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Alljährlich verwendet – richtiger wäre wohl gesagt, verschwendet – das deutsche Volk, soweit es im Reiche wohnt, einen Betrag von mehr als dreieinhalb Milliarden Mark, um sich in den Besitz des Rauschgiftes zu setzen; genau kann die Summe begreiflicher Weise nicht ermittelt werden, die Schätzungen schwanken zwischen dreieinhalb und beinahe vier Milliarden; aber nehmen wir auch die niedrigste Schätzung als richtig an, so ergibt sich immerhin eine so ungeheuerliche Vergeudung des Nationalvermögens und des Arbeitsertrages, daß schlimme Folgen schon wegen solch' unzweckmäßiger Wirtschaft eintreten müßten, selbst wenn die geistigen Getränke harmlose Genußmittel und nicht verwüstende Gifte wären. Kein Volk, und wäre es noch so reich, darf sich ungestraft den Aufwand gönnen, ungezählte Milliarden wegen eines zum mindesten unfruchtbaren Nervenkitzels wegzuwerfen.
Den von unglaublicher Rückständigkeit und volkswirtschaftlicher Verwirrtheit höchsten Grades zeugenden Einwand, das zur Anschaffung der geistigen Getränke ausgegebene Geld sei ja nicht verloren, sondern komme der Landwirtschaft, dem Gewerbe, dem Handel zu gute, noch dazu, wie gewöhnlich mit besonderem Schwunge betont wird, im Inlande, so daß heimischer Fleiß dadurch seinen Lohn finde und der Trunk gewissermaßen zu einer patriotischen Tugend vorrücke, während ja allerdings das Geld für Kaffee und Tabak zum großen Teile ins Ausland wandere, bedarf wohl kaum einer eingehenden Widerlegung. Längst ist die Meinung als verhängnisvoller Irrtum entlarvt, Erzeugung und Umsatz von Werten sei an sich, ohne Rücksicht auf deren vorteilhafte oder schädliche Wirkung auf Gesundheit, Entwicklung, Fortschritt und Zufriedenheit, nützlich und erstrebenswert, kein Zweifel besteht mehr darüber, daß nur solche Güter den Reichtum der Nation steigern und zum Wohle der Gesamtheit beitragen, die sich den sittlichen und kulturellen Grundsätzen der jeweiligen Entwicklungsstufe unterordnen. Erzeugung schädlicher Güter ist Arbeitsvergeudung; sie nehmen Kraft für sich in Anspruch, die zum Besten der Allgemeinheit anderen, nützlicheren Zwecken zugewendet werden sollte und auch würde, wenn das Bedürfnis nach dem gefährlichen Genußgifte nicht stärker wäre als das nach edleren und notwendigeren Bedarfsgütern.
Was würde geschehen, wenn im Deutschen Reiche die vierthalbtausend Millionen nicht auf Rauschgetränke ausgegeben würden? Gingen sie verloren? Würden sie nicht verdient, erarbeitet, wieder ausgegeben werden? Eines so sicher wie das andere! Nur würde dann mehr Fleisch (was allerdings nicht wünschenswert ist) oder Mehl oder Zucker, mehr Obst und Gemüse verzehrt werden; nur würde der eine sich besser kleiden, der andere netter wohnen, der dritte eine Reise mehr unternehmen, der vierte Bücher oder Bilder kaufen und ins Theater gehen, der fünfte seine Kinder mehr lernen lassen, der sechste endlich das erübrigte Geld in die Sparkasse legen, die es weiterborgt, damit Häuser gebaut, Gewerbe gegründet, öffentliche Unternehmungen durchgeführt werden können. Wer kann bezweifeln, daß die dreieinhalb Milliarden der Gesellschaft viel bessere Dienste leisten würden, wenn sie auf solche Weise verwendet würden als wenn sie versoffen werden?
Und da dann selbstverständlich mehr Maurer, Bäcker, Metzger, Buchhändler usw. Brot fänden, die Obst- und Gemüsegärten erweitert werden müßten, der Bauer bessere Absatzbedingungen für seinen Weizen fände, so würden alle jene Menschen, die jetzt von der Erzeugung und dem Vertriebe der geistigen Getränke leben, ebenso gute, ja voraussichtlich bessere Lebensbedingungen finden.
Noch aber haben wir bei dieser Betrachtung nicht in Erwägung gezogen, daß bei der Erzeugung der Rauschgetränke viele Millionen von echten, kostbaren Werten zerstört werden müssen. Viele tausend Zentner Zucker und Stärke, gute, echte Nahrungsmittel, werden von den Hefepilzen gefressen, die an ihre Stelle ein Gift setzen; dafür muß Brotgetreide aus dem Auslande eingeführt werden, um den Bedarf zu decken! Eine derart widersinnige Wirtschaft wird aber von den Verteidigern des Alkoholgenusses als geheiligt gepriesen, Andersdenkende müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, blühende Industrien dem Verderben preiszugeben und dadurch den Wohlstand und – was wiederum mit Nachdruck hervorgehoben wird – die Steuerkraft des Volkes zu bedrohen.
Diese letztgenannte Gefahr steigt besonders den Finanzministern zu Kopfe, die je länger je mehr die Trunksucht der Völker zum willkommenen Ausbeutungsobjekt machen; die Abgaben von Bier und Branntwein, die Erlaubnisgebühren der Schankstätten bilden in der ganzen Welt eine Säule der Voranschläge, kein Wunder daher, daß die Regierungen in ihrer ewigen Angst vor Betriebsabgängen bei dem Gedanken erzittern, der allgemeine Suff könne eine wenn auch noch so kärgliche Abnahme erfahren; denn das gibt dann gleich ein Millionenfehlbetrag. Die Kurzsichtigkeit dieser Gebahrung liegt auf der Hand; durch die Zerstörung nützlicher Nahrungsstoffe, die Herabsetzung der Arbeitskraft und des Arbeitsertrages der Nation durch ihre Alkoholisierung, durch die Vernichtung von Menschenleben, Familien und Gewerben, durch die Entziehung ungeheuerer Summen für andere, fruchttragende Zwecke, die das Steuererträgnis mehren würden, während es durch den Trunk herabgesetzt werden muß, entgehen der Staatskasse weit größere Beträge, als sie aus den berauschenden Getränken herauszupressen imstande ist. Eine Nation, die die Riesensummen ersparen oder auf fördernde Zwecke verwenden würde, die jetzt in Alkohol umgesetzt werden, würde die von Bier und Schnaps gelieferten Steuern mit größter Leichtigkeit aufbringen.
Damit noch nicht genug: die Ausgaben des Staates und der anderen gesellschaftlichen Organe, der Städte, Kreise usw., würden sehr wesentlich geringer werden, bezw. es könnte ein beträchtlicher Teil der jetzt auf ertragslose Lasten verwendeten Beträge anderen, nützlichen Zwecken zugewendet werden, wenn der Trunk seine Rolle ausgespielt hätte. Wer füllt die Irrenhäuser, deren gar nicht genug errichtet werden können? In den Männerabteilungen zu einem Drittel (gering gerechnet) die Opfer des eigenen oder des elterlichen Mißbrauchs. Für wen sind die Strafgerichte, die Gefängnisse, Zuchthäuser, Besserungs- und Zwangsarbeitsanstalten in erster Linie da? Die Statistik lehrt, daß von den allerhäufigsten Gesetzesverletzungen, den körperlichen und Sachbeschädigungen, Beleidigungen, Sittlichkeitsvergehen, Raufhändeln, Totschlägen bei weitem die meisten im Zustande der Berauschung oder von Alkoholkranken begangen werden, daß Bummler und Arbeitsscheue fast ausnahmslos unter der Geißel des Branntweins stehen oder von Trinkern abstammen und auch unter allen anderen Arten von Entarteten, Entgleisten und Herabgekommenen, die zu den Dieben, Fälschern, Spielern und Betrügern das größte Kontingent stellen, Trunksüchtige am häufigsten sind. Daß die Armenlasten zu zwei Dritteln etwa mittelbar oder unmittelbar gleichfalls auf den Trunk zurückzuführen sind, bezweifelt kein Einsichtiger; die Witwen und Kinder der durch ihn arbeitslos Gewordenen, krank Gemachten oder vorzeitig ins Grab Gesenkten sind es, die der allgemeinen Mildtätigkeit anheimfallen. Epileptikeranstalten, Hilfsschulen, Verwahrungshäuser für Blöd- und Schwachsinnige würden zur Hälfte geschlossen werden können, wenn –! Die Träger der Arbeitsversicherung könnten jährlich Millionen ersparen, wenn sie nicht in so hohem Maße von der Fürsorge für die Opfer der Trinksitte belastet würden. Welche Summen sie die Krankenkassen kosten, wurde durch die vor einigen Jahren veröffentlichten Untersuchungen der Leipziger Ortskrankenkasse einwandfrei nachgewiesen; daß ein überaus großer Teil der Unfälle auf die Störung wichtiger geistiger Funktionen durch leichte Betäubung zurückzuführen ist, lehren tausendfache Erfahrungen; Leichtsinn und Unvorsichtigkeit sind ja eine der sichersten Wirkungen des Alkohols. Wie sehr vorzeitiger Eintritt der Erwerbsunfähigkeit bei Trinkern zu befürchten ist, beweisen die Maßregeln, die seitens vieler Landesversicherungsanstalten gegen den Alkoholismus und zur Heilung Trunksüchtiger durchgeführt wurden; gewiß nicht durch Nächstenliebe, sondern durch sehr berechtigte Sorge für eigenen Vorteil wurden sie dazu bewogen.
So muß die Gesellschaft ganz gewaltige Summen opfern, um nur die auffälligsten Schäden wieder gut zu machen, die ihr durch die Trinksitten zugefügt werden; wir können mit Bestimmtheit annehmen, daß ein recht beträchtlicher, vielleicht der bei weitem größte Teil des Erträgnisses der Alkoholsteuern auf diese Weise wieder verausgabt werden muß. Aber es bedarf wohl gar nicht der Versicherung, daß damit das Sündenverzeichnis noch lange nicht erschöpft ist und weitere Millionenverluste entstehen, die nicht so klar zu Tage liegen und daher vernachlässigt zu werden pflegen. Hierher gehören in erster Reihe die Arbeitsminderleistungen infolge des Trinkens; die unzählbaren versäumten Arbeitstage, die Material- und Kraftvergeudung als Wirkung der Sonntags»heiligung«, das Zugrundegehen tüchtiger, begabter, wertvoller kindlicher Einzelwesen, denen wegen Trunksucht des Vaters die erforderliche Ausbildung vorenthalten wurde und noch viele, viele andere Wege, auf denen sich das verhängnisvolle Gift der vollen Ausnützung der Volkskräfte in den Weg stellt.
Was bei der Besprechung der Wirkungen auf das Einzelwesen betont wurde, gilt auch von dem Einflusse auf die Gesellschaft: Ins Auge fallend, meß- und zählbar sind bloß die allerschlimmsten, durch die höchsten, allgemein als Trunksucht anerkannten Grade des Genusses angerichteten Schäden; die viel häufigeren Folgen des sogenannten mäßigen Trunkes entziehen sich zumeist der Beobachtung und Aufzeichnung, schon deshalb, weil sie ihrer allgemeinen Verbreitung wegen als selbstverständlich und unvermeidlich hingenommen werden. Trotzdem kann nicht bezweifelt werden, daß auch der für harmlos angesehene tägliche Trunk sehr verderbliche Wirkungen auf das Gesamtarbeitserträgnis des Volkes ausübt, die übliche Weise sich zu erholen und zu zerstreuen viel Unheil im Gefolge hat, so manches Unglück (es sei nur an Eisenbahnunfälle erinnert) vermieden werden könnte, wenn die als zulässig angesehene »Ansäuselung« verpönt würde, und daß gerade der sogenannte »mäßige« Genuß dem Volke die größten materiellen Opfer auferlegt.
Sehen wir aber einmal von den im Schuldbuche des Alkohols mit so gewaltigen Ziffern verzeichneten Schädigungen, so weit sie auch von den Anhängern des Trunkes zugegeben werden, ganz ab; lassen wir es unbeachtet, daß er Verbrechen, Krankheit, Irrsinn, Armut, Tod und Verderben züchtet, Geschlechter entartet und die Zukunft bedroht; nehmen wir an, daß er nur die so vielgelobte und heiß ersehnte Wirkung hätte, die Gehirnzellen des Menschen auf kurze Zeit zu betäuben, sie in einen Zustand zu versetzen, in dem er sich glücklicher und fröhlicher fühlt, sein Unglück und seine Sorgen vergißt; und fragen wir uns dann, welche Folgen denn diese sich täglich wiederholende Umnebelung der Seele, dieses künstlich hervorgezauberte Trugbild auf die Gesellschaft, auf das Wohl der Nation haben kann, haben muß?
Die Alkoholisierung und die sie begleitenden Nebenumstände – die Schenke, die Bierbankgeselligkeit, der Nikotinmißbrauch, das Kartenspiel, wohl auch die Kellnerin – sind gegenwärtig für einen sehr bedeutenden, man darf leider sagen, für den größten Teil der männlichen Bevölkerung der einzige Genuß; die flüchtige Schilderung der Trinksitten in einem vorhergehenden Abschnitte hat ja gezeigt, welche Rolle sie im Leben des deutschen Volkes spielen. Die Befriedigung der sich mit mehr oder weniger großem Ungestüm geltend machenden Sucht genügt dem Bedürfnisse nach Erholung und Genuß vollauf, so daß andere, Geist und Gemüt erhebende, dabei aber freilich an die Denktätigkeit etwas höhere Ansprüche stellende Genüsse nicht verlangt, ja mißachtet und zurückgewiesen werden, wenn dieser Kulturlosigkeit in der Regel auch irgend ein verhüllendes Mäntelchen umgehängt wird; denn das empfinden die Meisten doch, wie verächtlich diese Art der »Unterhaltung« ist. Natur und Kunst haben für diese Leute nicht die geringste Anziehungskraft, im Gegenteile, sie fühlen sich durch wahre, nicht der niedrigsten Sinneslust schmeichelnde Kunst gelangweilt und wissen den herrlichsten Naturgenüssen nicht das mindeste abzugewinnen.
Trinksitte und Kneipenbesuch erweisen sich daher als eines der gewaltigsten Kulturhindernisse, denn wir können von echtem Fortschritte wahrlich nicht sprechen, so lange sich die innerliche Befreiung der Volksmassen nicht vollzogen hat, die Verehrung der Natur, Begeisterung für die in ihr sich entfaltende geheimnisvolle Größe, Aufgehen in das wunderbare Rätsel des Werdens und Vergehens zur Voraussetzung hat. Die Menschen werden trotz Fernsprecher, Luftschiff, Farbenphotographie und anderen staunenswerten technischen Kunststücken eine rohe Horde bleiben, so lange sie ihr Vergnügen darin finden, sich mit Bier oder Wein vollzupumpen, anstatt die wenigen Feierstunden des kurzen Lebens im Genusse der Herrlichkeiten des Weltalls zu verbringen.
Kunst setzt Kenntnis und Bewunderung der Natur voraus; kein Wunder, daß die Kneipstammgäste nichts von ihr wissen wollen. Unsere Dichter werden nicht gelesen, edle Musik läßt die Meisten kalt, nur der Gassenhauer reißt fort. Bilder und Bildwerke? Ja, die aus der Woche, aus dem »Interessanten Blatt«, die etwas »neues« bringen, womöglich einen Riesenbrand oder das Bildnis eines Bankräubers. Was lockt denn die Menge in die Kinematographentheater? Aufregungsbedürfnis oder Schlüpfrigkeit; nur den Geist nicht anstrengen, nur sich außer der Arbeits- oder Amtsstunde nicht plagen müssen, wäre es auch damit, einem guten Buche, einem tiefempfundenen Tonstücke seine Reize abzugewinnen.
Das Lustgefühl der Alkoholbetäubung macht die Menschen aber nicht nur in ihren Ansprüchen auf Genußmöglichkeiten genügsam – die höchste und erstrebenswerteste ist und bleibt natürlich das von irgend jemand, und sei es auch der grimmigste persönliche oder politische Gegner, gespendete Faß Bier – sie werden auch in vielen anderen Dingen anspruchslos und finden sich mit Ergebung in Zustände, die ihre helle Empörung hervorrufen sollten. Der nie rastende Urgrund allen Fortschrittes, aller menschlicher Arbeit sogar, die über den Erwerb der unentbehrlichsten Lebensnotwendigkeiten hinausgeht, ist die Unzufriedenheit im besten Sinne des Wortes, der Wunsch, seine natürlichen oder erworbenen Bedürfnisse in immer steigendem Grade zu befriedigen, sich, seinen Kindern, seinem Volke oder seiner Klasse eine bessere Lebenslage zu schaffen. Wer mit dem bestehenden Zustande zufrieden ist, wird sich gar keine Mühe geben, sie zu ändern oder zu bessern; wozu auch?
Darum gibt es gar keinen größeren Feind der auf Hebung der wirtschaftlichen Lage, des Kulturstandes, der sozialen Bedingungen abzielenden Bestrebungen als die Zufriedenheit der Anheiterung. Durch sie werden die Biertischphilister großgezogen, diese geschworenen Feinde aller Größe, die echtesten Rückschrittler, die nur um Himmels willen nicht in ihrer Behaglichkeit gestört sein wollen, die zwar an allem und jedem nörgeln, weil ihr Instinkt stets eine Gefahr für die Ungestörtheit ihrer Plattheiten dahinter wittert, aber irgend ein Opfer zu bringen für Fortschritte, die ihnen selbst zu Gute kommen müßten oder das Wohl des Ganzen fördern, niemals gesonnen sind. Der verstorbene Führer der Konservativen im preußischen Abgeordnetenhause, der vor vielen Jahren den Ausspruch tat: »Laßt doch ja dem kleinen Manne sein Gläschen«, wußte wohl, was er sprach; der brave Spießer, der sich Tag für Tag beim Schoppen erholt und sich dort als König und Herrscher fühlt, wird zwar weidlich über Behörden und Bürgermeister schimpfen, um zu beweisen, daß er das Regieren und Verwalten viel besser versteht – denn er versteht überhaupt alles am besten – Revolution wird er aber keine machen und sich auch sonst leicht zufrieden stellen lassen – vorausgesetzt natürlich, daß man ihm »sein« Lieblingsgetränk nicht verteuert oder die Wirtschaften früher zusperrt als er nach Hause zu gehen gewöhnt ist; denn in dieser Hinsicht versteht er keinen Spaß.
Diese Spießerhaftigkeit und Verflachung beginnt leider schon bei der Jugend, die mit Ungestüm gegen die ererbten Mißstände zu Felde ziehen, Philistertum verfolgen und Rückwärtserei in Grund und Boden verhöhnen sollte, anstatt dessen jedoch ihre Mannhaftigkeit durch Leeren einer möglichst großen Zahl von Krügeln zu beweisen bemüht ist und die Abende und Sonntage nach dem angestaunten Beispiele der Väter in der Kneipe verbringt. Welche Zukunft kann wohl der Gesellschaft, der Nation beschieden sein, wenn der Jüngling im Becher die Heiterkeit und den Frohmut sucht, die ihm die Vollkraft seiner Gesundheit und Tüchtigkeit verleihen sollte? Wie kann es besser und schöner werden, wenn das kommende Geschlecht wieder nichts anderes verlangen wird als gute Weinjahre, ein süffiges, wohlfeiles Bier und viel, viel Zeit und Geld, um diese beiden Gottesgaben, bekömmlich gemacht durch dazwischen hingestreute Schnäpschen, in möglichst großen Mengen genießen zu können?
Die Trinksitte übt aber auch darum eine verderbliche Wirkung auf die Gesellschaft aus, weil sie dem die Rauschgetränke erzeugenden und verkaufenden Kapital einen verhängnisvollen Einfluß auf die öffentliche Meinung verschafft. Brauer, Brenner und Weinhändler in erster Reihe, dann aber auch die von ihnen abhängigen Wirte – und das sind die allermeisten – haben das selbstverständliche Begehren, den Verbrauch an geistigen Getränken auf der bisherigen Höhe zu erhalten, ja wenn irgend möglich noch zu steigern. Zur Erreichung dieses Zweckes bedienen sie sich nicht nur aller möglichen erlaubten Mittel, sie scheuen sich leider auch nicht, hie und da, in letzter Zeit sogar ganz planmäßig und mit Aufwendung großer Mittel, das Volk irrezuführen, die Lehren der Wissenschaft über die Wirkung der Genußgifte zu verdunkeln und zu mißdeuten, den Feldzug für ihren Gewinn mit Verleumdung zu führen. Sie suchen aber begreiflicher Weise auch Politik, Verwaltung und Gesetzgebung in einem für ihr Geschäft möglichst vorteilhaften Sinne zu beeinflussen, was zwar andere Geschäftsleute auch tun, bei ihnen aber weit gefährlicher ist, weil sie in dem Wirtshause einen erprobten Weg zur öffentlichen Meinung besitzen und das Volk dort in verschiedenster Weise beeinflussen können. Da aber auch der Staat als größter Alkoholgeschäftsmann mit ihnen im Bunde ist, fehlt es der Nation an einem unbefangenen, nicht vom Eigennutze geblendeten Wächter ihres Vorteils. Staat, Alkoholkapital und Verbraucher unterschätzen die Gefahr der Trinksitte, schließen die Augen vor dem unendlichen Unglücke, dem zunehmenden Verderben, den bedrohlichen Entartungszeichen, die das Steigen der Alkoholflut zeitigt, sie sehen in den Bestrebungen nach Besserung und Heilung blinden Fanatismus, wünschen die Fortdauer des Bestehenden. Eine geschlossene Truppe stehen sie den Stürmern gegen die Trinksitten gegenüber, die allmählich aus dem zur Erkenntnis seiner Leiden erwachenden Volke hervorwachsen. Und letztere sind es, die den Kampf gegen die Rauschgetränke führen, an dem der Staat und die Verbraucher nur gezwungen und widerwillig, die Interessenten bloß scheinbar und berechnend teilnehmen. Die Entwicklung und Waffen dieses Kampfes seien nunmehr geschildert.