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Das furchtbare des Älterwerdens liegt darin begründet: Gefahren und Lüste erweisen sich geringfügiger als man sie eingeschätzt hat, und geringfügige Widrigkeiten recken sich zu einer Höhe, die ihnen nicht zukommt; das Nachlassen der gewaltigen Geräusche verhilft den unwesentlichen zu peinlicher Gewalt. Weil das Gute, das man sich wünschte, nimmer eintreffen mochte, ruft ein letzter müder Wunsch das Schlimme herbei, es trifft unfehlbar ein. Sollen hier all die äußeren Schickungen aufgezählt werden, die um die Lebenswende sich einstellten, Tag und Nacht zu verbittern? Ihr Erdulden, ihre Bekämpfung verrichtete das nämliche Werk. Um »den Wurm zu töten, der nicht sterben will«, langt die Hand krampfhaft nach der Fiole, dem Dawamesk; Haschisch, Opium heben die Schwerkraft für Augenblicke auf, lösen leise, ohne Klirren, ohne die verwundeten Gelenke zu reizen, die Ketten; der tiefen Betäubung folgt ein tieferes Erschrecken, wenn die Augen sich öffnen und nach den übersinnlichen Sonnen das graue Licht, das durch schmutzige Fensterscheiben sickert, das Auge beleidigt. Der ganze Willen strömt zusammen, es gilt sich aufzuraffen aus der Lähmung; wozu? Der Mann mit dem Schuldschein pocht an die Türe. Entrinnen! Die Angst jagt durch die Gassen; das aufgeregte Herz pocht, als sollte Schönheit geboren werden, aber das Blut ahmt nur das Pochen daheim an der Türe nach. Gehetzt, auf der Flucht vor niedrigen, quälenden Ängsten arbeitet das Gehirn fieberhaft; das Theater ist der Ort, an dem Geld verdient wird, Pläne um Pläne werden entworfen; das Szenarium eines Dramas: »Le Marquis des l er Houzards« ist fertiggestellt, es bestätigt den Ausspruch Baudelaires, daß das Theater für ihn von Kindheit an nur eines Dinges wegen Reiz hatte: des Kronleuchters, des schönen, glitzernden Kronleuchters wegen! Ein andres soll einem beliebten Komödianten »auf den Leib geschrieben« werden: »L'ivrogne« ein Schauerstück im Stil des heutigen Ambigu, mit Mord, Trunksucht, sentimentalen Effekten, einer Reporternemesis – ein Lied daraus ist schon beendet, ein Lied von 12 Strophen, der Held, ein Brettschneider, wird es singen:
»Rien n'est aussi-z-aimable,
Fanfru-cancru-lon-la-lahira,
Rien n'est aussi-z-aimable
Que les scieurs de long.«
Auf der Kante eines Wirtshaustisches werden fantastische Überschläge gemacht: so viele Menschen faßt das Theater de la Gaité, gewiegte Kenner des Geschmackes der Menge prophezeien dem Werk so viele Aufführungen, der Gewinn... Mit Baudelaire zu verkehren, wird täglich schwieriger; die Bedrängnisse, in deren Mitte er lebt, die ewigen Plackereien mit den Hotelleuten, denen eine unbezahlte Rechnung das Recht zu Vertraulichkeiten gibt, das Aneinandergekettetsein mit der Mulattin, die ihrem Mangel durch Streifzüge in den Straßen abhilft, die konstante Wut, dem »General« zugekehrt, entwickeln einen Zustand der Irritation, einen Cynismus des Ausdrucks, der die Freunde bestimmt, von Baudelaire abzufallen, die Bekannten, die man nur mit Handschuhen anfassen mag, zu näherer Intimität ermutigt. Einem Selbstmordversuch, der sich in komödiantenhafter Weise abspielt, werden Motive der Erpressung unterschoben; Baudelaire erspart sich die Farce einer Kandidatur für den freigewordenen Sitz des Père Lacordaire im Institut ebensowenig wie die Demütigungen, die ihm die Bittbesuche bei den Akademikern eintragen; der Prozeß, der gegen die »Fleurs du mal« angestrengt wird und mit der Verurteilung des Dichters und seines Verlegers Poulet-Malassis endet, trägt Baudelaire wohl einige wertvolle Würdigungen ein, aber auch das Mißtrauen des Publikums, die Furcht der Redakteure, die seine Artikel nicht mehr drucken, den Haß der Kanaille. Zudem unterdrückt, durchkreuzt eine unselige, nur zu leicht erklärliche Hast fortwährend jeden Anlauf zur Arbeit, jedes schüchterne Aufkeimen der Arbeitslust. Könnte er doch seinen launigen Rat aus früheren Jahren befolgen: »à chaque lettre de créancier, écrivez 50 lignes sur un sujet extra-terrestre et vous serez sauvés!« Jetzt schreibt er in sein Tagebuch: »Perdu dans ce vilain monde, coudoyé par les foules, je suis comme un homme lassé dont l'oeil ne voit en arrière, dans les années profondes, que désabusement et amertume, et devant lui qu' un orage ou rien de neuf n'est contenu, ni enseignement, ni douleur.« Und aus solchen Momenten der stumpfen Trostlosigkeit reißt ihn plötzlich eine große, grausame, schweifende Neugierde heraus; durch Paris, das er liebt, wie der Dichter seine Vaterstadt, das er haßt, wie der Sträfling seine Galeere, durch diese wundersame Stadt, in der alle Straßen zu einem Stern führen, deren Hauch die Wange umfächeln kann wie der Atem eines geliebten Weibes, durch diese Stadt des Glanzes, der Freude, der Not und des Verbrechens führt er sein reduziertes, schäbiges Äußere herum, daraus Elend, Verzweiflung und die Lust an der Selbstzerstörung grinsen. Die Dirnen in den Tanzlokalen hält er an, um sie nach ihrem Lieblingsdichter zu befragen, und antwortet mit einer Unflätigkeit, wenn ihm erwidert wird, es sei Alfred de Musset. Bei den großen Festen, wenn alles auf den Boulevards, den Carrefours, in Licht und Musik tollt, sucht er gern die kleinen, engen Gäßchen auf, sieht nach dem einzigen, mattbeleuchteten Mansardenfenster hinauf, weiß es: dort lebt auch einer, dem das Schicksal die schwere Hand auf die Schulter gelegt hat. Absonderlichen Menschen, kaum mehr dieser Welt entsprossen, Geschöpfen aus Nacht und Wahn geboren, phantomähnlichen kleinen Greisinnen, die mit uralten, zerschlissenen Reticules am Arm vor den Militärmusiken auf den Promenaden sitzen, folgt er verstohlen, um zu sehn, wo sie bleiben, den elenden garstigen Blinden, die durch eine unwahre Welt gehen, sieht er voll Neid in die ausgeronnenen Augenhöhlen, in Bordellen, den Kneipen der Zuhälter, den letzten verschämtesten Spielhöllen, wo alte, verfallene Menschenruinen, zuckend vor Angst, Schwäche und Gier zugleich mit der kleinen Goldmünze die letzte zusammengescharrte Hoffnung aufs fettige grüne Tuch schieben, kann man ihn, bei der Tür, wie einen Bettler abseits stehn sehen, kann man die Klage aus seinen Augen lesen:
Et mon coeur s'effraya d'envier maint pauvre homme,
Courant avec ferveur à l'abîme béant,
Et qui, soûl de son sang, préférerait en somme
La douleur à la mort et l'enfer au néant!«
Diese Note macht den tiefen Reiz der »Petits poêmes en prose« aus, dieser Sammlung feinziselierter Skizzen, die ursprünglich den Namen »le Spleen de Paris« erhalten sollte. Bilder wahren und erträumten Lebens sind hier mit der ganzen Wucht des Realisten geschaut und durch einen gesteigerten rhythmischen und musikalischen Ausdruck emporgehoben zu einer Art inneren Plastik, die das Gegenständliche aufhebt und dafür die seelische Quintessenz vermittelt. Hierin unterscheiden sich diese kleinen Dichtungen auch von ihrem Vorbild, dem »Gaspard de la Nuit« des Dijoner Mystikers Bertrand, sie sind Pastelle, zu Holzschnitten gehalten, entsprechend dem lebendigeren Zeitkolorit gegenüber den starreren Umrissen einer gespenstischen Gotik. Nicht umsonst wählte Baudelaire die freiere Form für den Komplex der Stimmungen, welche den Stoffen der »Petits poêmes« zu Grunde liegen: die Melancholie, von der sie durchtränkt sind, macht ihr bestes Teil aus, und von keinem Gebot der Prägnanz beengt, kann sie sich leichter entfalten, schwebt, schillernd leicht und doch eindringlich, wie eine opalne Wolke über Realität und Traum.
Ähnliches darf von den Essays gesagt sein, in denen Baudelaire sich mit seinen Lieblingen Poe, Wagner, Quincey befaßt; der Essay, der die Übersetzungen aus Poe einleitet, der Essay über Wagner, die »Paradis artificiels« erheben sich stellenweise zu einem wehmütigen, betörenden Gesang, der die Form der Abhandlung zerbricht, aus ihr etwas Kostbareres macht, ein edles Bekenntnis, eine brüderliche Hymne. Denn Poe, Wagner, Quincey, sie bilden die wirkliche Familie Baudelaires; Gautier, Delacroix sind siegreiche Heroen, Guys der ironische Dandy, der sich in kühler Sicherheit in der zweckdienlichsten Distanz zu verhalten weiß, jene drei aber sind Unterlegene, Unterliegende, Beleidigte, Rebellen, Brüder durch das Schicksal, das ihnen die Last eines Daseins von ähnlicher Grausamkeit auferlegte.
»Ruines! ma famille! ô cerveaux congénéres!«
Aber Baudelaire findet in ihnen mehr als den Spiegel seines eigenen Schicksals. So viele feine Fäden sich von ihrem Leben zum seinen, von ihrer Artung an die seine herüberknüpfen, in ihnen findet er sich doch größer wieder, universeller, reiner, verklärt. In höherem Maße als ihm ist ihnen die göttliche Spannkraft gegeben, die hoch aus den Miasmen des beengenden Hieniedens emporreißt zu den Höhen, in denen es sich atmen läßt. Die Beschäftigung mit dem Werke dieser drei ermöglicht Baudelaire, sich mit dem Leben und den höheren Mitteln, die es zu seiner eignen Bekämpfung an die Hand gibt, auseinanderzusetzen.
Überall das gleiche Ringen mit der Feindseligkeit des Außen, der gleiche unausgesetzte Kampf mit dem unerklärlichen inneren Feind. Das Suchen, aber auch das Finden, Ausfindigmachen des Punktes außerhalb dieser Welt, welche zu verstehen nicht möglich ist, welche zu verstehn sich's wahrscheinlich nicht verlohnt, welcher aber beizukommen ist von jenem Punkte. Bei Poe ist's der mathematische Sieg über die Materie; dieser erschafft eine Welt für sich, eine Welt, deren Gesetze ihm allein bekannt sind, in der er selbst Fatum, Gehirn, lieben Gott spielen kann, eine Welt, die er sorgfältig mit all den rüden Brutalitäten der bestehenden ausstattet, gleichsam legitimiert, damit die Mitmenschen seinen Sieg umso tiefer zu erkennen vermöchten; andrerseits haucht er Wesen Leben ein, die wie von einem anderen, lichteren Planeten herzukommen scheinen, sich nach der Logik andrer atmosphärischen Verhältnisse bewegen, bei denen die Seele mehr vom Körper aufgebraucht hat, als die irdischen Bedürfnisse des Mitmenschen je begreifen werden. Die Rache des gegenwärtigen Lebens an jenen, die sich ihm in freventlicher Überhebung zu entziehn suchen, kommt in Poes Existenz in ungewöhnlicher Härte zum Ausdruck, allein neben diesen bestanden noch geheimnisvollere Zusammenhänge die Poe Baudelaire vor allem wert machten – so berichtet er staunend, fast grausend, daß er in Jahren, da er von Poe noch nichts ahnte, Pläne gefaßt hat, die er später Wort für Wort ausgeführt in seinem Werke wiederfand. – Auch Wagner's Tannhäuser zwischen Wartburg und Venusberg schlug auf Baudelaire mit der Wucht des Erlebnisses nieder. Das metaphysische Durchdringen der Sage mittels der Musik, die Gewalt Wagners, für übersinnliche Vorgänge Rhythmen zu schaffen, die packen und bezwingen wie ungewisse, doch insgeheim bewußte Schwingungen aus einem andern Leben, der Flügelschlag der Entführung, Erhebung, des Entzückens, der in dieser Musik bebt, sie wurden für Baudelaire, was sie nach ihm so vielen der Besten, am Leben Leidenden, nach Erlösung Weinenden, unheilbar an dem Versagen der Vollendung Krankenden geworden sind. Am 16. 2. 1860 schreibt Baudelaire an seinen Freund Poulet-Malassis: »ça a été, cette musique, une des grandes jouissances de ma vie; il y a bien 15 ans, que je n'ai senti pareil enlèvement«; und die Worte, die er beim Anhören des Lohengrinvorspiels niederschreibt, sind hell und unirdisch in Wahrheit wie das Schweben der Taube über dem Leuchten des Grals. – Aber man muß auch die Worte lesen, die Baudelaire unter dem Eindrucke des schmählichen Abenteuers hinwirft, das die »große Welt« von Paris dem »Tannhäuser« in der Oper bereitete. Ebenbürtige Worte des Zornes, welche anzeigen, wie tief Baudelaire selbst an den eigenen Nerven die Ohnmacht des Ankämpfens wider die undurchdringbare Ignoranz, den Haß und das instinktive Mißtraun der »Gebildeten« erfahren hatte, wie sicher er auch den endlichen Triumph dieser Musik voraussah, die Apotheose von Wagners Genius und des eignen, wesensverwandten. –
Nur wie ganz ferne, verwehte Akkorde tönen die Eindrücke des wirklichen Daseins in die »Paradis artificiels« herüber. Sogar die harte, elementare Tragik der Jugendzeit de Quinceys fällt, wie durch ein magisches Prisma in Milde und Verklärung aufgelöst, in diese Welt der Klarheit, Entrücktheit herein. Ann, die kleine Dirne aus Oxfordstreet, die guten Geschwister von Llan-y-Stindwr, der sonderbare Malaye, wer könnte sie noch unterscheiden von Levana, Unsern lieben Frauen von der Traurigkeit, wer könnte behaupten, der spiegelbesetzte Salon im Hotel de Pimodan, darin Baudelaire in den Freuden des Haschisch unterwiesen wurde, deren begeisterter Künder er wurde, besäße mehr Realität, sei faßbarer als jene stillschweigende, mit Türmen, Glocken und Palästen in die Wälder der Tiefsee versenkte Stadt Savannah-la-Mar? Hier ist das Reich, die Pforte des Reiches gefunden, darin nicht Kampf noch Taumel sondern Gewähren herrscht, das Kief des Orientalen ist die Sonne der Emporgehobenen, die dem Grab den Frieden, dem Himmel die Seligkeit vorwegnahmen. Hier darf die vom Irdischen gereinigte Seele der unerhörten Ausdehnung, dem ungemessenen Wachstum ihrer Kräfte beiwohnen; die Logik der Außenwelt gleitet in eine hohe, rhapsodische Eigenwillkür über; nicht wie der Schlaf, verwischt die lösende Kraft des Opiums, des Haschisch die Eindrücke des noch wachenden Gehirns, sondern nimmt sie auf, steigert sie zu fantastischen Proportionen; in dem Willen, der im Schlaf unterliegt, beginnt der Same der Erfüllung zu wirken, die Hoffnungen schießen empor zur Reife, in den erlahmten Kräften erbrausen unerhörte Ströme von Gewalt, und ein Wort, der Klangfall eines Wortes wie de Quinceys »Consul Romanus« vermag die Einbildungskraft derart anzuspornen, daß der Mensch, der vor Sekunden noch gebrochen, verzweifelt den Kopf in den Händen vergrub, jetzt an der Spitze klirrender Kohorten, die Croupe seines Rosses mit der flachen Klinge bearbeitend, siegreich über blutige Ebenen fliegt.
Was kann der Begehr des Menschen noch sein im wirklichen Leben, in das er zurückfällt aus solchen, durch den eigenen Willen geborenen Ekstasen? »Chantre des voluptés folles du vin et de l'opium«, (heißt es im unveröffentlichten Vorwort zur II. Ausgabe der »Fleurs«,) »je n'ai soif que d'une liqueur inconnue sur la terre, et que la pharmaceutique céleste elle-même ne pourrait pas m'offrir; d'une liqueur qui ne contiendrait ni la vitalité, ni la mort, ni l'excitation, ni le néant. Ne rien savoir, ne rien enseigner, ne rien vouloir, ne rien sentir, dormir et encore dormir, tel est aujourdhui mon unique voeu.«
Und sein überdrußkrankes Herz, das auf die Frage: armes Herz, wo ist deine Heimat? keine Antwort mehr weiß, als: gleichviel, gleichviel wo, anywhere out of the world! formt sich aus jenen wunderbaren Welten des Traumes ein Reich, aus dem alles verbannt ist, was an Werden, Wachsen, Vergehen gemahnen könnte, an Kampf, Anstrengung, Unterliegen, an Sieg des Starken über den Schwachen, an Vergeltung und Gerechtigkeit; ein Reich, in dem es nicht Menschen, noch Tiere, noch Pflanzen gibt, niemand der sich sehnt, niemand den die Liebe schüttelt; kein Laut lebt da, keine Sonne; das Metall, der Marmor, die Flut herrschen, kristallne Katarakte gleiten über köstliche Steine hinweg, alles hat sein Licht aus sich selber heraus, und wie die große Harmonie der Sphären, von der die Alten ehrfürchtig berichten, schwebt über diesem Reich allein ein ewiges, uferloses Schweigen.