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Kultur ohne Betäubung.

Die Alkoholenthaltsamkeit ist keine gesundheitliche Maßregel oder ist es wenigstens nicht allein und in erster Reihe; sie ist vielmehr der wesentliche Teil einer Welt- und Lebensanschauung: nur als solche darf sie gewertet und beurteilt werden.

Selbstische Rücksichten können wohl mitsprechen, dürfen aber keineswegs vorherrschend oder ausschlaggebend sein; wer nur deshalb nicht trinkt, weil er Wein und Bier wegen Schwäche seines Magens nicht verträgt oder sich vor dem Katzenjammer am nächsten Morgen fürchtet, dabei aber die anderen beneidet, die ihrer Lust fröhnen können, die Gefahren der Trinksitten nicht erkennt und nicht bekämpft, der wird in den Reihen der Abstinenten nur ungern gesehen und geduldet. Ängstliche und eigensüchtige Menschen sind da nicht zu brauchen; über derartige kleinliche Denkart muß man sich erheben, will man am großen Werke mitarbeiten, dem Menschengeschlechts ein schöneres Dasein zu bereiten.

Der Teil einer Lebensanschauung, darauf muß Gewicht gelegt werden, nicht etwa sie selbst. Die Abstinenz ist kein Ideal, kann keines sein, weil sie etwas Aufhebendes und daher an sich Ungenügendes ist. Der Mensch, der nichts trinkt, kann dabei, das bedarf wohl nicht erst der Betonung, ein ganz minderwertiger, verächtlicher Geselle sein; und wir können uns vorstellen, daß auch ein die Rauschgetränke in Acht und Bann legendes Volk auf tiefer gesellschaftlicher und sittlicher Stufe steht. Darum schätzen und pflegen die überzeugten Abstinenten die Ausrottung der Trinksitte nur insofern, als sie in ihr die notwendige Vorbedingung zu einem dem heutigen Kulturstande weit überlegenen Entwicklungsgrad sehen.

Noch ein anderer weit verbreiteter und von den Feinden der Abstinenzbewegung zum Schaden und zum Spotte immer aufs neue wiederholter Irrtum bedarf der Richtigstellung. Kein denkender Anhänger der Enthaltsamkeitsidee wird in der Trinksitte die einzige Ursache alles Leides und Unheils erblicken, wie dies so oft behauptet wird. Die Zahl dieser Ursachen ist groß, es gibt viele darunter, die ebenso verbreitet, eingewurzelt und gefährlich sind wie der Genuß der betäubenden Gifte; ich zweifle nicht daran, ebenso wenig tun es die Gesinnungsgenossen. Wir müßten blind sein oder für die gesellschaftliche Entwicklung nicht das mindeste Verständnis haben, wenn wir das leugnen oder verkennen wollten.

Aber diese Einsicht kann an der Unanfechtbarkeit unserer Grundsätze nicht das mindeste ändern. Mag die Zahl der zu bekämpfenden Übelstände noch so groß sein; sicher ist, daß kein einziger von ihnen auszurotten sein wird, so lange die Trinksitte herrscht und die Rauschgetränke ihren verderblichen Einfluß auf Körper, Geist und Charakter der Einzelnen und Völker ausüben können. Wird der Umsturz des Bestehenden in vielen Beziehungen tiefgreifendste Änderung der sozialen Grundsätze des Besitzes, Gütertausches, Unterrichtes, der Lebensweise und der sittlichen Überzeugungen sich vollziehen müssen, bevor das heißersehnte Ziel der Höchstkultur Aller erreicht werden kann, Bedingung für diese Erneuerung des Völkerlebens ist das Erwachen aus dem künstlichen Behagen der alkoholischen Anheiterung, die vollste Klarheit und Reinheit des Denkens und Fühlens. So lange die Gehirne und die Keimzellen planmäßig vergiftet und verdorben werden und die Herrschaft über die Massen denen zufällt, die sich durch Schlauheit und Verführung der widerstandslosen Opfer des Trunkes und der entnervten Nachkommen der Trinker zu bemächtigen verstehen, kann und wird es nicht anders und nicht besser werden.

Die Abstinenten sind gewiß die letzten, die den maßgebenden Einfluß der Wirtschaftsordnung, der materiellen Verhältnisse, des Erwerbslebens auf die körperliche und geistige Entwicklung der Völker übersehen oder in seiner Bedeutung herabsetzen; gesellschaftliche Entwicklung ist darum nach ihrem Dafürhalten eine selbstverständliche Bedingung für die Aufwärtsbewegung des Menschentums. Aber sie sehen ein und werden nicht müde, es immer wieder allen Kämpfern für sozialen Fortschritt vor Augen zu führen, daß gerade er durch nichts so gehemmt und verzögert, ja geradezu unmöglich gemacht, in sein Gegenteil, in sozialen Rückschritt umgewandelt wird wie durch die Alkoholisierung der Völker. Die Trinksitte ist der beste und verläßlichste Bundesgenosse aller jener Elemente, die aus Eigeninteresse und Klassenrücksichten den Aufstieg der Unterdrückten aufzuhalten suchen.

Warum? Weil es ein folgenschwerer Irrtum ist, die innere Befreiung der Menschen, ihre sittliche Neugeburt, den Aufstieg zu jener Vollkommenheit des Lebens und der Seele, die wir als Vorbedingung für wahres menschliches Glück betrachten müssen, von der Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse allein zu erwarten und der Entartung, dem sittlichen, geistigen und körperlichen Verfalle freien Lauf zu lassen in der falschen Hoffnung, all das werde durch den sozialen Umschwung von selbst sich zum Guten wenden. Welch verhängnisvolle Täuschung! Diese verdorbenen Menschen werden den Weg zum erhofften Paradiese niemals finden, weil sie in ihrem dumpfen Behagen, in der Zufriedenheit der Alkoholbetäubung des mühevollen Suchens bald überdrüssig werden, sie können diesen Weg nicht gehen, weil er steinig und steil und ermüdend ist, ihre geschwächten Glieder, ihr siech gewordener Wille, ihre irregeleitete Einbildungskraft zu solcher gewaltiger Anstrengung aber unbrauchbar geworden ist. Selbst wenn sie aber allen diesen Hemmnissen zum Trotze das Ziel doch erreichen sollten, würden sie es nicht zu behaupten vermögen und von den nimmer rastenden Feinden alsbald wieder aus dem gelobten Lande verjagt werden, in dem nur ganze und wahre Menschen die großen Anforderungen zu erfüllen imstande sein werden, die Vorbedingung eines glücklichen Daseins sind; sonst wird es ein Jammertal wie das Leben der großen Masse der heute lebenden Menschen es leider ist.

Stark, schön und gut müssen die kommenden Geschlechter darum werden, nicht vielleicht wie »in früheren Zeiten«, von denen so viel gefabelt wird, nein, sondern wie es die Menschen noch niemals waren. Nicht nach rückwärts darf unser Blick gerichtet sein, sondern nach vorwärts müssen wir schauen. Die Lebensanschauung der Abstinenten ist eine hoffnungsfrohe und lebensbejahende im weitesten Sinne des Wortes; nur wer gleich ihnen an eine herrliche Zukunft der Menschheit glaubt, nie und nimmer an der einstmaligen Überwindung des Bösen und Häßlichen zweifelt, das ungeheuere Ringen nach dem Siege über die Schwächen und Gebrechen mit Ehrfurcht schaut und seine ganzen Kräfte einsetzt, um mitzukämpfen und den Sturz der Feinde zu beschleunigen, wird den Sinn und die Bedeutung der Enthaltsamkeit fassen. Wer aber glaubt, daß die Menschheit sich niemals aus den Niederungen erheben wird, in denen sie seit Jahrtausenden wandert, daß alle Anstrengungen und Mühe umsonst ist, der Aufstieg doch wieder mit einem Sturze endigt und die Hoffnung; auf »bessere Zeiten« zum Schlusse genarrt und geäfft werden wird, der freilich soll seinem Schoppen ja nur treu bleiben, denn für ihn muß der Kampf gegen die Rauschgetränke, so wie ihn die Vertreter der Enthaltsamkeitsidee verstehen, ein zweckloses Treiben sein. Welchen Sinn hätte es auch, die eine Krankheit zu heilen, wenn man der festen Überzeugung ist, daß an ihre Stelle sofort wieder eine andere treten wird! Dann ist es freilich vernünftiger, symptomatische Heilmittel anzuwenden, die ärgsten Leiden zu mildern, die Betrunkenen einzusperren, gegen den Branntwein zu predigen, die Biersteuern zu erhöhen und selbst zwar Mitglied irgend eines Vereins gegen das Übermaß zu werden, dabei aber seine Flasche ungestört zu leeren. Wenn die Enthaltsamkeit weiter keinen Zweck hat als den, daß nicht mehr getrunken wird, dabei aber sonst alles hübsch beim alten bleibt, dann wahrlich lohnt es sich nicht, gegen den Strom zu schwimmen, ungeheuere Arbeit und Mittel zu verschwenden, sich mit Brauern und ihren Soldschreibern in manchmal recht üble Gefechte einzulassen.

Wo sind die Kleinmütigen, die so düster und bemitleidenswert vom Leben denken? Sie irren, sie müssen irren! Die Bahn der Menschheit führt aufwärts, ihr Streben ist kein Wahn, ihr Hoffen wird in Erfüllung gehen.

Die Zeit wahrer Kultur wird kommen, jene ferne Zukunft, in der der Menschen Herz und Sinn reif geworden sein wird für die echten Genüsse und Freuden des Daseins, in den sie einsehen werden, daß Zufriedenheit und Freude unabhängig ist von wirtschaftlichen Umständen, von Besitz und Macht. Dann wird man die Gesundheit zu schätzen lernen, nicht nur die des Leibes, sondern auch die der Seele, man wird das Glück empfinden, das in der Herrschaft über sich selbst, über die geistigen Güter, über die Schönheiten der Natur und der Kunst liegt. Nicht Einzelne mehr wie in der Gegenwart werden zu diesem wahren Menschentum auserwählt sein, es wird zum gemeinsamen Besitze Aller, zu jenen Rechten gezählt werden, die mit dem Menschen geboren werden.

Wer kann auch nur an die Möglichkeit glauben, daß diese Kultur mit dem Genusse der Rauschgetränke verknüpft sein wird? Daß sie von Leuten errungen und bewahrt werden könnte, die sich beim Schoppen zufrieden fühlen, in der Erniedrigung der alkoholischen Betäubung Genuß suchen und finden, die Unlustgefühle des Daseins durch das betäubende Gift unterdrücken, ihre Willenskraft, ihren Charakter durch die Vergiftung der Gehirnzellen verderben, die wahre Genußfähigkeit durch die Gewöhnung an das allergemeinste Genußmittel untergraben? Da klafft ein Widerspruch, der unüberbrückbar ist. Dem Einzelnen vielleicht mag es gelingen, da kann besondere Kraft, ungewöhnliche Anlage über die verderblichen Wirkungen des Giftes Herr werden, Selbstbeherrschung, Erziehung auch das Schwerste möglich machen. Nicht so bei den Völkern; ein trinkendes Volk, in dem die Sitte mit all ihren Gefahren, Ausschreitungen, Verführungen und Zerstörungen herrscht, kann niemals allgemeiner Kultur teilhaftig werden, stets wird sich der Alkoholgenuß wie ein Bleigewicht seinem Ausstiege widersetzen. Die tausend- und abertausendfachen Beispiele dafür, daß der Trunk, sei er nun mäßig oder unmäßig, sich als Kulturhindernis allerersten Ranges zeigt, Roheit, Gemeinheit, Plattheit, Charakterlosigkeit, Schwäche, Krankheit und Entartung herbeiführt und Vergrößert und vermehrt, sprechen mit solcher Deutlichkeit, lassen sich so wenig widerlegen und entkräften, daß die Unanfechtbarkeit unseres Hauptgrundsatzes: »Die Trinksitte ist der Feind der Kultur, diese kann nur erreicht werden durch Ausrottung der Rauschgetränke«, nicht erschüttert werden kann. Darum muß jeder enthaltsam sein oder werden, der sich mitverantwortlich fühlt für das Wohl seiner Mitmenschen, sich der Pflicht bewußt ist, sein Leben und seine Handlungsweise so einzurichten, daß sie der Allgemeinheit nicht zum Anstoße, sondern zum Heile werde. Ob er selbst das gewohnte Glas verträgt oder nicht, ob es ihm schadet, ob ein paar Gramm Alkohol bei dieser oder jener Krankheit nützlich sind, ob die Leberschrumpfung etwas häufiger oder seltener bei den Säufern auftritt, all das hat mit der großen Frage nichts zu tun, ob der sittliche Mensch die Teilnahme an einer Sitte ablehnen muß, die so ungeheueres Elend erzeugt und mit echter Kultur unvereinbar ist.

Wer diese Frage bejaht und auf die Rauschgetränke verzichtet, nimmt wahrhaftig kein Opfer auf sich; frei zu sein von der Sucht nach Betäubung, um so viel reicher zu werden an Leistungsfähigkeit, Gesundheit und Genußfreude ist wahrlich vielfältiger Ersatz für das Behagen der Alkoholbetäubung, die nur dem unter der Herrschaft des Giftes Stehenden begehrenswert erscheint. Für den Einzelnen und für die Völker ist das Leben ohne Rauschgetränke schöner und wertvoller, der Verzicht auf sie öffnet den Weg zum Reinen und Großen. Darum schreitet die Enthaltsamkeitsbewegung ihre siegreiche Bahn dahin, mehren sich ihre Anhänger von Tag zu Tag, geht die Trinksitte langsam zwar, aber sicher ihrem Untergänge entgegen. Alle aber, die mithelfen wollen, ihr Volk zu wahrem Glücke und zu wahrer Größe emporzuführen, mögen in die Reihen der Streiter gegen die Rauschgetränke treten. Dann werden sie gleich Helmut Harringa von sich sagen dürfen, daß sie Kämpfer sind im Heere des Lichtes.


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