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Großmütterleins Tod

Marie, die Frau des Buchhalters Hannes Moser hatte ihren Mann verlassen.

Die Frau des Hannes Moser war ihrem Mann davongelaufen. Sie hatte den Tag über nichts gesprochen und war am Abend verschwunden. Man sah sie noch am Bahnhof stehen und auf den Zug warten, der in die Stadt fuhr. Das war das einzige, was Hannes erfahren konnte.

Sie war ihm davongelaufen, nicht weil er sich in eine Andere verguckt hatte, und auch nicht weil sie sich in einen anderen verguckt hatte. Er war auch kein Spieler, ein solider Mann – wie man so sagt. Sie hatte ihr kleines Kind zurückgelassen und war davon. Halb besinnungslos. Sie war eine Frau, bleich und abgemagert, mit fettigem Haar und säuerlichem Geruch. Aber sie hatte schöne große dunkle Augen, voll Scheu. Und dann blickte sie immer drein, als fühlte sie sich zurückgesetzt, als dächte sie immer, Gott, mein lieber Gott, ich lebe ja doch auf der Schattenseite des Lebens. Aber sie hatte nicht den Mut, die Konsequenzen zu ziehen – ihr mangelte der Mut, weil sie ihre Erkenntnis nicht klar formulieren konnte.

Daß sie nun weg war, den Grund hierzu, gab Großmütterlein. Großmütterlein genannt, seit das Kind zwar noch nicht da, aber unterwegs, war die Mutter ihres Mannes. Die Alte wohnte bei den beiden Jungen und hatte die stärkste Vitalität. Trotz ihrer 70 Jahre gab sie den Ton an; sie herrschte; nicht schreiend, nicht befehlend, aber ewig Rücksicht fordernd und aus Wut, daß man ihr die Rücksicht erweise, voll Bosheit und verärgert. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, daß man ihr etwas schenkte. Sie sog das Blut der jungen Leute, sog ihre ganze Kraft in sich. Dabei lief sie in die Kirche am Sonntag, schimpfte aber auf den Pfarrer. Konnte sich mit niemandem vertragen.

Oh, Großmütterlein konnte aber auch so friedlich aussehen! Alle, die nicht näher hinsahen, lobten sie. Wenn sie so an einem Tage, an einem warmen Spätherbsttage in dem Garten des Häuschens saß, auf einer Bank und strickte – ab und zu nachsann, in die Ferne blickte – in einem Buche las. Und, wenn sie zwischen den Seiten eine Rose fand, wie die Großmutter in Andersens Märchen, so dachte sie auch darüber nach – aber sie bekam eine Wut, einen Haß auf das Leben, weil es verging. Sie haßte das Leben, die Jugend, sie sah in ihnen ihren Tod, und ihr Lächeln voll Nachsicht und Güte, war aus Schwäche. Ihre Güte war verlogen, ihr Haß echt!

In der Frau ihres Sohnes sah sie die Rivalin, das Weib. Sie ekelte sich vor ihrer Fraulichkeit, vor ihren Brüsten, vor ihrer Jugend! Sie hatte einen Haß auf die beiden Betten. Einmal waren die zwei abends fortgegangen, da saß sie allein im Zimmer. Sie humpelte umher und trat auch in das Schlafzimmer ein. Sie stand in der Türe und ihr Gesichtsausdruck war so entsetzlich verzerrt, so entstellt, daß sie einer Furie glich. Sie ging drinnen auf und ab, und hegte die finstersten Gedanken. Dort stand das Bett, ihr Bett – in diesem Bette ist sie einst gelegen, sie kennt ja noch das ganze Zimmer, die Bilder und alles – aber jetzt muß sie in der Kammer hinten wohnen und dort an ihrem Bette liegt das Nachthemd der jungen Frau. Dort wäscht sie sich, dort liegt ihre Zahnbürste, im Schranke ist ihre Wäsche. Ihr Duft liegt im Zimmer – und wo blieb sie. In der Kammer! Es war alles vergangen, alles verflossen – und die Alte schnaubte Rache gegen die Jungen.

Als die beiden nach Hause kamen fühlten sie, daß jemand in ihrem Zimmer war, sie fühlten die feindselige Luft, die dunklen Gedanken, aber keiner wagte ein Wort zu sagen, weil sie wußten, wer hier war. Ihre gute Laune war vorbei – schweigend zogen sie sich aus.

Plötzlich setzte sich die Frau an den Bettrand und fing an leise zu weinen. Er horchte auf, er wußte genau Bescheid. Unschlüssig, unsicher, zog er sich aus. Er sah den gekrümmten Rücken seiner Frau.

»Warum weinst du denn? Was hast du denn schon wieder?«, frug er. »Ich halte das nicht mehr länger aus – «

»Was nicht mehr länger?« herrschte er sie an. Und er machte seiner Wut auf die Mutter Luft, indem er sie auf seiner Frau ausließ. Und es tat ihm wohl, das tun zu können. – »Halte doch endlich dein Maul! Ich weiß, was dahintersteckt, es ist nur der Haß auf meine Mutter! Hetze nicht mehr gegen sie! Es verfängt bei mir nicht! Wer meine Mutter angreift, greift mich an!«

Die Großmutter saß aufrecht in ihrem Bette und freute sich satanisch über den Krach. Sie horchte die Wände durch. – Lange war es schon still geworden, noch saß sie aufrecht und horchte. Und freute sich.

Die Frau lag still weinend, und der Mann dachte nach, wie er das Geld herschaffen muß für die zwei Weiber! Plötzlich fiel ihm das auf und er sah klar einen Zusammenhang.

Er haßte nun die Alte und wollte sich seiner Frau nähern. Diese wehrte ab, worauf er sie kniff, daß sie einen blauen Fleck bekam. Er biß sich dabei so auf die Lippen, daß das Blut kam. Die Frau stöhnte leise auf und weinte weiter.

 

Am nächsten Tage ging die junge Frau fort und kam nicht wieder. Man wartete mit dem Essen auf sie und die Alte meinte, wo sie sich nur wieder herumtriebe, und, daß man zu ihrer Zeit bedeutend pünktlicher gewesen sei, und überhaupt, was streune sie in der Nacht umher – doch er gab keine Antwort. Und das war ihr unheimlich. Sie fühlte sich unsicher und ärgerte sich, ihn nicht ärgern zu können. Bin ich ihm so gleichgültig geworden? – dachte sie eifersüchtig.

Die Frau kam nicht wieder und Hannes erfuhr, daß sie in die Stadt gefahren war, wahrscheinlich zu ihrer Schwester. Er ging an die Bahn – die Alte sagte: »Ich fahre mit.« »Gut!« sagte er. Der Alten wurde es unheimlich zu Mut, sie dachte ja gar nicht daran zu fahren, es war nur eine kindische Bosheit. Aber er erriet ihren Gedanken, daß sie am liebsten zu Hause bleiben möchte und er erklärte nun sicher und unwiderstehlich, ohne Widerspruch duldend: »Du fährst mit! Der nächste Zug geht in einer Stunde!«

Eine Stunde später saß Hannes und Großmütterlein auf dem Bahnhof. So im Freien sah die Alte viel älter aus, kleiner, verhutzelter, wie ein Zwerg. Sie saßen auf einer Bank neben dem Bahnhof. Es war eine laue Sommernacht und in der Ferne ging der Wind. Man konnte die Sterne sehen, aber der halbe Himmel war tiefschwarz. Dort waren Wolken. Und ab und zu strich ein kleiner Wind über den Bahnsteig. Die Alte in ihrem Kapotthütchen, saß da wie ein maskiertes Kind. Sie betrachtete voll Neugier eine Gruppe Kinder, die mit einem Hunde spielten und es sah aus, als wollte sie fast mitspielen. Sie blickte voll Ehrfurcht auf die Uniform des Bahnbeamten, auf die vielen Ziffern und Signale, die sie nicht enträtseln konnte. Sie ging wenig aus in der letzten Zeit.

Der Zug hatte eine halbe Stunde Verspätung. Hannes saß mit gesenktem Kopf da und stierte auf die Risse in dem Boden. »Es zieht«, sagte plötzlich die Alte. Er gab keine Antwort. »Es zieht«, wiederholte sie, »es fröstelt mich. Setzen wir uns doch anderswohin.«

»Überall ziehts«, antwortete er.

»Aber hier ist es mir zu windig«, keifte sie, »willst du denn, daß ich eine Lungenentzündung bekomme, daß ich mir den Tod hole?! Den Tod!!«

Er blickte auf und ihre Augen trafen sich. Den Tod, dachte er. Ja, den Tod! Mir solls recht sein! Das beste wäre es! Du hast kein Recht mehr! Du hast deine Rolle ausgespielt und mußtest schon längst abtreten! Sie erschrak vor seinem Blicke. »Es zieht«, wiederholte sie und es lag etwas unendlich Wehmütiges in ihrer Stimme. Diesen Blick hatte sie bei Hannes noch nicht gesehen, so hatte er sie noch nie angesehen. – In ihrer Stimme lag ein Bitten. Es sprach die Frau aus ihr, die zurückgesetzte Frau. Er blieb sitzen.

Sie aber stand plötzlich auf, doch er faßte sie am Handgelenk und drückte sie nieder. »Bleib. Es zieht ja nicht!« Ein Windstoß strich an ihr vorüber, ein Fenster klirrte in der Nähe. Sie betrachtete ihn von der Seite. Er hat sich nicht viel verändert so im Profil. Sie nahm Abschied. Plötzlich wurde es ihr klar, wie einem Sterbenden. Was steht sie auch noch da herum und hemmt die Lebenden? Sie sah ihren Sohn, wie er noch ganz klein war. Ein Signal läutete.

»Jetzt muß er bald kommen, der Zug«, sagte er plötzlich leise.

»Ja, jetzt muß er bald kommen – «

»Es zieht hier wirklich«, sagte er, »komm, Mutter! Setzen wir uns anderswohin!«

»Nein. Ich bleibe hier. Es zieht gar nicht, mein Sohn. Es zieht nicht mehr. – Und dann will ich auch nicht in die Stadt fahren. Hol du dir deine Frau allein. Ich will da nicht dabei sein. Laß mich hier noch etwas sitzen, bevor ich umkehre – « Der Zug fuhr ein.

»Leb wohl, Mutter!«, sagte er.

»Leb wohl!«

Sie blieb auf dem Bänkchen sitzen. Der Wind wehte scharf. Der Zug fuhr ab. Sie sah den beiden roten Lichtern noch nach. Dann saß sie still allein. Sie hatte ihm noch nachgewinkt.

Die Lichter am Bahnhof gingen aus.

 

Die Großmutter ist tot. Sie war nur kurze Zeit krank gewesen, hatte sich erkältet und eine Lungenentzündung war hinzugetreten. Der Hannes hatte sein Weib aus der Stadt zurückgebracht, und nun lebten sie zusammen.

Allmählich wich auch der Schatten der Großmutter aus dem Hause, und als das Kind geboren war, da war von der Großmutter nichts mehr übrig, als das Holzkreuz und die Erinnerung.

Eine gleichgültige Trauer.

Man hat ihren Tod nicht betrauert, weil sie alt war.


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