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Einsam in der Nordsee liegt das kleine Felseneiland, frei brausen alle vier Winde über seinen Scheitel und dulden nicht, daß sich volleres Laubwerk aus ihm erhebt als demütiges Gras und wenige, auch für Menschen nahrhafte Kräutchen; frei schlagen von allen vier Seiten die Wellen an den Fuß des nackten roten Steins und nagen und wühlen an dem harten Fels wie an der vorgelagerten sandigen Düne. Nicht ohne langsamen Erfolg: alle Jahrzehnte stürzt ein längst gelöster schlanker Steinpfeiler zusammen und verschwindet in den mahlenden Fluten: alle paar Jahrzehnte wird ein Stück der niedrigen Düne zerrissen und hinweggespült; aber tapfer und trotzig harrt das verlassene Fleckchen Erde aus, und noch mag ein und das andere lebenslustige Jahrtausend darüber hingehen, ehe es erliegt und für immer in den Wassern versinkt.
Und ein einsames Völkchen wohnt seit uralter Zeit auf dem Eiland, eigen geartet in Sprache und Sitte; und doch wußten die umwohnenden Völker der 126 Nordsee von jeher das Ländchen zu finden und für ihre Zwecke zu nutzen, und wechselnd wehten die Banner benachbarter und entfernterer Fürsten oder Städte auf seiner Höhe. Solcher Wechsel ging denn nicht immer ohne Gewaltsamkeit und Blutvergießen vor sich; selten aber wurden die Helgoländer selbst beträchtlich in Mitleidenschaft gezogen oder thätig in die Händel verwickelt: sie fügten sich meist geduldig dem siegreichen Regiment, mochte sich nun die schleswigsche oder hamburgische oder dänische oder britische Fahne über ihnen blähen. Darunter stand ja doch allezeit ihr eigenes sicheres Banner unveränderlich fest:
Grün ist das Land,
Rot ist die Wand,
Weiß ist der Sand:
Das sind die Farben von Helgoland.
* * *
Vor nun zweihundert Jahren war es, da hieß der Herzog Christian Albrecht von Schleswig-Holstein Herr über Helgoland. Weil aber die Herzogtümer schon damals in stets erneuerter Fehde mit dem dänischen Nachbar lagen und dieser in den schwedischen Kriegen der jüngsten Zeit zur See gar mächtig geworden war, so war eine wehrhafte Besatzung auf die Insel gelegt, und ein Wall mit Schanzpfählen und achtzehn schweren Kanonen längs der Ostseite des 127 Oberlandes verteidigte den Treppenaufgang, der dazumal durch ein dreifaches Thorwerk wider feindliche Überfälle gesichert war. Die Einwohner sträubten sich wohl gegen den kriegerischen Zuwachs der Bevölkerung und verhießen selbst die tapferste Verteidigung ihres Landes; dieser Protest aber fand kein Gehör, und so gingen sie seitdem unter militärischer Obhut ihrem friedlichen, wenn auch weder weichlichen noch gefahrlosen Gewerbe als Fischer und Lotsen nach.
Wo es aber Mühen und Gefahren giebt, da ist es natürlich, daß tüchtige Kräfte vor den mittelmäßigen und geringeren sich leicht hervorthun und rasch zu besonderer Geltung gelangen. So machte seit einiger Zeit der junge Hans Frank Jaspers häufig von sich reden und nie etwas Anderes denn Rühmliches. Schon bei seiner allerersten Ausfahrt als Lotse zeigte er eine so ungewöhnliche Sicherheit des Blickes und so besonnene Kühnheit, daß er alsbald mit stillschweigendem Beschluß zu der Zahl der bewährtesten Männer gerechnet und öffentlich mit solchen zusammen genannt wurde.
Damals nun, am Tage selbst nach dieser ersten Lotsenthat geschah es, daß der Jüngling im Vollgefühl seiner frisch erkannten Mannestüchtigkeit über die breite Grasfläche des Oberlandes wandelte und ihm in seiner sinnenden Einsamkeit von ungefähr der Gedanke kam, zu einem tüchtigen und reifen Manne sei wohl als 128 Ergänzung eine eheliche Genossin erforderlich oder doch ziemlich wünschenswert. Und er beschloß, die vorhandenen Jungfrauen des Landes einer eiligen Musterung zu unterziehen. Deshalb drehte er sich kurz herum, nach dem Städtchen zurückzukehren, brauchte aber noch lange nicht so weit zu gehen, da erblickte er vor sich ein junges Dirnchen Namens Peerke Reimers, eben zu jungfräulicher Reife erblüht, aber freilich noch nicht wie Hans Frank in großen Thaten bewährt, daher ihr denn noch ein knospenhaft schüchternes Wesen anhaftete, das er seit gestern mit raschem Schwunge von sich abgestreift hatte.
Peerke hielt einen Eimer in der Hand und schickte sich an, eines der vielen hier angepflöckten Schafe zu melken. Als aber Hans Frank näher trat, erschrak dieses thörichte Tier vor der Heldengröße des Mannes und begann in hastiger, doch ewig vergeblicher Flucht an dem langen Stricke um seinen Pflock zu kreisen. Der Jüngling schien an den bangen Geberden des Geschöpfes ein Wohlgefallen zu finden, denn er trieb und hetzte es nunmehr mutwillig immer weiter herum, bis es sich so nahe an den Pflock herangedreht hatte, daß ihm die weitere Bewegungsfähigkeit genommen war und es sich in alle ihm bevorstehenden Schrecken hilflos ergab.
Peerke schaute diesem Spiele mit vollkommenster 129 Geduld und nicht ohne freundliche Bewunderung zu und wartete, bis die Aufdrehung des Strickes ihm von selbst ein Ende machte. Dann trat sie still hinzu und melkte das gefesselte Thier. Eine so bescheidene und friedliebende Sinnesart gefiel dem Hans Frank, er schob die Hände in die Taschen und schaute dem Mädchen schweigend bei seinem Werke zu. Es konnte ihm aber nicht entgehen, daß Peerke auch jetzt unterweilen stumm bewundernd zu ihm aufblickte: es war deutlich, sie fühlte sich geschmeichelt durch die Teilnahme eines so bedeutenden Mannes; und das vermehrte wiederum sein Wohlwollen. Und als sie ihre Arbeit langsam und sorgfältig vollbracht hatte, ging er neben ihr her und freute sich, wie sicher und gewandt sie den Eimer zu tragen wußte; ohne daß er sich jedoch über diesen oder einen andern Gegenstand laut geäußert hätte. Erst als Peerke bei ihrem väterlichen Hause angekommen war, sagte er »Guten Morgen, Peerke!« und begab sich an den östlichen Rand des Oberlandes, Fallem oder Falm genannt. Dort legte er die Arme auf die niedrige Brustwehr, welche die Fortsetzung des Hauptwalles bildete, spreizte die Beine breit und kräftig von einander und blickte recht aufmerksam ins Weite. Nachdem er einige Stunden so gestanden, ohne daß sich auf Meer und Land etwas Bedenkliches ereignet hätte, sprach er ruhig zu sich selbst:
130 »Ja, warum sollte ich sie nicht heiraten?«
Worauf er langsam zu Peerkes Wohnung zurückkehrte und ihr seinen Entschluß ehrlich kund that. Das junge Kind erschrak und ahmte das vorige Gebahren des Schafes nach, indem es gleichfalls vor der Heldengröße des Mannes entfloh, doch mit besserem Erfolg, denn es war an keinen sichtbaren Pflock gefesselt; und so entging es ihm. Auch das Mädchen begab sich an den Rand des Felsens, nur etwas abseits von der Stadt, setzte sich nieder und blickte seinerseits eine beträchtliche Zeit in die freie Ferne hinaus. Dann erhob es sich und sagte:
»Ja, dann muß ich ihn ja wohl heiraten.«
Hierauf verlobten sich Peerke Reimers und Hans Frank Jaspers, und nachdem sie eine Zeitlang mit einander gegangen und sich gut vertragen hatten, ließen sie sich mit Einwilligung der Eltern kirchlich zusammensprechen. Und seitdem hatten sie nun zwei Jahre als Ehegatten gelebt und vertrugen sich immer noch gut miteinander.
Nun ereignete es sich in einer stürmischen Mainacht des Jahres 1684, daß ein Orlogschiff des Herzogs Christian Albrecht in der Nähe der Insel in arge Not geriet und bereits in der äußersten Gefahr schwebte, auf die mörderischen Klippen geworfen zu werden. Da fuhr Hans Frank mit anderen der kühnsten Männer 131 als Lotse hinaus: und als er wiederkam, war das Schiff sicher vorbeigeführt, und er war vor allem Volk der gefeierte Held des Tages, dem keiner bestritt, daß allein seiner Verwegenheit das Schiff, und seiner Vorsicht allein die Lotsen ihre Rettung verdankten.
Stolz erhobenen Hauptes betrat er, nachdem er einen rauschenden Triumphzug durch die engen Gassen gehalten, seine stille Hütte: hier aber bemerkte er mit einigem Mißvergnügen, daß sein junges Weib ihm mit einer Miene entgegentrat, die mehr ein mühsames Aufatmen von großer Angst zu erkennen gab als ein herzliches Entgegenjauchzen und rechten Stolz auf den Besitz eines so vornehm gearteten Mannes. Derselbe nahm nun zwar an seinem häuslichen Tische Platz, ließ sich auch die rasch aufgetragene Mahlzeit wohlbehagen; sobald er aber die leiblichen Bedürfnisse befriedigt hatte, machte er ein verdrossenes und gelangweiltes Gesicht und verriet deutlich eine Unruhe und heftige Sehnsucht, sich draußen wieder dem Volke zu zeigen und die laute Bewunderung einzuheimsen, die ihm von seinem undankbaren Weibe leider versagt wurde.
Zum Glücke aber brauchte er sich nicht einmal diese Mühe zu geben. Die öffentliche Anerkennung kam, ihn in seinem eigenen Heim aufzusuchen, und zwar in der allernachdrücklichsten Gestalt des herzoglichen Kommandanten Herrn von Buchwald selber, sowie seines 132 Offiziers, des tapferen und bei Freund und Feind gleich gefürchteten Lieutenants Frobös.
Herrn von Buchwald gelang es nur mit einiger Anstrengung, das Thürchen zu durchschreiten und in das niedrige, wenngleich höchst saubere und wohlgeordnete Gemach zu gelangen, denn er war ein schwerer Mann von einem Leibesumfange, wie solcher den Landeskindern nimmer zu erreichen vergönnt war. Nach vorsichtiger Prüfung vertraute er sich einem Stuhle an und hieß seinen Lieutenant sowie den Hausherrn selber das Gleiche thun, während Frau Peerke, obwohl nicht wenig erschrocken über einen so ansehnlichen Besuch, nach einigem unsichern Umherirren und Tasten drei stattliche Kannen Husumer Bieres herbeitrug und den Männern vorsetzte.
Der Kommandant trank und hielt eine kurze, aber eindringliche Lobrede auf die Verdienste des wackern Lotsen Hans Frank Jaspers, der dem Herzog eines seiner schönsten Schiffe gerettet, und kam schnell zu der Hauptsache, demselben als einen klingenden Lohn eine erfreuliche Anzahl von Silberthalern auf den Tisch zu zählen. Hans Frank verfiel darüber in den Fehler seiner Frau, sich verschüchtern zu lassen, zumal auch Herr Frobös ein ingrimmiges Gesicht dazu machte und anzudeuten schien, daß der ausgeworfene Lohn nach seiner Ansicht viel zu hoch gegriffen sei. Herr von 133 Buchwald dagegen zeigte ein desto menschlicheres Gebahren, verwickelte den beglückten und allmählich auch wieder kecker auftretenden Hauswirt in allerhand leutselige Konversation und trank dazu auch eine Kanne Bier nach der andern, so daß Frau Peerke in beständiger Bewegung gehalten wurde und keine Zeit fand, verlegen und überflüssig zu werden. In den kurzen Ruhepausen aber ließ sie von der Ofenecke her heimliche Blicke beglückten Stolzes auf ihrem Gatten ruhen; die sah aber niemand und er selber auch nicht.
Der Kommandant geriet indessen bald in eine kräftig erheiterte Stimmung, wie sie ihn bei seiner menschenfreundlichen Sinnesart gar leicht überkam, und versuchte mit Frau Peerke ein zwar unschuldiges und tadelfreies, aber doch ziemlich täppisches Karessieren anzufangen, indem er sie um Kinn und Wangen streichelte und versicherte, daß sie ein wohlgebildetes und sehr niedliches Weibchen sei; worin er sich von der Wahrheit um keinen Schritt entfernte. Das junge Weib hatte aber kein Verständnis für solche Huldigung eines Kavaliers, sondern wich heftig und auch ohne anmutigen Anstand zurück, errötete dazu mehr als gebührlich und zeigte sich so recht in der ganzen thörichten Hilflosigkeit ihres Wesens.
Darob ward Herr von Buchwald eine kurze Zeit lang ärgerlich und meinte, ein Mann wie Hans Frank 134 Jaspers hätte wohl von Rechtens wegen ein klügeres und lustigeres Weib verdient: statt dessen scheine ihm nur ein rechtes Hasenfüßlein und armselig Ding zu teil geworden. Hans Frank machte ein finster trauriges Gesicht; denn wenn ihn auch einen Augenblick ein eifersüchtiges Zorngefühl wider den hohen Herrn selber überwallt hatte, so ward jetzt die Kränkung über seines Weibes ungeschicktes Benehmen größer: war es doch klar, daß der lustige Kommandant nichts Böses im Schilde führen konnte mit dem, was er im eigenen Beisein des Ehegatten that. Zu gleicher Zeit aber ließ sich aus der Ofenecke ein leise schluchzender Ton vernehmen; und unverzüglich entwich aus der Brust des Kommandanten der Ärger, welcher von je bei ihm ein kurzlebiges Gefühl gewesen, und er versuchte die beiden gekränkten Gemüter ernstlich wieder zu begütigen.
»Du mußt Dir so ein rasches Wort nicht zu Herzen ziehen, Hans,« sagte er, »und Du auch nicht, Peerke, denn bös war es nicht gemeint. Es können am Ende nicht alle Menschen gleich sein, und alle Frauen auch nicht: mir aber stand zum Vergleich eine andere im Sinne, meine weiland Traute, die reizende Gundula von Wismar, die damals zu Tönningen um mich war. Die war freilich anders geartet, ganz Leben und Feuer und Lustigkeit, vom Wirbel bis zum Zehe; wer sie nur ansah, dem lachte das Herz im Leibe. Fragt nur hier 135 Herrn Frobös, was für Augen sie im Kopfe hatte, schwarz und funkelnd, und was für Zähne, wenn sie lachte, und sie lachte fast immer! Und nimmermehr hätte sie sich so schreckhaft erwiesen, wenn sich einmal ein guter Freund einen harmlosen Scherz mit ihr machte: sie sah mich nur heimlich an, ob ichs erlaubte, und wenn ich lachte und leise nickte, dann wehrte sie auch ein Küßchen nicht allzustreng. Du sollst aber nun hören, Frau Peerke, was sie nachher für mich, ihren Liebsten, gethan: Frobös, erzählet es doch dem jungen Weibe zu Nutz und Frommen.«
Hätte nun aber Herr Frobös auch das dringendste Verlangen hierzu bezeigt, er wäre gegen die erwachte Erzählungslust seines Vorgesetzten doch nicht aufgekommen. Dieser fuhr vielmehr ohne sich zu unterbrechen selber fort, seine Geschichte vorzutragen:
»Das war damals um Tönningen,« sagte er, »die Dänen setzten uns hart zu, denn Herr Paulsen kommandierte sie, ein gewaltiger Kriegsmann zu Wasser und zu Lande, aber grimmigen und unbeugsamen Sinnes, wie ich fast zu meinem eigenen Lebensschaden erfahren hätte. Denn bei einem Ritte vor den Mauern der Stadt wurde ich mit zwei tapferen Kameraden abgeschnitten und, nachdem unsere Pferde erschossen waren, gefangen vor Paulsen geführt. Dem waren wir sehr willkommene Beute, weil ihm eben zuvor etliche Spione 136 abgefangen waren und stracks gehenkt werden sollten. Paulsen aber wünschte heftig sie zu retten um ihrer fürtrefflichen Dienste willen und ließ uns drei für sie zur Auswechselung anbieten, dräuete auch ernstlich und scharf, wenn ihm seine Kundschafter gehangen wurden, wolle er am selbigen Tage uns ohne Federlesen mit Pulver und Blei vom Leben zum Tode bringen. Uns dreien war nicht wohl zu Mut bei dieser Drohung, denn wir hatten zu viel sagen hören von Herrn Paulsens greulicher Sinnesart. Jedoch hofften wir auf unsern General, der uns nicht fahren lassen würde um der elenden Späher willen. Darinnen aber täuschte uns unsere Zuversicht. Der General war zu hart erbittert gegen jene, die ihm durch ihre verräterische Kundschafterei gar vielen Schaden gethan, und meinte wohl nicht, daß es uns so ernsthaft an den Kragen gehen möchte.
Es geschah aber dennoch. Sobald die Spione bei uns drüben gehenkt waren, verlas man uns gleichfalls das Urtel, wonach wir ohne Verzug mußten erschossen werden. Auch ward diese Mordthat an meinen beiden Kameraden in aller Hast wirklich vollbracht, wodurch Herr Paulsen aller Welt kund gethan hat, welch ein fluchwürdig grausamer Tyrann und Eisenschädel er ist. Ich aber ward wider alles Verhoffen im letzten Augenblick vom Tode gänzlich absolvirt und sogar vollends in die Freiheit gesetzt.
137 Wie ich nun in hurtiger Freude das feindliche Lager durchschritt und den Ausgang zu gewinnen trachtete, sah ich mit großer Verwunderung neben Herrn Paulsen vor dessen Zelt meine traute Gundula stehen. Da dachte ich: Aha! Denn es ward mir sogleich klar, wie alles zugegangen. Meine Gundula war als eine andere Judith mitten durch die Feinde zu deren schrecklichem Hauptmann hinausspaziert und hatte durch ihre Bitten und die Lieblichkeit ihrer natürlichen Reize den harten Sinn dieses Holofernes erweicht und zu meinen Gunsten gewandt, also daß sie mein Leben aus seiner Hand durch ihr Verdienst errettete. Leider nur, daß sie seinen Kopf nicht mitbrachte, als sie am Tage zu mir zurückkehrte: vielmehr merkte ich, daß sie in sehr gutem Frieden von einander geschieden waren. Darum vermochte ich es auch fortan nicht mehr über mich, sie als meine Traute zu halten, sondern nur noch als Freundin und gutmütige Retterin. Und als sie das nicht zufrieden war, verließ sie mich ganz und blieb bei Herrn Paulsen. Mein Leben aber war mir auf solche Weise geblieben, und ich will ein Hundsfott heißen, wenn ichs der Gundula nicht bis an mein Lebensende gedenke. Was meinst Du aber, schöne Frau Peerke, wenn ich etwa heutigen Tages Hand an Deinen Mann legte, ihn in Ketten mit mir führte und morgen zu spießen, zu rädern oder auch zu vierteilen verhieße? Oder 138 würdest Du mir auch noch wehren, Deine Wangen zu streicheln, wenn Du sein Leben damit lösen könntest?«
Peerke war sehr rot geworden bei dieser Frage und rief schaudernd:
»O Herr, Ihr werdet ihm niemals solches Leid anthun, und er wird niemals etwas begehen, das ihn dessen wert machte. Ich weiß, ich wäre viel zu schwach und unklug, um mit Schmeicheln oder List oder Gewalt etwas für seine Rettung thun zu können.«
Da lachten die beiden Kavaliere herzlich über ihr thörichtes Geständnis, und es war dem armen Geschöpfe in seiner Angst und Verlegenheit wohl anzusehen, daß es von der Natur schlecht für heldenhafte Thaten ausgerüstet war.
Hans Frank aber biß sich zornig die Lippen, denn er hatte nun wirklich erkannt, daß seine Wahl keine rechte gewesen und sein junges Weib seiner nicht würdig sei. Er fand deswegen auch keine rechte Freude mehr an dem glänzenden Ehrenlohn, sondern verschloß ihn mürrisch im Kasten und sprach kein Wort des Abschieds zu seiner Frau, als er Herrn von Buchwald das Geleite heimwärts gab: denn es stand allerdings schon so um diesen, daß er einer starken Stütze von beiden Seiten bedurfte, um nicht gleich einer gefällten Buche zu Boden zu sinken. Man soll ihn aber deshalb nicht allzu hart verdammen, weil er nur den 139 landläufigen Sitten seines Säculums folgte; es war eine rauhe und durstige Zeit, eine Zeit, in welcher – um ein vornehmes Exempel zu wählen – von einem nordischen Fürsten berichtet wird, er sei ein feingebildeter Herr gewesen, auch dem allgemeinen Laster wüster Trinkgelage abhold, jedennoch aber fast jeden Tag betrunken.
Danach schlich nun Hans Frank recht niedergeschlagenen Sinnes einige Stunden ohne Ziel umher, denn es kränkte ihn herzlich, daß er sein Weib verachtet und getadelt sehen mußte von einem so hohen und welterfahrenen Herrn, und das leider mit Recht; hatte es sich doch allzu klar erwiesen, wie ganz zaghaften Herzens und wie thörichten Sinnes obenein sie war. Auch schien es ihm nunmehr offenbar geworden, daß sie ihn nicht mit der rechten Liebe zugethan sei, denn sonst könnte sie ihn nicht in Todesgefahr feige und gleichgültig umkommen lassen, wie sie doch eben mit offenen Worten verheißen hatte. Bei dieser letzten Betrachtung ward er von einer bitteren und wehleidigen Stimmung übermannt, daß er sich deren alsbald selber zu schämen begann, denn es schien ihm nicht angemessen, daß einen ehrengekrönten Seehelden so etwas anwandeln durfte um eines Weibes willen, dem er doch nur aus Irrtum eine so große Liebe zugewandt hatte. Darum sammelte er sich zur Abwehr in seinem Herzen hastig einen guten männlichen Trotz und Stolz und trat daheim seiner Hausfrau 140 entgegen, wie es sich gebührte, als ein ruhiger, ernster, verschlossener Mann.
Peerke hatte verweinte Augen und schritt mit demütiger Liebe auf ihn zu; als sie aber sein Antlitz in so gleichgültige und vornehme Falten geordnet sah, da wandte auch sie sich leise trotzend ab und verrichtete ihre letzte Tagesarbeit mit dumpfer und unfreudiger Miene. Sie zankten sich nicht und schmähten sich nicht, sie vertrugen sich immer noch mit einander, und nicht leicht hätte jemand von außen bemerken können, daß in ihren Herzen Alles anders geworden, als es zuvor gewesen.
In solchem faulen Frieden hätten sie nun vielleicht bis an ihr Ende ohne sonderliche Feindseligkeiten neben einander hinleben können, wenn nicht ein großes politisches Ereignis auch dies stille Haus auf dem Helgoländer Oberlande mit einem gewaltigen Sturme getroffen und aus der kläglichen Windstille aufgerüttelt hätte.
An einem schönen Junimorgen dieses Jahres 1684 segelte die Helgoländer Fischerflotte, die damals weit stattlichere Schiffe zählte als heutzutage, bei lustigem Winde nach Westen hinaus und gedachte einen guten Fang zu thun, wußte aber nicht, daß statt dessen ihr selbst Netze gestellt waren und sie diesmal armen Fischen gleich ins Garn gehen sollte.
Es war Nachmittags, als Peerke allein draußen 141 bei ihrem angepflöckten Schafe stand und aufs Meer hinausblickte. Das Wasser war munter bewegt, mäßige Wellen tanzten glänzend im Sonnenschein; nicht das leiseste Anzeichen konnte auf Sturm und Gefahr deuten. Dennoch war ihr beklommen und traurig ums Herz: Hans Frank war heute zum ersten Male von ihr gegangen, ohne ihr die Hand zum Abschied zu reichen. Wohl hatten sie beide nie ein sonderlich thränenreiches Wesen mit ihrer Trennung gemacht; aber diesmal war das doch noch ganz anders wie sonst. Am fernen Horizonte schwebten die braunen Segel in großer Zahl, ein heiterer und hoffnungsvoller Anblick; aber Peerke wandte die Augen trübe davon ab und blickte teilnamlos nach anderer Richtung ins Weite.
Im Norden erblickte sie einige andere leuchtend weiße Segel und hielt mit leichter Spannung eine Zeitlang das Auge darauf geheftet. Sie wuchsen schnell, und daran erkannte Peerke, daß sie ihren Kurs wohl gerade auf die Insel zuhielten. Schon konnte sie deutlich die schwarzen Rümpfe unter den Segeln erkennen. Es waren vier sehr große Schiffe. Und alle zugleich auf Helgoland zusteuernd, das war auffallend. Also nicht nach Hamburg oder Bremen. Was konnten sie auf der kleinen Insel zu suchen haben? Ganz umsonst begaben sie sich doch sicher nicht in die Nähe der gefürchteten Riffe.
142 Plötzlich änderten sie alle vier ihren Kurs und steuerten in südwestlicher Richtung abseits. Also doch nach der Wesermündung; so mußten sie in nächster Nähe bei der Fischerflotte vorbei. In der That, sie gingen in geradester Linie neben einander darauf los; und das war wieder nicht mehr die Richtung nach der Weser. Ja so, sie suchten einen Lotsen: das gab für Hans Frank Arbeit und besseren Verdienst, als die Fischerei ihn brachte. Jetzt lagen sie in breiter Linie hintereinander im Westen der Insel; Peerke sah, es waren riesige Schiffe, hohe geschwungene Rümpfe, gewaltig ragende Masten – es waren Kriegsschiffe. Doch die Flagge war nicht zu erkennen.
Auf einmal stiegen von allen vieren zugleich schwarze Rauchwolken in die Höhe, gleich darauf tönte ein dumpfes Dröhnen herüber . . . und fast im selben Augenblick ein donnernder Knall auf der Insel selbst: das war die Lärmkanone von der Befestigung.
Peerke erbebte, ohne sich jedoch recht klar zu machen, was das bedeute. Mit ängstlicher Sorge verharrte sie an ihrer Stelle und beobachtete die Bewegungen der Schiffe. Da sah sie denn bald, wie diese von neuem ihr Ziel wechselten und abermals geradeswegs auf die Insel lossegelten. Es folgten ihnen aber sämtliche Helgoländer Boote und Galioten in unmittelbarer Nähe.
In gebührlicher Entfernung vom Lande und den 143 Festungswerken ging das fremde Geschwader vor Anker, und es war deutlich zu sehen, wie die Fahrzeuge der Fischer an den großen Schiffen befestigt und die Leute an Bord geschafft wurden. Auch erkannte Peerke jetzt die dänische Flagge.
Nicht lange danach ward von dem größten der Schiffe ein Boot ausgesetzt und näherte sich mit raschen Ruderschlägen dem flachen Strand des Unterlandes. Nun endlich eilte das junge Weib hastig dem Städtchen zu, um sicher zu erfahren, um was es sich handelte. Sie fand alle Gassen in Aufregung; die Thore an der Treppe waren geschlossen, und niemand ward ohne besondere Erlaubnis mehr hinab- oder hereingelassen.
Die Abgesandten der Dänen waren gelandet und wurden aufs Oberland zur Wohnung des Kommandanten geführt. Sie machten aber schon draußen vor dem Volk kein Geheimnis daraus, welchen Auftrag sie auszurichten hätten: der dänische Contre-Admiral Paulsen schickte die einfache Botschaft, wenn nicht binnen hier und sechs Stunden die Insel Heiligland mitsamt ihren Befestigungen, Kanonen und bewaffneten Mannschaften Seiner dänischen Majestät Christian V. zu Eigentum sich ergeben haben werden, wolle genannter Admiral Paulsen sämtliche gefangenen Fischer jeglichen am Mast seines Schiffes aufknüpfen lassen.
Auf diese schreckhafte Kunde verbreitete sich ein 144 unendliches Jammergeschrei unter dem armseligen Völkchen, das nun zum weitaus größeren Teile aus Weibern und Kindern bestand, in wirrer Gedankenlosigkeit rannte alles durcheinander, und die Zahl derer war nicht sehr groß, welche auch nur so viel Besinnung behielten, die Abgesandten zum Hause des Kommandanten zu begleiten und dessen Bescheid daselbst zu erwarten.
Auch währte es eine lange sorgenvolle Weile, bis dieser Bescheid ergangen war. Denn Herr von Buchwald war ein guter und wohlmeinender Mann, und darum schien es ihm eine bitterböse Wahl, vor die er sich gestellt sah, daß er entweder wie ein verräterischer Knecht ohne Schuß und Schwertstreich ein Eigentum seines Herrn, des Herzogs, dem Feinde ausliefern oder aber die meisten und besten Bürger des seiner Obhut befohlenen Erdenfleckchens einem jämmerlichen und schmachvollen Tode preisgeben mußte. Kannte er doch Herrn Paulsen gar zu gut, den er neuerlich nicht ohne Ursach einen fluchwürdigen Tyrannen und Eisenschädel geheißen hatte. Darum bekümmerte ihn diese Not nicht wenig, und er vermochte schwer zu einem Entschlusse zu gelangen.
»O Frobös, Frobös,« hörte man ihn mehrfach zu seinem Lieutenant erseufzen, »es ist eine allzu böse Schlinge, in die wir geraten sind. Wollte ich doch lieber, daß ich an Händen und Füßen gebunden im 145 tiefsten Kerker säße und solchergestalt dieser schrecklichen Entscheidung frei und enthoben wäre.«
Frobös aber mißbilligte scharf diese Rede und meinte, wenn sein Kommandant so überweichen Herzens sei und etwa bei dem Wunsche beharre, an Händen und Füßen gebunden und dafür der Gewissensbürde entledigt zu werden, so sei er gerne bereit, ihm diesen Liebesdienst zu erweisen, gedenke seinerseits aber dann um so fester an seiner Soldatenpflicht festzuhalten, man solle ihn nur mit seinen Leuten sich wehren lassen, er sei im äußersten Falle bereit wie Simson unter den Philistern zu fallen. Übrigens aber sei er der Ansicht, daß Soldatenblut nicht schlechter sei als Fischerblut, darum solle man den Gefangenen die Ehre, für das Vaterland gehangen zu werden, nicht mißgönnen.
An dieser kraftvollen Ansprache seines Lieutenants erkannte Herr von Buchwald, daß er nicht wohl anders könne als seine Brust dem Mitleid gänzlich verschließen um sich mit aller Kraft an die Verteidigung seines Posten zu geben, wollte er nicht schnöder Feigheit und Verrates geziehen werden. Darum erklärte er den Dänen in sehr hastigen und zornigen Worten seinen Entschluß, unter keinen Umständen seinen wohlverwahrten Platz zu übergeben, und wenn auch die Bürger, Bauern und Adeligen beider Herzogtümer Schleswig und Holstein insgesamt vor seinen 146 sichtlichen Augen rund um die Insel herum sollten gehenkt werden.
Mit diesem rauhen Abschied wurden die Gesandten entlassen, stiegen zu Schiff und ließen das Ländchen in der elendesten Verzweiflung zurück.
Während nun alle die armen Weiber in ratlosem Jammer die Gäßchen auf- und abliefen wie ein Volk aufgescheuchter Seevögel, hatte sich Peerke in ihr Häuschen zurückgezogen, denn sie war fast ebenso verschüchtert von dem Lärm der Menschen als von dem drohenden Verhängnis. Drinnen aber, da niemand sie sah, benahm sie sich nicht minder thöricht und zwecklos wie alle andern auch. Erst vollbrachte sie gedankenlos ihre gewöhnliche Tagesarbeit, putzte ihre Töpfe, machte dann Feuer an und begann für zwei zu kochen, als wenn es schon Abend wäre; als ihr aber einfiel, daß ihr Hans Frank wahrscheinlich kaum noch einer Mahlzeit bedürfen würde, sank sie in die Knie, weinte und betete, vermochte aber keines kräftigen Gedankens mächtig zu werden. Zuletzt sprang sie wieder hastig auf und fuhr fort zu wirtschaften und allerhand unnötige Ordnung zu schaffen, als ob sie einen andern Gast und nicht den Tod im Hause erwarte.
Mitten unter diesem wirren Treiben ward sie durch einen dumpfen Kanonenschlag aufgeschreckt: das war das zuvor angekündigte Signal der Feinde, welches 147 zur Warnung kund thun sollte, daß die erste Stunde der gestellten Galgenfrist abgelaufen sei. Nur noch fünf andere Stündlein, und Hans Frank Jaspers mußte mit all seinen Genossen am Mast seines eigenen Bootes elendiglich hängen.
O mein Hans, dachte Frau Peerke, daß du doch so schmählich enden mußt, der du so manchem Mann das Leben gerettet hast und immerdar der kühnste und herrlichste Mann auf Helgoland gewesen bist! Wieviel besser wäre es, wenn ich statt deiner stürbe, die ich doch wenig nutz bin im Lande und nimmer deiner würdig war!
Dieser Gedanke fuhr nun fort sich langsam in ihrem Kopfe festzusetzen; nichts dünkte sie herrlicher, als wenn sie durch einen freiwilligen Tod ihrem Gatten zu guter Letzt noch beweisen könnte, daß sie doch nicht so ganz verstockt furchtsamer Art sei. Und wenn sie hier auf der Stelle in ihrem Hause verborgen für ihn hätte sterben können, sie hätte sich wohl keinen Augenblick besonnen. Aber so leicht war das freilich nicht gethan; und vergeblich brütete sie lange, lange thatlos und zitternd über einem erlösenden Entschluß.
Da verkündete ein zweiter Schuß, daß der gefürchtete Augenblick abermals um eine Stunde näher gerückt sei.
Die schauerliche Mahnung riß sie endlich aus ihrem 148 nutzlosen Hinzaudern, und sie gedachte der Worte, die jüngstens Herr von Buchwald spottend zu ihr geredet, und der Geschichte, die er von der schönen Gundula aus Wismar erzählt hatte. Und alsobald raffte sie sich zusammen, verließ das Haus und eilte, den Kommandanten in seiner Burg um Hilfe anzugehen.
Die Burg, welche indessen nichts anderes war als ein mäßiges, halb hölzernes Gebäude, fand sie umlagert von weinenden Frauen, welche durch ihre Seufzer das Herz des Kommandanten noch zu erweichen versuchten. Derselbe hatte sich aber weislich vor solchem moralischen Zwange geborgen, die Thüren und Fenster waren geschlossen und fest verwahrt, und eine doppelte Anzahl Schildwachen hütete seine patriotische Unerschütterlichkeit und verwehrte aufs Strengste jedem Unbefugten den Eingang.
Nun war aber Peerkes Erfindungskraft einmal in Fluß gekommen und gab ihr, von der steigenden Not befeuert, langsam einen neuen, nicht unweisen Anschlag ein. Sie entsann sich, daß Herr von Buchwald sich bei seinem Besuche als ein geringer Feind eines frischen Trunkes erwiesen hatte, und baute auf diese Wahrnehmung einen kecken und abenteuerlichen Plan. Sie entnahm von dem Schenkwirt Janssen, dessen Wohnung nicht zu weit entfernt war, auf Borg ein Fäßlein Husumer, legte es auf ihre Schulter und 149 spazierte mit tapferen Schritten zur Burg zurück. Als sie durch die Menge der Weiber mühsam bis zur Thürwache gedrungen war, vermeldete sie, daß sie ein Fäßlein Husumer zu übergeben beauftragt sei, welches der Kommandant zu seines Lebens Unterhalt bestellt habe.
Die Wache machte ein verwundertes Gesicht und bemerkte, daß an diesem selben Morgen erst ein nicht unbeträchtliches Faß Bier hereingebracht sei und nicht wohl angenommen werden könne, es sei bereits anjetzt bis zum Grund ausgezapft. Bei dieser Nachricht erschrak Peerke recht ernstlich, denn sie fürchtete sich auf einer Lüge ertappt zu werden und daß sie einen schimpflichen Rückzug thun müßte: die Not des Augenblicks aber gab ihr Kraft, und sie fing an, sehr barsch mit dem Menschen zu reden, meinte, der Schenkwirt Janssen sei nicht gewohnt, sich zum Narren halten zu lassen, auch der Kommandant selber werde sich nicht gern mit einem solchen Manne verfeinden, und die Schildwache solle am Ende alles zu verantworten haben, wenn sie ihr nicht augenblicklich Raum gebe.
Der arme Mensch ward nun wirklich verwirrt, da er ein Frauenzimmer so nachdrücklich und fast despektirlich wider den Kommandanten sich ereifern hörte, fürchtete ein Unheil auf sein unschuldiges Haupt herabzuziehen, und hielt es für klüger, die ziemlich unbedenkliche Person passieren zu lassen.
150 Es fügte sich aber so glücklich, daß Herr von Buchwald infolge der starken Aufregung dieses Tages und um sein von herbem Mitgefühl gepeinigtes Herz zu beruhigen, den Morgens eingelieferten Vorrat an Bier eben bis auf die Nagelprobe verzehrt hatte und deshalb nicht wenig erfreut und gerührt war, als in so unerwarteter Weise dem kaum drohenden Mangel abgeholfen ward.
Peerke stand dicht vor der Thür still und stellte das Bierfäßchen wie eine Schutzwehr vor sich hin, denn als sie den Kommandanten ganz allein in seinem Zimmer sitzend fand, ward sie vor großem Respekt sogleich von dem alten Geiste der Furchtsamkeit ergriffen; zu sagen aber wußte sie gar nichts. Und auch er erschrak ein wenig, als er sie erkannte, und fragte sie betreten:
»Gute Peerke, ist Dein Mann auch unter den Gefangenen?«
Da brachen ihr die Thränen heftig hervor, und er konnte daran erkennen, daß es wirklich an dem war. Weil er aber von ihrem Kummer stark und plötzlich ergriffen wurde und fürchtete, die Bewegung seines Herzens möchte ihn übermeistern, fand er keinen andern Ausweg, als mit recht grimmiger Miene und Stimme sie anzufahren:
»Deinem Mann widerfährt nichts Schlimmeres als den andern auch: ich kann nichts thun. 151 Dulce et decorum est... Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben.«
Je grimmiger der Kommandant sich geberdete, desto schneller faßte sich Frau Peerke und schien sogar auf einmal einen leidlichen Heldenmut gewonnen zu haben. Sie äußerte ganz trotzig, es erscheine ihr süßer, wenn ein tüchtiger Lotse dem Vaterlande erhalten bleibe, und ehrenvoller, wenn ein schwaches, feiges und nutzloses Frauenzimmer für ihren Mann sterben könne, und bat kurzweg ihre eigene Person dem wütenden Feinde auszuliefern und dafür den Hans Frank Jaspers zurück zu fordern. Nur möchte sie, wenn es geschehen könnte, der Schicklichkeit halber gerne des Hängens ledig sein und lieber etwa, was auch das Einfachste sei, im Wasser ertränkt werden.
Herr von Buchwald richtete sich in seinem Stuhle hoch auf, saß starr und steif, blickte Peerke mit großen Augen ins Angesicht und forschte aufmerksam, ob er nicht etwa mit einer geistig Verstörten zu thun habe. Denn es schien wohl begreiflich, daß ihre Seele bei einem so schweren Ereignis könnte gelitten haben.
Wie er sie aber so still und ernsthaft dastehen sah und auch nicht eine einzige Miene oder Geberde ein aufgeregtes und irres Wesen verriet, schüttelte er verwundert den Kopf und fragte:
»Wie, Peerke? Ich glaubte, und Dein Mann 152 selber sagte es, Du seiest von furchtsamer und kläglicher Art und liebtest auch ihn nicht so recht, wie es sich gebührte, geschweige denn, daß Du ein so gewaltiges Ding um seinetwillen zu erdulden bereit wärest!«
»Das ist alles wahr, Herr Kommandant,« entgegnete Peerke, »und eben darum, weil ich seiner so gar nicht wert bin, ihn auch nicht richtig zu lieben verstehe, wäre es das Beste, ich würde rasch von ihm und aus der Welt gethan. Und deshalb kam ich zu bitten, daß dieser Tausch vorgenommen werde.«
Da erseufzte Herr von Buchwald heftig, hob sich von seinem Sessel auf und ging eine Zeitlang mit schweren und schwankenden Schritten in dem Gemache umher. Endlich blieb er vor der Peerke stehen, legte seine beiden großen rauhen Hände aus ihren blonden Kopf und sagte, so strenge er konnte:
»Peerke, geh nach Hause, ich weiß Dir keinen Rat noch Trost, es sei denn, daß der Herrgott selber seinen Blitz auf die Feinde niederschicke und die unschuldigen Opfer aus ihren blutgierigen Klauen befreie. Dieser Tausch ist unmöglich, denn nimmer würden die Dänen so große Narren sein und einen starken Mann für ein armseliges Weiblein herausgeben. Auch ist es wohl billig, daß im Kriege ein Mann für sein Weib und Kind sterbe, aber nicht umgekehrt. Darum gieb diesen 153 Gedanken auf und stelle Deine Sache einzig dem Himmel anheim.«
Da fiel das arme Weib zu seinen Füßen nieder und rief mit vielem Schluchzen:
»O Herr, erbarmet Euch unser Aller und thut dem schrecklichen Feinde nach seinem Begehren, daß nicht all' dies unschuldige Blut zuletzt auf Euer Haupt komme. Oder wo nicht, so vergönnet doch mir hinüberzusegeln und selber mit dem Admiral der Dänen zu reden!«
Hier ließ der Kommandant zum andern Male den seltsamen Wunsch vernehmen, an Händen und Füßen gebunden und aller Macht und Entscheidung ledig zu werden. Da aber offenbar niemand vorhanden war, der ihm diesen Wunsch erfüllen konnte, so ließ er davon ab und begann die flehende Peerke hart anzulassen, schalt sie eine Närrin und dergleichen, versicherte auch ernstlich, er werde nimmermehr zugeben, daß sie sich in nutzlose Gefahren begebe für einen Mann, der es nicht im Mindesten wert sei; denn er habe in mehrjähriger Ehe noch nicht einmal erkannt, welch herrlichen Schatz er an seinem Weibe besäße, er sei also ein höchst blödsichtiger Thor oder gar ein Schelm, der sich vor Hochmut blähe.
Jedoch mußte Herr von Buchwald nun rasch erkennen, daß er für solche heftigen Ausfälle wider einen Abwesenden sein Publikum schlecht gewählt hatte: zum 154 erstenmal vielleicht in ihrem Leben wallte Peerkes sanftes Blut hitziger auf, sie sprang auf ihre Füße, vergaß ihre vorige Bescheidenheit und fing an rücksichtslos auf jeden zu schmähen, der ihrem Gatten, dem besten Manne von Helgoland, etwas anzuhängen wagte. Es seien das lauter höchst abscheuliche und widerwärtige Lügen, die nur der Neid erfinden könne: denn freilich sei nicht jedermann ein Held wie Hans Frank, der sich bisher schon im Frieden tapferer bewiesen habe, als alle Soldaten und Offiziere der Garnison zusammengenommen im Kriege – und was dergleichen schlimme und aufrührerische Reden mehr waren.
Herr von Buchwald beobachtete mit großem Erstaunen die merkwürdige Erscheinung, wie dies sanftmütigste Vögelchen von der Welt plötzlich so grimmig und gereizt sein Gefieder sträubte und höchst gewaltthätig um sich kämpfte. Er fand aber zugleich, daß durch die erhitzten Mienen und die sprühenden Augen ihrer leiblichen Schönheit gar kein Abbruch geschehe, und diese Bemerkung erfüllte ihn mit so großem Wohlwollen, daß er rasch das hübsche zornige Köpfchen mit beiden Händen ergriff und den beredten Mund liebreich zu küssen versuchte.
Aber auch ihre Abwehr geriet diesmal ganz anders als ehedem in ihrer Hütte. Die hastige Bewegung 155 ihrer Hände sah einem ernsthaften Schlagen sehr bedenklich ähnlich, und die Ritterlichkeit des hohen Offiziers ward wirklich auf eine harte Probe gestellt. Zum Glücke war er durch das geleerte Fäßchen hinter sich und das volle vor sich in eine unzerstörbar rosige Laune versetzt; und so lachte er nur herzlich und sagte:
»O Peerke, wenn Du nur ein einziges Mal Deinem Ehegemahl so zu Leibe gegangen wärest, wahrlich, Du hättest Dir längst eine ganz andere Hochachtung bei ihm gewonnen, als er Dir bisher zu teil werden ließ.«
Dieser nutzbare Rat übte doch eine sänftigende Wirkung auf Frau Peerkes erregtes Gemüt; sie stand verdutzt und sehr nachdenklich und wußte nichts darauf zu erwidern.
Herr von Buchwald ward auf einmal sehr ernst, hob den Finger empor und sagte ruhig:
»Siehe, gute Peerke, wenn Du Dich so ungeberdig zeigest bei dem Scherz eines Freundes, was wolltest Du anstellen, wenn Herr Paulsen drüben bei den Dänen Dich etwa mit roheren Händen antastete? Oder glaubst Du, daß Du leichteren Kaufs das Leben Deines Gatten von jenem erwirken würdest?«
Da gedachte Peerke wiederum der schönen Gundula von Wismar; sie erschauderte und wagte kein Wort mehr zu äußern, sondern stand still weinend mit demütig gefalteten Händen.
156 Bei diesem Anblick entschloß sich der Kommandant jählings zu einem fluchtähnlichen Rückzuge; er entwich durch eine Seitenthür in sein Schlafgemach und sicherte sich dort durch Schloß und Riegel vor weiteren Angriffen auf sein patriotisches Gewissen.
So fand sich denn Peerke allein den tauben Wänden gegenüber, und sie erkannte, daß sie hier auf keine Hilfe mehr zu hoffen habe, obwohl es ihr nicht entgangen war, wie sauer dem Kommandanten solche Härte ankam, denn er hatte ja selber gewünscht, lieber an Händen und Füßen gebunden zu sein. Indem ihr nun dieser verzweifelte Ausruf sorgenvoll durch den Sinn ging, ward sie wiederum durch den fürchterlichen fernen Schuß aufgeschreckt – die dritte Stunde, die Hälfte der gegebenen Bedenkzeit, war abgelaufen.
Dieser mitleidslose Mahnruf schüttelte ihre durchängstigte Seele so sehr, daß es sie nicht länger in dem einsamen Raume duldete; sie verließ die Burg mit dem heimlichen Gedanken, draußen noch irgend einen neuen Versuch zur Rettung zu machen – nur welchen, das wußte sie freilich nicht. Wie sie nun an den Wachen vorbei ins Freie gelangt war, dröhnten ihr andere laute, aber friedliche und feierliche Klänge entgegen; es waren die Glocken, welche die klagende Gemeinde zu einer herzlichen Fürbitte in die Kirche beriefen. Auch sah Peerke, daß die Frauen fast alle von ihrem 157 hoffnungslosen Jammern vor der Burg abließen und dem Glockenton nachgingen. Da folgte auch sie dem heiligen Ruf, um dem höchsten Herrn als dem ewigen Erbarmer ihre Not ans Herz zu legen.
Als sie die Halle der Kirche betrat, fand sie die Frauen und wenige Männer mit ihnen überall auf den Knien liegend, und der Pfarrer stand vor dem Altar und hatte eben begonnen, durch eine tröstende Ansprache die zerknirschten Seelen aufzurichten. Er sprach in schönen warmen Worten über den Text: »Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.« Er ermahnte in Demut die große Prüfung Gottes aufzunehmen und zu tragen, gab zu bedenken, daß der jähe Tod der gefangenen Freunde gefordert werde durch die Treue gegen die von Gott bestellte Obrigkeit und durch den heiligen Eid des Gehorsams und der Unterthänigkeit, den alle Männer des Eilands ihrem Herrn, dem Herzog Christian Albrecht, zugleich geleistet; und obzwar die armen Fischer wider ihren Willen in die dringende Leibesgefahr gekommen seien, so würden sie doch den Tod wahrer Helden und Märtyrer sterben, wenn sie ihn mit willigem Herzen und freiem Mut für das Vaterland erduldeten.
Solche und viele andere ähnliche Worte sprach der Pfarrer in langer Rede mit ruhiger, feierlicher Stimme, einer Stimme, deren edler und starker Ton 158 alle Hörenden festhielt und seinen erhabenen Gedanken zu folgen zwang. Und nun fuhr er fort zu ermahnen: auch sie selbst, die Zurückgebliebenen, würden teil haben an dem Ruhme echten Heldentums, wenn sie demütigen Herzens das Opfer brächten, ob es gleich manchem wohl noch schwerer dünken möchte, als das, welches von den Sterbenden selber gefordert werde; denn es sei für ein liebendes Weib oder Mutter oder Vater gewißlich leichter, das eigene Leben hinzugeben, als das eines teueren Gatten oder Kindes . . . und darum werde solche Demut vor Gottes Thron auch doppelt hoch angerechnet werden . . .
Bei all' diesen letzten Worten aber zuckte ein leises wehevolles Beben durch den vollen Klang seiner Stimme, ein hart bekämpfter und dennoch unaufhaltsam durchbrechender Ton eigenen namenlosen Schmerzes: und obwohl niemand sein Antlitz mehr deutlich sehen konnte, denn der Abend dämmerte schon schwer in der gewölbten Halle, so zog doch wie eine mitleidsvolle Antwort ein vernehmliches Seufzen und Schluchzen durch die Reihe der trauernden Beterinnen. Denn eine jede wußte, daß der eigene einzige Sohn des geistlichen Herrn, ein blühender, fröhlicher Jüngling, an diesem Morgen zu seiner Belustigung mit den Fischern hinausgefahren war.
Und als der Pfarrer dies stille teilnahmvolle 159 Seufzen unter dem dämmernden Gewölbe ringsumher vernahm, da vermochte er nicht mehr weiter zu predigen, sondern weinte überlaut und trat von den Stufen des Altars herab, indem er ausrief:
»O mein Herr und Gott, siehe, ich bin unwürdig, dein Wort dieser armen Gemeinde in so furchtbarer Stunde zu verkünden, denn ich vermag nicht mein eigenes verzagtes Herz zu beschwichtigen, meine Seele zerbricht unter dem Opfer, das sie gerne bringen soll und nicht kann, ob es schon geringer ist, als was du selbst gethan hast, da du deinen eingeborenen Sohn am Kreuzesstamm hinschlachten ließest, die sündige Menschheit zu erlösen. O Herr, erbarme du dich dieser Weinenden und rede selber mit deiner heiligen Stimme zu ihren Herzen; ich vermag nicht fürder sie zu trösten.«
Als der Pfarrer diese Rede der bitteren Verzweiflung herausgestoßen, entstand eine tiefe bange Stille des Staunens und Schreckens; aber mitten in diese Stille hinein tönte statt der tröstenden Stimme des Herrn das gräßliche Dröhnen des todverkündenden feindlichen Geschützes, das Ende der vierten Stunde verkündend.
Und ein mehrhundertstimmiger, entsetzlicher Aufschrei folgte, und dann ward es wieder eine Stille, schwül und dumpf, als ob der Tod schon selber auch hier seinen Einzug gehalten.
160 In diesem Augenblick vernahm man vom Altare her eine andere Stimme, die Allen bekannt war und dennoch Allen fremd erschien, weil Keiner je so laute und kühne Worte von ihr vernommen hatte. Denn es war Peerke Reimers, Hans Frank Jaspers Ehefrau, die verständlich vor allem Volke zu sprechen begann:
»Gott wird uns helfen!« rief sie, »und sie sollen nicht sterben! Wir können sie retten, wir, die Frauen von Helgoland, wenn wir Mut haben und nicht zaudern. Wisset, vor einer Stunde hörte ich unsern Kommandanten selber bitterlich seufzen und sagen: Ich wollte, daß ich an Händen und Füßen gebunden und aller Macht und Entscheidung ledig wäre! Und daraus erkannte ich, daß auch er mit Kummer den Tod unserer unschuldigen Männer sähe und sie gerne vom Hängen retten möchte, wenn er könnte: aber sein Eid bindet ihn und seine Soldaten mit ihm und auch die andern Männer von Helgoland. Denn sie alle haben dem Herzog geschworen, ihm dies Land treu zu bewahren mit ihrem Schwert und Blut; darum dürfen sie jetzt nichts thun, was zum Schaden seiner Herrschaft wäre. Wer aber hat jemals uns, die Frauen, schwören lassen? Wir sind allzumal frei von Eid und Pflicht wider den Herzog, wir haben nur Eine Treue zu bewahren, die wir hier vor diesem Altar beschworen haben, die Treue gegen unsere Männer. Mein Mann ist mein Herzog 161 und mein König, und mein Haus ist mein Vaterland; dafür sollen wir leben und wollten wir sterben, wenn es so verhängt wäre. Ich meine aber, daß wir alle noch bessere Hoffnung haben dürfen. Denn warum sollten wir Herrn von Buchwald nicht seinen Wunsch erfüllen und ihn seiner Verantwortung entledigen, indem wir ihn binden und in Haft setzen und mit ihm Herrn Frobös und die Soldaten alle? Wir sind doch unser mehr denn zehn oder zwanzig gegen einen, auch findet wohl manche von uns daheim eine Waffe ihres Mannes oder Bruders, die uns helfen könne, sie zu schrecken, falls sie einen Widerstand versuchen sollten. Ich denke aber, wir müssen sie mit List und so heimlich überrumpeln, daß keiner einen Gedanken findet, sich zu wehren. Wenn wir sie aber überwältigt und gefangen haben, sind wir die Herren der Insel und haben Freiheit, sie dem Dänenkönig zu übergeben oder wem wir wollen. Auch habe ich öfters sagen hören, daß der König und der Herzog unter einander rechte Vettern sind; was thun wir also sonderlich Böses und Verräterisches, da doch alles in der Verwandtschaft bleibt? Wenn sie mit einander handeln, wie es unter Verwandten gebührt, so werden sie schon selber nachher einen Ausgleich finden, ohne daß unsere Männer um ihres Haders willen gefangen zu werden brauchen.«
So weit hatte die tapfere Peerke vor der 162 staunenden Menge ohne Unterbrechung gesprochen; die wachsende Dunkelheit gab ihr Mut, so frei zu reden, was sie im hellen Tageslicht schwerlich würde zu Stande gebracht haben. Zuletzt aber war ihre Aufregung und Angst so groß geworden, daß sie in ein schweres, krampfhaftes Schluchzen ausbrach. Doch das vernahm zum Glücke niemand mehr, so daß niemand ihren festen Heldensinn in Zweifel ziehen konnte: sobald ihre Stimme nur einen Augenblick nicht mehr gehört wurde, erscholl durch den eben noch so lautlosen Raum der Kirche ein gewaltiges und freilich unheiliges Freudengeschrei. Denn es ist wohl wahr, daß wenige hundert Frauen, so sie begeistert sind, ein durchdringendes Getöse von sich zu geben vermögen, als wenn zehntausend Männer in der Schlacht schreien.
Der Lärm ward aber so groß, daß dringend zu befürchten war, man möchte es auf der Burg oder dem Walle vernehmen und irgend welchen Verdacht daraus schöpfen; und es war niemand vorhanden, der Ruhe zu gebieten die Macht und die Stimme gehabt hätte. Und doch fand sich Einer zuletzt, und Einer, dem man es am wenigsten zugetraut hätte: das war der Küster, ein alt dürres und schon halb geistesschwaches Männchen, das keinen Bruder, Sohn oder Enkel mehr auf Erden hatte und sich um nichts mehr 163 kümmerte als um seinen Dienst, den es treu und gedankenlos nach altem Brauch zu versehen pflegte.
Diesem Küster erschien sowohl die Predigt eines Frauenzimmers vor dem Altar als auch das regellose Geschrei, welches darauf folgte, so unziemlich, daß er zornig darüber wurde und in heiligem Eifer, um dasselbe endlich zu übertönen und zu unterdrücken, mit aller Macht die Orgel zu spielen anhub. Und nun brausten über die gellende Frauenmenge dahin die Klänge einer herrlichen, ernst gehaltenen und zugleich doch starken und wehrhaften Weise:
Ein feste Burg ist unser Gott,
Ein gute Wehr und Waffen,
Er hilft uns frei aus aller Not,
Die uns itzt hart betroffen,
Der alte böse Feind,
Mit Ernst er's itzt meint;
Groß Macht und viele List
Sein grausam Rüstung ist,
Auf Erd' ist nicht seins gleichen.
Da verstummte alles Mißtönen und wirre Lärmen und ging unter in dem Orgelklang und den stolzen Accorden des Trutzliedes; und alle Frauen, eine nach der andern, stimmten mit ein und sangen das Lied wie ein großes Gebet um Mut und Kraft. Und obgleich nur wenige Männerstimmen einfielen, hallte es doch stark und freudig unter der Wölbung, und man mochte 164 erkennen, daß ein neuer männlicher Geist sich auf diese armen Frauen gesetzt hatte und auch ihre zarten Stimmen mit einer ernsten Kraft erfüllte.
Und als der letzte Vers des Gesanges verklungen war, erhoben sich alle einmütig und still, gingen in kleinen Schwärmen aus der Kirche und ordneten sich draußen so gut, als ob sie von dem strengsten Kommandanten ihr Leben lang in scharfer Zucht gehalten wären. Diese Schwärme zerstreuten sich zu ihren Häusern, um alle Waffen zu sammeln und sich damit wieder in der Kirche zu gemeinsamer That zu vereinigen. Andere entzündeten unterdessen, als ob es ihnen geheißen wäre, die Lichter in der Kirche und stellten sich dann in guter stiller Ordnung um Frau Peerke, welche auf den Stufen des Altares in die Kniee gesunken war. Der Pfarrer aber betete neben ihr, und von oben her tönte die Orgel in anderen Weisen fort und fort; und es war, als wenn dem armseligen Küster ein fürsorglicher Geist befohlen hätte, mit diesen weit vernehmbaren Klängen allen anderen Lärm zu verhüllen, so daß in den Rotten der Besatzung niemand einen Argwohn fassen konnte.
Wirklich lagen die Soldaten während dieser heimlich kühnen Vorbereitung sorglos in ihren Hütten, und selbst die Schildwachen blickten von dem Walle nur lässiger aufs Meer hinaus, denn es war eine lichte 165 Sommernacht, deutlich waren die Umrisse der feindlichen Orlogschiffe gegen den halbhellen Horizont zu unterscheiden, und nicht ein Boot konnte von dort sich nähern, ohne sofort bemerkt zu werden, so daß ein Überfall nicht im Geringsten zu besorgen war.
Herr von Buchwald aber saß mit seinem Lieutenant Frobös in der Burg, hatte das zweite Fäßlein, das ihm Frau Peerke gebracht, angestochen und zechte fleißig mit ihm um die Wette, denn er fühlte, daß er seine Herzensnot mit einem kräftigen Mittel bekämpfen müsse. Frobös aber, von Furcht bewegt, der Kommandant könnte noch in letzter Stunde etwa vom Mitleid übermannt werden und sich dennoch zu einem schimpflichen Vertrage bereit finden, setzte ihm heftig mit Trinken zu, indem er ein Hoch nach dem andern ausbrachte auf alle Menschen und Dinge unter dem Monde, die nur irgend auf solche Ehre einigen Anspruch machen konnten. Er gedachte ihn auf solche Weise todtrunken zu machen, daß er einschliefe und die Sorge für das Wohl des Vaterlandes ihm allein überließe.
Herr von Buchwald aber leistete mannhaften Widerstand, obgleich er durch das erste Fäßchen einen erklecklichen Vorsprung hatte, und Frobös begann fast schon zu fürchten, daß das Blättchen sich wenden und er selbst dem Übel der Trunkenheit unterliegen könnte, als der 166 Kommandant endlich doch kräftige Symptome zeigte, daß es mit ihm nun Matthäi am letzten wäre. Denn er saß und lächelte seinem Lieutenant sehr freundlich ins Angesicht, schloß von Zeit zu Zeit die Augen und öffnete sie nur zur Hälfte wieder, redete traumverloren von der schönen Peerke, hub sich aber plötzlich wieder munter empor und stellte an jenen das Ansinnen, er solle ihm ohne Verzug das arme Weib zur Stelle schaffen, er wolle ihrem Verlangen willfahren und sie auf eigene Hand zu den Dänen rudern lassen, damit sie ihrem Gatten zum wenigsten ein letztes Lebewohl sagen könne. Paulsen könnte unmöglich der Unmensch sein, diesem lieben Geschöpfe ein Leid zuzufügen.
Und als Frobös ihm Gegenvorstellungen machte, ward er sehr zornig, drohte ihn wegen Insubordination in Arrest zu setzen und geberdete sich so aufgebracht, daß jenem nichts übrig blieb als zum Schein zu gehorchen. Er verließ das Zimmer, trat vor die Thür der Burg und blickte in die Nacht hinaus.
Es war auffallend still draußen geworden, obgleich noch immer sehr starke Gruppen von Frauen umherstanden, aber es war kein Schluchzen und Klagen oder Flehen mehr zu vernehmen, nur in der Ferne tönte leise die Orgel. Frobös fühlte sich seltsam ergriffen durch dies unerklärliche tiefe Schweigen; die Gestalten 167 schienen leise hin und wieder zu gleiten wie wallende Gespenster.
Es kam ihm aber weiter so vor, als ob die schweigsamen Frauenbilder sich langsam, langsam näher schöben und zugleich zu immer größerer Zahl anwüchsen. Woher sie kamen, sah er nicht, er sah nur eine leise, allmähliche Bewegung, wie wenn bei ruhigem Wetter die Flut langsam plätschernd an der Düne emporsteigt. Herr Frobös trug ein erprobtes Herz in der Brust, hart und zäh, man sagte mit Recht von ihm, daß er den Teufel selbst nicht scheuen würde, wenn er ihm sichtbarlich vor Augen träte. Aber in dieser Stunde empfand er etwas, das der Furcht und dem Grauen anderer Sterblichen ein wenig verwandt war.
Da ertönte vom Meere her zum fünften Male der verhängnisvolle Schuß; es war das letzte Mal, daß er eine bloße Warnung bedeutete. Ein Frösteln überlief Herrn Frobös' felsenfeste Brust, und er drehte sich um, ins Haus zurückzutreten. In demselben Augenblick aber fühlte er sich von hinten an beiden Armen ergriffen und unsanft hin und her gezerrt. Rasch fuhr seine rechte Hand nach dem Degen, doch es gelang ihm nicht mehr, denselben aus der Scheide zu ziehen; halbtrunken, wie er war, ward er in wenigen Sekunden zu Boden geworfen, mit Stricken tüchtig gefesselt und von kräftigen Frauenarmen wie ein klagendes 168 Kindlein davongetragen. Jetzt erst schrie er wütend um Hilfe, aber nur andere Hilferufe gaben ihm Antwort aus derbem Männermunde und dazu ein vielstimmig gellendes Triumphgeschrei der Helgoländerinnen; und es dauerte nur wenige Minuten, da war ihm sein Schicksal bitter klar geworden, daß er und mit ihm die ganze Besatzung der Insel von der meuterischen Weibergemeinde gefangen genommen sei. Da biß er die Zähne aufeinander, schluckte, was er an Flüchen auf der Seele hatte, hinunter, denn es schien ihm schimpflich, wie ein Weib mit Weibern zu zetern.
Nachdem nun hier draußen und auf dem Wall jeder Widerstand ohne ernsthaftes Blutvergießen niedergeworfen war, getrauten sich die tapfersten der Kämpferinnen nicht ohne Zögern das Innere der Burg zu betreten; denn sie fürchteten den Kommandanten mehr als seine Soldaten: so groß war bei den ehrsamen Weibern der Respekt vor der Obrigkeit. Als sie aber dennoch hineindrangen, fanden sie ein gar friedliches Bild: der gefürchtete Mann saß tiefschlummernd bei eines Lämpchens stillem Schein auf seinem Armstuhl, ein Humpen lag umgestürzt daneben auf der Erde, und vor ihm stand Peerke, eine Flinte kriegerisch im Arme, die Augen aber schüchtern gesenkt und in thatlosem Sinnen. Und als die Kriegsgefährtinnen hereinstürmten, trat sie leise hinaus und 169 überließ ihnen das häßliche Werk, den stattlichen Mann im Schlaf an Händen und Füßen zu binden, obgleich er es sich selber so gewünscht hatte.
Nach der Gefangennahme des Kommandanten galt es nun den Feinden eilig ein Zeichen zu geben, daß die Insel bereit sei, ihre Leute zu lösen und sich selbst zu ergeben. Dieses Geschäft hatten die zurückgebliebenen Männer zu besorgen; sie brauchten sich nun keinen Eidbruch mehr vorzuwerfen, da kein herzoglich Regiment mehr existierte. Drei rasche Kanonenschüsse wurden vom Walle abgegeben, drei andere antworteten im gleichen Tempo von drüben, und damit waren die Friedenspräliminarien geschlossen.
Von diesem Augenblick aber ward das siegreiche Weibervölkchen von einer taumelnden Freudetrunkenheit ergriffen, die sich in dem allerwunderlichsten Treiben zu äußern begann. Viele lachten wie unsinnig und umarmten sich untereinander oder auch mit den Männern, ja selbst die gefesselten Soldaten schonten sie nicht; andere wieder lagen wie trostlos am Boden und unterhielten ein krampfhaftes Weinen, als ob ihnen das Herz brechen wollte; noch andere aber zogen umher gleich Bacchantinnen mit Fackeln und wehenden Fahnen, die sie rasch aus ihren bunten Sonntagsröckchen hergerichtet, jauchzten unbändig und ließen ihre Lichter tanzen, und es ward ein größeres Wunder als alles 170 bisher Geschehene, daß das hölzerne Städtchen nicht gänzlich ein Raub der Flammen wurde.
Unter diesen fröhlichen Tänzerinnen aber ward plötzlich die Frage nach Peerke Jaspers laut; man erinnerte sich, daß ihr die Ehre des Tages gebührte, daß sie die kühne That ersonnen und überall voran gewesen; und eine rasch überquellende Dankbarkeit verlangte ungestüm, ihr den Zoll begeisterter Huldigung darzubringen. Man wollte sie im feierlichen Zuge die Treppe hinab zur Landungsstelle tragen, man wollte sie mit Geschenken überhäufen, und jegliche verhieß das Beste ihres Schmuckes darzubringen; einige gedachten sogar sie unverzüglich zur Königin von Helgoland zu krönen.
Peerke aber war verschwunden. Man suchte sie überall vergebens, auf den Gassen, am Wall, in der Burg, in der Kirche, in ihrem Hause; sie war nirgends aufzufinden.
Sie war aber dennoch in ihrem Häuschen gewesen; doch wie sie den stürmischen Zug nahen und überall ihren Namen rufen hörte, da ward sie flüchtig und entschlüpfte aus der Hinterthür durch ein Seitengäßchen aufs Feld hinaus und begab sich geradewegs zur Weidestelle ihres Schafes, dahin, wo sie die erste stille Huldigung ihres Gatten entgegen genommen hatte.
171 Dort saß sie und sah die großen Lichter auf den dänischen Schiffen glänzen und sah, wie die Boote herabgelassen wurden und lustig auf den Wellen tanzten, wie sie mit raschen Ruderschlägen näher glitten und endlich ihren Blicken unter dem Felsen entschwanden. Jetzt mußten die Dänen gelandet sein; jetzt konnten sie die Treppe ersteigen und Besitz nehmen von der Befestigung und den Kanonen; jetzt mochten sie sich der Gefangenen versichern – und jetzt war alles vollendet: drei neue Kanonenschläge erdröhnten vom Wall, Antwort kam von den Schiffen, und deutlich war durch die leise schimmernde Sommernacht zu erkennen, wie drüben ein thätiges Leben erwachte. Die Segel wurden gehißt, erst auf den vier Orlogschiffen, dann auch auf den genommenen Helgoländer Fischerbooten, der Wind fiel kräftig in die Leinwand, und in prächtiger Fahrt setzte sich die ganze Flotte in Bewegung nach dem Hafen der Insel zu.
Bei diesem Anblick verstummte aller Lärm und alles Jauchzen am Strand und auf der Höhe, ein feierliches Schweigen der Erwartung fiel aus das beglückte Volk, und von der Kirche her zog freudig übers Land und weit bis aufs Meer hinaus tönend der Orgelklang.
Peerke aber barg ihr Angesicht in beide Hände.
172 Und so blieb sie und wartete geduldig in der nächtlichen Einsamkeit. Denn sie wußte, daß Hans Frank sie finden müßte, und sie vertraute, daß er kommen würde, zum zweiten Mal um ihre Liebe zu werben.