Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Das Märchen in unserer Zeit
Der Gedanke
In unserer Zeit lebte mal ein kleines Mädchen, das zog aus, um das Märchen zu suchen. Denn es hörte überall, daß das Märchen verloren gegangen sei. Ja, einzelne sagten sogar, das Märchen wäre schon längst tot. Wahrscheinlich liege es irgendwo verscharrt, vielleicht in irgendeinem Massengrab.
Aber das kleine Mädchen ließ sich nicht beirren. Sie konnte es nicht glauben, daß es kein Märchen mehr gibt.
Sie ging also in den Wald und fragte die Bäume, aber die Bäume murrten nur. Die Elfen der Wiesen sind längst fortgezogen, die Zwerge aus den Höhlen, die Hexe aus der Schlucht.
Und sie fragte die Vögel, aber die sagten: »Die Menschen fliegen schneller, wie wir – kiwitt, kiwitt, es gibt keine Menschen mehr!«
Und die Rehe sagten, lächerlich, und die Hasen lachten, und der Hirsch gab überhaupt keine Antwort. Es war ihm einfach zu dumm.
Und die Kühe sagten, es wäre ihnen zu blöd, und sagten, man dürfe sowas vor den Kälbern garnicht sagen. Sie sollten so dumme, zwecklose Fragen garnicht hören, sie sollten darauf vorbereitet werden, daß sie geschlachtet würden, kastriert oder Milchspender würden. Ja, selbst wenn einer als Stier durchkomme, so sei das auch kein Märchen. Man müsse die Kälber aufklären.
Auf der Straße stand ein altes Pferd, das sollte zum Schlachter geführt werden. Es hatte ausgedient. Der Metzger saß im Wirtshaus und trank.
»Es wirds auch nicht wissen«, dachte das Mädchen, »aber ich will es fragen, denn es ist ein altes Pferd und weiß sicher viel.« Und sie fragte das Pferd.
Das Pferd sah das Mädchen an, verzog etwas seine Nüstern und stampfte dann mit den Hufen. »Du suchst das Märchen?« fragte es.
»Dann verstehe ich es nicht«, sagte das Pferd, »warum du es noch suchst? Denn das allein ist doch schon ein Märchen!«
Und es blinzelte das Mädchen an.
»Hm. Mir scheint gar, du bist es selber, das Märchen. Du suchst dich selber. Jaja, je näher ich dich betrachte, desto mehr merke ich es: du bist das Märchen. Komm, erzähl mir was!«
Das kleine Mädchen geriet in große Verlegenheit. Aber dann fing es an zu erzählen. Es erzählte von einem jungen Pferde, das so schön war und alle Preise beim Rennen gewann. Und von einem Pferde auf dem Grabe seines Herrn. Und von wilden Pferden, die frei leben.
Und da weinte das alte Pferd und sagte: »Hab Dank! Jaja, du bist das Märchen, ich wußte es ja schon!«
Der Metzger kam und es wurde geschlachtet.
Am Sonntag gab es bei den Eltern Pferdefleisch, denn sie waren sehr arm.
Aber das kleine Mädchen rührte nichts an. Es dachte an das alte Pferd, wie es weinte.
»Sie ißt kein Pferdefleisch«, sagte die Mutter, »dann iß garnichts.«
»Sie ist eine Prinzessin«, sagten die Geschwister.
Und das kleine Mädchen aß garnichts.
Aber es blieb nicht hungrig.
Es dachte an das alte Pferd und wie es weinte, und wurde satt.
Gestern begegnete ich einem Gedanken.
Ich war gerade spazieren und wollte wieder zurück, weil ich anfing, hungrig zu werden und außerdem dachte ich, jetzt wirds bald regnen, denn der Himmel hatte sich bezogen.
Da traf ich, wie gesagt, einen Gedanken. Ich weiß noch genau die Stelle, wo es war. Dort, wo der Wald aufhört, beginnt aufzuhören.
Ich bemerkte den Gedanken nicht sogleich, erst als er an mir vorbeiging und mich ansah – da hielt ich unwillkürlich, ich hatte so etwas schönes noch nie gesehen!
Ich könnt mich zuerst garnicht rühren vor Überraschung. Und dann war der Gedanke an mir vorbei. Ich lief ihm nach und fand ihn nirgends – er war weg.
Zu dumm!
Ich ärgerte mich, wie kann man nur so blöd sein und so einen schönen Gedanken vergessen!
Und ich strengte mich an, daß er mir einfallen möge wieder, aber er blieb aus. Er kam nicht wieder. Ich lief ihm nach an vielen platten Gedanken vorbei, hübschen und nicht hübschen, häßlichen, es kamen mir inzwischen auch neue Gedanken, ich traf auch neue, fremde wurden mir vorgestellt. Aber der Gedanke, den ich suchte, blieb mir fern. Und ich wußte, ich brauche ihn, auf diesen Gedanken habe ich immer schon gewartet.
Aber es sollte nicht sein!
Ich gab die Hoffnung schon auf und unterhielt mich mit anderen Gedanken. Gedanken, die aus dem Schnaps kommen, aus Wein und Bier, aus einem guten Braten, aus einer hohen Kirche, vom Markt – kurz allerhand Kraut und Rüben.
Aber ganz heimlich in mir blieb die Sehnsucht wach nach dem einen großen Gedanken –
Ob ich ihn jemals wiedersehen werde?
Manchmal dachte ich schon, ich hätte ihn wieder, aber das war alles Täuschung. Vielleicht war eine gewisse Ähnlichkeit vorhanden, aber er war es nicht.
Und ich wurde immer trauriger über den schönen Gedanken. Ich wußte, wenn ich ihn wiederhabe, dann darf mich die ganze Welt gern haben.
Dann pfeif ich auf alles.
Und dann kam ein Gedanke, es war ein sehr gescheiter belesener Gedanke, der sagte: Hör mal, ich glaub, das war gar kein Gedanke, mir scheint, das war eher ein Gefühl –
Ein Gefühl? Daß ich nicht lache!
Lacht nicht! Man kann das oft nicht so genau unterscheiden – es gibt Grenzen, man meint man hat ein Gefühl und derweil denkt man nur, und einen Gedanken und derweil ist das alles nur Gefühl!
Ich verbitte mir das! Ich werde wohl noch einen Gedanken von einem Gefühl unterscheiden können!
Abwarten! Was bin zum Beispiel ich?
Es gibt keinen ganz reinen Gedanken, immer ist auch irgendwo versteckt ein paar Prozent Gefühl und umgekehrt! Aber den Gedanken, den ich traf und vergessen habe, das war der reinste Gedanke! Und drum sehn ich mich auch so mit ganzem Herzen nach ihm.
Er starb. Und als der Engel des Todes kam sagte er: Ach, du bist ja mein Gedanke –
Ja, sagte er, ich bin mal an dir vorbei und hab mir gedacht, soll dich jetzt der Schlag treffen oder nicht? Dann hab ichs mir überlegt. Ich bin weder ein Gedanke, noch ein Gefühl, ich bin der Friede! Friede auf Erden den Menschen, die unter der Erde liegen! Komm, ich bin das Nichts. Drum hast du mich auch vergessen. Denn ein Nichts kann man nicht behalten.
Wir sind eine harte Generation, wir lassen uns nichts vormachen!
Mein Vater sagt immer: »Hoffentlich kommt kein Krieg mehr« –
Hoffentlich ja!
Und ich sage ihm: glaubst du denn nicht, daß all die Bureauxhocker begeistert mitzögen, wegen der Frau loswerden und so, alle Möglichkeiten –
Er sagt: Ja, die sich nicht mehr erinnern können!
Ich sage: Die sich erinnern können, die zählen eh nicht mehr, die sind ja alle schon alt! Tröste dich, du kommst nicht mehr dran und wegen mir mußt du dir keine Sorgen machen!
Er sagt: Halt den Mund! Du bist noch naß hinter den Ohren!
Ja, ich bin noch jung.
Ich bin ein sogenanntes Kriegskind.
Geboren am 5. November 1915.
Ich kann mich an den Weltkrieg nicht mehr erinnern.