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Buchschmuck

Sein letztes Hochamt.

Man darf das jetzt von ihm erzählen, wenn er selbst es auch nie gethan hätte. Er ist ja nun schon beinahe zwei Jahrzehnte tot. Und er war immer so schweigsam gewesen und sprach gar nie von sich. Es lag so in seiner Natur. Und es war auch wohl ein gut Teil Angewöhnung. Er war nie so recht verstanden worden, nie in seiner engsten Umgebung, und auch in seiner weiteren nur selten. Bei seinen Freunden höchstens hat er sich tiefer ausgesprochen. Aber das waren selbst wieder so stille Leute, und sie sind ja nun auch alle tot.

Es war in den Jahren der Reaktion nach der Volkserhebung 1848-1849. Der Einzelne war durchaus unsicher geworden, die Gegensätze der Parteien waren heftig und wuchsen immer mehr. Die Wühlarbeit machte stets größere Fortschritte, und ihre Erfolge, die anfangs noch heimlich waren, traten offen zu Tage.

Besonders wer ein Amt hatte, mußte sich hüten. Nichts unbedacht sagen, nicht immer ehrlich seine Meinung sagen. Nicht mal eine Meinung haben wollen. Das war im Amt so verderblich und war so unvereinbar mit dem Amt, wie das Aufklären und Agitieren am Wirtstisch. Oder gar im vertrauten Kreise, denn überall hockten die Heuchler und Horcher, und brühwarm und gehörig vergröbert kam alles ins Pfarrhaus. Denn der Pfarrer war der Hüter des zahmen und unterwürfigen Geistes, der Hüter der Meinungslosigkeit und der Verdammer der Freiheit. Und die Falschen und Ohrenbläser, die Locker und Lügner waren ihm gute Werkzeuge.

Eine Meinung haben und ein Mann sein – ja oft einen »Kopf« haben und nicht dumm sein, das hieß frei sein, hieß anrüchig, ja direkt gefährlich sein.

Da red' ich von meinem Heimatdorfe. Es war der Schullehrer Andreas Krafft, der der Stein des Anstoßes geworden war. Es wäre schwer zu sagen gewesen, warum.

Es lag vielleicht im Krafft. Ich stelle mir ihn vor, wie er über die Straße ging. Ein Schullehrer vom alten Schlage. Auf den ersten Blick ein Schullehrer. Aber mehr als das, auf den ersten Blick zu sehen: eine Persönlichkeit. Einer, der mehr hatte vom Leben, als sein armes Amt. Einer, der ein Leben gelebt hatte, dem das Leben einen Inhalt gegeben hatte, und der seinen Idealismus, den alten guten, hohen, heiligen Idealismus, durch sein Leben trug. Er leuchtete auf seiner Stirne, er glühte in seinen Augen. Und mag er uns öde und thöricht geworden sein – wo er uns heute noch so ganz eins mit dem ganzen Menschen begegnet, ziehen wir den Hut ab.

Der Krafft war nach oben nicht genehm. Er war gewissermaßen schon prädestiniert dazu. Es lag so in seiner ganzen Art. Sie machte nicht warm, sie machte vielleicht scheu, machte einem unbehaglich. Es war so etwas Starkes, Abwehrendes in ihm, es wurde oft etwas Herausforderndes, Herrschendes. Man sah's auf den ersten Blick, man hörte es beim ersten Wort. Vielleicht ein starkes geistiges Übergewicht. Vielleicht war's etwas Äußeres nur: der Blick, die Stirn, die Schädellinie – vielleicht der graue Hambacher Bart, das lange Haar – vielleicht die Art zu gehen oder zu sitzen, ja nicht zum wenigsten die Art zuzuhören, stille zu sein.

Ja, das war's vielleicht beim Krafft, wie still er war. Und wie ernst immer. Er ging durchs Feld, immer in den gleichmäßigen breiten Schritten – »guten Tag, Herr Lehrer!« rief's, er dankte und schritt weiter. Und wenn er in den Gesangverein kam – und war der lauteste Lärm im Saale, und ging die Thür auf und der Krafft trat ein, war's mäuschenstill. Und alle sahen nach ihm und alle hingen an seinem Blick, und es war mehr als Furcht, es war ein hoher Respekt. Etwas Vornehmes trug er an sich, trug er überall hin, so einfach er war. Keiner kam ihm zu nahe, selbst wenn er scherzte. Und keiner wagte sich so recht aus sich heraus, wenn der Krafft dabei war. Jede Bemerkung wurde zweimal bedacht, eh sie gemacht wurde. Und doch – wer den Krafft respektierte, und es waren die Besten meines Dorfes, der hing ihm auch an.

Doch war der Krafft nicht hochmütig. Einige behaupteten auch das, aber schon die Freunde, die er sich ausgewählt hatte, bewiesen gegen sie. Die Freunde waren nicht aus den sogenannten »vornehmen« Kreisen, nicht »Doktor« und Apotheker, nicht Schullehrer und Angestellte – es war der Musikant Jakob Veit, kurz der Veitjakob genannt, der die Violine spielte auf den Kirchweihen und im Gesangverein den ersten Tenor sang, war der Botsieben-Hannes, der die Post hatte von Thurn und Taxis und Musikant war nebenbei, war der Pankraz Klein, der den zweiten Baß »hielt« im Gesangverein, war freilich auch der Rudolf Schwarz, der Bürgermeister, der auch Freimaurer war, vielleicht auch sonst noch was Geheimnisvolles und Böses, was den Krafft anzog.

Der Krafft sah aber nicht aufs Äußere und nicht aufs Böse, er suchte in seinen Freunden eine Ergänzung zu sich selbst. Oder das nicht einmal, oder wenigstens nicht so bös egoistisch ausgedrückt – er suchte gesunden Menschenverstand und ein warmes Herz, Liebe und Begeisterung. So beim Veitjakob, dem Musikanten, – beim »alten Schwarz« aber war's oft ein Aufblicken und Bewundern, öfter die freudige Gewißheit und Dankbarkeit, verstanden zu werden, angeregt und bestärkt zu werden. Denn der Schwarz war ein Weltmann. Das Leben hatte ihn nach allen Richtungen schon umhergeworfen, er hatte sich auf dem Dorfe vor Jahren festgesetzt, hatte erst eine Wirtschaft eröffnet, dann eine Branntweinbrennerei und war dann zum Bürgermeister gewählt worden. Denn er war reich. Er war aber auch ein heller Kopf. Und er war auch – ein Demokrat.

Ein Demokrat war der Krafft nun freilich auch. Er hatte in seiner Jugend das Hambacher Fest mitgemacht und hatte flüchten müssen: er hatte im »tollen Jahre« geredet und geschrieben für die Freiheit und die Verwirklichung der Träume der deutschen Seele.

Aber nun war er still geworden, ganz still. Still im Kreise seiner zahlreichen Familie, für die er schwer zu sorgen hatte, still bei seinen Büchern und Noten, in seinem Schulgarten, den er fleißig bepflanzte. Und wenn er von seiner Arbeit ausruhte, saß er unter dem hohen Epheu an der alten Schloßmauer und paffte aus seiner Pfeife. Und alte Träume und alte Lieder wurden in ihm wach, er lächelte des Vergangenen und leid ward ihm um all das, was unerfüllt blieb – aber er blieb still. Ja, ganz still war der Andreas Krafft. Lr hatte sich vom Leben zurückgezogen, er hatte seinen Kreis verengert, und was er von dem Draußen dabei verloren hatte, das suchte er sich zu ersetzen durch die innigere Beschäftigung mit dem, was ihm lieb war.

So hatte seine Persönlichkeit ihre Gewichtigkeit und Schwere bekommen, und auch eine Ruhe war ihm geworden, und Kampf und Leid waren nicht verloren. Und so wurde der Krafft auch nicht zur Maschine, trotz der gleichmäßig schweren Thätigkeit, die er entfalten mußte. Er fand sich überall einen Punkt, von dem aus betrachtet alles einen eigenen Wert und Ansehen erhielt, von dem aus trotz aller Anstrengung und Überwindung der Krafft noch Werte für seinen inneren Menschen herausschlug, so daß er sich seine Freudigkeit bewahren konnte. Warm fühlte er sich von ihr durchströmt, wenn er seinen Gesangverein übte, wenn er ein Lied oder ein Präludium für die Orgel einrichtete, und ganz besonders, wenn er an der Orgel saß und die Töne ihm die Sprache seines Herzens wurden, in der sich das Letzte sagen ließ, was sein Herz verborgen hielt.

Und nun war plötzlich die Hetze gegen ihn losgegangen. Es war fast über Nacht gekommen. Der eigentliche Anlaß wäre schwer zu finden gewesen. Der Anlässe und Gründe wußte man viele anzugeben. Kraffts politische Vergangenheit, seine geistige Selbständigkeit, sein Übergewicht, die Sicherheit und Reinheit seiner Persönlichkeit, ja gerade das mochte vielen ein Dorn sein. Auf einmal fand man ihn kirchlich zu lax, man fand bald, daß er kirchenfeindlich sei. Man gab hundert heimliche Anlässe zum Streit, tausend heimliche Stiche. Aber der Krafft stand über der Kleinlichkeit der Menschen, er blieb ruhig. Da riß die Geduld. Man ging im Amt gegen ihn vor. Man schikanierte ihn, man tadelte, rügte, drohte. Da stand der Krafft seinen Mann, er verteidigte sich. In seinem Amt ließ er sich nicht antasten. Er hatte allzeit seine Pflicht gethan, er hatte sich nichts vorzuwerfen – keiner sollte ihm etwas vorwerfen dürfen.

Da war die Flamme aufgeschlagen. Das Dorf war plötzlich in zwei Lager geteilt: hie Pfarrer! hie Lehrer! Und eigentlich hatte der Krafft gar nichts dazu gethan. Er hatte seine Angelegenheit allein vertreten, fest und still, wie es seine Art war. Niemandes Hilfe hatte er angerufen, niemandes Beistand erbettelt. Nur einmal hatte er in der Erregung das Zeugnis seiner Schulkinder gefordert. Sonst war er passiv geblieben. Er glaubte an sein gutes Recht und seinen Sieg.

Aber Beichtstuhl und Kanzel hatten gute Arbeit gethan und thaten sie weiter. Die Gemeinde blieb in zwei Parteien gespalten. Und heiß war der Kampf. Auf den Straßen, in den Wirtshäusern begann er, in den Familien setzte er sich fort, und sogar die Jugend beteiligte sich daran.

Kraffts Partei war eigentlich ohne Führer, denn der Andreas Krafft wollte nichts mit dem Zwist zu thun haben. Er ermahnte immer zur Ruhe und ihn allein zu lassen. Aber die Fanatiker und Herausforderer der Gegenpartei ruhten nicht. Und der Streit spann sich immer weiter. Er wurde dann auch noch bei der Behörde gegen Krafft benutzt, dem alle Schuld zugeschoben wurde, und eines Samstags, da er gerade unterrichtete, wurde ihm sein Absetzungsdekret zur Unterschrift vorgelegt. Es riß ihn hin, es seinen Schülern vorzulesen. Dann unterschrieb er's und ging.

Die Gesangstunde für den Abend sagte er ab, er fürchtete einen heftigen Ausbruch von Streitigkeiten im Vereinslokal oder auf der Straße, wenn er sich jetzt zeigen würde. Und er fürchtete auch, sich nicht halten zu können und in der Erregung ein unbedachtes Wort zu reden, wenn er herausgefordert würde. Am Nachmittag kam noch einmal ein amtliches Schreiben. Es war vom Pfarrer, »daß er gehalten sei, die Orgel bis zum Eintreffen seines Nachfolgers zu spielen.«

Diesen Sonntag wollte der Krafft noch einmal spielen, aber es sollte zum letztenmal sein. Er hatte sich's fest vorgenommen: Es sollte sein Abschied von der Orgel sein.

Am Sonntag Morgen, als es anfing »zusammen«zuläuten, ging der Krafft in seiner gewohnten Weise nach der Kirche. Er ließ sich vom Glöckner die Weisungen des Pfarrers holen, dann schritt er langsam die Treppe zur Empore hinauf. Als sein grauer Kopf sichtbar wurde, sah man von allen Seiten nach ihm. Auf allen Gesichtern lag ein tiefer Ernst. Der grimmigste Feind hätte jetzt im Gefühl seines Sieges nicht lächeln können. So ernst Kraffts Gesichtszüge waren, so ruhig und fast klar waren sie doch auch, denn nichts Bitteres sprach in ihm. So sah er fast feierlich aus, und allen war es feierlich bei seinem Anblick. Als ob jeder fühlte, daß da Einer zwischen ihnen gehe, der ein Schicksal auf seinen Schultern trage. Es mochte manchem sein, als ob dies Haar, das in diesen schweren Tagen fast schlohweiß geworden war, mehr fordere als nur die Ehrfurcht vor dem Alter. Und manchem mochte auch das Herz bange geworden sein im Gedanken an des alten Lehrers Zukunft, und er mochte sich in diesem Augenblick seiner eigenen Schuld erinnern, die er selbst an dem Unglück des Lehrers trug, dem er doch nur hätte dankbar sein müssen. Einem oder dem anderen gar mochte es aufgehen, daß es etwas Gebietendes, Großes und Erhebendes sein müsse, so fest und sicher dahinzugehen, sich aufrecht zu halten und kein Mitleid zu fordern, wenn ein großes Leid die Seele beschwert, ein Wirken, eine Zukunft, eine Existenz zertrümmert liegt.

Alle waren ergriffen, jedem schlug das Herz höher. Das Schicksal erzwang sich Achtung, sein Anblick mahnte zur Einkehr. Der Krafft hatte jetzt die Orgel aufgeschlossen und die Noten aufgestellt. Dann setzte er sich auf den Orgelbock. Er wartete, bis der Priester aus der Sakristei trat.

Ernst und feierlich spielte er das Präludium, ernst und einfach begleitete er den Gesang des Volkes und des Priesters, schlicht und unverschnörkelt präludierte er und spielte die Zwischenstücke ohne viel Stimmenaufwand.

Durch nichts Äußerliches verriet sich die Bewegung seines Herzens, und sie niemand auch nur im leisesten zu künden, befleißigte sich Krafft der größten Strenge und bewahrte sie während des ganzen Gottesdienstes im begleitenden und füllenden Spiele.

Der Pfarrer hatte die Predigt ausfallen lassen. Der Krafft war froh darüber. Er hätte ihm heute nicht zuhören können. Er war froh, an seiner Orgel sitzen bleiben zu können. Zu spielen, zu vergessen. So wichtig waren ihm sonst die einzelnen Akkorde nie gewesen. Sie flossen ihm nicht zu – er wählte streng und vorsichtig aus, alles Prunkende vermeidend. Er war schwer und ernst gestimmt. Er spielte nicht nur vor dem Gotte, dem der Priester opferte, den die Gemeinde anbetete – groß und streng sah er sein Schicksal vor sich. Er spielte vor seinem Schicksal. Und er wollte nicht klein sein vor ihm.

Als sei es sein Richter, war ihm, als wäge es nun, ob er zu leicht sei und schwach, oder wert, die Schwere seiner Last zu tragen und seinen Arm zu fühlen, der wie aus einer Ferne, einer Höhe, einer Ewigkeit herüberreichte.

Gut und groß ward der Krafft vor seinem Blick.

Er hatte alle Kränkungen und Beleidigungen vergessen, er stand über dem Augenblick, der so schwer war, und es war ihm, als weihe er sich jetzt, sein Verhängnis zu tragen. Er fühlte sich so außerhalb der Menschen, außerhalb ihres Kreises gesetzt. Er fühlte sich ganz allein. Und er gab sich für das Geringste, was er that, tief und streng Rechenschaft.

So weihevoll gestimmt, wählte er die Akkorde aus. Dann war das Ite missa est gekommen – und Krafft atmete tief auf. Der Gottesdienst war zu Ende.

Und jetzt dachte der Krafft an den Abschied, an den Abschied von seiner Orgel, die er die langen Jahre gespielt, der er das Verborgenste seiner Seele und ein ganzes Leben anvertraut hatte.

Mächtig durchdrang ihn, was die Musik je in ihm ausgelöst hatte, mächtig packte ihn, was sie ihm gewesen war. Daß sie ihm mehr war, als ein Spiel, als eine Pflicht, daß sie ein Leben war, das außer ihm lebte und doch seinen Puls hatte.

Und nun Abschied. Krafft bebte. Der Künstler in ihm bebte, der vielleicht nie seinen ganzen Ausdruck hatte finden können, der ihm vielleicht nie klar geworden war. Der nichts weiter in ihm war, als Liebe, als eine Freudigkeit, ein Vertrauen. Der vielleicht nie etwas mehr gethan hatte, als in Stunden der Ergriffenheit seine Zuflucht zur Musik zu nehmen, und das nur in unklarem Trieb, fast mechanisch und unbewußt.

Aber der Krafft wollte es kurz machen. Er wollte abbrechen und gehen. Er konnte nicht. Es hielt ihn.

Daß er ja zum letzten Male spiele, rief's in ihm, daß er den Schluß machen müsse zu all dem, was er die Jahre hier in Tönen gesagt hatte. Daß er dann erst gehen könne für immer von diesen Tönen, die sein waren, sein eigen und seines Wesens – und daß ihr Inhalt dann erst ganz sein könnte, wenn er seinen letzten Sinn bekäme, den Sinn seines schwersten Erlebnisses.

Mächtig fühlte Krafft dieses Erlebnis in sich. Seinen ganzen Schmerz, all das Traurige, all die schweren Folgen, all das Ungewisse – freilich auch seinen Mut, seine Kraft, seinen Stolz und seinen Willen.

Daß er gefallen, fühlte er, aber nicht geschlagen fühlte er sich. Ja, ihm war, als habe er einen Sieg errungen.

Ein paar Akkorde hatte der Krafft wie im Traume gegriffen. Die Rechte war ihm von den Tasten gesunken, die Linke hielt die Akkorde fest. Ein Postludium von Bach hatte er fast mechanisch aufgeschlagen. Eine Fuge, deren Thema er jetzt spielte.

Er machte eine Pause und strich mit der Rechten über seine Stirne. Eine Strähne war ihm tief ins Gesicht gefallen.

Sein Schicksal stand nicht mehr vor ihm, es sprach in ihm. Er spielte. Er wiederholte das Thema. Zart und feierlich leitete er im oberen Manuel ein. Dann zog er die Koppel. Immer inniger wurde die Verschlingung, immer mächtiger und sicherer schien das Thema zu werden, je gewaltiger die Gegensätze anwuchsen. Und immer wieder und wieder setzte er ein.

Der Krafft hatte die ganze Orgel gezogen. Der Schluß des Postludiums brauste durch die Kirche.

Die Gläubigen waren auf ihren Plätzen geblieben. Keiner hätte gehen können. Sie standen und sahen hinauf zur Empore.

Ein paar Männer waren tiefer ins Schiff gegangen und standen lauschend, staunend in den Gängen.

Krafft spielt weiter.

Etwas Großes brauste über die Gemeinde hin, etwas Großes, das kein Wort hat: der Atem einer Seele, die verhauchen möchte und festgehalten ist.

Keiner mochte wissen, was es war. Aber alle fühlten, daß es ein Etwas sein müsse, das stärker war, als die Musik, die es trug, stärker als Feier und Andacht, die dem Gotte gegolten hatte.

Alle standen und lauschten und sahen empor.

Und Krafft spielte noch. Er hatte den Blick von den Noten abgewandt, er hatte den Kopf vorgebeugt, das rechte Ohr der Orgel zugewandt. Er lauschte tief in sein Spiel hinein. Er lauschte auf das Letzte, das er sich spiele, das er nicht hinauskündete in die Welt.

Er hatte alle Register eingeschoben bis auf die vox humana und einen Baß – und nun schlug er unisono eine schlichte Folge von Tönen an, hielt jeden fest und sicher aus und faßte zuletzt einen Akkord, den er sacht verklingen ließ. Es war wie ein Verbluten, ein Seufzen. Oder es mochte wie ein Vergeben und Weinen sein.

Der Pfarrer war aus der Sakristei getreten. Er stand oben vor dem Marienaltar, deren Kerzen der Glöckner löschte. Er hatte die Rechte zur Faust geballt und stützte sie auf die Kommunionbank auf. Mit flammenden Augen sah er zur Orgel hinauf. Und er knirschte.

Krafft schloß die Orgel und zog den Schlüssel ab. Er blickte sich um. Er sah, daß die Leute jetzt erst ihre Plätze verließen. Es ging ihm auf – sein Spiel hatte sie festgehalten. Er hatte alles vor allen gesagt, was sein Herz bewegt hatte. Und alle hatten's verstanden.

Er wurde tief rot. Er strich sich verlegen durchs Haar. Er schämte sich. Ihm war, als habe er sich der Menge preisgegeben.

Er war erlegen, er war schwach gewesen.

Er mußte sich stützen – er griff nach dem Orgelbock. Er griff fehl.

»Herr Lehrer!« klang eine Männerstimme neben ihm.

Einer seiner Sänger hatte ihn beobachtet und war auf ihn zugetreten, ihn zu stützen. Der Krafft beherrschte sich wieder: »Ich danke!« sagte er.

Dann ging er. Er ging ruhig und sicher, wie er gekommen war. Die Kirche hatte sich geleert. Alle Kerzen waren gelöscht. Die Kirche lag im Dämmer. Nur durch ein offenes Fenster floß ein Sonnenstrahl. Andreas Krafft stand an der Thür. Er wollte sie aufziehen. Da mußte er sich noch einmal umsehen. Voll fiel das Sonnenlicht in sein Gesicht. Er senkte es ein wenig. Da sah er oben den Pfarrer stehen.

Sie standen einander gegenüber, die Gegner, der leere Raum nur zwischen ihnen.

Wenn sie hätten Freunde werden können, wenn es gekommen wäre, daß sie Freunde geworden wären?!

Krafft zitterte ein wenig. Dann aber hob er rasch den Kopf, obgleich das Licht seinen Augen weh that. Und rasch ging er.

Auf dem freien Platz vor der Kirche stand noch die Menge. Geteilt wie immer: links die Freunde, rechts die Gegner. Aber alle standen stumm. Aller Augen waren auf den Alten gerichtet, der jetzt oben auf der Freitreppe der Kirche stand. Der Krafft hielt betroffen den Fuß an. Unmerklich reckte er sich auf.

Dann schritt er fest und sicher die Treppe hinab.

Noch einmal hielt er an und nahm die Brille ab. Er wollte nicht scharf sehen jetzt, er konnte nicht.

Und er wollte auch nicht gerührt werden.

Er ging festen Schrittes zwischen den Reihen hin.

Es schnitt ihm durch die Seele: »Ich bin ein Gezeichneter.«

Ein Graukopf nahm tief den Hut ab.

Und er blieb stark und ging groß und stolz. Man hörte nur seinen Tritt – und fast auch den Atem der Leute.

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