!
Irene Ernst!
Ernst nähert sich Albert und hält dicht vor ihm: Ich liebe das offene Wort. Sie wissen wer ich bin.
Albert Nein.
Ernst Wie Sie wünschen! Ich weiß alles.
Albert zu Irene: Alles?
Ernst Irene und ich, wir haben keine Geheimnisse voreinander.
Albert Richtig. So soll es sein.
Ernst Es dreht sich hier nur um Irene. Im Interesse aller Beteiligten bitte ich Sie um etwas Einsicht. Es gibt bekanntlich Dinge, die irreparabel sind. – Irene hatte Ihretwegen sozusagen fast einen korrekten Nervenzusammenbruch und wenn ich nicht gewesen wäre, wäre sie vielleicht nun nicht mehr, höchstwahrscheinlich – und da ich ihr eben damals meine Kraft gegeben habe, habe ich folglich auch ein gewisses Recht zu weiteren Eingriffen in ihr Leben – Er stockt. Was ist denn los?
Albert starrte immer nur auf seine Lippen: Sie sprechen so fließend.
Ernst perplex: Fließend, wieso fließend?
Albert Sie heißen Ernst?
Ernst Immer schon.
Albert lächelt blöd: Ein ernster Name.
Ernst Sie belieben zu scherzen?
Albert Nein.
Ernst Sie zwingen mich deutlich zu werden?
Albert Ich hab Sie mir eigentlich anders vorgestellt –
Ernst wieder perplex: Was, wen?
Albert Sie. Ich hab Sie mir anders gedacht. Hm. Komisch, daß sich Irene für Sie interessiert –
Ernst Finden Sie komisch?
Albert Ich finde, sie wird halt nur irgendeinen Menschen gebraucht haben – Er grinst; zu Irene. Nicht?
Ernst faßt sich ans Herz.
Irene fährt ihn an: So begreif es doch endlich, daß es folgerichtig aus sein muß!
Albert schreit: Laß doch diese Redensart! Hier dreht es sich nicht um deinen Ruf, hier dreht es sich darum, daß ich keinen Ausweg mehr hab, hörst du?! Ich kann nicht mehr bremsen, und man kann es sich ja direkt ausrechnen, wann der Zug entgleisen wird. – Du könntest mich noch retten, wenn du wolltest, sonst bleibt mir nämlich nichts anderes übrig – automatisch und logischerweise!
Stille.
Ernst Komm, Maus!
Albert Wo habt ihr euch denn kennengelernt? Im Café?
Ernst Sie sind geschmacklos.
Albert Bin ich auch! Also los! Es interessiert mich! Wo habt ihr euch denn kennengelernt?!
Irene Hier! Hier drinnen zu Haus!
Ernst Nein also dieser Krach – toll! So komm doch schon! Ab mit Irene in die Blumenhandlung.
Die Unbekannte kommt und betrachtet die Blumen. Albert bemerkt sie nicht, denn er ist mit sich selbst beschäftigt.
Unbekannte plötzlich: Verzeihen Sie –
Albert dreht sich ruckartig um: Was los?
Unbekannte lächelt: Hab ich Sie erschreckt?
Albert Erschreckt – Er grinst.
Unbekannte Das sind nämlich so schöne Rosen, aber ich hab kein Geld.
Albert Mir gehört hier zwar nichts, aber auf meine Verantwortung. Was Sie wollen –
Unbekannte Nur eine. Danke.
Unbekannte betrachtet ihre Rose: – bei uns draußen wächst das überall, besonders ist da so ein schmaler Weg, der etwas ansteigt. Und dann kommt der Friedhof, wo die weißen Blumen blühen. Manchmal sehne ich mich zurück.
Albert Nach dem Friedhof?
Die beiden fixieren sich.
Unbekannte Sie sind anscheinend auch fremd hier?
Albert Auch.
Stille.
Unbekannte Es ist nicht viel Aussicht vorhanden. Man geht so herum – auf Wiedersehen –
Albert Wiedersehen.
Die Unbekannte ab.
Irene erscheint wieder; leise: Albert. Jetzt hat er sich drinnen hinlegen müssen, weil er vor lauter Aufregung eine Herzattacke – bitte werde vernünftig und geh.
Albert Ich werde nicht vernünftig.
Irene Geh. Bitte.
Albert grinst: Wie oft du das Wort ›bitte‹ sagst. Bist so höflich geworden, das ist ein fremder Einfluß – ein besserer.
Irene Vielleicht.
Albert Sicher. Und ich dachte – ja was dacht ich denn? Hm.
Irene So geh doch und laß mich allein.
Albert Allein?
Die beiden fixieren sich.
Vielleicht wird es noch anders.
Irene nickt nein: Kaum.
Albert Gut. Also dann fort. Aber wohin?
Irene hält die Hand vor die Augen. Was denkst du jetzt?
Ernst kommt wieder aus der Blumenhandlung mit einem feuchten Umschlag auf der Stirne. Irene bemerkt ihn erst, als er zu sprechen beginnt.
Ernst Herr, auf ein letztes Wort –
Irene Aber Ernst, sollst doch liegen!
Ernst Laß mich! Reg dich nicht auf und geh hinein, das sind Männerdinge – also geh schon bitte!
Irene langsam ab in die Blumenhandlung.
Ernst sieht Irene nach, bis sie verschwindet: So. Und jetzt appelliere ich an Ihr besseres Ich. Von Mann zu Mann. Bitte lassen Sie sich hier nicht wieder sehen.
Albert Jetzt sagen Sie mir nur noch, daß ich ein neues Leben beginnen soll – Er grinst.
Ernst Nein. Das sage ich nicht.
Albert starrt ihn an.
Ich sage es nicht. Im Gegenteil.
Albert Aha. Sie meinen –
Ernst Ja. Die Welt ist schlecht.
Stille.
Albert Hm. Er sieht sich um. Es ist alles noch da und dann ist man nicht mehr dabei – Er deutet in die Blumenhandlung. Dort drinnen ist ein Zimmer. Ob die Möbel noch alle so stehen?
Ernst Die Möbel ja.
Albert Also – Er läßt ihn stehen.
Ernst Wiedersehen – wollte sagen, alles Gute! Wieder ab in die Blumenhandlung.
Albert will fort und begegnet wieder Silberling und Nicolo.
Silberling Nun, Herr Geheimrat?
Albert Du hast deine Wette gewonnen –
Silberling Na also!
Albert Sie hat einen anderen, und ich hab verspielt.
Nicolo Und?
Stille.
Albert Ja. Jetzt jawohl.
Silberling Brav!
Nicolo Intelligent.
Albert Egal – Er unterdrückt seine Erregung. Also der Schrank steht gleich rechts, wie gesagt. Und schlafen tut er hinten hinaus, der Herr Uhrmacher – aber es ist trotzdem besser, wenn man nicht direkt von vorne, wie gesagt.
Nicolo Und dort ist das Kellerfenster.
Albert Ja.
Stille.
Silberling Es schaut jemand auf uns herab. Wer ist das?
Albert blickt verstohlen empor: Nichts. Nur ein Student. Der wohnt im zweiten Stock rechts und studiert Brückenbau. Er hatte mal etwas mit der Hausmeisterstochter, aber dann war es über Nacht aus, weil sie ihn im dritten Stock links bei der Gattin des Ingenieurs überrascht hat.
Silberling grinst: Du kennst dich aus.
Albert lächelt: Mit der Zeit –
Jetzt schlagen alle Uhren in der Auslage. Der Uhrmacher erscheint in der Ladentür, bleibt stehen und blickt interessiert zum Himmel empor.
Albert leise: Da ist er.
Stille.
Nicolo Er scheint sich für das Wetter zu interessieren.
Uhrmacher blickt plötzlich auf die drei Herren und betrachtet sie.
Silberling sehr leise: Er kennt dich doch nicht?
Albert ziemlich laut: Nein.
Silberling Weil er so lang herschaut.
Albert Er kümmert sich um keinen Menschen. Er ist ein Sonderling.
Stille.
Nicolo Er schaut dich noch immer an.
Albert Er ist taub.
Uhrmacher klopft nun an das Barometer und verschwindet wieder in seinen Laden.
Nicolo mißtrauisch: Albert. Dieser Sonderling hat mir nicht gefallen, keineswegs. Mir scheint, du bist hier bekannt.
Silberling Wollens nicht hoffen.
Nicolo Man hätte uns bald am Genick.
Albert Es kennt mich hier keine Seele.
Jetzt kommt die Unbekannte wieder – sie ißt eine Semmel – hält wie unabsichtlich vor der Auslage des Uhrmacherladens und betrachtet die Uhren.
Silberling Also dann um zwei.
Nicolo Und pünktlich bitte!
Albert Sehr pünktlich.
Die drei Herren trennen sich nun – Silberling geht mit Nicolo, während Albert an der Unbekannten vorbei will.
Die Unbekannte wendet sich ihm plötzlich zu und betrachtet nun ihn.
Albert Was los?
Unbekannte mit vollem Munde: Nichts.
Albert Versteh kein Wort. Was los ist, hab ich gefragt?
Unbekannte Sie haben mir doch diese Blume geschenkt und das war sehr fein von Ihnen.
Albert erkennt sie erst jetzt wieder: Blume? Ach so.
Unbekannte Sie dürfen nicht so denken, wie Sie denken.
Albert Ich denke überhaupt nichts.
Unbekannte Oh das glaub ich Ihnen nicht! Ihnen schon gar nicht!
Albert fixiert sie: Kennen Sie mich?
Unbekannte Oh doch.
Stille.
Albert mißtrauisch: Na, was wissen Sie denn schon von mir?
Unbekannte Eigentlich wollte ich mir nur eine Semmel kaufen, da drüben, neben den Uhren – und da sagte die Bäckerin: Sieh an, dort draußen steht gerade dieser Mensch.
Albert Und dann hat sie geschimpft.
Unbekannte Gewiß.
Albert Natürlich.
Unbekannte Oh sie hat nur gesagt, diesem Menschen ist alles zuzutrauen, der könnt einen auch umbringen.
Albert Hübsch.
Unbekannte Ja. Aber dann sagte ich, vielleicht ist dieser Mensch nur ein unglückseliger Charakter und dann sagte sie: möglich. Und dann sagte sie noch, man soll überhaupt nicht so rasch den Stab über einen Menschen brechen.
Albert Hat sie gesagt?
Unbekannte schluckt nun den letzten Bissen ihrer Semmel: Gewiß.
Albert Hm.
Stille.
Unbekannte Bitte, tun Sie es nicht.
Albert überrascht: Was?
Stille.
Unbekannte etwas verlegen: Nämlich zuvor, da wir uns mit der Blume trafen, da habe ich es direkt gefühlt, daß Sie sich damit beschäftigen. Ich kenn das nämlich genau, weil mir das auch schon mal durch den Kopf gegangen ist. Sie tun es nicht, ja?
Stille.
Albert Sie spionieren mir nach?
Unbekannte Aus Angst. Zum Beispiel ich persönlich würde mir nie etwas antun, so schlecht könnt es mir gar nicht sein.
Albert Ach so. Sie dachten, daß ich mich – Er lächelt.
Unbekannte Gewiß.
Albert Sie können beruhigt sein, ich tu mir schon nichts an.
Unbekannte Fein!
Albert Warum?
Unbekannte Weil es mich freut. Warum wundert Sie das? Überhaupt ist das Leben nicht so häßlich, mein Herr. Sehen Sie, in der Nacht denk ich oft an die armen Toten. Ihre Hemden sind vermodert, aber keiner deckt sie zu, und niemand erkundigt sich. Und dann regnet es in ihre Finsternis hinab und die armen Toten liegen allein. Und dann schmilzt der Schnee –
Stille.
Albert Komm.
Unbekannte Wohin?
Albert Fort – Ab mit ihr.
Ernst erscheint nun wieder mit seinem feuchten Umschlag, vorsichtig blickt er aus der Türe der Blumenhandlung die Gasse entlang –
Irene taucht hinter ihm auf, und zwar ebenfalls mit einem feuchten Umschlag auf der Stirn.
Ernst atmet auf: Endlich!
Irene Ist er fort?
Ernst Er hat es eingesehen.
Stille.
Irene Hier fehlt eine Rose. Es waren acht und jetzt sind es sieben.
Ernst Er hat sich keine genommen.
Irene Komisch. Es fehlt – Sie sieht sich scheu um. Glaubst du, daß er wiederkommt?
Ernst Nein.