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IV. Der Taubstumme.

Erstes Kapitel.

In dem Kreisstädtchen Oerle, oder wie es in der Schriftsprache heißt: Oerla, saß der Kreis-Gefängnißwärter Pancratius Hiob Abends vor der Hausthür, sein Pfeifchen rauchend und mit seltenem Behagen die milde Herbstluft einathmend. Seine Frau saß fleißig strickend neben ihm. Der Sohn Tobias lehnte sich bis an die Brust zum offenen Fensterchen heraus und gab sein Wort in ihre Gespräche gelegentlich mit dazu.

Ja Krezel, hob der Alte an, das ist uns lange nicht widerfahren. Heute beschließen wir mit Gottes Hilfe den dreißigsten Tag, wo kein Arrestant eingebracht worden ist. Seit zehn Jahren, glaub' ich, ist es nicht geschehen, daß einen ganzen Monat hindurch die Brummställe leer blieben, 's thut unser Einem wohl; wenn auch dadurch das Bissel Profit, was Du etwa bei der Kost haben kannst, in die Brüche geht – mag's doch! 's ist doch ein angenehmes Gefühl, des Nachts im Bette zu denken: da, hinter der Mauer neben uns härmt sich kein armer Teufel und grämt sich kein abgerissener Landstreicher auf dem alten Strohsack! Wohl thut's Einem, sag' ich.

Freilich thut's das, erwiederte Frau Lucretia Hiob; mir auch; und von Herzen gern wollte ich mein Lebelang auf die paar Pfennige Verzicht leisten, die das Kreisamt mir auf meine Mühe vergütet, wenn ich nimmermehr für einen Gefangenen zu kochen brauchte.

Gefangene und Gefangene, das ist ein Unterschied, sagte nach einigem Bedenken Hiob. So ein wirklicher Aufseher in einem ordentlichen Strafhause, das ließ' ich mir etwa eher noch gefallen. Wer da hineinkommt, der hat das Schlimmste schon überstanden, hat Untersuchung und Urtheil hinter sich, und wenn er sich gut beträgt, hübsch fleißig arbeitet, redlichen Willen zur Besserung bezeigt, kann ihm allerlei Vorschub geleistet werden durch freundliche Behandlung und eindringliche Lehren. Aber die bei uns hier untergesteckt werden, sind gewöhnlich erst auf dem Wege in's Unglück, voll von Lügen wie von Ungeziefer, und ehe man im Stande ist, sie auswendig und inwendig ein Bissel zu säubern, werden sie schon wieder fortgeschafft. Da hat mir's Herze wohl manchmal geblutet um solch' junges Bürschlein, vielleicht braver Eltern Kind!

Und mir erst, sprach Tobias aus dem Fenster heraus, wenn ich sie forttreibe wie das liebe Vieh zum Schlachthofe. 's ist ein hartes Stückel Brot, ein Kreisbote sein.

Was hilft's, wendete Frau Lucretia ihm dagegen ein; Dein Weib und Deine Kinder, unsere kleinen muntern Enkelchen wollen doch auch leben. Und ist das Brot hart, ernährt es Euch doch leidlich; und Dein Herze wenigstens ist dabei noch nicht hart geworden, wie des städtischen Amtsdieners, des Schmolian seines.

Nein, Mutter, meiner Seele nicht, und soll's auch mit Gottes Hilfe nicht werden. Wenn ich schlechte Burschen transportiren muß, und sie sind nur nicht gerade widerspenstig und obstinat, da behandle ich sie so viel wie möglich mit Schonung; denn ich denke immer, wer weiß, wie dereinst Deine Kinder gerathen, ob Du Freude an denen erlebst, und ob Dich der Himmel nicht strafen würde, wenn Du unbarmherzig wärst? So sind meine Gedanken. Aber der Schmolian lacht mich nur aus derowegen. Er hat gut lachen; er hat keine Kinder und weiß nicht, wie einem Vater zu Muthe ist.

Nu gar erst einem Großvater, fuhr der alte Hiob fort, wenn er einsieht, daß er's nicht mehr erleben kann, wie die kleinen Rangen einschlagen werden. 's steht jetztund gar zu übel auf Erden und ist erbärmlich bestellt um die Menschheit. In früheren Zeiten haben die Landesherren ein Prämium ausgesetzt auf den siebenten Sohn, der einem Elternpaare am Leben blieb; heute zu Tage giebt es so viel Volks, daß schon bald kein Platz mehr sein wird und kein Unterkommen.

Das hätt' mir noch gefehlt, klagte Tobias, daß ich sieben Jungen haben sollte! Ist mir der Eine schon zu viel mit seinem Spektakuliren! Da lob' ich mir die zwei Mädel; die sind meine Freude.

Nicht wahr, sagte beistimmend Mutter Lucretia, genannt Krezel; Mädel, das ist gleich ganz 'was Anderes, die erziehen sich von selbst und kosten so viel wie gar Nichts. Denn Du meine Güte, was ißt denn so ein Mädel? Wie ein kleines Piepvögelchen!

Das möcht' ich von unsern gerade nicht behaupten, Mutter; die fressen ganz gehörig. Aber dabei fällt mir ein, daß meine Frau mit dem Bissel Abendbrot auf mich wartet; hier ist weiter Nichts zu thun; dorten seh' ich auch den Schmolian die Gasse heraufkommen, der macht vor Eurer Bank sicher ein Ständerle, und aus dessen feine Unterhaltung bin ich nicht sehr versessen. Also: gute Nacht mitsammen, und ich gehe.

Gute Nacht, Tobias, sprachen Hiob und Lucretia zugleich – und gleich darauf sprachen sie: Guten Abend auch, Herr Schmolian!

Das ist ein stattlicher Mann, dieser städtische Amtsdiener in seinem langen dunkelblauen Ueberrocke mit Metallknöpfen, worauf das Wappen des Städtchens geprägt ist, und einen Rohrstock zur Hand, den er wie einen Scepter trägt, und vor welchem alle Gassenjungen und böse Buben schon aus hundert Schritte entweichen. Er lüftet seinen Hut und fragt herablassend das Ehepaar: Na Kinder, wie gehen die Geschäfte?

Alsbald entspinnt sich folgendes Dreigespräch:

Gott sei Dank, recht stille, Herr Schmolian, ganz stille!

Ja, Gott sei Dank, seit einem Monate Alles ruhig, wie Sie wohl wissen.

Also durchaus kein Vogel im Stalle? Nichts zu rupfen?

Nicht ein Federchen.

Aber das ist langweilig, Ihr Leute!

Eh conträr, pläsirlich ist das; man geneußt seine alten Tage am Liebsten in Frieden.

Daß ich nicht wüßte. Ich bin wohl was jünger wie Ihr, darum aber auch kein Grünschnabel mehr, und mir kann's nicht genug Arbeit geben. Je mehr ich packe und einschleppe von dem ruchlosen Gesindel, desto besser geschieht mir. Da bin ich in meiner Esse, wie der Herr Bürgermeister zu sagen belieben. Das ist jedoch lateinisch, und das versteht Ihr nicht, Ihr da beim Kreis-Amte.

Lateinisch versteh' ich freilich nicht. Aber »Esse« hätt' ich für ein deutsches Wort gehalten, so gut wie Feuermauer, Schornstein, Schlot oder dergleichen; derowegen Heißt's ja auch Essenkehrer.

Eben so richtig könntet Ihr's vom essen herleiten; keine Idee! In seiner Esse sein ist so viel, als sich behaglich fühlen, wie – ja wie sprech' ich gleich? wie – der Vogel im Hanfsamen, der Fisch im Wasser –

Das Schwein im Moraste?

Gewissermaßen, ja!

Und so ist dem Herrn Schmolian, wenn er viel Arrestanten macht?

Getroffen! Wenn ich sie beim Kragen halte, und sie winden sich, wollen sich losdrehen, ausreißen, ich halte sie fest. Denn wo meine fünf Finger anpacken, da greifen sie durch. Betrachtet die Faust: von der giebt's kein Entkommen.

Nee, die ist wie dazu gemacht.

Ich glaube immer, Ihr seid schon zum Haltfeste in die Welt gesetzt worden.

Das glaub' ich auch, Frau Hiobin. Darum thut es mich jedesmal wurmen, wenn mir Einer entgeht. Wie heute zum Exempel, der verwetterte taubstumme Landstreicher, der sich schon etlichemale in der Vorstadt gezeigt, und den kein Teufel kennt. Niemand weiß, wo er gebürtig oder zu Hause ist; betteln thut er auch; darf also in's Loch gesteckt werden mit Fug und Recht. Aber Prosit die Mahlzeit! Stumm und taub mag er sein (wenn er sich nicht verstellt, was bei solchem Gesindel auch vorkommt), blind ist er nicht, und eine feine Nase muß er haben. Ich mag lauern wie ich will, immer heißt's: da gewesen ist er – und ich muß abziehen. Heute hab' ich den unverschämten Kerl mit meinen eigenen Augen gesehen, wie er vor der Thüre des letzten Häuschens, welches zum städtischen Weichbilde gehört, hinüber ging auf Hafenauer Grund und Boden; guckte sich ordentlich nach mir um, der Racker, wie wenn er sagen wollte: nu so komm' doch und thu mir was. So ein Schuft! Und Ihr aus Euerem Kreisamte seid auch alle mitsammen, vom Obersten angefangen bis zum Herrn Tobias Hiob hinunter, von einer unleidlichen Nachsicht. Warum nicht einmal ein kleines Treibjagen anstellen auf solch' ein ausländisch Stück Wildpret? Schon daß wir die Satisfaction haben, einem fremden Amte den Vagabunden, wo er hin gehört, zu überschicken und beizuschreiben: Hierbei folgt ein Umhertreiber und Bettler, so Euch zugehört, und wollet hinfüro auf Eure Sache besser Obacht geben! Warum nicht? frag' ich. Weil der Herr Kreislandrath zu nachsichtig sind gegen derlei Unflath. Weil sie jedesmal, wenn mein gestrenger Herr Bürgermeister auf dieses oder ein ähnliches Capitel kommen, zur Erwiederung geben: Laßt den armen Teufel laufen! Ja, Euch im Vertrauen kann ich es sagen, Hiob, der Taubstumme aus – Gott weiß woher – hat sich sogar aus Eures Herrn sein Landgut hinausgewagt, hat dorten im Schloßhofe gebettelt, und der Herr, der gerade vom Kreistage hinaus geritten kam, hat seine gewisse lange grüne Geldbörse herausgezogen und hat dem Maleficanten mit eigener Hand einen Silbergroschen dargereicht. Dieses hat mir der Reitknecht – –

Der Reitknecht könnte was Besseres thun, Herr Schmolian, als daß er Ihnen ausschwatzt, was Seine Gnaden der Herr Landrath thun oder lassen. Indessen diesmal hat er die Wahrheit gesagt, der vorlaute Junge. Denn der Herr Landrath haben mit dem Kreissecretär über den Taubstummen geredet, und der Herr Winderle hat wieder mit meinem Sohne darüber geredet, und es ist schon geschrieben worden dahin, dorthin, des Unglücklichen wegen, und warten allzumal auf Bescheid. Bis dahin läßt man ihn sein Bissel Nahrung suchen, so lange er nichts Böses thut, und so lange gute Menschen ihm eine Kleinigkeit schenken. Picken doch oft hungrige Thierchen verlorene Brosamen auf. Und der liebe Gott ...

Der liebe Gott hat Nichts mit unsern neuen Armengesetzen zu schaffen.

Nein, davor wird er sich hüten!

Aber Ihr beim Kreisamte bekümmert Euch auch Alles zu wenig darum; das geht bei Euch immer nach dem alten Schlendrian fort, wie beim verstorbenen Landrath, von dem sein Sohn nicht blos das Amt, sondern auch die Nachsicht geerbt hat. Das darf nicht sein; das Gesetz ist ein eisernes Rad, wie mein gestrenger Herr Bürgermeister zu sagen belieben, und wen es ergreifen kann, den zermalmt es in seinem unaufhaltsamen Gange.

Und Herr Schmolian hilft drehen.

So thu' ich, Frau Hiobin, so thu' ich, weil es also mein Beruf mit sich bringt. Lasse mich auch nicht irre machen durch Bitten, Thränen, Lügen und andern Firlefanz. Werde ebenfalls besagten Betrüger oder wirklichen Taubstummen in diese meine Fäuste kriegen, über kurz oder lang, darauf mögt Ihr Euch verlassen; werde ihn Euch in Euer Kreisamt überliefern, und Ihr werdet ihn bei Euch als einen Fremden, mit welchem löblicher Magistrat Nichts weiter zu schaffen hat, einsperren müssen, mögt wollen oder nicht.

Wenn er aber, wie Ihr meint, immer zur gehörigen Zeit entschlüpft?

Das gilt nur für den Sommer. Das ist wie mit den Krähen, seht Ihr. Zur milden Jahreszeit, wo das Spitzbubenvolk von Galgenvögeln draußen allerlei Geschmeiß und Ungeziefer in allen Furchen, auch Früchte auf allen Bäumen findet, da wagt es sich nicht in die Städte hinein; da flankirt es höchstens um die äußersten Enden der Vorstadt herum, wo noch Gärten liegen.

Sobald sich der Winter einstellt, und der Schnee ihnen die Zufuhr abschneidet, da macht sie der Hunger frech; da dringen sie weiter vor und lassen sich in Papierdüten fangen, mit einem Brocken Fleisch und zwei Tropfen Vogelleim. Geduldet Euch nur noch etliche Monate, und er ist mein. Haben muß ich den Kerl; meine Ehre steht auf dem Spiel. Wer mit mir Versteck spielen will, wird mich kennen lernen, daß ich kein Kind mehr bin, und damit Basta. Nun gute Nacht, Ihr Leute!

Was wird's denn auch weiter sein, meinte Frau Lucretia Hiob, wenn sie ihn aufgreifen? Sie schicken ihn halt nach Hause, nicht wahr Pancratius?

Insofern er ein »zu Hause« hat, entgegnete Herr Hiob.

Giebt es denn Menschen, die so unglücklich sind, daß sie gar nirgend daheim sind?

Ach ja, Krezel, 's giebt welche. Darum wollen wir dem Himmel danken, daß wir ein Lager unter uns und ein Dach über uns haben; mag es auch nicht vom schönsten sein.

Und sie begaben sich zur Ruhe.

Zweites Kapitel.

Kein belehrendes Gleichniß wurde wohl je so oft gemißbraucht und übel angewendet, als jenes allerschönste von den Lilien auf dem Felde, von den Vögeln unter dem Himmel, die nicht säen, die nicht ernten, und die unser Aller Vater dennoch bekleidet und ernährt. Jeder Faulpelz, der, statt zu arbeiten, es vorzieht, sich von demjenigen zu ernähren, was man ihm schenkt, oder was ihm sonst zufällt, bettelt und mauset unter jenes Gleichnisses Aegide. Dafür freilich ergeht es ihm dann auch nicht selten, wie es im Winter allen lustigen Vögeln ergeht, welche nicht darauf eingerichtet und geschaffen sind, nach Gegenden auszuwandern, wo es keinen Winter giebt. Er hungert und friert. Und wie keck, ja wie frech Frost und Hunger Thiere und Menschen zu machen vermögen, davon geben harte und anhaltende Fröste trauriges Zeugniß. Schmolian hatte den Nagel auf den Kopf getroffen mit seiner herzlosen Anspielung auf Krähen, die der Schnee zur Stadt hineintreibt. Die zudringlichen Thiere blieben im Dezember des Jahres 183* nicht aus; sie stellten sich ein mit unverschämten Anforderungen an allerlei Abfälle aus Küche und Haus, die sie durch heiseres, krächzendes Geschrei kundgaben, und um welche sie dann lärmend zankten, ohne sich gerade ernstlich wehe zu thun, denn »eine Krähe hackt der andern das Auge nicht aus.« Gewissermaßen hatten sie gegründete Ansprüche auf öffentliche Wohlthätigkeit geltend zu machen, denn sie durften sich auf die unzähligen Würmer, Käferlarven, junge Feldmäuse und dergleichen mehr berufen, von denen sie mit fleißigen starken Schnäbeln sämmtliche umliegende Aecker gereinigt. Die Bettler, welche ihnen nachfolgten, durften sich ähnlicher Verdienste nicht rühmen; hatten sie Aecker und Felder säubern helfen, so war es höchstens von Rüben und Kartoffeln gewesen, mit denen die Besitzer ohne ihre Beihilfe auch fertig geworden wären. Das wußte man in Oerle recht gut und empfing sie deshalb nicht allzu huldvoll; und da sie keine Flügel führten, um sich wie ihre Vorgänger, die Krähen, von Dach zu Dach zu schwingen, so mußten sie von Thüre zu Thüre humpeln, in fortdauernder Angst vor Herrn Schmolian, dem allgefürchteten Bettelvogte, dem strengen Amtsdiener, dem großen Manne.

Große Männer, die das Gefühl ihrer Größe in sich tragen, haben kleine Launen und geben diesen willig nach; sie betrachten das wie eine vergönnte Erholung, wie eine erlaubte Zerstreuung bei ernsten Amtsgeschäften. Herr Schmolian zeigte sich heuer ausnahmsweise nachsichtig gegen die gewöhnlichen Eindringlinge und deren Geplärr. Bisweilen schritt er vorüber, wo eben Einer sein Sprüchlein bettelnd herbetete und schielte links weg nach den Krähen auf dem Dache, drohte denen lächelnd mit hochgeschwungenem Stocke und that, als ob er den unbefiederten Vogel, nach Diogenes spöttisch Mensch genannt, weder hörte noch sähe. Niemand in Oerle wußte, was das bedeuten solle. Wir glauben es zu wissen, denn wir erinnern uns seines Gespräches mit Pancratius Hiob und Frau Krezel, aus welchem wir entnehmen, daß Plärrende, redende Bettler ihm so alltäglich erschienen, wie Krähen; daß er sie verschmähte, weil er auf den Fang eines seltenen Vogels lauerte: eines Taubstummen, durch dessen listige Vorsicht er sich mehrmals getäuscht gesehen, durch den er sich an seiner Amtsehre gekränkt wähnte, den er folglich haßte! Diesem Hasse verdankte das übrige Gesindel ungewöhnliche Nachsicht und legte solche dem Herrn Schmolian für Nächstenliebe aus.

Ach, gütiger Gott, wie häufig ergeht es Andern eben so! Wie häufig entspringt, was man Liebe nennt oder Erbarmen oder Wohlthätigkeitstrieb, aus nicht minder unlauteren Quellen! Und nun erst die sogenannte wirkliche Liebe, deren Ursprung Poeten als einen heiligen und reinen besingen! Sollte man, dem Umschlage zu folge, den sie nach Erreichung ihres Zieles bisweilen erduldet, nicht geneigt sein, sie ebenfalls aus verkapptem Hasse, wenigstens aus grausamer Selbstsucht herzuleiten? Doch das ist eine andere Frage, als in unsere anspruchslose Erzählung gehört, und wir überlassen die bedenkliche Antwort Philosophen und Psychologen. Wir kehren zu Herrn Schmolian zurück.

Die Nachsicht, welche er gegen sprachfertiges Bettelvolk zu dessen höchstem Befremden walten ließ, gehörte in sein schlau ersonnenes System. Je stärker Strom und Zug nach unsern Mauern werden (meinte er), desto gewisser ziehen sie den Taubstummen nach. Aber höchst ungehalten wurde der kluge Mann, als ein Tag um den andern ablief ohne Erfolg. Schon fing er an, voll Reue über fehlgeschlagene Entwürfe, Einzelne der Sichergewordenen heraus zu greifen, und Tobias Hiob, der Sohn, bekam verschiedene Gäste seines Vaters nach kurzem Aufenthalte im Kreisgefängniß in ihre Heimath zu transportiren, allwo sie weder mit Glockengeläute, noch von weißgekleideten Jungfrauen empfangen wurden, will man nicht das Heulen des Dezemberwindes und die von herabsäuselndem Schnee verhüllten Jammergestalten, die ihnen entgegentraten, dafür gelten lassen.

Am Weihnachtsabend endlich, wo der kinderlose, mit seiner Gattin keineswegs im zärtlichsten Einverständniß lebende Greifzu von einem wenn auch dunklen Gefühle des Neides erfüllt die Gassen durchstöberte, auf deren Schneeteppich aus allen Fenstern Kerzenschein und Lichtglanz fiel, stieß er fast mit der Nase an den Gesuchten, längst Erwarteten. Und wo? Vor dem Häuschen, in welchem das Kreisgefängniß sich befand und wahrscheinlich heute noch befindet. Mit beiden Händen festgeklammert an die äußeren Gitterstangen starrte der Taubstumme in Hiob's Wohnstübchen hinein. Dort ging es lustig zu. Großeltern, Eltern und Kinder freuten sich um den Christbaum, der mit Wachslichtern und vielerlei kleinen Gaben prunkte. Es hätte keines Tauben bedurft, das Herannahen des Feindes nicht zu vernehmen. In der weichen Schneedecke mußten auch die derbsten Tritte ungehört ersticken. Deshalb fand es Schmolian bei all' seinen Zweifeln an des Unglücklichen wirklicher Taubheit durchaus nicht befremdend, daß dieser ihn sich ganz nahe treten ließ und dann, plötzlich festgepackt, einen dumpfen Schrei ausstieß, der bis in die Weihnachtsluft der Familie Hiob hineindrang und die Kinder nicht wenig erschreckte. Unarticulirtes Gegurgel, unterbrochen durch eine allzu bekannte Stimme: Hab' ich Dich, stummer Vogel!? Na, Du sollst schon singen, wenn Du auch in der Mause bist! ließ den Männern keinen Zweifel übrig. Vater und Sohn sagten zugleich: Das ist der Taubstumme, auf den der Schmolian so lange Jagd macht, eine liebere Christbescheerung hätte ihm der heutige Abend nicht bringen können.

Na, wer weiß, wozu das gut ist? setzte Frau Krezel hinzu, vielleicht bringen sie das arme Thier jetzt irgendwo unter, und es braucht diese Nacht wenigstens nicht zu frieren.

Das ist noch sehr zweifelhaft, äußerte Tobias. Ich glaube nicht, daß Herr Schmolian seinetwegen auch nur ein Scheitchen in den Ofen legt, und den Weihnachtskarpfen wird er auch nicht mit ihm theilen.

Ich wollte, die Festnehmung wäre schon gestern erfolgt, sprach Vater Pancratius, und wir hätten ihn schon in unserm Gewahrsam; bei uns dürfte er keine Noth leiden.

Gewiß nicht, rief die alte Hausfrau, und des Tobias Kinder brachten sogleich von ihren Näschereien herbei.

Doch ihr guter Wille mußte unbenützt bleiben, denn bereits hatte sich der glückliche Jäger mit seiner zappelnden Beute entfernt. Da nach den Feiertagen Arrestant als Fremder einem löblichen Kreisamte überliefert und im Triumphe von Schmolian herbeigeführt wurde, da hatten die kleinen Hiöbchen ihre Süßigkeiten längst aufgezehrt.

Wir haben Nichts aus dem Halunken herausgebracht, hob Herr Schmolian an, weder der gestrenge Herr Bürgermeister, noch ich selbsten, und haben ihn doch gequetscht wie eine Citrone. Daß er bei der Verhandlung Nichts eingestehen wurde, dessen war ich schon im Voraus gewiß; denn darauf bereiten sich solche Bestien ordentlich vor und verhärten sich absichtlich. Deshalb dacht' ich, wenn ich ihn nur bei mir habe, soll er schon beichten und wird mir zur Ergötzlichkeit dienen über die Feiertage. Aber Nichts, nicht die Probe, keine Silbe, kein Sterbenswort, kein Muck, keine Andeutung über Geburtsort, Eltern, Heimat, gar Nichts nicht. Gezwickt hab' ich ihn – weil nun einmal das Prügeln untersagt ist – daß man die blauen Flecke noch sieht. Keine Wirkung. Ich habe, daß er es deutlich hören mußte, mit der Meinigen über ihn und seine Bestrafung geredet, verschiedentliche Androhungen hineingemischt; auch nicht mit einer Augenwimper hat er gezuckt. Taub ist er wirklich und wahrhaftig; und daß er stumm sein muß, läßt sich auch nicht bezweifeln, wenn man bedenkt, wie viel er aussteht, ohne das Maul zu einer Klage aufzusperren; solche Pakasche schwadronirt sonst eher zu viel, als zu wenig. Also hier überliefere ich dieses Stück Vieh und bitte um Bescheinigung. Fürchte auch, Ihr werdet die Gesellschaft, die langweilige, sehr lange im Hause behalten, denn bis Ihr von dem herausbringt, wo Ihr ihn hinzubringen habt, das heißt wo seine Heimat ist, da kann wieder Weihnachten herankommen. Na, viel Vergnügen; meine Lust ist gebüßt, ich will weiter Nichts mit ihm zu schaffen haben.

Der Taubstumme gehorchte Hiob's Anweisung, das für ihn bestimmte Gemach zu betreten, mit der Unterwürfigkeit eines an pantomimische Befehle dieser Art längst gewöhnten und auf gefängliche Haft eingeübten Landstreichers. Weder gab er ein Zeichen von Furcht, Aerger, Widerspenstigkeit, noch ließ er die geringste Spur dankbaren Vertrauens blicken, wie sehr auch Pancratius Hiob durch freundliches Lächeln und sanfte Geberden darauf hinarbeitete. Mit niedergeschlagenen Augen, die obenein krank und entzündet zu sein schienen, saß der Verhaftete auf dem Lager, welches Frau Krezel sauber hergerichtet, ließ mürrisch, fast tückisch den Kopf hängen und hob ihn sogar dann nicht in die Höhe, als jene gute Frau ihm warme Suppe mit Fleisch brachte. Sie war genöthigt, ihn beim Arme zu ergreifen und auf die dampfende Schüssel hinzuweisen. Dann fiel er freilich mit der Gier eines ausgehungerten Wolfes über die kräftige Speise her, aber die mildthätige Geberin würdigte er doch keines erkenntlichen Blickes.

Der Schmolian hat diesmal Recht; 's ist ein pures Stück Vieh!

Nicht doch, Vater Pancraz, nicht doch. Er ist nur verschüchtert und mißtrauisch geworden durch die erbärmlichen Feiertage, so er gehabt, und des Schmolians Mißhandlungen. Wenn er erst spüren wird, daß man's hier ganz gut mit ihm meint, hernach wird er schon freundlich werden. Verliere Du nur nicht die Geduld. Sollst sehen, eh' ein Tag vergeht, kann ich durch Zeichen mit ihm reden, und wer weiß, was er uns hernach Alles anvertraut.

So sprach die gute Mutter Hiob und gestand dabei unbewußt ein, daß sie theils ein Bischen neugierig sei, theils die Hoffnung hege, ihren Vorgänger, den Schmolian, an Erforschungstalenten zu übertreffen. Doch sollte ihr das Letztere nicht gelingen und die Neugierde nicht befriedigt werden. Der Taubstumme blieb nicht allein (was sich von selbst versteht) taubstumm; er blieb auch verstockt, jeder gegenseitigen Mittheilung unzugänglich oder unfähig, sowohl bei den Privatbestrebungen der Hiob'schen Eheleute und deren Sohnes Tobias, als auch bei den Verhören (wenn man dies so nennen darf, wo Einer weder hört noch redet!) auf dem landräthlichen Amte. Der Kreissecretär Winderle, ein hagerer hektischer, in Bureau-Staub und Stubenluft ergrauter Schreib-Sklave, setzte sämmtliche bedeutend lange Extremitäten seines gebückten Menschen in Telegraphen-Arme um und ließ sie spielen, wie nur jemals ein Telegraph arbeitete, der Napoleonische Bulletins von Straßburg nach Paris beförderte, zu einer Zeit, wo man den Blitz noch nicht seiner Zaubermacht entkleidet und furchtbare Naturgewalten zu dienstbaren Boten gezähmt hatte. Winderle erschöpfte sich in allegorischen, symbolischen, zum Theil possirlichen Versuchen, sich seinem vis-à-vis verständlich zu machen. Er fragte ihn immer mit Armen, Händen, Füßen, Augen (wobei auch die Lippen unwillkürlich beschäftigt wurden), ob seine Eltern noch lebten; wie lange er von ihnen getrennt und ein heimathloser Bettler sei; ob er vielleicht einigen Unterricht in einer Anstalt genossen habe, dergleichen doch für Unglückliche seiner Art bestehen; ob er ein Bischen schreiben oder wenigstens Gedrucktes lesen könne; wie alt er sei, und so weiter.

Winderle hätte diese Fragen, die er mit der Beweglichkeit einer lustig klappernden Windmühle – (Arme und Beine stellten die vier Flügel vor) – ausführte, dem nächsten besten Mehlsack vorlegen können. Dieser würde eben so viel Verständniß gezeigt haben, würde mit eben so gutem Willen darauf eingegangen sein.

Von irgend einem schriftlichen Ausweise, von dem kleinsten Streifchen Papier, welches auch nur im Entferntesten einer Legitimation ähnlich gesehen, war ohnehin nicht die Rede; das hatte schon die bürgermeisterliche Verhandlung festgestellt.

Erschöpft durch die übermäßigen Anstrengungen ließ Winderle endlich nach und rief entsagend aus: Der Kerl muß aus dem Monde herab aus den Erdboden gefallen sein! Und weshalb denn gerade in unsern Kreis?

Wenn sie allerseits im Monde kein besseres Mundwerk haben, erlaubte sich Tobias Hiob einzuschalten, da muß es oben sehr stille zugehen; glauben Sie nicht auch, Herr Secretär?

Sicherlich werden Sie dann eine andere Gattung von Sprache führen, mein lieber Tobias, mit der sie sich einander verständlich machen; gerade so wie unsere Pferde wiehern, unsere Hunde bellen, unsere Gänse schnattern und sich dabei recht wohl befinden. Aber so lange ich diese Redeweise nicht kenne, ist jedes Bemühen fruchtlos. Und was wird der Herr Landrath dazu sagen? Wird er nicht die Schuld auf mein Ungeschick schieben? Na, Ihr seid Zeuge, Tobias ...

Ja, Herr Winderle, ich bin Zeuge; Sie haben sich abstrapizirt, daß es Einen in der Seele erbarmen muß, wenn man's mit angesehen hat. Und hat Nichts genützt. Lassen Sie's nur den gnädigen Herrn Landrath selbsten ein Bissel probiren, daß er ein Einsehen bekommt, ist ja der billigste Mann von der Welt; wird von Ihnen auf Ihre alten Tage nicht verlangen, daß Sie Mondsprache reden. Die Frage ist nur, was fängt unser Kreisamt mit »bevorstehendem« Mondkalbe an? Soll's bei meinen Eltern auf der Mast bleiben? Und wer bestreitet zuletzt die Kosten? Es frißt unbändig viel. Und auch die Kleidasche fällt schier auseinander. Da wird auch müssen Rath geschafft werden.

Aberdings, Tobias; für's Erste bleibt nichts Anderes übrig. Zunächst hab' ich die angenehme Aussicht, an alle Ecken und Enden der Provinz lange Nachfragen zu richten, ob ein Individuum (die Personalbeschreibung liegt bei), so und so beschaffen, vielleicht die Ehre hat, da oder dort angehörig zu sein? Natürlich beeilt man sich nirgend mit der Erwiederung; dort, wo sie wirklich ein derlei Exemplar vermissen sollten, am allerwenigsten; denn sie danken Gott, einer Last los zu sein.

Wird auch in den Mond geschrieben, Herr Secretär?

Herzlich gern; auf einen Brief mehr kommt mir's nicht an; wenn ihr ihn bestellen wollt, meinetwegen.

's möcht' mich doch zu lange aufhalten, und die Kreisgeschäfte thäten drunter leiden.

Das denk' ich auch. Folglich nehmt für's Erste Euren Gast wieder heim, zu Papa und Mama; ich werde mit dem Herrn Landrath schon reden, wo wir etwa ein paar alte Klüftel und Klaftel auftreiben, die wir ihm überhängen.

Tobias Hiob schickte sich gerade an, den Taubstummen wegzuführen, da trat der Landrath in's Bureau.

Mit dem geübten Blicke, den lange Praxis verleiht, prüfte er den Unbekannten, während er zugleich aufmerksam zuhörend Winderle's umständlichen Bericht, der ihm einiges Lächeln abzwang, entgegennahm. Er belobte des Schreibers Eifer und gestand billigend ein, daß für jetzt Nichts weiter zu thun, als der freilich höchst unsichere Erfolg schriftlicher Nachfragen abzuwarten sei. Auch für Bekleidung versprach er aus eigenem Vorrath Sorge zu tragen. Dann wendete er sich zu Tobias, dieser möge seinen Eltern an's Herz legen, gegen den Taubstummen nicht minder menschlich zu sein, als es ja immer gegen Kranke und Nothleidende wären. Denn – setzte der erfahrene Mann hinzu – das elende Geschöpf muß viel gelitten, viele Mißhandlungen erduldet haben, um so unberührt zu bleiben von der Freundlichkeit, die wir ihm zeigen. Wahrscheinlich traut er auch uns nicht und fürchtet, daß unsere Milde nur Verstellung sein möchte, auf welche abermals grausame Härte folgen werde. Heimtückisch sieht er wohl aus, das läßt sich nicht leugnen; – doch wer hat ihn dazu gemacht? Vielleicht war er einst ein gutmüthiger Junge!? Sei er übrigens was er wolle, sehr unglücklich ist er gewiß: weiter wollen wir nicht urtheilen, bevor wir nicht etwas Näheres über ihn erfahren.

Tobias versprach im Namen seiner Eltern das Beste, ergriff des Landstreichers Arm und führte ihn von dannen.

Drittes Kapitel.

Was Frau Lucretia Hiob am tiefsten kränkte, war die Unmöglichkeit, ihren Haft- und Pflegebefohlenen bei irgend einem christlichen Namen zu nennen. Sein verstocktes, undankbares Wesen, seine trutzigen Manieren wollt' ich mir ja gerne gefallen lassen, meinte sie, denn warum, das Elend hat ihn so gemacht, wie mir auch unser gnädiger Herr Landrath durch den Tobias einschärfen lassen. Aber daß er nicht einmal einen Namen haben soll, das will mir nicht in den Kopf. Heißen muß man doch einmal, Hinz oder Kunz, Peter oder Paul. Heißt doch jedweder Hund, wär's auch nur Spitzel oder Dachsel, daß man wenigstens weiß, wie man das Creatur rufen kann.

Was würde Dir's helfen, Krezel, wenn Du seinen Vor- und Zunamen wüßtest – tröstete sie Vater Pancratius – hören thäte er's ja doch nicht, so Du ihn dabei riefest. Wer steht uns denn überhaupt davor, daß er gar getauft sei? Das wächst manchmal auf in der Wildniß, wie der Fuchs im Walde. Man hat Beispiele.

Der nicht, Vater Pancraz, der nicht. Der ist hübscher Leute Kind gewesen, darauf möcht' ich schwören. Betrachte Dir nur seine Hände, wie fein die sind; und der ganze Knochenbau, so zärtlich. Der hat in weichen Windeln gelegen und hat theure Wäsche getragen.

Das muß lange her sein, Krezel. Jenes Hemde, welches er auf dem Leibe hatte, da Herr Schmolian ihn gebracht brachte ...

Rede mir nicht von dem häßlichen Lappen. Der fault längst auf unserem Düngerhaufen. Dennoch hab' ich ihn, ehe ich ihn wegwarf, mit der Brille mühsam durchmustert, ob sich nicht in irgend einem Zipfel wenigstens der Anfangsbuchstabe von einem Taufnamen entdecken ließe. Aber nicht die Probe!

Das will ich gerne glauben. Wie wär's, wenn wir das Kalender-Büchlein vornähmen, legten es vor ihn hin, wiesen mit dem Zeigefinger auf unsere Namenstage und gäben ihm zu verstehen, daß wir den seinigen zu erfahren wünschen? Mag er auch nicht ordentlich lesen können, die Blätter mit den Monaten und rothgedruckten Festen kleben ihm doch vielleicht im Gedächtniß aus frühester Zeit, und er erinnert sich, kann sein, an die Stelle, wo ihm seine Mutter, wenn er eine hatte, den eigenen Namen gezeigt hat. Es ist nur ein Versuch und leicht anzustellen.

Frau Krezel fand den Vorschlag annehmbar. Sie brachte den Kalender, und Herr wie Frau Hiob begaben sich zum Namenlosen. Letztere äußerte, es komme ihr vor wie eine verspätete Noth-Taufe, was sie da beabsichtigten.

Beim Anblicke des Kalenders verrieth das Gesicht des Fremden zum ersten Male seit seiner Verhaftung eine Spur von Theilnahme. Er griff nach dem bunt eingebundenen Quart-Bändchen und betrachtete es mit Aufmerksamkeit. Als Hiob die Blätter umzuschlagen begann und erst auf den zwölften Mai und den dabei befindlichen Pancratius, dann auf sich selbst deutete, sah ihn der Taubstumme fragend an. Sonach suchte Frau Hiob ihren siebenten Juni und legte den Finger auf die Lucretia, berührte sodann ihre Stirn und nickte mit dem Kopfe, der Namenlose nickte ebenfalls. Nun faßte sie seinen Finger und führte diesen auf das Blatt. Anfänglich ließ dieser ihn unbewegt liegen und beugte nur das Haupt nieder, als ob er nachdenke. Dann glitt der Finger langsam von Tag zu Tag, bis er den Monat Juni durchlaufen; nun schlug er das Blatt um, machte es bei'm Juli ebenso und immer weiter fort; wie er zum Dezember gelangte, stutzte er, überzeugte sich erst, ob noch ein Monat folge, rückte dann bedächtig von Tage zu Tage vor und endlich machte er auf den sechs und zwanzigsten, den Tag Stephan, ein tiefes Zeichen mit dem Nagel.

Also Stephan heißt Ihr? fragten die beiden alten Leute zugleich. Und er, wie wenn er ihre Frage vernommen, nickte ihnen mehrmals bestätigend zu.

Von dieser Stunde an bekam das Verhältniß zwischen dem Verhafteten und seinen Wärtern hellere Farben. Er zeigte einiges Vertrauen zu ihnen; Frau Krezel redete nicht anders von ihm, als von »unserm armen Steffen,« und Pancratius schrieb in sein Journal: »Nummer 371, Stephan Unbekannt, Charakter taubstumm.« Weil sich aber Woche nach Woche hinzog ohne Entscheidung, und weil die in ihrem Alter noch immer thätig schaffende Hausfrau nicht begreifen wollte, wie es »menschenmöglich sei, daß ein Christenmensch in Gottes weiter Welt gar durchaus nichts Anderes fördere, als essen, trinken, schlafen und müssiggehen, ohne dabei vor Langerweile zu sterben,« so setzte sie ihr eifrigstes Bestreben daran, dem armen Steffen einigen Trieb zur Beschäftigung beizubringen. Anfänglich begnügte sie sich, ihm durch ihr eigenes, ruhmwürdiges Beispiel aufzufordern: sie rückte ihr Spinnrad in seine Zelle und spann, daß ihr der Athem ausging. Steffen folgte wohl mit den Augen dem Schwunge des Rades; doch diese gleichförmige Bewegung wurde für ihn, was dem Kinde einförmige Wiegenlieder sind, er entschlummerte dabei und schlief wie ein Hamster. Das verdroß Frau Krezel. Sie gab es deutlich mit unzweifelhaften Geberden kund, daß sie mehrere Spinnräder besitze und daß noch viel Flachs darauf harre, Garn zu werden und nächsten Sommer auf die Bleiche zu kommen, denn die Kinder ihres Sohnes Tobias brauchten Wäsche. Sie machte das mindestens eben so gut und klar, wie die meisten Tänzerinnen, welche pantomimische Gespräche zu führen durch's Programm angewiesen sind, nur daß sie keinen hochaufgeschürzten seidenen Bauernrock trug und sich nicht auf einem Beine um sich selbst drehte, was ihr allzu schwierig gewesen wäre, der dicken Greisin. Steffen verstand auch die Ansprache vollkommen! der barmherzigen Behandlung, so ihm Hiob's angedeihen ließen, eingedenk, blieb ihm schon Nichts übrig, als zu thun, wie wenn er thun wollte. Weiter jedoch kam es nicht. Ueber ein Viertelstündchen hinaus währte sein Bemühen, die edle Spinnkunst praktisch zu erlernen, nimmer. Dann ließ er die Arme sinken, feierte, verfiel in träumerische Schlaffheit und zuletzt regelmäßig in Schlaf. Frau Krezel wähnte manchmal, sein Rädchen schnurre noch, derweil es schon seine Gurgel war, welche schnarchte.

Da nannte sie ihn denn nicht mehr: »unseren armen Steffen;« nein: »Faulpelz« hieß er kurzweg, und die Theilnahme für ihn verminderte sich, wodurch er seinerseits wiederum tückisch und trotzig wurde.

Das währte bis Anfang März. Mittlerweile hatten sie auf dem Kreisamte die feste Ueberzeugung gewonnen, daß Stephan's Heimat und Ursprung nicht zu ermitteln sei. Alle Erwiederungen der unzähligen Anfragen fielen gleichlautend aus: da und dort hatte man ihn gesehen, festgenommen, untersucht, weiter geschickt; nirgend wußte man, von wannen er stamme, wohin er gehöre.

Tobias Hiob wiederholte die Aeußerung: Der Kerl muß aus dem Monde auf den Erdboden herab gefallen sein! und war nicht abgeneigt, diese kühne Ansicht des Herrn Winderle zu theilen.

Der Landrath hatte schon früher ausgesprochen, ihm und seinem Kreise dürfe die Last nicht aufgebürdet bleiben, da es nicht an einheimischen Nothleidenden fehle, und deshalb waren unterdessen zweckdienliche Vorbereitungen getroffen worden, den Fremdling im allgemeinen Landescorrections- und Arbeitshause zu Bergitz unterzubringen, wo man (Mutter Hiob möge sich das als Trost gesagt sein lassen) schon Mittel haben werde, den Faulpelz arbeiten zu machen.

Bei all' ihrer Gutmüthigkeit meinte sie doch: ein Bissel Strenge könne dem Tagedieb nicht schaden.

Garn spinnen, sagte Vater Pancraz, hat er nicht wollen; Wolle wird er schon wollen – müssen; sie werden ihm in Bergitz den Willen beibringen.

Tobias Hiob der Sohn gürtete sich, hing sich seinen Säbel um, holte sich bei Herrn Winderle die nöthigen schriftlichen Documente, und dann meldete er sich im Kreisgefängniß und erbat sich vom Vater seinen Transport. Beide Hiob's, Vater wie Sohn, hatten ja gedient, sie machten ihre Sachen militärisch ab, ernst, gewichtig, ohne Nebengeschwätz; Familienangelegenheiten kamen dabei nicht zur Sprache.

Gottlob, daß wir ihn wieder los sind, sprach Pancratius hinter ihnen her.

Mich erbarmt er jetzund doch, sagte Frau Krezel.

Etwa weil er sich so gerührt beim Abschiede zeigte und so erkenntlich für alle Deine Güte?

Freilich ist er davon gegangen wie ein Stück Holz; aber mein Gott, versteht er's denn besser? Ich wollt' ihm das schönste Leben gönnen, dem armen Steffen, wenn er nur nicht so ein schrecklicher Faulpelz wär'! Und sie setzte sich an ihr Spinnrad und drehte, als müsse sie einbringen, was der Taubstumme versäumt.

Am Thore begegnete Tobias dem Schmolian.

Glückliche Reise, rief ihm dieser zu; aber ich an Eurer Stelle thäte dem Patron ein Stricklein um die Handgelenke schlingen und mir das andere Ende desselbigen um meinen corpum winden. Es ist von wegen der Sicherheit. Der Kerl ist berühmt im Ausreißen.

Binden wie ein Thier soll ich ihn, Herr Schmolian? das mag ich nicht.

Was ist er denn anders? Na, auf Eure Gefahr.

Der März war lieblich, der Himmel rein, die Luft frisch und erfrischend. Lerchen sangen, andere Vögel prüften auch schon ein wenig ihre Kehlen, Gräser sprießten, Bächlein rannen angeschwellt von dem Zufluß, den die letzten sich auflösenden Schneehügel ihnen spendeten. Tobias Hiob fand das wunderhübsch; es stimmte ihn mittheilsam. Häufig brach er in Entzücken aus, wendete sich zu Stephan: Ist das ein herrlicher Tag!? und dann erst, sich besinnend, daß Jener ihn nicht höre, brummte er: Ja so, mit dem ist Nichts anzufangen; es ist eben so viel, wie wenn ich alleine marschirte oder mit Respect zu reden einen Ochsen vor mir her triebe. Und der möchte doch wenigstens brüllen, wo er andere Ochsen auf dem Felde gewahr würde. Ob der Mensch denn gar Nichts empfindet, wenn er Flur und Wald vor sich hat? Sehen thut er ja doch, und mögen seine Augen ein Weniges krankhaftig sein, blind ist er nicht. Mir ist immer zu Sinne, als wenn das Auge die fürnehmste Gabe bei'm ganzen Menschen wäre. Stumm sein ist schlimm genug, denn ich kann nicht sagen, was ich gedenke; aber auch hinwiederum hat es sein Gutes, denn ich muß alsdann die dummen Gedanken gleichfalls bei mir behalten, kann kein unnützes Geschwätze nicht von mir geben, und das ist reiner Gewinnst für den jüngsten Tag, wo wir von jedem unnützen und schlechten Worte Rechenschaft ablegen müssen. Taub sein ist schlimm, denn ich kann nicht hören, was die Anderen reden; aber auch hinwiederum hat es sein Gutes; denn man hört das Schlechte gleichfalls nicht, und die Klatschereien und Lästerungen und Lügen. Aber blind sein ist das Allerschlimmste; denn mag es noch so viel Uebles zu sehen geben, über Thal und Hügel, über Blumen und Bäume, über Erde und Himmel geht doch Nichts; und wer das an einem Tage wie heute betrachten kann, der wird ein neuer Mensch. Deshalb bin ich auch gerne ein Kreisbote, weil ich als solcher oftmalen Gelegenheit habe, in die Natur zu kommen.

Durch derlei halb gebrummte, halb gemurmelte Selbstgespräche suchte Tobias Hiob zu ersetzen, was der von ihm transportirte Stumme an Belebung des Marsches schuldig blieb. Von Zeit zu Zeit hielten sie an, und er ließ eine Erfrischung reichen, wobei er nicht knauserte und seine eigenen Diäten zu Hilfe nahm, den schlechten Gesellschafter so gut zu bewirthen, als sich thun ließ. An manchen Orten, wo sie aßen und tranken, war der Taubstumme schon persönlich bekannt, hatte sie als umherstreifender Bettler verschiedentlich besucht. Ueberall galt er für einen harmlosen, nie unbescheidenen, doch auch über Nichts erfreuten Gast, der Abweisung und Härte still duldend, Freundlichkeit und Großmuth gleichgiltig hingenommen, dabei aber stets ein bewundernswürdiges Geschick entfaltet habe, die Aufmerksamkeit der Beamten zu täuschen und ihren Händen zu entgehen.

Haben sie Dich endlich einmal doch beim Schlaffittig erwischt? das war der Gruß, womit man ihn unterwegs empfing. Und an Tobias richtete man regelmäßig die Warnung: Den laßt nicht aus den Augen, Landsmann; der ist flüchtig wie Haarpuder.

Weil sich diese Worte überall, wenigstens dem Sinne nach wiederholten, gewannen sie endlich doch so viel Gewalt über den Kreisboten, daß er sich im Städtchen, wo sie Nachtquartier hielten, und wo er sich Unterkunft im Gefängniß erbat, noch einen Helfer miethete, der sie auf der zweiten Tagereise begleiten sollte.

Sowie Stephan früh Morgens dieses neuen Gefährten ansichtig ward, gab er augenscheinlichen Aerger kund, zeigte sich verdrossen, fast wüthend. Einige Male warf er sich mitten auf der Landstraße nieder, mußte mit Gewalt emporgerissen und ein Stück Weges fortgeschleppt werden, schlug um sich, stieß die ihm dargebotenen Lebensmittel zurück, trieb es überhaupt so häßlich, daß Tobias ihm recht gram wurde und endlich, obgleich mit Widerwillen, an Schmolian's Rathschlag denkend einen Strick einkaufte, welchen er dem Widerspenstigen wie eine verständliche Drohung vorhielt. Das half wenigstens insoweit, daß sie, wenn auch langsam, vom Flecke kamen. Doch auf diese Weise trafen sie erst spät am Abende in Bergitz ein. Kur; vor dem Thore machte der Taubstumme einen kühnen Fluchtversuch. Wie faul er sich sonst immer gezeigt, seinen Beinen mangelte es nicht an Schnelligkeit. Tobias und der Hilfsmann würden ihm vergeblich nachgestellt haben, wäre er nicht in ein Labyrinth von Gartenzäunen und Hecken gerathen, wo er sich verfing. Nun wurde er wirklich gebunden und die wenigen hundert Schritte bis zum Eingange des düstern Gebäudes gezerrt, welches ihn aufnehmen sollte. Tobias befand sich in sehr übler Laune, wie leicht begreiflich, und empfahl den Ankömmling beim Inspector der Anstalt noch schlechter, als sich dieser durch sein wildes Betragen und den Strick um die Handgelenke schon selbst empfahl. Dadurch ward gleich sein erster Eintritt verhängnißvoll und von traurigen Nachwirkungen für künftigen Aufenthalt im Arbeitshause. Bei der Verschiedenartigkeit Derer, die solche Zwangsanstalt bewohnen, und die eine förmliche Musterkarte von bösen, schlechten, schwachen, unglücklichen, fast schuldlosen Menschen in allen möglichen Schattirungen und Abstufungen bilden, muß auch die Behandlung, welche man den Einzelnen angedeihen läßt, eine sehr verschiedenartige werden, und muß es nothwendigerweise vom Ermessen des Vorgesetzten abhängig bleiben, bei wem Nachsicht und Geduld, bei wem rücksichtslose Strenge anwendbar sei. Da nun auch der redlichste Beamte, mit den edelsten Absichten und vieljährigen Erfahrungen ausgestattet, dennoch nicht vermag, das Innerste der ihm anvertrauten Personen zu durchforschen, so wird auch er nicht selten gezwungen sein, nach falschem Scheine zu urtheilen; Heuchelei wird auch ihn täuschen; ein erster unangenehmer Eindruck wird auch ihn mit ungerechter Abneigung erfüllen können. Dieses Unheil zog sich der Taubstumme Stephan zu. Tobias, dessen Gutmüthigkeit durch augenblicklichen Groll übertäubt wurde, that Nichts, dem Inspector eine bessere Meinung von dem »unverbesserlichen Faulpelz und Landstreicher« beizubringen. Er überantwortete den Gebundenen sammt allen auf ihn Bezug habenden Papieren, ließ sich »richtige Ablieferung und geschehenen Empfang gebührend bestätigen« und eilte davon mit der nicht aus seinem Hiob'schen Familienherzen kommenden Aeußerung: Der Schmolian kennt seine Leute besser als ich; es thäte wahrlich Noth, daß man würde wie er und das letzte Fünkchen Mitleid mit dem Stiefel austräte, wie einen Fidibus auf der Erde!

Stephan wurde einstweilen untergebracht.

Viertes Kapitel.

Auch klugen, besonnenen, wohlwollenden Männern widerfährt es, daß sie durch vorgefaßte Meinungen und entschiedene Antipathieen sich zu Vorurtheilen hinreißen lassen, die bisweilen in Ungerechtigkeit ausarten.

So blieb der Inspector des Zwanghauses nicht dabei stehen, daß sein neuer Gast ein trotziger, arbeitscheuer Müssiggänger sei; er wollte ihn auch zum frechen, doppelt strafbaren Betrüger stempeln, indem er die Ansicht behauptete: Stephan sei nicht taubstumm, verstelle sich nur. Darüber gerieth er mit seinem guten Freunde und Gevatter, dem Geistlichen der Anstalt, in heftigen Wortwechsel. Pastor Pfeiffer brachte alle ersinnlichen physiologischen und psychologischen Gründe, so weit solche ihm irgend zu Gebote standen, gegen jene Zweifel vor. Es ist nicht möglich, sagte er, nachdem Stephan bereits acht Tage hindurch im Hause verweilte und durch jedes irgend gestattete Zwangsmittel zur mechanischen Handarbeit, wenn auch sehr wider Willen, gebracht worden war; es ist nicht möglich, daß ein Mensch sich solange verstellen könnte, ohne nur durch eine Miene (mag er immerhin die Zunge beherrschen) zu verrathen, daß er hört, was um ihn, neben ihm, über ihn selbst gesprochen wird. Im Schlafe wenigstens müßte ihm bisweilen eine Silbe entwischen, ein Klagelaut; im Traume müßte sich das gepreßte Herz bisweilen Luft machen, und seine Zellengenossen müßten das vernehmen, würden es auch augenblicklich anzeigen, weil sie ihn sämmtlich hassen und deshalb scharf belauern. Doch Nichts dergleichen macht ihn verdächtig. Und was die Hauptsache ist: ich selbst habe stundenlang in ihn hineingeredet, mit den Tröstungen, Warnungen, Verheißungen der Religion. Gäb' es irgend einen Weg durch das Gehör zu seiner armen Seele, meine Ermahnungen müßten ihn erschüttert haben. Doch auch das blieb wirkungslos.

Das glaub' ich gern, mein lieber Pastor. Sie würden eben so wenig auf ihn wirken, wenn er so deutlich hörte, wie Sie und ich. Solchen verhärteten Gemüthern ist nicht anders beizukommen, als durch Härte. Mit frommen Worten geht's nicht. Und bei manchen recht energischen Naturen schlägt gar Nichts an; sie würden tödtlichen Martern Trotz bieten.

Kommen Sie mir doch vor, liebster Inspector, wie jener Reisende, Gott hab' ihn selig, der in einer Gesellschaft, wo über die Grausamkeit des orientalischen Lebendig-Spießens gesprochen wurde, die tröstliche Versicherung ertheilte, eigentlich wäre das Ding nicht so schlimm; die Delinquenten thäten nur so erbärmlich; er für seine Person habe Kerls am Pfahle zappeln sehen, die schon längst todt waren und sich nur aus Bosheit noch lebendig stellten!?

Das ist freilich etwas stark. Doch eine gewisse Wahrheit liegt auch dieser unsinnigen Uebertreibung zum Grunde. Es scheint mir höchst merkwürdig, wie häufig Menschen, die zu faul waren, sich und die Ihrigen durch mäßigen Fleiß, leichten Erwerb redlich zu ernähren, wahrhaft übermenschliche Energie und Ausdauer entwickeln, sich auf unerlaubte Weise Geld zu verschaffen. Ein Dritttheil dieser Anstrengungen hätte genügt, ihnen ein erträgliches, vorwurfsfreies Dasein zu verschaffen. Eben so geht es mit Bettlern, die irgend ein Gebrechen erheucheln, um zu rühren, Mitleid zu erwecken und dabei sicher zu bleiben vor der Zumuthung, sich ihr Brot zu verdienen. Die Entbehrungen, welche ihre Lüge ihnen auferlegt, wollen sie sich nicht verrathen, sind ungleich schwerer, als jene, welche eine geregelte Beschäftigung mit sich brächte. Dennoch harren sie aus und zeigen eine Consequenz, die Bewunderung verdiente, wenn sie auf etwas Gutes gerichtet wäre. Ich fürchte, es steht so mit diesem Stephan. Denken Sie an mich, Pastor, über kurz oder lang wird er entlarvt sein!

So sprach der Ehrenmann aus voller aufrichtiger Ueberzeugung. Doch es sollte ganz anders kommen, und der Inspektor Ursache finden, seinen Argwohn als einen ungerechten herzlich zu bereuen.

Stephan's Augenübel, wahrscheinlich die Folge vernachlässigter gichtischer und scorbutischer Leiden, nahm heftig überhand. Anfänglich wollte man auch die daraus hervorgehende Blindheit des Taubstummen für erlogen halten und hegte die Ansicht, er hoffe sich dadurch von der ihm lästigen Arbeit loszuschwindeln. Doch bald bestätigte der Arzt, daß der Kranke wirklich unfähig sei, sich ferner zu beschäftigen, und daß der furchtbare Zustand der Lider alle Symptome sogenannter egyptischer Augenentzündung an sich trage.

Die Schmerzen dabei schienen unbeschreiblich zu sein. Zwar gaben sie sich nur durch schwaches, oft kaum hörbares Wimmern kund; aber dieses drang wie ein Ton aus Gräbern jammervoll aus der Brust, artete selten in einen lauten Klageschrei aus und verstummte dann wieder gänzlich, von festem Willen und eiserner Gewalt zurückgehalten. Oftmals sprach der Arzt sein Bedauern darüber aus, daß der Patient unfähig sei, durch mündliche Mittheilungen den eigentlichen Sitz der heftigsten Schmerzen zu beschreiben. Denn, sagte er, nicht selten theilt sich die vernichtende Krankheit der Lider, in denen sie ursprünglich ihre Verheerungen beginnt, den Augäpfeln mit, und es wäre sehr wichtig, aus des Leidenden eigener Schilderung zu erfahren, wie weit es damit bei ihm etwa schon gediehen ist. Nicht nur, daß ich ihm einige Linderung verschaffen könnte; es wäre vielleicht möglich. ihm die Sehkraft zu retten. Jetzt muß ich in Blindheit umhertappen gleich ihm, und es steht sehr zu besorgen, daß er beide Augen verliert.

Diese und ähnliche Aeußerungen, in des Inspectors Gegenwart gethan und laut an diesen gerichtet, brachten im Benehmen des Taubstummen nicht die geringste Veränderung hervor.

Nun werden Sie doch endlich daran glauben, Freund, daß er in Wahrheit taub und stumm ist? fragte leise der Pastor.

Ja, entgegnete Jener, jetzt kann kein Zweifel mehr aufdämmern. Windet sich der Aermste nicht in seinen Qualen wie ein gemarterter Wurm? Gott weiß, jetzt thut es mir von ganzer Seele leid, daß ich bisher so streng mit ihm verfuhr. Dafür soll ihm von nun an auch Nichts versagt werden.

Doch das war zu spät. Die theuersten Heilmittel vermochten nicht den Fortschritt des Uebels aufzuhalten, nicht die damit verbundenen Schmerzen zu mäßigen; keine Labung beruhigte, keine Pflege beschwichtigte den Gequälten. Sein Wimmern wurde zuletzt unerträglich für die neben ihm befindlichen Gefangenen im Krankenzimmer. Man mußte ihn in eine abgesonderte Zelle betten. Der Wärter, welcher ihm beigegeben ward, wollte nicht aushalten. Täglich schickte man ihm dann einen neuen, und Einer wie der Andere versicherte, das sei um verrückt zu werden.

Der Sommer ging zu Ende; alle übrigen Bewohner des Arbeitshauses, mochten sie noch so unglücklich, noch so hoffnungslos sein, durften sich doch wenigstens der Hoffnung hingeben, ihn im künftigen Jahre wieder grünen zu sehen und ihn, wenn sie bis dahin noch nicht entlassen, noch nicht frei waren, im Garten zu begrüßen, wo man sie bisweilen arbeiten ließ. Nur für den Taubstummen war auch diese Hoffnung erloschen. Zu der geistigen Nacht, in welche er schon vorher verhüllt gewesen, hatte sich nun die irdische gesellt. Er sollte keinen Sommer mehr blühen, keine Wiese mehr grünen sehn: seine Augen waren ausgeflossen, und zwei leere, runde Höhlen senkten sich tief in das entstellte Antlitz.

Sei es, daß vielleicht die jetzt eingetretene Schmerzlosigkeit wohlthätig auf den so lange Gequälten wirkte; sei es, daß Befreiung von der Zwangsarbeit ihm Trost für die Blindheit gewährte; – er schien kaum zu entbehren, was er eingebüßt; er zeigte sich weniger verdrossen, weniger trotzig als früher; und wenn es erlaubt wäre, von einem Menschen, der weder sieht, noch hört, noch redet, diesen Ausdruck zu gebrauchen, so könnte man sagen: er war in seiner Art zufrieden und heiter.

Die Direction des Arbeitshauses, nicht berechtigt und noch weniger geneigt, einen zur Arbeit, folglich zum Erwerbe gänzlich Unfähigen unnütz zu füttern, traf ihre Vorkehrungen, sich seiner zu entledigen. In unserm Bienenstocke, pflegte der Inspektor zu äußern, werden faule Drohnen nicht geduldet. Da er es aber nicht machen durfte, wie fleißige Bienen es mit jenen machen, so kam es zunächst darauf an, den Stephan irgendwo anzubringen, und das hielt verzweifelt schwer, weil seine Heimath, wie schon oft erwähnt, nicht zu entdecken war. Wohin mit einem blinden Taubstummen, der kein Geburtsrecht, keinen Anspruch auf eine Gemeinde nachzuweisen hat? Das machte wieder sehr viel vergebliche Schreiberei, und nach vielfältigem, mehrmonatlichem Briefwechsel blieb man dabei stehen, diejenige Behörde, welche ihn der Anstalt zur Correction überwiesen, müsse ihn gegenwärtig, wo er entschieden incorrigibel geworden sei, zurücknehmen; sie möge dann selbst sorgen, wie sie ihn wieder los werde und weiter schaffe.

Das Kreisamt zu Oerle wehrte sich dagegen so lange als möglich, fand aber zuletzt keine Ausflucht mehr und mußte sich fügen. Winderle verwünschte tausendmal Herrn Schmolian, der ihnen durch seine »Fleischerhund-Packwuth« diese Last aufgebürdet habe, und Herr Schmolian lachte sich in's Fäustchen, wenn er zu Vater Hiob sagte: Anjetzo werdet Ihr Euern Liebling bald wieder sehen, sothane Indiwidiwümmer sind wie das Gliedreißen; wer sie einmal gehabt hat, zu dem kehren sie gewöhnlich zurück. Sie sind von sehr anhänglicher Natur.

Es ist wieder Weihnachtsabend, oder will Abend werden. Der kurze Tag, den Kindern noch immer nicht kurz genug, geht seinem Ende zu, und liebende Eltern legen die letzte Hand an Ausschmückung der Bäumchen. Auch Vater Pancratius Hiob und Mutter Lucretia sind viel geschäftig. Der Kuckuck in der Wanduhr hat viermal gerufen, und Punkt fünf Uhr sind Sohn, Schwiegertochter und Enkel bestimmt zu erwarten.

Ich bin noch nicht darüber klar geworden, wie oft ich auch schon nachgesonnen habe, wem doch dieses schöne, echt deutsche, nordische Fest die größere Freude bringt: ob Denen, welche beschenkt werden, ob Denen, welche die Geschenke und Gaben vorbereiten. Alles recht abge- und erwogen, bin ich immer bei der Meinung geblieben, daß die Geber im Vortheile sind; besonders dann, wenn sie, was bester Wille mit vollen Händen darreicht, durch eigene Entbehrungen und Opfer erst erkaufen mußten. Darin ist der Aermere so reich gegen den Reichen. Und heute waren es auch Pancratius und Frau Krezel. Diese fühlte sich dermaßen beglückt, daß sie ihren Gatten mehrmals »Vater Krazel« anredete; das geschah nur in außerordentlichen Stimmungen. Die Kinder des Sohnes Tobias gingen bei weitem nicht so sparsam mit diesen Liebkosungsnamen um; bei ihnen folgte jedweder schmeichelnden Großmama Krezel ein zärtliches Großpapa Krazel! und Beides heute noch recht oft zu hören, darauf harrten Beide voll ungeduldiger Lust.

Schon ein Viertel auf Fünf! sagte Hiob und rieb sich vergnügt die Hände.

Aber Vater, sprach Frau Hiob und hielt inne im Auspacken ihrer rothbäckigen Aepfel, die sie gerade stückweise um die verschiedenen Plätze der Ihrigen aus einem großen Henkelkorbe herauszuzählen und gleichmäßig zu vertheilen beschäftigt stand; aber Vater, hält nicht ein Wagen vor unserm Hause?

Rumpeln hör' ich ihn schon lange die Gasse herauf; – ja, er hält an. Na, das ist ein seltsamer Besuch am heutigen Tage.

Er trat an's Fenster, nachdem er seine Brille geputzt, blickte hinaus, und dann rief er: Ach Du mein lieber Himmel, sie bringen den taubstummen Steffen!

Der Inspector des Arbeitshauses war so barmherzig gewesen, Rath zu schaffen, daß für den Transport des Blinden ein Wagen gutgeheißen wurde; da jetzt nicht mehr zu befürchten stand, daß er sich der vorgeschriebenen Reiseroute durch die Flucht entziehe, so hatte man ihn ohne weitere Umstände auf den kleinen Flechtenwagen gepackt und ihn dem Knechte, der das davorgespannte Pferd lenkte, zur Beaufsichtigung anvertraut. Dieser übergab nun an Hiob, was er von schriftlichen Ausweisen erhalten, half seinem steifgefrorenen Passagier vom Gefährte herab und beeilte sich dann sogleich, die Stadt wieder zu verlassen.

O mein Heiland, wie ist er zugerichtet, wie sieht er aus! jammerte Frau Lucretia; den hätte ich gar nicht mehr erkannt. Zugleich ließ sie beim Weihnachtstische Alles stehen und liegen, um nur gleich im Arrestantenstübchen zu heizen. Und ihren Mann ersuchte sie, eine Schale Suppe warm zu stellen, daß der »Eiszapfen aufthaue.« Hiob zeigte sich wohl ein wenig verdrossen über die Störung und wiederholte mehrfach: Konnten sie etwa nicht bis nach den Feiertagen warten? Doch aber gehorchte er seiner Frau, und bald gewann in ihm Neugier die Oberhand über den Verdruß. Er wollte erproben, ob dem für jede Mittheilung von Außen nun völlig unzugänglichen Stephan nicht dennoch eine Ahnung beizubringen wäre, daß er sich an einem ihm schon bekannten Orte und bei Menschen befinde, die ihm schon Gutes erwiesen hatten. Er geleitete ihn also nach dem Gemache, welches ihn vor einem Jahre beherbergt, führte seine Hand über Thürpfosten, Wände, Bettstatt, Stuhl, Tisch und Waschgeschirr, damit er die einzelnen Gegenstände betastend erkenne und sich daran freue. Als dies keine Wirkung hervorbrachte, legte der treuherzige alte Mann des Fremden kalte Hand auf den eigenen Kopf, ließ ihn die oft gesehene Perrücke fühlen, nahm diese dann ab, setzte sie wieder auf und wartete auf ein Zeichen des Erfolgs. Vergeblich. Stephan rührte und regte sich nicht; als wenn er in Wahrheit zu einem großen Eiszapfen festgefroren wäre und ihm kein warmes Blutströpfchen mehr in den Adern ränne, stand er unbeweglich da. Nun brachte die Hausfrau eine Schüssel mit Suppe. Sie reichten ihm den Löffel, setzten ihn an den Tisch, schoben ihm die Schüssel hin, und er schlürfte gierig die heiße Nahrung. Dann lenkten sie ihn an's Lager, ließen ihn die wollenen Decken fassen. Er hüllte sich hinein, kroch unter und regte sich nicht mehr.

Darf man das auch noch einen Menschen nennen? fragte Hiob recht betrübt.

Kaum, antwortete die Frau. Und doch ... aber ich bitte Dich, Vater, es schlägt drei Viertel!

Und sie eilten, ihr Freudenwerk zu vollenden.

Stephan blieb allein.

Fünftes Kapitel.

Tobias Hiob sammt Frau und Kindern mußten ein langes Weilchen vor der Thüre harren, bis sie, obgleich in soldatischer Pünktlichkeit erst mit dem Schlage fünf Uhr angerückt, Einlaß fanden. Die unvermuthete Störung und Unterbrechung hatte drinnen doch bedeutend aufgehalten. Zwei der Kinder wurden sehr unwillig wegen der Säumniß, die das heilige Christkind sich zu Schulden kommen lasse; doch das dritte, das jüngste, belehrte sie eines Besseren und setzte auseinander, sie möchten nicht unbescheiden sein, sondern bedenken, wie viele Lichter das gute Christkindlein heute zu besorgen und anzuzünden habe in der ganzen Stadt, die über hundert Häuser zähle, und daß es sich doch nicht zertheilen könne um überall auf einmal zu handthieren. Die älteste der Töchter setzte sich dagegen und fragte schnippisch: wofür hätte es denn die lieben Engel? die sollen gehorchen, wie wir der Mutter; aber sie werden halt auch mitunter ungehorsam sein und nicht gut thun, gleich wie wir.

Sicherlich, sagte die Mutter, und darin besteht nun Eure Strafe, daß Ihr heute so lange warten müßt. Vielleicht ist auch gar Nichts für Euch bereitet worden!?

O nein! riefen die Kinder, so schlimm wird es nicht ablaufen, gar so unfolgsam sind wir ja nicht gewesen; ein Bischen etwas haben wir schon verdient, wenn's auch nur ein paar Kerzen wären und ein paar Aepfel!

Und Pfefferkuchen! setzte der dicke Junge hinzu, indem er sich die Lippen beleckte.

Da ging die Stubenthüre auf, und sie schwammen im Lichtmeer, wie die Fische im Teiche.

Dies schönste aller deutschen Familienfeste bleibt bei allem Jubel, bei aller Lust immer zugleich rührend, erweckt mehr oder weniger auch wehmüthige Gefühle bei älteren Personen. Am wehmüthigsten, am rührendsten wird es wirken da, wo es im schärfsten Gegensatze steht zu den häuslichen Umgebungen; also zum Beispiel in einem Gefängnisse. Darum stieß Vater Pancraz, als seine Enkel im lautesten Jauchzen den Tisch umtobten, seine Frau unbemerkt mit dem Ellnbogen an, ihr zuflüsternd: Ob der da drinnen wohl auch einmal solch' einen Abend mag gehabt haben, Krezel, da er noch ein Kind war? Die Frau wischte sich die Augen mit der Schürze und antwortete: Wenigstens hört er nicht, wie lustig es hierzugeht, und wird ihn der Lärm nicht im Schlafe stören. So gebe Gott ihm angenehme Träume, damit er am heiligen Abende nicht ganz leer ausgeht! – Man wird häufig finden, und ich habe es selbst schon oft beobachtet, daß Leute, die sonst gewissermaßen damit prunken, keiner Kirche anzugehören, sich sogar in schwachen, eitlen Stunden erlauben, diejenigen, welche streng an kirchlichen Formen, Festen, Pflichten festhalten, zu bespötteln, – daß diese, will ich sagen, beim Weihnachtsfeste ihre Gegnerschaft fahren lassen und sich dem allgemeinen Gebote christlicher Liebe gern und freudig fügen, daß sie Kinder werden. Tobias Hiob, der Sohn, der eigentlich so Etwas von einem Freigeist an sich hatte und zum Entsetzen der Frau mancherlei Bedenken und Zweifel hegte (die er freilich vor den frommen Eltern verbarg), befand sich in dieser Lage. Ihn ergriff die tiefe Bedeutung des Christbaumes auf's Innigste; er wurde, im besten Sinne des Wortes, dabei zum Kinde mit den Kindern. In weisem Gebrauch neuer Spielsachen, besonders gewisser musikalischer Instrumente, suchte er sie einzuweihen. Und nicht ohne Erfolg. Trommel, Trompete, Klimperkästchen überschrieen einander, schwiegen nur während kurzer Pausen, welche benützt wurden, eine Zuckernuß, eine gebrannte Mandel, eine getrocknete Pflaume ohne Rücksicht auf die daran haftenden Gold- oder Silbermassen zu verschlingen. Kaum war eine solche Näscherei aufgezehrt (Tobias fraß mit), gleich setzten die jungen Künstler wieder ein, und er auch; er blies gewaltig, als ging es zur Schlacht; seine Lippen spielten bereits in Roth und Blau, theils von überschwenglicher Anstrengung, theils von den grob aufgetragenen Farben des bunten hölzernen Trompetleins, die seinem Eifer wichen und vom Mundstücke auf seinen Munt sich übertrugen.

Wenn wir noch eine Ratze im Hause haben, Krezel, heute zieht das Beest nothwendig aus. Den Spektakel verträgt kein Vieh, höchstens eine Großmutter.

Ja wohl, Vater Krazel, eine Großmutter verträgt's. Laß sie immer machen, ist doch nur einmal im Jahre heiliger Abend!

Mit diesem ihren Lieblingsspruche beruhigte sie den armen Pancratius, der sich denn in sein Schicksal ergab, zwei Finger in beide Ohren steckte und still-dumm vor sich hin lachte, wie wenn's nicht anders wäre.

Der Tumult hatte seinen höchsten Punkt erreicht – denn nach menschlicher Voraussetzung und allen Erfahrungen gemäß, die über Lungen und andere körperliche Organe feststehen, konnten sie's unmöglich weiter treiben – da verstummten die Klänge, die den Vater Hiob theils mit Entzücken, theils mit Verzweiflung erfüllt hatten, plötzlich, und gleich darauf erhoben die drei Kinder, in die Falten des mütterlichen Rockes ihre Gesichter bergend, das ängstlichste Jammergeschrei. Eine abenteuerliche Gestalt stand mitten im Zimmer hell beleuchtet von vielen Kerzen. Es war der Taubstumme, den Pancratius, da er ihn schlafend verließ, erst einzuschließen sich nicht mehr die Zeit genommen. Halb umhüllt von der langhaarigen braunen Decke, das Gesicht glühend von der Ofenhitze in seiner Zelle, nach dem Frost unterwegs, dabei die tief-dunklen Gruben im brennend rothen Antlitz ... so trat er unter die Weihnachtsfreuden der Hiob'schen. Groß und Klein, Alt und Jung entsetzten sich vor der unerwarteten Erscheinung. Anfänglich wollten sich die Kinder gar nicht zu Verstande bringen lassen. Weder Großvater noch Eltern vermochten ihnen begreiflich zu machen, das störende Schreckbild sei nichts Anderes, als ein armer blinder Mensch. Nur die Großmutter fand den richtigen Weg, indem sie den Verstand der Kleinen durch Beihilfe des Gefühles anregte. Sie sagte ihnen, der Blinde sei nicht allein blind, was schon an und für sich traurig genug wäre, denn er könnte ja ihre Tannenbäumchen, ihre brennenden Kerzen, ihre Trompeter und Hanswürste nicht erblicken; er sei außerdem auch taub, das heißt, er höre nicht, wie sie jubelten und musicirten; er höre auch nicht, wenn zur Sommerszeit die Wachtel draußen im städtischen Getreidefelde »pickwerwick« rufe, was ihnen doch so prächtig gefalle, daß sie es gern nachahmten!? Aber, ach, auch dies sei dem armen Blinden versagt, denn er könne weder einer Wachtel Sprache nachahmen, noch eines anderen Vogels, noch eines Menschen, denn er sei ganz stumm; folglich sei er dreifach unglücklich, da er nicht einmal sein Herz erleichtern, seine Leiden Niemandem klagen könne. Und vor einem Unglücklichen, setzte sie schließlich hinzu, darf man sich nicht fürchten, darf man nicht fliehen, den soll man bedauern, und wo möglich soll man ihn trösten.

Diese belehrende, herzliche Ermahnung wirkte so viel, daß die Kinder nach und nach ihre Köpfchen zu Stephan hinwendeten und ihn mitleidig betrachteten.

Tröste ihn doch! Geh' doch hin und tröste ihn! sagten die kleinen Mädchen zu ihrem Bruder, dafür bist Du ja ein Junge.

Wie kann ich ihn denn trösten, Ihr dummen Mädel, wenn er taub ist auf seine beiden Ohren?

Der Junge ist unglaublich klug für sein Alter, rief Tobias in väterlichem Stolze.

Hat ihm denn kein Mensch eine Christbescheerung gegeben? fragte das größere der beiden Mädchen.

Niemand, erwiederte die Mutter, er hat keine Eltern mehr, er ist ganz allein in der weiten Welt.

Warum habt Ihr ihm nicht einen Baum mit Lichtern zurecht gemacht? fragte das Kind weiter, und die Großeltern erwiederten verlegen: sie hätten ja nicht ahnen können, daß der Arrestant ihnen heute schon eingebracht werde, und würde dieser ja doch Nichts gesehen haben, wenn gleich tausend Kerzen für ihn brennten.

Voll Schüchternheit näherte sich nun das Mädchen dem Stephan und sprach fast weinend: Du fremder Mann, Du hörst nicht und siehst nicht, und ich thäte Dir doch gern eine Freude machen zum heiligen Abend. Da riech' einmal, wie schön das riecht! Ich schenke Dir meinen bemalten Wachsstock. Dieses Haupt- und Prachtstück ihrer Weihnachtsgaben steckte sie ihm eiligst zu, worauf sie sich dann sogleich hinter ihre Mutter verbarg.

Das jüngere der beiden Mädchen brachte den großen Reiter von Pfefferkuchen, den sie noch verschont hatte, schob ihn auf den Wachsstock, daß dieser zwischen des Rosses Untergestell zu stecken kam, und lispelte kaum hörbar: Von mir auch 'was, Du!

Das ist dumm, rief der Junge, ich hab' schon Alles verschnabulirt; zwei Aepfel sind noch da, die wollt' ich mir zu den Feiertagen auf dem Ofen braten. Die geb' ich Dir, Mann. 's ist heute Weihnachtsabend!

Muthig drückte er die schönen Borsdorfer dem Stephan in die Rechte.

Der Mensch, der bis dahin unbeweglich gestanden, fing an heftig zu zittern. Dann führte er die Hand mit den Aepfeln empor, sog begierig den Duft der Früchte ein, woran er sich zu laben schien; doch zugleich verfiel er in krampfhaftes Schluchzen, kämpfte lange dagegen an und brach endlich, als er zu Athem kam, in die laut und deutlich artikulirten Worte aus: O meine Mutter!

Die Anwesenden wollten an Wunder glauben; sie umringten ihn und begrüßten ihn als einen Neugeborenen, sogar die Kinder jauchzten fröhlich auf: Der Stumme redet!

Er aber wies Alle mit den Armen zurück und sagte mehr ingrimmig wie gerührt: Laßt mich, Ihr Leute, ich hab' Euch betrogen; ich war in meinem ganzen Leben weder stumm noch taub.

Dies gesagt, bat er, sie möchten ihn mit seinen Geschenken allein lassen.

Tobias geleitete ihn in die Gefangenenstube.

Pancratius zog seinen alten Mantel über, setzte die Pelzmütze auf und begab sich zum gestrengen Herrn Landrath, um pflichtgemäß Bericht abzustatten, daß der Taubstumme höre und rede, daß er nur blind sei, und daß seine (Pankratius) Enkel dem Verstockten durch ihre Gaben die Zunge gelöset hätten.

Sechstes Kapitel.

War das Erstaunen über Stephan's Geständniß – (Tobias meinte, wenn er früher das Maul aufgesperrt hätte, führte er jetzund vielleicht seine Augen noch im Kopfe, und es würde überhaupt Vieles ganz anders für ihn geworden sein; weshalb auch der bisweilen nach Witz haschende Kreisbote seinen vorjährigen Reisebefohlenen mit Bileam's Esel zu vergleichen sich bemühte, ohne irgend einen Anknüpfungspunkt für den Vergleich herauszufinden, außer das Sprechen nach hartnäckigem Schweigen!) – war das Erstaunen in Hiob's Hause ein gewaltsames, überwältigendes, dem berechnetsten Theatereffecte eines auf Ueberraschung eingerichteten Schaustückes ähnlich: so ging es darum doch nicht minderschnell vorüber, um den gewöhnlichen Betrachtungen nächstfolgender Tage Raum zu lassen. Hiob's wußten nun, daß Stephan sie betrogen habe, daß er sprechen könne, und nahmen ihn kurzweg für einen Betrüger, der sich ein Gebrechen angedichtet als Aushängeschild für die Bettelei. Dergleichen war ihnen nichts Neues. Auch der vielerfahrene Winderle beurtheilte die Sache geschäftlich, und auf dem Kreisamte hieß es: Gleich nach den Feiertagen wird der Stephan zu Protokolle vernommen. Da werden wir nun endlich auch erfahren, wohin wir ihn zu schicken, und an wen wir uns zu halten haben wegen der für ihn gehabten Unkosten und Auslagen.

Nur der Landrath ging tiefer ein auf die psychologischen Eigenthümlichkeiten, die einer so unglaublichen Thatsache zum Grunde liegen könnten. Er sparte sich die erforderliche Zeit von seinen Erholungsstunden ab, um in langen Gesprächen mit Stephan dessen Vertrauen und durch dasselbe nachfolgende Selbstbekenntnisse ihm abzugewinnen, die wir dem Inhalte nach unverändert wiedergeben.

Ich bin – erzählte Stephan – vor achtundzwanzig oder dreißig Jahren – genau kann ich mein Alter nicht angeben – in J... jenseits dieser Landesgrenzen geboren. Ich war das einzige Kind meiner Mutter. Mein Vater hielt einen Kramladen, den er mit geringen Mitteln eröffnet, nach und nach zum großen vielseitigen Geschäft empor gebracht hatte. Ihm gelang Alles. Er war unermüdlich in seiner Thätigkeit, und von seiner Umgebung verlangte er das Nämliche. Ich besinne mich aus frühester Kindheit auf die Klagen meiner Mutter daß er ihr gar keine Ruhe lasse, und daß sie bis in die Nacht hinein arbeiten und schaffen müsse. Als fünfjähriger Junge wurde ich schon angehalten, Kaffeebohnen oder Rosinen ausklauben und reinigen zu helfen wie es mit den Vorräthen für etliche hohe Kundschaften geschah. Ich liebte meinen Vater nicht. Er hat mich nie geschlagen oder sonst ungütig behandelt, aber auch Nichts gethan, meine Anhänglichkeit zu erwerben. Er bekümmerte sich nur um sein Geschäft, er hatte nur die Absicht, Geld zu verdienen; alles Uebrige war ihm gleichgiltig, und von Zärtlichkeit und häuslichem Wohlbefinden konnte bei seiner Jagd nach Gewinnst nie die Rede sein. Zu solchen Nebendingen nahm er sich keine Zeit. Meine Mutter, die Tochter eines ärmlichen, halbverhungerten Dorfschulmeisters, mag ihren Gatten wohl ohne Liebe geheirathet haben, um nicht zu verhungern, wie ihre Eltern. So viel ich mich auf sie erinnern kann, war sie eben nicht schön, doch sanft und lieblich anzuschauen. Sie fühlte sich gewiß nicht zufrieden in ihrer Ehe, kannte kein Glück – ich war ihr einziges. Wenigstens hat sie mir das täglich und stündlich wiederholt. Als ich kaum lallen konnte und ihre Worte nicht verstand, prägten sie sich doch schon in meinem Gedächtnisse fest ein, wenn sie mich mit Küssen und Thränen bedeckte und tausendmal sagte: Du bist mein einziges Glück! Sie war auch das meinige, und ich suchte auch kein weiteres. Umgang mit anderen Kindern kannte ich nicht. Durch Ungehorsam hab' ich meine Mutter nie gekränkt. Sie that, was sie mir an den Augen absehen konnte; ich war frühzeitig schon stolz darauf, »ihr einziges Glück« zu heißen und zu bleiben. Ich lebte nur in ihr, bei ihr, so wie sie nur mit und in mir. Sie lehrte mich lesen und schreiben, denn sie wollte nicht, daß ich mit den ungezogenen Kindern des Ortes die Stadtschule besuche. Den Unterricht mußte sie mir heimlich ertheilen, weil der Vater jede Stunde für Raub an seinen Geschäften hielt. Diese Heimlichkeit reizte mich an. Lehrstunden galten mir für etwas Verbotenes, wozu jedes Kind sich gezogen fühlt. Deshalb machte ich gute Fortschritte trotz dem entschiedenen Widerwillen, der sich schon damals in mir regte vor Allem, was körperliche oder geistige Anstrengung erfordert. Meine Mutter hatte immer blaß und leidend ausgesehen, anders war sie mir niemals erschienen. Daß dies Aussehen die Folge tödtlicher, wenn auch langsam fortschreitender Krankheit wäre, wurde dem unerfahrenen Knaben nicht deutlich. Sie selbst deutete wohl in Augenblicken wehmüthiger Aufregung darauf hin, daß Gott sie von mir wegrufen könnte, und was dann aus mir werden sollte? Doch als ob dieser Gedanke allzu fürchterlich sei, suchte sie ihn immer wieder zu verscheuchen, so daß er auch in mir nicht bleibend wurde. Ich mochte das neunte Jahr zurückgelegt haben und war für dieses Alter und meine Stubenerziehung schon stark und rüstig genug, da trat die Möglichkeit, daß meine Mutter sterben könne, zum ersten Male ernstlich mir vor die Seele. Wir feierten den Weihnachtsabend. Der Vater pflegte an solchen Dingen, die er nutzlosen Krimskrams nannte, nicht Antheil zu nehmen. Er blieb in seinem Laden und fertigte verspätete Kunden ab. Ich saß neben der Mutter, spielte mit meinen Geschenken und erfreute mich vorzüglich an einem großen Korbe ausgesuchter Aepfel, die für mein winterliches Vesperbrot ausreichen sollten. Einen nach dem andern nahm ich hervor, betrachtete die rothen Backen und labte mich an dem frischen Obstgeruche, der mir klare sonnige Herbsttage und lustige Spaziergänge wach rief. Plötzlich faßte die Mutter mit beiden Händen meinen Kopf, küßte mich auf die Stirn und rief: Das Einzige versprich mir, mein Stephan, daß Du jedesmal an Deine arme Mutter denken willst, wenn Du einen solchen Apfel riechst! Ich wußte nicht, wie das gemeint war, noch wie ich es verstehen sollte. Verlegen gab ich ihr keine Antwort, sondern sagte nur: Mutter, Deine Wangen sind aber heute gerade so schön roth, wie der Aepfel ihre, sie glühen recht! – Sie werden bald weiß sein wie der Schnee, der draußen liegt, sprach sie und küßte mich wieder auf die Stirn. Der Kuß war eiskalt. Das verwunderte mich, daß ihre Lippen kalt wären, weil doch Backen und Augen brannten. Ich fragte weiter nicht mehr, nur ging ich unruhvoll und bekümmert zu Bette, wie mit der dunklen Ahnung eines großen Unglücks. Auch weiß ich noch, daß mich die ganze Nacht hindurch verworrene Träume von Leichen quälten, obschon ich noch keine Leiche gesehen hatte. Erst gegen Tagesanbruch entschlief ich zum gesunden Kinderschlafe. Zu meinem bängsten Erstaunen wurde ich am ersten Feiertage nicht durch der Mutter Morgenkuß erweckt; die Dienstmagd rüttelte mich unsanft auf, ich möchte mich eiligst ankleiden, der Geistliche wäre drüben, und Mama wolle mich segnen. Um was es sich in Wirklichkeit handle, vermochte ich, noch schlaftrunken, gar nicht zu durchschauen, nur daß mir ein schweres Unheil drohe, so viel begriff ich. Sie hatte, als ich an ihr Sterbelager trat, die letzten Trostworte der Religion vernommen; jetzt streckte sie mir ihre bebenden Arme entgegen und wollte mich mit den letzten Mutterworten anreden, sie fand keine Kraft mehr dazu. Alles um ihr Lager und auf demselben schwamm im Blute. Drei Anfälle seit gestern Abend waren sich rasch gefolgt. Ihre Augen richteten sich im Erlöschen nach mir, nach meinem Vater, dann wieder auf mich ... die blauen Lippen bewegten sich noch, als wolle sie ihn für mich bitten ... eine Stunde nachher befand er sich in seinem Gewölbe, und ich kniete, Hände und Gesicht und Kleider von ihrem Blute befleckt, bei der Todten. Was zunächst mit mir geschehen, kann ich nicht genau angeben. Jene Tage sind mir ganz dunkel. Nur auf das Heben der Leiche besinne ich mich, auf mein Geschrei, und wie sie mich fortgezogen und in meine Kammer sperrten. Die Dienstmagd haßte mich, weil sie meinetwegen oft von der verstorbenen Mutter gescholten worden war. Jetzt nach deren Tode verstand sie sich meinem Vater unentbehrlich zu machen; ich sollte nur zu zeitig ihren Einfluß auf ihn und das ganze Hauswesen empfinden. Zunächst wurde ich, weil sie mich so viel wie möglich los werden wollte, in die Stadtschule geschickt, wo ich redlich nachholte, was ich bis dahin an Jugendstreichen und Unarten versäumt, und in dieser Beziehung der gelehrigste, obgleich in allem Uebrigen der faulste Schüler wurde. Meine arme Mutter war bald vergessen. Als ich das zehnte Jahr zurückgelegt hatte, gerieth ich in einen großen Schultumult, oder veranlaßte ihn vielmehr. Etliche größere Knaben behaupteten nämlich laut, mein Vater würde seine Dienstmagd heirathen. Ich erklärte das für unverschämte Lügen, weil ich diese Person nicht minder haßte, als sie mich. Aus dem Streite, woran sämmtliche Mitschüler Partei nahmen, entstand zuletzt eine Schlägerei, die ganz ernsthaft wurde, einige Theilnehmer bekamen Wunden von scharfen Linealen, und auch ich trug eine solche heim. Mein Vater zeigte sich erst ein Bischen verlegen, als ich den Grund der Prügelei bezeichnete, dann aber ging er darauf ein und bestätigte, daß ich »eine neue Mutter haben würde.« Auch äußerte er, es wäre nun seit einem Jahre Schulgeld genug für mich gezahlt worden und sei Zeit, daß ich erwerben helfe. Er machte mich zum Lehrburschen in seinem Laden. Glücklicherweise schrieb ich besser wie er (denn er, der sich vom Hausknecht zum Herrn aufgeschwungen, schrieb eigentlich gar nicht) und wurde dadurch den gröbsten Arbeiten entrückt; mußte jedoch Tag und Nacht am Schreibpulte sitzen, was mir auch entsetzlich war. Augenschmerzen belästigten mich damals schon, und ich litt häufig an Entzündungen der Lider. Meine Stiefmutter machte diesem Namen Ehre. Sie ließ mich zehnfach büßen, was sie etwa meinetwegen an kleinen Verdrüssen erlitten haben mochte. Doch hatte sie insofern ein Einsehen, daß sie den Vater hinderte, mich allzu sehr anzustrengen. Ihr erstes Kind blieb ihr letztes. Es hatte vier Wochen nach der Hochzeit schon in der Wiege gelegen, an welcher einst meine Mutter mich in Schlaf gesungen, wenn sie mich darin schaukelte. Mein Halbbrüderlein ward auf den Namen Adolar getauft, sah aus wie ein Affe und schrie wie ein Zahnbrecher. Sehr oft rief mich seine Frau Mutter vom Schreibpulte und hieß mich den Schreihals umherschleppen, bis er vom Brüllen müde einschlief. Dieses Geschäft, so lästig der häßliche, dicke Bengel mir wurde, schien ich dem ewigen Schreiben doch vorzuziehen, ich war nicht böse, wenn ich abgerufen wurde, und endlich setzte es meines Vaters Frau durch, daß ein alter, verkümmerter Ladendiener für's Schreiben aufgenommen wurde, damit ich zum Kindermädel befördert werden könnte. Sie behauptete: ihr Adolar bedürfe meiner; Niemandem ginge das Kind so willig zu, als mir. Ich ließ mir die Veränderung gefallen. Kinderwarten galt mir für keine Arbeit; es bedurfte dazu nicht der geringsten Anstrengung, die ich vor Allem floh und verabscheute. Wir wuchsen neben einander fort, Adolar und ich. Er zum starken, kräftigen Kinde, ich zum privilegirten Müssiggänger. Bis zu meinem vierzehnten Jahre that ich buchstäblich Nichts weiter, als mich mit dem Kinde hin und her schleppen, unter den Obstbäumen auf grünem Rasen faullenzen, im Winter am Ofen hocken und dabei verdummen.

Ob ich bisweilen gedacht habe, oder ob ich immer nur Zeit und Stunden verträumte, das weiß ich selbst nicht mehr. Daß ich vor Papier, Feder und Dinte zuletzt ein wahres Grausen empfand, darauf kann ich mich noch sehr wohl besinnen. Auch Bücher waren mir verhaßt; wo ich zufällig eines erblickte, warf ich es zu Boden und stieß es mit dem Fuße von mir. Meine Stiefmutter war (natürlich ohne Vaters Wissen) eine eifrige Leserin und holte sich Band um Band vom Leihbibliothekar; diesen abgegriffenen, schmutzigen Büchern eben hatte ich so manchen Fußtritt beigebracht. Bei ähnlicher Gelegenheit fügte sich's einmal, daß der Deckel des Einbandes aufklappte und ich des Titelkupfers ansichtig wurde, welches meine Neugier erregte: Vermummte Gestalten, blinkende Dolche, Todtenschädel, im Hintergrunde ein Gerippe! Wie im Traume griff ich darnach und fand eine furchtbare Räubergeschichte, wo es von Mordthaten und Liebeschwüren wimmelte. Eine Eigenschaft meiner fast thierisch gewordenen Seele wachte bei Durchlesung dieses elenden Machwerkes gewaltig auf: die Einbildungskraft! Sie entriß mich unsern Umgebungen und führte mich in eine völlig neue Welt. Von diesem Tage wurde ich der begierigste Bücherverschlinger. Das Unwahrscheinlichste, Widersinnigste galt mir für das Schönste, und meiner Stiefmutter Geschmack und Auswahl versorgten mich reichlich damit. Ich lebte nur noch in verrückten Träumereien und Einbildungen: unser Obstgarten galt mir für einen undurchdringlichen Wald, der alte baufällige Backofen für Burgruinen, der Hofhund für einen reißenden Wolf, Adolar für einen geraubten Prinzen, und der kleine Junge gerieth gegen den Spätherbst hin mehrmals in Gefahr zu erfrieren, weil ich bis zur sinkenden Nacht mit ihm draußen auf einem morschen Apfelbaume versteckt blieb, damit die uns verfolgenden Ritter seines Vaters, des Herzogs, uns nicht entdecken möchten.

In dieser Verfassung mußte es keinen geringen Eindruck auf mich machen, als ich eines Tages an der Ecke unserem Hause gegenüber den Theaterzettel angeschlagen sah, welcher » Die Räuber« verkündigte. Eine reisende Truppe verweilte schon seit etlichen Wochen am Orte. Keine ihrer bisherigen Ankündigungen hatte mich irgend angelockt. »Die Räuber« wirkten unwiderstehlich. Auch bildeten sie die letzte Vorstellung vor der Abreise der Schauspieler. Ich wendete mich an die Stiefmutter: wenn sie zufrieden mit meinen mehrjährigen Dienstleistungen für ihren Sohn gewesen sei, solle sie mich heute belohnen, solle mir gestatten, das Theater zu besuchen. Sie willigte ein. Der Vater brauchte Nichts davon zu erfahren; er that ohnehin, was sie befahl, und fragte selten oder nie nach mir. Ich empfing das Eintrittsgeld und war der Erste – im Paradiese. Verschiedene ehemalige Schulkameraden, jetzt Schuster-, Schlosser-, Schneider- und Töpfer-Lehrjungen, gesellten sich zu mir, deren Keiner mich anfänglich erkannte, weil sie mich so lange nirgend erblickt hatten. Sie waren nicht wenig erstaunt, da ich mich ihnen als gegenwärtige Kindermagd und dereinstigen Räuberhauptmann vorstellte. Doch meine Belesenheit verblüffte sie. Auch sie verriethen einige Neigung, künftig im Walde zu leben und in unerforschlichen Höhlen furchtbare Eidschwüre abzulegen.

Die Aufführung des Schauspiels »die Räuber« steigerte unsere kindische Frechheit. Während der Zwischenacte stifteten wir ein Bündniß zu ähnlichen Zwecken mit Vorbehalt nächtlicher Zusammenkunft auf dem Galgenberge. Neu und überraschend war mir Nichts, was dort auf der Bühne vor sich ging. Die Schauderscenen, welche abgehandelt wurden, hatte ich mir schon an den Schuhsohlen abgelaufen; denn was wollte das Bischen Vatermord und Fluch und Brandstiften heißen gegen meine Romane? Nur Eines befremdete mich: daß der große Räuberhauptmann Graf Moor den jungen Kosinski, der sich ihm anbietet, hart anläßt: »Hat Dein Hofmeister Dir vielleicht die Geschichte des Robinson in die Hände gespielt?« und so weiter; »man sollte dergleichen unvorsichtige Canaillen ans die Galeere schmieden!« Wer war denn dieser Robinson? Gewiß ein noch größerer Mordbrenner und Räuber als der große Karl Moor selbst, den dieser beneidete und deshalb haßte!? Gleich am nächsten Tage schlug ich meiner Stiefmutter vor, das Buch dieses Namens und Titels in der Leihbibliothek einwechseln zu dürfen. Sie hatte Nichts dagegen, doch lachte sie mich aus und versicherte, das sei ein dummes Buch für kleine Kinder und vor lauter Tugendhaftigkeit langweilig. So fand ich es denn auch und quälte mich lange mit Zweifeln, warum wohl jener arme Hofmeister angeschmiedet werden sollte, der dem Kosinski den Robinson in die Hand gegeben. Wenn's weiter Nichts ist, dacht' ich, als auf einer wüsten Insel sitzen? Da verstehen wir's besser, ich und meine Freunde.

Wir trafen uns wirklich in der Abenddämmerung auf dem Galgenberge zusammen. Die Andern hatten es sehr leicht, sie brauchten nur, sobald Feierabend wurde, anstatt sich wie sonst in den Gassen herumzutreiben, hinaus zu laufen vor's Thor. In zehn Minuten waren sie beim kahlen Hügel, wo vor vielen Jahren das Hochgericht gestanden haben soll. Ich aber durfte ja den kleinen Bengel, den Adolar, nicht verlassen, folglich blieb mir Nichts übrig, als ihn mit zu den Versammlungen zu nehmen. Zu tragen brauchte ich ihn nur selten; er hatte seine vier Jahre hinter sich und lief schon ganz gut, nur sehr langsam ging's. Und dann wurde das Kind frühzeitig schlau und auf Alles aufmerksam, was wir besprachen, so daß wir uns bei unsern Verabredungen nicht genug in Acht vor ihm nehmen konnten. An Tagen, wo für den Abend Zusammenkunft angesetzt war, ließ ich mich also keine Muhe verdrießen, meinen Halbbruder durch die ausgelassensten Spiele recht müde zu machen und abzuhetzen, damit er draußen in sichern Schlaf sinken möge. Daß er in der Kälte erfrieren könnte, bedachte ich nicht. Ich dachte überhaupt an Nichts, als an meine Hauptmannschaft. Denn zum Hauptmann der Bande hatte ich mich gleich den ersten Abend erwählen lassen. Die Jungen gehorchten mir, weil ich ihnen hochtrabende Floskeln aus überspannten Büchern vorschwatzte. Doch nach und nach wurden sie des Schwatzens überdrüssig. Sie verlangten einstimmig, daß ich ihnen Gelegenheit zu Thaten geben solle; zu Thaten, welche ihre Taschen mit Geld füllen würden. Ich wußte durchaus nicht, wie das im Weichbilde unserer friedlichen Stadt, wo wir, bekannt wie die bunten Hunde, vor jedem kleinen Ackerbürger demüthig die Mütze zogen, sich bewerkstelligen ließe, und vertröstete sie auf den Sommer, wo wir aufbrechen und in die Wälder ziehen wollten, die jenseits der nahen Grenze so blau und vielversprechend herüberwinkten. Doch damit ließen sie sich nicht mehr beschwichtigen. Sie machten die kühnsten Pläne und Entwürfe. Einer, ein Schneiderlehrling, schlug vor, meines Vaters Laden zu erbrechen, die Kasse zu rauben und dann sogleich in die Waldungen zu flüchten. Ich solle von innen behilflich sein. Dagegen lehnte ich mich entschieden auf. Nun wurde ich von Allen insgesammt der Feigheit beschuldigt und mir mit Entsetzung von der Hauptmannswürde gedroht. Es blieb mir also nur übrig, in ein anderes, noch gefahrvolleres Unternehmen zu willigen, sollte ich nicht gestürzt werden. Dies bestand in einem offenen Anfall auf den Mann, der am zweiten jedes Monats die in der Umgegend erhobenen Steuergelder dem Amte überbrachte und regelmäßig des Abends zwischen sechs und sieben Uhr aus dem letzten Dorfe anzulangen pflegte. Der Weg führt durch eine unbewohnte Strecke mit Strauchwerk kümmerlich bewachsenen Heidelandes. Dort sollte der Raubanfall vor sich gehen. Daß er gelingen müsse, darüber fand kein Zweifel statt, denn der Einsammler war ein schwächlicher, alter Mann. Sobald wir im Besitze der Summe wären, die er bei sich führte, wollten wir der Grenze zueilen, wo der Wald uns vor Tagesanbruch schützende Zuflucht verhieß. Wir trennten uns mit dem Losungsworte: Den 2. Februar um sechs Uhr am Kreuzwege! Darauf legten wir einen furchtbaren Eidschwur ab, den ich meinen Genossen feierlich vorsagte.

Siebentes Kapitel.

Meine sechs Kameraden – ich der siebente – stellten sich am bezeichneten Orte pünktlich ein, Jeder mehr oder weniger zur Frevelthat gerüstet. Auch Messer fehlten nicht. Alle zeigten sich sehr ungehalten, daß ich auch heute als Kindermädel erschien und den nicht abzuschüttelnden Bruder mitbrachte. Einer drohte das Kind umzubringen. Ich machte ihnen begreiflich, sein Zurückbleiben würde Argwohn erweckt haben, und beruhigte sie durch Vorzeigung eines Fläschchens mit süßem Branntwein, welches ich meiner Stiefmutter, die auf dieses Labsal Etwas hielt und im Stillen manchen Tropfen kostete, entwendet hatte. Davon ließ ich meinen Adolar naschen, und er schlief unter einem Wachholdergebüsche wie ein Dachs. Wir mußten lange auf den Steuerboten warten, der Mann hatte sich diesmal verspätet. Dies Harren kühlte den Muth der jugendlichen Verbrecher bedeutend ab, und der Ruf: »Dein Geld oder Dein Leben!« erscholl weder kräftig noch drohend. Auch hatten wir den zu Beraubenden nach seinem Aeußern falsch beurtheilt; er theilte mit seinem Stocke Schläge aus, die Nichts weniger als schwächlich klangen und auf den Köpfen und Schultern der Getroffenen tüchtig wiederhallten. Ehe eine halbe Minute verstrich, waren wir zerstoben wie Spreu vor dem Winde. Keiner hatte sich nach den »Blutbrüdern« auch nur umgesehen; Jeder nur seine eigenen Gliedmaßen in Sicherheit gebracht. Ich war, das will ich gern bekennen, zuerst ausgerissen und hielt mich weit vom Schlachtfeld hinter Sträuchern verborgen, bei denen ich später einige nachfolgende Flüchtlinge athemlos vorüberkeuchen hörte. Ich dachte an Nichts mehr, als an ungefährdete Heimkehr; meiner Hauptmannschaft fühlte ich mich völlig unwerth. Doch wie nach Hause kommen ohne Adolar? Es half Nichts, ich mußte umkehren, den schlafenden Knaben holen. Schreck und Angst verwirrten mir die Sinne, ich schwankte hin und her und rannte dem vorsichtig mit erhobenem Stocke fortschreitenden Sieger gerade in die Hände. Es war wohl dunkel, aber doch nicht finster genug, daß nicht ein bekanntes Gesicht zu erkennen gewesen wäre. Des Mannes Faust packte mich am Kragen, schüttelte mich, zog meinen Kopf bis an eine Stelle, die nicht vom Gebüsch bedeckt war, und da drangen in mein Ohr die fürchterlichen Worte: »Ah, Du bist dabei? schon recht!« Darauf gab er mir einen Fußtritt, daß ich taumelte, und entfernte sich. Wahrscheinlich hab' ich mir nachher, wie ich mich nur ein wenig erholt, meinen Bruder auf den Buckel geladen und bin mit ihm heimgewankt. Ich sage wahrscheinlich, denn ich weiß nicht, was mit mir vorgegangen. Doch muß es so sein, weil wir am Morgen des 3. Februar Beide vorhanden waren, Adolar krank, fiebernd, und die Stiefmutter mir ein für allemal untersagte, des Abends auszugehen. Dies Verbot wäre nicht nöthig gewesen. Ich hegte nicht den leisesten Trieb mehr, unsere engen Mauern zu verlassen, mit irgend einem fremden Menschen zu reden, von irgend einem drohenden Auge gesehen zu werden. Nur zwei Gedanken kämpften mit einander in meiner gefolterten Brust; der eine sagte bei jedem Geräusch: »jetzt kommen sie, um Dich als Straßenräuber gefangen zu nehmen!« der andere tröstete: »vielleicht hat er Dich doch nicht genau erkannt; und wenn er Dir für's Erste nicht mehr begegnet und nicht an Dich erinnert wird, verwischt sich Dein Bild in seinem Gedächtniß.« Dieser Trostgedanke führte mich bei stetem Sinnen und einsamem Brüten auf den Entschluß, Nichts einzugestehen, man möge mir abfragen, was man wolle; lieber zu sterben, als mich durch unüberlegte Worte zu verrathen und in Widersprüche zu verwickeln. Und um dies sicher zu können, nahm ich mir vor, mich stumm zu stellen. Ich hatte etwas Aehnliches gelesen. Langsam bereitete ich nun die Ausführung dieses Entschlusses vor. Ich fing damit an, über Schmerzen im Munde zu klagen, daß mir die Zunge so schwer sei; wenn Adolar mit mir plauderte, gab ich ihm keine Antwort oder lallte nur unverständlich, was er natürlich der Mutter klagte, diese dem Vater mittheilte, welcher dann mit seiner gewöhnlichen Gleichgiltigkeit äußerte: »das hätte dem Tagediebe noch gefehlt.« Weiter geschah Nichts, und man ließ mich schweigen. Verrichtete ich doch die Pflichten eines gehorsamen Hausthieres, und jetzt wahrlich gehorsamer und unterwürfiger als je, weil ich noch immer unter dem Drucke der Gewissenspein, der Missethäter-Angst dahin schlich. Doch wie Tag um Tag, Woche um Woche verging, der Gefürchtete sich nicht blicken ließ, keine Nachfrage von Seiten der Behörde erfolgte; der Frühling wiederkam und hinaus rief – da wähnte ich endlich Alles überstanden, war nahe daran, wieder meine Zunge zu gebrauchen, und wagte mich sogar in's Freie. Stieß mir etwa Einer von der Bande auf, dann schlugen wir gewiß Beide die Augen nieder, und eilten an einander vorüber, gleich geprügelten Hunden. Zuerst zitterte ich vor der Möglichkeit, dem Steuerboten zu begegnen, von ihm gesehen zu werden. Als sich das lange Zeit hindurch nicht traf, fing ich an es zu wünschen, wie man etwas Gefährliches fürchtet und wünscht zugleich, um zu erproben, was eben noch zu befürchten sei. Zuletzt wurde ich so tolldreist, den Mann zu suchen, indem ich die Gassen einschlug, durch die sein Beruf ihn führte. Mehrmals stieß er mir auf; doch er wendete sich zu anderen Leuten, die vorübergingen, und schien meiner gar nicht zu achten. Nun wurde ich unverschämt, und einmal, meinen Bruder an der Hand führend und Jenen auf der entgegengesetzten Seite der Gasse erblickend, grüßte ich ihn. Er sah sich um, ob auch nicht außer uns Jemand in der Nähe sei. Dann trat er auf mich zu und sprach leise: Deine selige Mutter war eine unglückliche, gute Frau; eine sanfte Dulderin. Ihr hast Du's zu verdanken, daß ich Dich nicht wieder erkennen will. Bess're Dich! Als er dies gesagt, ließ er mich stehen, wo ich stand, klopfte den Adolar auf die Backen und machte sich rasch davon, wie wenn er etwas Böses gethan. Alles was Recht ist, er handelte edel und meinte gewiß mir Gutes zu erweisen. Doch erwies er mir im Gegentheil das größte Uebel. Ich war nun wieder sicher vor Entdeckung und Strafe, und anstatt meiner Mutter Andenken, dem ich diese Nachsicht verdankte, heilig zu halten, demselben einigermaßen Ehre zu machen, überließ ich mich auf's Neue dem heillosen Treiben meiner durch Müssiggang genährten übermüthigen Phantasie. Doch durch Schaden klüger geworden, vermied ich die Gemeinschaft anderer Burschen, über meinen eigenen Plänen allein brütend.

Ich hatte gehört, eigentlich erhorcht, daß zwischen der Stiefmutter und meinem Vater lebhafte Zwistigkeiten entstanden waren, deren Veranlassung meine Zukunft abgegeben. Mein Vater warf ihr vor, daß sie mich ihrer häuslichen Bequemlichkeit halber aus dem Geschäft gerissen, mich zu einem blödsinnigen Faullenzer gemacht habe, der sein Brot vor den Thüren werde betteln müssen, wenn nicht noch bei Zeiten eine Aenderung geschähe. Er ist jetzt fünfzehn Jahre vorüber, der Stephan, ziemlich stark ist er auch, ich werde ihn bei einem Zimmermann in die Lehre geben, ein paar Meilen von hier, den ich als einen strengen Mann kenne. Die Arbeit wird ihn munter machen und aufwecken. Vielleicht, daß er noch einmal zu sich kommt! hier ist Nichts mehr mit ihm anzufangen, und im Gewölbe mag ich ihn nicht, um keinen Preis. Mag ihn überhaupt nicht sehen. Er ist mir zuwider, so zuwider wie seine Mutter mit ihrer barmherzigen Jammermiene.

Nachdem ich erst einige ähnliche Aeußerungen, denen die Stiefmutter nur schwache Einwendungen entgegenstellte, aufmerksam belauscht hatte, waltete kein Zweifel mehr ob, was zu beginnen sei. Meinen Vater glaubte ich hassen zu dürfen; damit vergalt ich ihm ja nur, was er mir gab. Daß man mich von der kleinen Erbschaft zu Adolar's Vortheil ausschließen wolle, durchschaute ich auch. Und aus einem Zimmerplatze die schwere Axt führen, von früh bis in die Nacht angestrengt arbeiten – arbeiten überhaupt! – das erschien mir das Gräßlichste auf Erden. Ich suchte meine »schwere Zunge« wieder hervor; traf allerlei Anstalten, mir etliche Groschen zu verschaffen, die ich da und dort im Hause zusammenraffte, und eines Abends, bei heftigem Unwetter, schlüpfte ich aus meiner Kammer, kletterte über den morschen Gartenzaun, rannte, was mich die Füße tragen wollten, durch Dick und Dünn und passirte vor Tage noch glücklich und unangefochten die Grenze. Da durchstreifte ich nun die Waldungen, in denen ich als Räuberfürst herrschen gewollt. Aber in meinen Ansprüchen herabgesunken, hatte ich jene prächtige, blutige Rolle mit der eines stummen Bettlers vertauscht, wozu ich mich auch besser eignete. Ich führte sie täuschend durch, erregte überall Mitleid, erhielt viel Geschenke, wurde sogar von mildthätigen Frauen gewarnt, wie ich vermeiden könnte, die Aufmerksamkeit der Behörden zu erregen. Insofern ging es mir sehr gut. Was mich aber peinigte, war die kaum zu besiegende Neigung, die ich empfand, manche an mich gestellte Fragen über Heimath, Herkunft und dergleichen mit lügenhaften Worten zu erwiedern, wenn meine Geberdensprache nicht ausreichte oder nicht verstanden wurde. Einige Male war ich schon nahe daran herauszuplatzen. Ja, ich fühlte bisweilen das Bedürfniß zu reden und konnte mir, wenn es allzu stark wurde, nicht anders helfen, als daß ich Thiere, die mir aufstießen, herrenlose Hunde, Vögel, sogar Bäume ansprach. Einigen Fröschen, die bei einem Sumpfe, wo ich lagerte, in der Sonne saßen, hab' ich meine Lebensgeschichte erzählt, so ernsthaft und so umständlich, wie wenn sie meines Gleichen wären. Doch weil diese Erleichterung immer nur vorübergehend war und ich fortdauernd fürchten mußte, mich bei theilnehmenden Anfragen zu verrathen, so beschloß ich, auch das Gehör zu verlieren, und zog von jetzt an als Taubstummer tiefer in's Land.

Es gehörte anfänglich ein sehr fester Wille dazu. Durft' ich doch mit keiner Bewegung andeuten, daß ich hörte, was sie über mich äußerten. Bald gelangte ich auch darin zu einer gewissen Sicherheit, und das gewährte mir bedeutende Vortheile. Erstens vergrößerte sich dadurch die Wohlthätigkeit der Menschen, die mich herzlich beklagten; zweitens legten sie sich keinen Zwang an in ihren Meinungen und Ansichten über mich. Das wurde mir sehr ersprießlich, denn es gewährte mir Einsicht in etwa drohende Gefahren, und ich hatte immer Zeit zu verschwinden, wenn Einer oder der Andere die Absicht laut werden ließ, mich als Landstreicher festzuhalten und meine Aufnahme in ein Taubstummeninstitut zu vermitteln. Davor bangte ich am meisten. Nicht allein aus Furcht vor Entdeckung meines Betruges; hauptsächlich, weil ich vernommen, daß die Taubstummen belehrt, unterrichtet, zu regelmäßiger Beschäftigung angehalten würden. Lieber wollte ich Hitze und Kälte, Hunger und Durst erdulden, lieber in feuchten Löchern übernachten. Doch diese Entbehrungen kamen nicht so häufig vor, als man denken sollte. Fast in allen Ländern, die ich durchstreifte – und ich habe mich binnen fünfzehn Jahren weit herumgetrieben, wie begreiflich – fand ich Schutz, Nahrung, Obdach. Aufgegriffen wurd' ich sehr häufig, doch fast jedesmal wieder entlassen, weil die kleinen Dorfbehörden froh waren, wenn sie einer Last ledig wurden, die sie nirgend unterzubringen wußten. Wo sie's aber genauer nahmen und mich nach einer Stadt abliefern wollten, entsprang ich unterwegs, nachdem ich meinen Begleitern Vertrauen eingeflößt und mich schwachsinnig gestellt hatte. Wo ich überall gewesen, wie weit ich mich herumgebettelt habe, das müßt' ich heute lügen, wenn ich es genau beschreiben sollte. Eben so wenig bin ich mit der Zeit und mit meinem Lebensalter ganz im Klaren. So viel ist mir bekannt, daß im vorletzten Sommer etwa vierzehn Jahre seit meiner Flucht verstrichen waren; denn ich hab' ein Zeitungsblatt am Wege aufgelesen, wo Hühnerknochen hineingewickelt waren, welche Reisende aus dem Postwagen warfen. Und da stand's gedruckt – dazumal hatte ich noch Augen im Kopfe – ich sei verschollen, und das Gericht fordre mich auf, zu erklären, daß ich wirklich todt sei. Ich dächte, so hätt' es geheißen. Mußt' ich doch lachen!

Wie sie mich hier am Orte erwischt haben, das brauch' ich dem gestrengen Herrn nicht zu erzählen. Da es gerade Winter war und die Behandlung beiden alten Hiobs im Kreisgefängnisse recht leidlich, so ließ ich mir's gefallen. Zum Frühjahr, wo ich dann in's Correctionshaus transportirt wurde, hätt' ich dem Tobias zwanzigmal entwischen können; that's aber nicht, weil ich die Krankheit in den Augen schon spürte und wollte mich erst auscuriren lassen. Denn zum Landstreichen muß Einer gut sehen, sonst ist's verspielt. Wie ich das Stadtthor von Bergitz ansichtig ward, kriegt' ich Angst vor der Arbeit, Da war's zu spät, und ich verfing mich in Stacketen. Nun kam die schwere Zeit. Sie wollten mich mit Gewalt fleißig machen. Brachten's doch nicht dazu samm allem Drohen, allen Fasttagen und Schlägen. Der Augenschmerz befreite mich von der Schinderei, darum ertrug ich ihn leichter. Nach und nach, wie er zunahm, und wie der Doctor zwar merken ließ, er würde mir vielleicht helfen können, wenn ich nicht taubstumm wäre; wie aber der Inspector hinwiederum meinte: jetzt zeigt sich's, daß wir ihm Unrecht thaten, – da that ich mir Gewalt an, mocht' es bohren, brennen, stechen wie Gift und Feuer. Die egyptische Krankheit nannten sie's. Ich dachte an die egyptische Finsterniß und tröstete mich mit dem Gedanken: bin ich erst recht blind, da muß ordentlich für mich gesorgt werden, und kein Teufel kann mich mehr zur Arbeit zwingen. Und mitten in meinen Martern lachte ich den Inspektor aus, weil ich ihn für einen Narren hielt, und er mich für einen Taubstummen. Also wär' es auch verblieben. Nicht zehn Pferde hätten ein Wort aus meinem Munde gezogen. Da mußte sich's schicken, daß ich zum heiligen Abende bei Hiobs wieder eintraf. Mußte den Jubel der Kinder durch die Wand hören, wie sie bliesen auf kleinen Trompeten. Das schnitt mir durch Mark und Bein, that mir weh und wohl, daß ich gerne geweint hätte; die Thränen wären auch vorhanden gewesen, kamen aber nicht heraus, denn warum, es sind ja keine Augen mehr da. Es zog mich vom Lager auf, zog mich mit Gewalt unter die Leute. Wußte ich selbst nicht, was ich da wollte; konnte doch nicht zurückbleiben. Noch stritt es in mir, Rührung und Zorn. Wie sie sich vor mir entsetzten und die Kinder schrieen, hätte ich am liebsten unter sie geschlagen. Hernach brachten sie mir Geschenke: den Pfefferkuchen, den Wachsstock; da wurd' ich schon weich. Wie ich aber die Aepfel in meiner Hand fühlte ... Herr Landrath, der Mensch ist ein curioses Ding. Er kann so viel ausstehen und erdulden; was ich ausgestanden habe, bis die Augen aus diesen zwei Höhlen herausgeflossen sind, das geht nicht auf alles Papier, was in Ihrer Kanzlei liegt! Und habe nur gewimmert, nicht eine Silbe geredet; bin stumm geblieben, sogar im Schlafe, wenn ich manchmal ein paar Minuten schlief. Na, sehen Sie, das hab' ich ausgehalten. Und den Geruch von zwei Aepfeln hab' ich nicht ausgehalten. Denn es war mir, als ob ich die Mutter sprechen hörte. Und ich hätte nicht länger bei der Lüge verharren können, um aller Welt Wunder nicht. Sonst hab' ich wohl Nichts mehr zu Protokolle zu geben?

Letztes Kapitel.

Das letzte Kapitel wird sehr kurz ausfallen. Gestützt auf Stephan's Angaben, konnten sogleich die nöthigen Nachforschungen in seiner Heimath angestellt werden. Diese führten zu sehr befriedigenden Ergebnissen. Seine Stiefmutter war langst gestorben. Sein Vater, früh zum Greise geworden, hatte sich vom Geschäfte zurückgezogen, und Adolar, der Halbbruder, führte es unter der väterlichen Firma, die nur den Namen hergab, weil der Sohn noch nicht volljährig war. Den amtlichen Ausweisen lag ein offenes Schreiben des jungen Mannes bei, welches der Landrath dem blinden Stephan in Gegenwart sämmtlicher Hiob'schen vorlas:

Mein lieber Bruder! Du bist sehr unglücklich geworden, und ich frage nicht darnach, ob durch Deine Schuld. Ich halte mich nur an die Dankbarkeit, die in meiner Seele nicht erloschen ist, für alle Liebesdienste, die Du mir einst erwiesen; für alle Geduld und Treue, die Du für Deiner Stiefmutter kleinen ungezogenen Sohn gehabt. Ich bin jetzt der Herr. Sie ist todt. Unser Vater lebt – doch vielleicht hilfloser, gewiß schwächer, geistig unfähiger als Du. Für ihn ist Gegenwart und Vergangenheit ein leerer Raum. Nur ein Fünkchen glimmt noch lebendig in dieser Asche, und dies regt sich und flammt empor, sobald der Name Stephan genannt wird. Oftmals hab' ich ihn in seinen verwirrten Selbstgesprächen klagen hören: Wenn doch nur der Stephan da wäre, daß ich mit ihm von seiner Mutter reden könnte. Gewiß ist er schon bei ihr! Und sie führen Klage über mich im Himmel, wo sie sind!? Aus diesen und ähnlichen verlorenen Aeußerungen, die mir jedesmal einen Stich in's Herz geben, kannst Du entnehmen, wie groß mein Bedürfniß wurde, nach meinen Kräften Dir Gutes zu erweisen und den traurigen Umständen gerecht zu werden, die mich in den Besitz Deines Vermögens brachten. Denn Dir gehört, streng genommen, was wir haben, wenn auch nicht mehr vor dem Gesetze (welches schlau genug umgangen wurde), doch vor meinem Gewissen. Urtheile daraus, wie gern ich Dich in Deines, in unseres Vaters Hauses empfangen werde! Welchen Trost Deine Gegenwart ihm, dem alten kindischen Manne bereiten kann! Du wirst bei ihm sitzen und ihm vorplaudern. Du wirst ihn so wenig sehen, als er Dich, denn seiner Augen Licht ist auch vergangen. Aber seinen Händedruck wirst Du fühlen, wenn Du ihm sagst, daß Du bereutest und abbüßtest, was Du Sträfliches gethan; und er wird Dir dagegen sagen, wie er sich darnach sehnte, in Deinen Armen zu sterben. So komme denn hierher, seinen Wunsch zu erfüllen und dann bei mir zu leben, nicht wie der verlorene Sohn des Hauses, sondern wie der ehemalige Pfleger und Wärter meiner Kindheit und wie der gegenwärtige Pfleger unsers kindisch gewordenen Vaters. Es soll Dir an Nichts fehlen; wenigstens an der Liebe nicht, die Du seit Deiner Mutter Tode entbehren mußtest. Für Deine bequeme Reise hierher ist Sorge getragen. Es erwartet Dich Dein Bruder.

Nachdem Stephan den Inhalt dieses Briefes vernommen, warf er sich auf die Kniee, faltete die Hände und ließ den Kopf sinken. Niemand störte ihn. Dann erhob er sich, suchte den Weg nach seiner Zelle, brachte die beiden Aepfel hervor, die er dort aufbewahrt, und bat Frau Lucretia, diese Früchte zu zerschneiden in so viele Theile, daß jeder Anwesende ein Stückchen erhalte, auch der Herr Landrath. Er selbst nahm auch eines, und eh' er es verzehrte, sprach er: Als Liebesmahl, zur Erinnerung an meiner Mutter Segen.

Junge, sagte Tobias zu seinem Knaben, bewahre die Kerne von den Aepfeln auf, die wollen wir in die Erde stecken, da müssen rare Bäume daraus wachsen.

 

Ende.


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