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Dritter Abschnitt.
Vom Beginn des Gottsched-Bodmer'schen Streits bis zur Gründung des Hainbundes (1772).

8.

Es heißt im Sprichwort: »Gott läßt uns wohl sinken, aber nicht ertrinken«, und ein anderes, das wir schon einmal ernst und ohne den ironischen Nachsatz aufnehmen dürfen, behauptet: »Gott verläßt Deutschland und die Deutschen nicht.« – Grade in dieser trübseligen und öden Zeit, wo Günther starb und ein Johann Ulrich von König, der Hofpoet und Ceremonienmeister August des Starken von Sachsen, in die Wolken erhoben wurde, wo kein frischer Hauch sich regte und kein Talent sich zeigte, von dem man etwas wie einen neuen Aufschwung hätte erwarten mögen: grade jetzt wurde in aller Stille und mit den kleinsten und unscheinbarsten Anfängen die Wiedergeburt unserer Poesie angebahnt und es begann eine Zeit der rastlosesten Arbeit, des unermüdlichen Ringens und Strebens, der oft mißlingenden, immer wieder aufgenommenen und endlich auch immer glücklicheren Versuche, die fast verdorrte und verlorene edle Pflanze mit besserem Erdreich zu umgeben, sie zu pflanzen und zu schirmen, bis sie anhob kräftig zu grünen und zu schießen, und sich endlich wirklich zur glänzendsten und duftvollsten Blüthe erschloß.

Aus dem Gebiete der Poesie selber erscheinen und regen sich diese ersten Anfänge indessen nicht, und auch von einer friedlichen Arbeit an dem großen Werk ist keine Rede. Die ersten Arbeiter und zugleich erbitterten Streiter, Bodmer und Breitinger in der Schweiz und Gottsched in Leipzig, sind als Dichter selbst für ihre Zeitgenossen von sehr geringem Werth und als solche seitdem völlig verschollen. Ihre Bedeutung und ihre Erfolge sind vielmehr allein auf dem Gebiete der Kritik und der Aesthetik zu suchen, und der zwischen ihnen geführte Streit sollte trotz aller langweiligen oder widerwärtigen Einzelheiten, trotz aller, von uns längst als falsch erkannten Züge, trotz der Fehlgriffe und Lufthiebe, uns allen stets bekannt und gegenwärtig bleiben; denn er ist die Geburtsstätte unserer neueren Poesie, ja unserer gesammten, seitdem erblühten Literatur.

Um das Jahr 1721 fand sich zu Zürich um zwei junge Leute, Bodmer und Breitinger eine Zahl von Altersgenossen allwöchentlich zusammen, um sich über Kunst und Literatur, Wissenschaft und Leben zu unterhalten und eigene Ausarbeitungen der Mitglieder zu beurtheilen. Alle diese jungen Leute standen, sei es auch nur auf Bodmers Vorgang, unter dem Einfluß der englischen Literatur. Man gründete, in Nachahmung des berühmten, von Addison und Steele herausgegebenen Spectators, eine Wochenschrift für die erwähnten Arbeiten der Mitglieder, die man zuerst »Discourse der Maler«, später »Maler der Sitten« hieß – man hatte sich, wie es bei den poetischen Gesellschaften Mode war, besondere Namen und zwar diejenigen berühmter Maler gewählt. Zum Stoff und Gegenstand seiner Beiträge nahm man alles, was geeignet war, das Nachdenken anzuregen, die Anschauung und Auffassung des Lebens zu lichten und zu vertiefen, den Geschmack zu bilden und, gleich den Engländern, die Natur und Naturwahrheit, das Einfache und Volksmäßige in ihre unverjährbaren Rechte wieder einzusetzen – im strengen Gegensatz zu der Künstelei und dem Schulzwange der französischen Hof- und Kunstpoesie. Schon im 20. Discourse findet sich ausgesprochen, was von Bodmer und Breitinger fortan, wenn auch allmälig in erweiterter Fassung, als Fundamentalsatz ihrer Theorie festgehalten wird: Die Dichtkunst bestehe in der Nachahmung der Natur. Wie der Maler dieselbe abmale, müsse der Dichter sie abschreiben. – Und hieran schließt sich alsbald der zweite Satz: die Quelle der Poesie ist das lebendige Gefühl und die frische, unverkünstelt erregte Phantasie, und auch ihr Ziel ist nur die Beschäftigung der Einbildungskraft. –

Hiermit traten sie gewissermaßen in graden Gegensatz zu der gesammten Poesie seit Opitz, und was in Ansehung der unmittelbaren Wirkung und der nächsten Folgen viel wichtiger ist, zu dem, der in der Ferne auf dem gleichen Felde eben die gleiche Arbeit aufgenommen hatte und seine Lehre mit allen Mitteln zur Geltung zu bringen suchte.

Johann Christoph Gottsched, geboren bei Königsberg im Jahre 1700, kam vierundzwanzig Jahre alt nach Leipzig und fand als Hauslehrer bei dem Professor der Geschichte, Mencken, Aufnahme. Dieser war Herausgeber der » acta eruditorum,« einer nach dem Muster des » Journal des savants« gegründeten, weitverbreiteten Zeitschrift, und daneben der Gründer der sogenannten »Görlitzer (poetischen) Gesellschaft«. So gelangte Gottsched sogleich in literarische Verbindungen und wußte sich dies bestens zu nutze zu machen. Es spricht für den Geist und die Begabung des jungen Mannes, ja selbst für den persönlichen Werth des Menschen mehr, als man ihm früher und später zugestehen mochte, daß er sich ungesäumt, voll Ernst und Unermüdlichkeit, in eine selbstständige, ganz außerordentliche literarische Thätigkeit stürzte und sich in kurzer Frist schon, im fremden Lande und unter den fremden Menschen, eine hochangesehene, einflußreiche, alsbald dominirende Stellung zu erringen wußte. Schon mit dem Jahre 1725 sing er seine erste Wochenschrift, »die vernünftigen Tadlerinnen«, an, welche allmälig eine ganze Reihe von anders betitelten Fortsetzungen erhielt, und verfolgte die Aufgabe, die deutsche Sprache und Literatur zur Reinheit, Einfachheit und Regelmäßigkeit zurückzuführen. Im nächsten Jahre erwählte ihn die vorhin erwähnte poetische Gesellschaft zu ihrem »Senior«, und er durfte es wagen, sie in eine »deutsche Gesellschaft« umzugestalten, die nach dem Vorbilde Académie francaise eine Art von Aufsichtsbehörde der Poesie und Literatur in Deutschland vorstellen sollte.

Seine Lehre fand ihre Feststellung vorzüglich in seinem »Versuch einer kritischen Dichtkunst« 1730, wo dieser Stoff in Deutschland zum erstenmal in wissenschaftlicher Form verarbeitet ist. Er nimmt zwar noch mit Opitz an, daß das Dichten nur eine Operation des Verstandes sei, der durch Einbildungskraft, Menschenkenntniß, gründliche Studien und guten Geschmack unterstützt werde. Ein so ausgestatteter Kopf könne immer ein Gedicht machen, sobald er sich nur streng an die von der Vernunft anerkannten Regeln halte. Er geht aber weit über Opitz und dessen Nachfolger hinaus, indem er die Dichtungslehre nach philosophischer Methode in ein wirkliches System zu bringen sucht; indem er ferner das innere Wesen der Poesie als Nachahmung der Natur bezeichnet, und indem er endlich die Kunstregeln der Alten darum für die richtigen erklärt, weil er sich durch Denken überzeugt habe und stets überzeugen könne, daß sie die allein vernünftigen seien. Daher stellt er neben den Alten die Franzosen als Muster auf: sie erscheinen ihm in ihren Meisterwerken als die vernünftigsten und glücklichsten Nachahmer der Alten, und wenn die deutschen Dichter ihnen folgten, würde man hoffentlich die bisherigen Mängel gehoben sehen.

Dieser, den Franzosen zugestandene Vorzug gewann ihm und seiner Lehre von Anfang an die Zustimmung der ganzen vornehmeren und feineren Gesellschaft, deren Bildung bekanntlich in der französischen wurzelte. Es war aber mit diesem Vortheile nicht genug. Als er 1730 Professor der Philosophie und Beredtsamkeit geworden war, erlangte er dadurch eine Autorität, wie sie kein anderer Schriftsteller leicht zu erreichen vermochte, und zwar nicht bloß in den Augen des großen Publikums, sondern auch in den gelehrten Kreisen. Hier brach er denn die Herrschaft der lateinischen Versmacherei und brachte die deutsche Dichtkunst neben, ja vor der lateinischen Schulpoesie zur Geltung. Und um ihre Befähigung und Berechtigung zu erweisen, sorgte er dafür, daß das Publikum »Dichtungen« zu lesen bekam, die, nicht mehr Uebersetzungen, sondern Originale, nach den aus dem Französischen abstrahirten Regeln gearbeitet waren und zeigen sollten, wie die deutschen Köpfe und die deutsche Sprache mit allen Ehren neben den ausländischen bestehen könnten.

Mit einem Wort, Gottsched war bei weitem nicht der plumpe und geistlose, durch Aufgeblasenheit und Herrschsucht betäubte Kopf, für den man ihn später auszuschreien liebte. Er hat im Gegentheil für die Sicherung und Ausbreitung seiner Lehre und seiner Dictatur mit einer Energie und einem Tact gearbeitet und gekämpft und die von ihm für richtig gehaltenen Ziele mit einer Unermüdlichkeit verfolgt, die im Grunde unsern vollen Respect verdienen. Von Anfang an hatte er begriffen, daß die Zeitschriften von einem um vieles bedeutenderen Einfluß auf die Verbreitung seiner Lehre und seines Ansehens sein mußten, als die dickleibigen Bücher, welche die einzeln aufgestellten Sätze zusammenfaßten und sozusagen in ein System brachten, aber für die Meisten unzugänglich und allzu schwer blieben. Ebenso begriff er bald die Bedeutung, welche das Theater für ihn in der gleichen Richtung hatte. Er nahm sich daher desselben auch mit der gleichen, ja wo möglich noch gesteigerten Energie an – eine Besserung und Reinigung that freilich nirgends mehr noth als grade hier. Es spielte damals die Neuber'sche Truppe in Leipzig. Er verstand die Leiterin derselben für seine Principien zu gewinnen und brachte diese nicht nur in eigenen – »der sterbende Cato«, – sondern auch in anderen, regelmäßig komponirten, bald übersetzten, bald deutschen Originalstücken dem Publikum zur Anschauung. Sein Erfolg war ein staunenswerther. Die wüsten »Haupt- und Staatsactionen« verschwanden, die »Opern« verstummten, und im Jahre 1737 verbrannte er mit Zustimmung der Neuberin den »Hanswurst« feierlich auf der Bühne. Zugleich lieferte er in der »Deutschen Schaubühne nach den Mustern der Alten« gewissermaßen ein Repertoire von fast vierzig Stücken.

Seine Fehlgriffe liegen freilich auf der Hand. Aber es ist leicht sagen, daß es wichtiger gewesen wäre, den gesunden, volksthümlichen Kern der Haupt- und Staatsactionen und Hanswurstiaden festzuhalten und ihre Stoffe in der Weise und mit dem Geist der Engländer aufzufassen und zu entwickeln. Wie hätte Gottsched von seinem Standpunkte aus und mit seiner beschränkten Anschauung dazu auch nur kommen können? Erkennen wir es im Gegentheil an, daß er der Poesie und dem Theater wieder eine gewisse Haltung aufzwang, die bis auf ihn und seit langer Zeit vollständig verloren gegangen war, daß er Muster aufstellte und Regeln angab, welche, sei es auch nur äußerlich, diese Haltung befestigten. Und wie er dies practisch bei seiner, wir dürfen schon sagen, Bühnenleitung durchführte, so stellte er es theoretisch durch seine obenerwähnte »kritische Dichtkunst« her. So hat er unermüdlich durch seine Zeitschriften, durch die »Grundlegung der deutschen Sprachkunst«, durch sein eigenes Beispiel für Reinigung der Sprache und des Geschmacks wie für die Correctheit fortgearbeitet und in gewissem Sinne die deutsche Schriftsprache erst festgestellt. Um schließlich dessen zu gedenken, ist sein Buch »Nöthiger Vorrath zur Geschichte der deutschen dramatischen Dichtkunst«, bis auf den heutigen Tag ein werthvolles, ja unentbehrliches.

Im Laufe der dreißiger Jahre erreichte sein Ansehen und sein Einfluß die größte Höhe. Er herrschte wie ein Dictator über Sprache, Dichtkunst und Geschmack, und Leipzig war der Mittelpunkt des gesammten Literaturlebens und aller feinen Bildung. Von einem Widerspruch gegen seine Verordnungen und Aussprüche war nirgends die Rede; alles was er unternahm, gelang ihm. Nur sein Wunsch, die »deutsche Gesellschaft« zu einer königlichen und damit zu einer wirklichen, herrschenden Akademie erheben zu lassen, ging nicht in Erfüllung, wie denn ja die später auftauchenden ähnlichen Pläne auch immer an ihrer eigenen Albernheit zu Grunde gegangen sind. Gottscheds immer mehr anschwellender Hochmuth und seine Aufgeblasenheit, seine Unduldsamkeit und seine Herrschsucht sollen nicht geleugnet werden. Allein sie erscheinen uns in einem bei weitem nicht so schlimmen Licht, wenn wir auf der einen Seite seiner wirklichen großen Verdienste, und auf der anderen der übertriebenen Verehrung und des sklavischen Gehorsams gedenken, mit denen man ihn umschmeichelte, und ihn allmälig verderbte. Hier, wenn jemals, darf man sagen: seine blinden Anhänger wollten es und verdienten es, geknechtet zu werden.

Mit den Schweizern war er bisher, trotz des längst hervorgetretenen Gegensatzes, in leidlichem Einvernehmen geblieben: sie verehrten gleich ihm Martin Opitz und er ließ, unter dem Einfluß seiner hochgebildeten Gattin, Louise Adelgunde Victoria, geb. Kulmus, bis auf einen gewissen Grad auch die Engländer gelten. Bodmer nahm den »sterbenden Cato« sehr freundlich auf, Gottsched erkannte 1737, in der zweiten Ausgabe seiner »kritischen Dichtkunst« die Schweizer an. Im Grunde mag er sie, die er an eigentlicher gründlicher Bildung, ja für jetzt auch in Handhabung der Sprache und der dichterischen Formen weit überragte, für ziemlich unbedeutend, am wenigsten für gefährlich gehalten haben. Von einem nennenswerthen Einfluß derselben war bisher, zumal in Deutschland, nichts bemerkbar geworden.

Allein in der »kritischen Dichtkunst« wurde nach Voltaire's Vorgang der von den Schweizern hochgepriesene Milton auf das heftigste angegriffen, und die Schweizer nahmen den Handschuh auf. Ihre Schüler und Freunde hatten sich von Zürich aus über Deutschland verbreitet und überall in der Stille vorgearbeitet; die philosophische Bildung war vorgeschritten. Liscow, der Satiriker, bewies eben in einer kleinen Schrift, daß das Recht zu kritisiren, ein allgemeines Recht der Menschen sei. Das Publikum war empfänglich und aufmerksam, und als in den Jahren 1740 und 1741 Breitinger mit der Abhandlung »über die Gleichnisse« und mit seiner »kritischen Dichtkunst«, Bodmer mit den Abhandlungen »von dem Wunderbaren in der Poesie« und »kritische Betrachtungen über die Gemälde der Dichter«, sowie mit erläuternden Anhängen zu den Arbeiten des Freundes auftraten, zündeten diese Schriften überall und ließen den Kampf von allen Seiten entbrennen. Gottscheds Tyrannei war selbst für seine Getreuesten allmälig schier unerträglich geworden.

Von allem Aeußeren und Formellen, von der Darstellung, der Entwickelung, ja zum Theil von der Begründung muß man bei diesen Schriften absehen und sich allein an die Grund- und Kernsätze halten, welche trotz alles Schwankens und Irrens, trotz Unbehülflichkeit und Weitschweifigkeit, mit einer größeren Bestimmtheit hervortreten. – Die Musterwerke der Alten, heißt es, bieten allerdings die ächten, untrüglichen und streng zu befolgenden Regeln dar, allein diese Regeln waren nicht vorher aufgestellt, sondern die Alten fanden die Kunst in der Natur und lieferten die Regeln dieser Kunst in ihren, der Natur nachgeahmten und auf sie gegründeten Werken. Das heißt also: die Kunst, welche das Schöne schafft, gibt sich selbst ihre Regeln. Ein schönheitsvolles Werk kann nicht wider die Regeln verstoßen, und wo dies dennoch der Fall zu sein scheint, müssen die Schönheit oder die Regeln betrügliche sein. – Die Poesie ist gleich der Malerei eine wirkliche Kunst, welche nur durch die Phantasie zu wirken vermag, indem diese nicht nur die äußeren Gegenstünde, sondern auch das, was den Geist erfüllt, mit solcher Kraft, Lebendigkeit und in solcher Versinnlichung darstellt, daß es wie gegenwärtig und sichtbar erscheint. – Zuletzt wird auch die Darstellung der Sitten, Charactere und Leidenschaften, d. i. des inneren Menschen überhaupt, als eine Hauptaufgabe der Poesie aufgestellt.

Trotz der Mängel, Lücken und wirklichen Irrthümer im Einzelnen, geben uns diese Lehren, von allseitiger Theilnahme und Nachdenken, durch den lebhaften Widerspruch und den heftigen Streit weitergebildet, gelichtet und befestigt, ja alsbald durch poetische Werke auch sozusagen practisch bewährt, die Grundlage der neueren Kunsttheorie und, wie wir schon sagten, der gesammten, wunderbar sich entfaltenden neueren Poesie.

Der Streit mit Gottsched wurde ins Besondere durch die Abhandlung »von dem Wunderbaren in der Poesie« hervorgerufen, da Bodmer hier Miltons »verlorenes Paradies« gegen Voltaire's und Anderer Angriffe vertheidigte. Gottsched antwortete um so heftiger, als er sich hier zuerst in seiner Anmaßung, der oberste Geschmacksrichter Deutschlands zu sein, angegriffen sah und, was nicht zu übersehen ist, zu gleicher Zeit auch durch andere Vorgänge in seiner Nähe gereizt war. Er hatte sich mit der Neuberin überworfen, die Directrice brachte ihn zu allgemeinem Ergötzen in einem Vorspiel auf das Theater, und ein junger Dichter Rost schilderte die Vorgänge in einem Gedicht, welches selber den Titel »das Vorspiel« trug. Dies war sozusagen das erste Beispiel der Auflehnung gegen Gottscheds Dictatur.

Den auf das leidenschaftlichste weitergeführten Streit haben wir hier nicht mehr zu verfolgen. Er endete mit Gottscheds völliger Niederlage und seiner, kaum weniger vollständigen Vereinzelung. Lessing war es, der ihm endlich in den »Literaturbriefen« den Todesstoß gab.

Die Schweizer waren freilich um nichts klüger als er und an gutem Willen, statt seiner die Dictatur zu übernehmen und mit der gleichen Anmaßung fortzuführen, fehlte es ihnen keineswegs. Allein die Poesie war nicht mehr der fast verdorrte Keim, den Gottsched zuerst vorgefunden und in seine Pflege genommen hatte, sondern erhob sich bereits in selbstständiger und kräftiger Entwickelung, und die schwachen und öden Köpfe, über welche der Leipziger Dictator zu herrschen gehabt hatte, wurden von immer begabteren, licht- und geistvolleren abgelöst und auf die Seite geschoben, die allzu muthig, zu stolz und zu selbstbewußt waren, als daß sie sich noch hätten die zu verfolgenden Wege weisen lassen sollen.

9.

Von den Anhängern Gottscheds, welche ihm auch während des Kampfes und nach seiner vollendeten Niederlage treu blieben, haben wir nur wenige zu nennen. Seine schon genannte Gattin nimmt unter ihnen einen hervorragenden Platz ein. Sie war eine hoch- und feingebildete Frau, und dem Gatten an Geist und Geschmack entschieden überlegen. Sie hat nicht nur aus dem Französischen, Englischen und Dänischen ( Holbergs Lustspiele) viel übersetzt, sondern auch Originalwerke geliefert, und ihre Briefe sind, natürlich mit Berücksichtigung ihrer Zeit, noch heute lesbar und nicht ohne Interesse.

Als Klopstock mit den ersten Gesängen der Messiade einen Sturm von Beifall und Bewunderung hervorrief, setzte Gottsched, dessen Niederlage bereits entschieden war, ihm und seinen Nachahmern das Heldengedicht des Freiherrn Christoph Otto von Schönaich, »Hermann oder das befreite Deutschland«, als Muster- und Meisterstück richtiger Poesie entgegen. Er that für das Werk, was er nur vermochte, und pries es in einer Weise, die seinem Verstande und Geschmack gleich wenig Ehre macht. Denn es ist ein armseliges Product eines geistlosen Kopfes, und wenn es trotzdem selbst in unserem Jahrhundert noch von neuem aufgelegt werden und Leser finden konnte, so beweist dies nur, einerseits, mit welcher Starrköpfigkeit man an Gottscheds früherem Ansehen und seiner Lehre hie und da festhielt, und andererseits, gegen welche Geschmacklosigkeit selbst unsere größten Dichter noch zu kämpfen hatten.

Auch als Satiriker begegnet uns Herr von Schönaich und zwar in gleicher Geistesarmuth, und neben ihm finden wir, gleichfalls als Heldendichter und Satiriker, einen gewissen, um nichts höher begabten Naumann. Endlich wollen wir noch Johann Joachim Schwabe nennen, dessen Monatsschrift »Belustigungen des Verstandes und Witzes«, gegründet 1741, ein Haupttummelplatz der Kämpfer wider die Schweizer war. – Andere, die aus Gottscheds Schule hervorgegangen, ihn nicht vollständig verleugneten, wenn sie sich allmälig auch freier und selbstständiger entwickelten, als er und seine Lehre es ihnen gestattet haben wurden, werden wir an anderen Stellen kennen lernen.

Wir wenden uns zu drei Männern, die mit den Parteien in keinem oder nur oberflächlichem Zusammenhange standen, von vornherein ihre eigenen Wege einschlugen und von uns als diejenigen begrüßt zu werden verdienen, welche sich über die herrschenden trübseligen Literaturzustände erhoben und von vornherein einen ehrenvollen Platz in der anbrechenden neuen Periode einnahmen. Diese drei sind Albrecht von Haller, Friedrich von Hagedorn und Christian Ludwig Liscow.

Albrecht von Haller ist zu Bern 1708 geboren. In seiner Jugend noch dem Lohenstein'schen Ungeschmack unterliegend, machte er sich doch bald durch die Kraft seines Geistes und durch eine gründliche wissenschaftliche Schulung von demselben frei, um sich fortan, zumal in der lehrhaften und beschreibenden Poesie an die Engländer anzulehnen. Sein bekanntestes Werk, »Die Alpen«, bietet beachtungswerthe Naturschilderungen und auch unter seinen Gedichten finden sich manche werthvolle. In seinem Alter schrieb er auch ein paar Romane, von denen wir nur den »Usong« nennen, da Goethe ihm das Motto für seine »Geschichte Gottfrieds von Berlichingen« entlehnte. Hallers Beispiel wirkte nicht am wenigsten durch seinen außerordentlichen wissenschaftlichen Ruf: er stand als Arzt und Physiolog, als Anatom und Botaniker im höchsten Ansehen. Er starb 1777.

Friedrich von Hagedorn wurde gleichfalls 1798 zu Hamburg geboren. Er erhielt eine vortreffliche Erziehung und stand schon im elterlichen Hause mit dem damaligen literarischen Kreise seiner Vaterstadt, Wernicke, Richey u. s. w., in Verbindung. Nach einem längeren Aufenthalt in England, erhielt er daheim eine Anstellung bei einer englischen Handelsgesellschaft und starb 1754. Er blieb mit Gottsched, wie mit den Schweizern stets im besten Einvernehmen. Als Dichter der Fabel, der Geselligkeit und Zufriedenheit und unter den Einflüssen der Engländer so gut wie der Alten, besonders des Horaz, – ist er ein Vorbild hier für Gellert, dort für Gleim und ihre Anhänger geworden. Ja in der Sprache, wie in der Darstellung übertrifft er viele von ihnen, und es gibt zwischen seinen Gedichten auch außer den bekannten: »Der Nachtigall reizende Lieder«, »Ein verhungert Hühnchen fand« u. s. w., mehrere, die uns heut noch ansprechen. Führen wir nur zwei Anfangsstrophen an:

An die Freude.

Freude, Göttin edler Herzen,
Höre mich.
Laß die Lieder, die hier schallen,
Dich vergrößern, dir gefallen:
Was hier tönet, tönt durch dich.

An den verlorenen Schlaf.

Wo bist du hin, du Tröster in Beschwerde,
Mein güldner Schlaf?
An dem ich sonst die Größesten der Erde
Weit übertraf.

Du hast mich oft an Wassern und in Büschen
Sanft übereilt.
Und konntest mich mit bess'rer Rast erfrischen,
Als mir voritzt der weiche Pfühl ertheilt.

Christian Ludwig Liscow, der Satiriker, ist heutzutage so gut wie völlig unbekannt, ja schon von seinen Zeitgenossen haben nur wenige seinen Werth und seine Bedeutung erkannt. Man stellte ihn sogar weit unter den unbedeutenden Rabener, und aus solcher Mißachtungdürfte es auch zu erklären sein, daß man erst neuerdings etwas über seinen Lebensgang erfahren hat. Er ist 1701 in Mecklenburg-Schwerin geboren und vermuthlich zu Lübeck und Rostock gebildet worden. Nach einem unruhigen Leben wurde er 1741 Privatsecretär des Grafen Brühl zu Dresden, verlor die Stelle aber, wegen unvorsichtiger Reden in Untersuchung gezogen, 1750 und starb zehn Jahre später auf einem Gute, das seine Frau bei Eilenburg besaß.

Anfangs mit Gottsched in freundlicher Verbindung, wurde er von dem Dictator jedoch schon in den letzten dreißiger Jahren mit Mißtrauen und Verstimmung angesehen, möglicherweise wegen seiner kleinen vielgelesenen Schrift: »Die Vortrefflichkeit und Nothwendigkeit der elenden Skribenten gründlich erwiesen«. Im Jahre 1742 brach er mit Gottsched vollständig, indem er in einer Vorrede erklärte: Gottsched und seine Bewunderer behaupteten die Ehre des deutschen Witzes schlecht und thäten am klügsten, sich in Zeiten zurückzuziehen und zu schweigen. – Da Liscows Satire sich meistens gegen bestimmte Personen richtete, erschreckte er die vorsichtigen und scheuen Philister um sich her und galt ihnen mehr nur als ein Pasquillant. Allein er war denn doch etwas Besseres und übertrifft an satirischem Witz, an Keckheit, Correctheit und Klarheit der Sprache die meisten seiner Zeitgenossen.

10.

Die Regsamkeit auf dem Gebiete der Literatur war zu dieser Zeit eine ganz außerordentliche. Nicht allein der fortdauernde Kampf führte immer neue Kämpfer ins Feld und erhielt alle Welt in Spannung, bei Interesse und Thätigkeit, sondern es tauchten nun auch, als habe der Boden sich genug geruht, überall die jungen Poeten selber auf und schlossen sich zärtlich aneinander und sangen lustig darauf los. Daß Leipzig noch immer eine Art von Hauptstadt blieb, wenn es auch dem Haupt selber immer schlechter ging, versteht sich, sozusagen, ohne Erklärung und schon aus der einzigen Thatsache, daß es grade zu dieser Zeit immer entschiedener zu dem literarischen und buchhändlerischen Mittelpunkt wurde. Allein es bildeten sich auch anderwärts solche Freundes- und Dichterbünde, die sich in erträglicher Selbstständigkeit zu erhalten verstanden und mit Leipzig nur noch in äußerlicher Verbindung blieben.

Einen solchen finden wir in Halle, der sich um Baumgartens, des Gründers der deutschen Aesthetik, Schüler und Freund G. F. Meier ansammelte. Zuerst waren es nur S. G. Lange und J. I. Pyra, aber schon demnächst gesellten sich zu ihnen drei Namen von gutem Klang: Gleim, Uz und Götz und andere folgten, die wir nicht weiter zu erwähnen haben. Sie lasen die Dichter des Alterthums, vorzüglich den Anakreon, und versuchten sich in eigenen Dichtungen und Uebersetzungen. Zu Gottsched stand man ziemlich freundlich, aber die Baumgarten'sche Lehre war den Schweizern günstiger, und das Vorbild der jungen Leute war, wie wir es schon erwähnten, gewissermaßen Hagedorn. Als sich mit dem Ende der Studienzeit die Gesellschaft auflöste, bildeten sich zwei, fürs erste noch eng verbundene Kreise, – der eine um Lange, den jetzigen Pfarrer zu Laublingen, und seine gefeierte Gattin, der andere um Gleim, welcher anfangs zu Berlin lebte. Unter den hier Vereinten wurde der Grund zu der Literaturschule gelegt, die nach kurzer Zeit schon nicht nur für die Entwickelung der Literatur, sondern auch für die deutsche Geistesbildung von eingreifendster Bedeutung werden sollte.

Pyra's haben wir noch besonders zu gedenken. Gottsched vertrieb ihn durch stets erneute Rücksichtslosigkeit gewissermaßen muthwillig von sich und den Schweizern in die Arme, und als er nun die Schale des vollen Zornes über ihn ausgoß, veröffentlichte Pyra im Jahre 1743 seine Schrift: »Beweis, daß die G.ttsch.dianische Secte den Geschmack verderbe.« Es war einer der gewaltigsten Stöße, die der wankende Dictator empfing, ja wir dürfen annehmen, daß sich in Folge dieser Schrift der Leipziger, bisher noch immer abhängige Kreis von Gottsched und der erwähnten Schwabe'schen Zeitschrift zurückzog und demnächst eine eigene gründete, »Neue Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes«, oder wie sie nach dem Verlagsort gewöhnlich genannt wird, die » Bremer Beiträge«. Mit diesem, vom Jahre 1744 an erscheinenden Blatt beginnt die neue, bessere Zeit in der Poesie wie in der Prosa. Sie machte von Anfang an ein ungemeines Aufsehen und gewann den größten Einfluß auf die Ausbreitung der Bildung, auf die Hebung des Geschmacks und auf die Erweckung eines höheren Interesse's für die Literatur auch in den mittleren Ständen. Und was hierbei von höchster Bedeutung erscheint, ist, daß es das erste Blatt war, welches mit allem Takt und Verständniß ausdrücklich auch für weibliche Leser bestimmt und auf sie berechnet wurde.

An der Spitze des Unternehmens stand Karl Christian Gärtner, selber nur wenig productiv, aber rühmenswerth wegen seiner gründlichen Kenntnisse, seines Geschmacks und seiner Urtheilskraft. Ihm schlossen sich, theils früher, theils später, in der Nähe und Ferne an: J. A. Cramer, Adolf und Johann Elias Schlegel, Rabener, Konrad Schmid, I. A. Ebert, F. W. Zachariae, Ch. F. Gellert, N. D. Giseke, zuletzt noch G. Fuchs und Klopstock, von dessen Messiade die ersten drei Gesänge 1748 in den »Beiträgen« erschienen.

Bei diesem Vereine, den man allenfalls die »sächsische Schule« heißen könnte, müssen wir festhalten, daß seine Mitglieder trotz ihrer Abwendung von Gottsched, dennoch niemals ganz von ihm los kamen: seine Lehre war allen bereits allzutief in Fleisch und Blut gegangen, und ein Kopf, der sich zur wirklichen Freiheit und Selbstständigkeit durchgearbeitet hatte, fand sich, natürlich den übrigens nur locker mit ihnen verbundenen Klopstock abgerechnet, zwischen ihnen nicht. Ja, es ist bezeichnend für ihre Stellung in der Literatur, daß mehrere von ihnen keineswegs zu den Vergötterern Klopstocks und der Messiade gehörten, vielmehr den Stoff zu groß für den Dichter hielten.

Um Einzelner von ihnen wenigstens zu gedenken, so ist J. A. Cramer nicht, wie man es zuweilen findet, mit seinem excentrischen Sohne Karl Friedrich zu verwechseln. Der Vater hat sich in Oden, Verskünsteleien und auch geistlichen Liedern versucht, welche im Ganzen alle werthlos sind. – J. A. Ebert ist als Hauptvertreter und Verbreiter der englischen Literatur von Bedeutung, und seine Uebersetzung von Youngs »Nachtgedanken« ist eines der ersten Glieder in jener langen Kette von englischen Dichterwerken, welche von einem so gewaltigen Einfluß auf den Geschmack und die Empfindung der Deutschen und auf die Entwickelung unserer Literatur waren. Wir erinnern nur an Thomsons »Jahreszeiten«, Richardsons, Sterne's, Fieldings, Smollets Romane, Goldsmiths »Landprediger von Wakefield«, endlich Macphersons »Ossian«.

Von drei Brüdern Schlegel interessirt uns nur der älteste, Johann Elias. Seine Dramen, Trauer- und Lustspiele sind die Zierden der Gottsched'schen Sammlung und werden später auch von Lessing noch gerühmt. Er möchte Besseres geschaffen haben, wäre er nicht schon 1749, einunddreißig Jahre alt, gestorben. Der inneren Verwandtschaft wegen nennen wir hier auch schon den jüngeren J. F. v. Cronegk (1731-1758), dessen auf das ausschweifendste gelobte Trauerspiel »Codrus« noch ganz in diesen Kreis gehört. –

Rabener, der Satiriker (1714-1771), zeigt uns, man darf schon sagen, in erschreckender Deutlichkeit, wie wenig dazu gehört, dem Publikum gewissermaßen zu imponiren und sich den ausgebreitetsten Beifall zu sichern, wenn man die Leute nur auf ihrer schwachen Seite zu fassen versteht. Rabener ist ein beschränkter, nüchterner Kops, der seine »Dichtungen« aus jenen Regionen schöpft und an sie richtet, die mit ihm aus der gleichen geistigen Höhe stehen. Statt Satire gibt er nur Ironie und von poetischer Erhebung findet sich bei ihm keine Spur. Trotzdem oder vielmehr grade deßhalb fand er, wie wir schon bei Liscow erwähnten, viel Beifall. – Zachariä wandte sich nach dem Vorgange des Gottschedianers Dusch, dem komischen Heldengedicht zu. Sein »Renommist« ist durch seine Schilderungen des damaligen Jenenser und Leipziger Studentenlebens, als Zeit- und Sittenbild auch heute nicht uninteressant.

Hier gehen wir zu Christian Fürchtegott Gellert über, geboren zu Hainichen in Sachsen 1715 und gestorben als »außerordentlicher« Professor der Philosophie zu Leipzig 1769 – die ihm angebotene ordentliche Professur hatte der bescheidene und hypochondre Mann abgelehnt. Die Verehrung, deren er als Lehrer – er las auch über Poesie und Beredtsamkeit – als Schriftsteller, als Mensch genoß, ist schwerlich einem Anderen in solchem Maße zu Theil geworden. Sie breitete sich durch ganz Deutschland aus und reichte bis ins Ausland, sie durchdrang alle Stände, man bot ihm Dank, Ehren und Pensionen, und als er in seine letzte Krankheit verfiel, wurden täglich mit Dresden Stafetten gewechselt. Die Anhänglichkeit an seine Schriften und die Freude an ihnen hat bis tief in unser Jahrhundert fortgereicht; Goethe hat sich seiner Fabeln angenommen und Lessing seinen Briefen Anerkennung gezollt. Neuere haben ihn achselzuckend für gar unbedeutend erklärt – mit keinem Erfolg. Seine Stellung ist ihm in der Literatur gesichert.

Die Fabeln, von den Schweizern hervorgezogen, waren damals die beliebteste Dichtungsart, und sie hauptsächlich sicherten Gellert seinen außerordentlichen Einfluß. Ob er durch Hagedorn und den Franzosen Lafontaine angeregt wurde, kommt wenig in Betracht: seine und Lichtwers Fabeln behaupten in dieser Gattung einen hohen, wo nicht den höchsten Rang. Sie mögen zuweilen an Breite leiden, erklären uns aber durch anschauliche und klare Darstellung und Sprache, durch ihren milden Humor, durch die ruhige Behaglichkeit und unzerstörbare Ehrbarkeit, noch heute die außerordentliche Wirkung, die sie zuerst auf die schlichten Leute, neben diesen indessen auch auf alle Stände machten. Von Poesie ist hier kaum die Rede, aber doch von poetischen Zügen. Gellert ist eine gemüthvolle und liebenswürdige, vor allem aber leidenschaftslose und rein verständige Natur, und die ähnlich gearteten Menschen, die schlichten Leute sind es, an die er sich am liebsten wandte und die ihn am wärmsten in ihr Herz schlössen.

Seine Lustspiele, Briefe und Kirchenlieder sind alle auf den gleichen Leser- und Hörerkreis berechnet und waren daher auch von ähnlicher Wirkung. Für uns haben die beiden ersten Gattungen keinen eigentlichen Werth mehr, nur daß wir die Sprache in den Briefen auch heut noch mit aller Achtung anzusehen haben. Wo er sich in den Kirchenliedern einmal über den lehrhaften und nüchternen Ton zur herzlichen Gefühlswärme erhebt, hat er Vortreffliches geleistet. – Sein Roman, »Leben der schwedischen Gräfin von G.«, lehnt sich an die Richardson'schen Romane an und hat seinerzeit viel Beifall gefunden. Wer ihn heute liest, und das thun nicht einmal alle Literarhistoriker, muß ihn, als Product grade dieses Kopfes, für ein Räthsel erklären. Denn eine ähnliche Sammlung von Unwahrscheinlichkeiten und Ungeheuerlichkeiten, eine gleiche Beschönigung des Widerlichen und Sündhaften findet man vielleicht nur in der Demimonde-Literatur der neuesten Zeit wieder.

Verwandt mit diesem Dichterkreise sind noch zwei Schriftsteller, welche sich jedoch stets abgeschlossen und für sich hielten. Der eine ist Magnus Gottfried Lichtwer (1719-1783), als Fabeldichter, wie schon bemerkt, neben Gellert zu nennen. »Die Katzen und der Hausherr« sind ein noch heute wohlbekanntes Gedicht dieses Genre's. Der zweite ist Abraham Gotthelf Kästner (1719-1800), anfangs zu Leipzig, später in Göttingen Professor. Ursprünglich aus Gottscheds Schule hervorgegangen, ist er im Grunde nie abtrünnig geworden, sondern hat die wirklichen Verdienste des alten Lehrers stets auf das ehrendste anerkannt. Seine Dichtungen sind werthlos. Als Epigrammatist aber ist er kaum jemals übertroffen worden, und als hochbegabter, geist- und witzvoller Kopf steht er hoch über dem Leipziger Kreise, ja über den meisten seiner Zeitgenossen.

Um mit den Leipziger Dichtern abzuschließen, fügen wir hier zuletzt noch Christian Felix Weiße (1726-1804) an. Obgleich von Gottsched auf das grimmigste gehaßt, mit Lessing, wenigstens in vorübergehender, Verbindung und als Dichter zu den Anakreontikern gezählt, ist er doch niemals ganz aus dem Dunstkreise der alten Zeit und der alten Schule herausgelangt. Er hat viel und vielerlei geschrieben und wurde seinerzeit mit dem reichsten Beifall belohnt. Seine »scherzhaften Lieder« und seine »Amazonenlieder« fanden überall Anklang; seine Lust- und Liederspiele (»Die Matrone von Ephesus«, »Der lustige Schuster«), seine Operetten (»Die Jagd«, »Der Dorfbarbier« u. s. w.), seine Trauerspiele (»Eduard III.«, »Richard III.«, »Jean Calas« u. s. w.), alles wurde gern gesehen. Ein nach dem Englischen bearbeitetes Stück, »Die verwandelten Weiber oder der Teufel ist los«, erregte Gottscheds vollen Zorn: es wurde in den Zeitschriften wüthend angegriffen, ja sollte sogar von Dresden aus verboten werden, was natürlich nicht gelang. – Ein zweites Stück, »Die Poeten nach der Mode«, band mit den Gottschedianern und den Schweizern zugleich an und gab beide dem allgemeinen Gelächter Preis. Dies ist bemerkenswerth als erstes Zeichen der Auflehnung gegen den neuen kunstrichterlichen Despotismus und die Vergötterung Klopstocks. Wir sagten schon, daß es den Schweizern nicht an Willen, sondern nur an Fähigkeit und Gelegenheit fehlte, Gottscheds Stelle einzunehmen.

Sein Hauptverdienst hat Weiße als Kinderschriftsteller erworben; sein »Kinderfreund« enthält, trotz aller zopfigen Anhängsel unendlich viel Gutes und verdient selbst heute noch den Vorzug vor vielen modernen sogenannten Kinderschriften.

Die oben erwähnten Hallenser und Berliner werden erst in einem späteren Paragraphen zu betrachten sein.

11.

»An Talenten,« sagt Goethe in der literarischen Rundschau, welche er in das siebente Buch seiner Biographie aufnahm, »war niemals Mangel. Was der deutschen Poesie fehlte, war ein Gehalt, und zwar ein nationaler.«

Einen solchen Gehalt begann man zu eben der Zeit, als der Streit Gottscheds mit den Schweizern entbrannte und eine zugleich natürlichere und künstlerische Anschauung auf dem Gebiete der Poesie anbahnte, durch die außerordentliche Veränderung und durch die Ereignisse zu erhalten, welche sich seit der Thronbesteigung Friedrich des Großen in dem kleinen Preußen vollzogen und von ihm aus für das ganze Deutschland folgenreich wurden. Das alte Reich war seit dem dreißigjährigen Kriege in einem immer zunehmenden Verfall begriffen. Von einer Reichsgewalt war längst schon nur nominell noch die Rede, der Rechtlosigkeit im Innern stand die völligste Schutzlosigkeit nach außen gegenüber. Grade die wesentlichen Seiten des nationalen Daseins litten schwer unter solchen demüthigenden und erniedrigenden Zuständen, und die Nation, wenn man überhaupt noch von einer solchen reden kann, war nach allen Seiten hin zertheilt, gelähmt und in stumpfe Muthlosigkeit versunken.

Hier erschien Friedrich der Große als Retter. Es begann mit ihm auch auf staatlichem Gebiet die neue Zeit; die Erfolge seiner Gesetzgebung und Verwaltung, seiner gesammten Regierung, die Gewalt seines Geistes und seiner Persönlichkeit, waren von einer unwiderstehlichen Wirkung auch auf das ganze übrige Deutschland und ließen es sich aus den alten unsichern und rechtlosen Zuständen aufraffen und zu einem längst nicht mehr gekannten Selbstgefühl erheben. Die glänzenden Siege und der glänzende Widerstand, den das arme Preußen unter ihm im siebenjährigen Kriege dem halben Europa leistete, erhoben Preußen zu dem Range einer Großmacht und stellten zugleich auch Deutschlands Ansehen wieder her. Die Nation begann sich wieder selber zu achten und sich, sei es auch nur in den ersten Anfängen, als Nation wiederzufinden. Und mit allem dem noch nicht genug, gewährte er als Feind aller Finsterniß und geistiger Unfreiheit, voll Klarheit und Großsinnigkeit seinen Unterthanen die vollkommenste Glaubens-, Denk- und Schreibefreiheit, jeder geistigen Thätigkeit den offensten Spielraum, befreite die Bildung und beförderte die Aufklärung in jeder Richtung, und zwang durch ein solches Beispiel und seinen wachsenden Einfluß auch hier wieder das übrige Deutschland ihm zu folgen.

Der geistige Druck verschwand, die Fesseln, welche Wissenschaft und Kunst niedergehalten hatten, zersprangen allerwärts, man fing an, sich wieder daheim zu fühlen in Deutschland, und zu dem Selbstgefühl gesellte sich schon die Begeisterung. Bisher, möchte man sagen, hatten unsere Dichter deutsch sein wollen, ohne es jemals werden zu können. Jetzt wurden sie es wirklich, und der erste, in dem sich dies mit voller Entschiedenheit offenbart, ist Friedrich Gottlieb Klopstock, den das vorige Jahrhundert vergötterte, und den auch wir Heutigen noch zu unseren ersten Literaturgrößen zu zählen gewohnt sind.

Geboren zu Quedlinburg am 2. Juli 1724, verlebte er seine Jugendzeit meistens auf einer Pachtung seines Vaters, war sechs Jahre lang ein Schüler der altberühmten Schulpforte und studirte darauf in Jena und Leipzig, wo er 1746 seinen Messias zu schreiben begann. Von Langensalza aus, wo er Hauslehrer geworden, folgte er 1750 einer Einladung Bodmers nach Zürich und von hier aus im folgenden Jahre einem Ruf des dänischen Ministers, Grafen Bernstorff nach Kopenhagen. Hier erhielt er eine Pension, um »den Messias zu vollenden«, und blieb, bis Bernstorff seinen Posten aufgab. Dann siedelte er, 1771, nach Hamburg über und hat dasselbe, einen kurzen Aufenthalt in Karlsruhe abgerechnet, nicht wieder verlassen. Er starb, durch eine dänische und badische Pension vor allen materiellen Sorgen bewahrt, am 14. März 1803. – Verheirathet war er zweimal, zuerst, 1754, mit Margaretha (Meta) Moller, die nach wenigen Jahren starb; später, nach seiner Heimkehr von Karlsruhe, mit einer langjährigen Freundin, einer verwittweten Frau von Windhan. Vor und zwischen diesen Heirathen finden wir aber noch eine stattliche Reihe von – sagen wir: Liebes- und Bewerbungsversuchen, die alle mißlangen.

Wie wir oben gesehen haben, gehört Klopstock zu den Mitarbeitern der »Bremer Beiträge« und an Zügen seiner Verwandtschaft mit den übrigen fehlt es nicht. Er steht allerdings von Anfang an wie ein Höherer und wie ein Glücklicherer unter ihnen, denn des Lebens Noth und Sorgen hat er im Grunde niemals kennen gelernt, sein Jugendleben und seine Erziehung schon ließen seine geistigen und leiblichen Anlagen und Kräfte sich auf das ungestörteste entfalten. Zu Schulpforte nahm er die Begeisterung für die großen Alten in sich auf, durchdrang ihn eine glühende Liebe zum Vaterlande und ein brennender Ehrgeiz, seinem Lande, seinem Volk und seiner Sprache ein Werk zu liefern, das sich dem Besten aller Zeiten und Völker an die Seite stellen lasse und ihm den höchsten Nachruhm sichere. Zu dem ausgesprochensten Freundschaftsgefühl gesellt sich in ihm ein fast elegischer Hang zur Natur und zur Einsamkeit, und neben dem hellsten Frohsinn und der vollen Lust finden wir eine bis zur Sentimentalität überreizte Empfindung, den Trübsinn, ja beinah' die wirkliche Schwermuth.

Dies sind ausnahmslos ächt und national deutsche Züge und sie finden sich daher auch theilweise an seinen Strebensgenossen wieder. Allein sie sind eben an ihm um vieles stärker ausgeprägt, ja der eine oder andere erscheint gewissermaßen zuerst an ihm und greift der Bildung, den Strömungen, man möchte sagen, selbst der Empfindungsweise seiner Zeit voraus. So wird es denn auch ganz begreiflich, daß sich sein Einfluß noch unter einem viel späteren Geschlechte geltend macht. Er vereinigt, gleichsam als der erste, in sich die in Thränen zerschmelzende, von jetzt an hervorbrechende Sentimentalität und die alle Schranken umstürzende übermüthige Kraftfülle der siebziger Jahre. Selbst das halb edle, halb fratzenhafte »Deutschthum« in den ersten Jahrzehenden unseres Jahrhunderts greift noch auf ihn zurück, und nur die »Romantik«, wie sie von Wieland und den späteren rechten »Romantikern« kultivirt wurde, blieb ihm völlig verschlossen.

So ist Klopstock, als Einzelner, derjenige, der in sich den Abschluß der älteren und den Beginn der neueren Literatur vereinigt und repräsentirt, ein Geist von so umfassender und hoher Begabung, wie wir vor und nach dieser Zeit nur wenige seines Gleichen finden. Sein Einfluß auf unsere Literatur und Sprache, auf die gesammte Bildung seiner Zeit ist daher, wie wir auch schließlich über seine Wirkungen urtheilen mögen, gleichfalls ein so außerordentlicher, wie vor und nach ihm kaum ein einziger anderer Geist ihn noch in solcher Stärke und solchem Umfange gewonnen und ausgeübt hat.

Klopstocks Geist und Wesen offenbart sich uns in drei Grundrichtungen, die er vom Anfang bis zum Ende unausgesetzt verfolgt. Das ist die vaterländisch-deutsche, ausgesprochen nicht bloß in der Liebe zum Vaterlande und in der Bewunderung seiner großen Vergangenheit, sondern auch in den Grundzügen und -Eigenschaften von Klopstocks Natur: dem Ernst und der Tiefe, der Einfachheit und Wahrheit seines Denkens und Empfindens, dem stark ausgeprägten Nationalgefühl und jenen oben schon erwähnten weichen, dem deutschen Herzen und Gemüth entstammenden Zügen. – Hieran schließen sich als zweite die religiös-gläubige, streng christliche, und endlich die antik-klassische. Man darf es ihm zugestehen, daß er sich nicht bloß an die äußere Form hielt und von den Alten auch den Formensinn sich aneignete, sondern daß er auch in den Geist des klassischen Alterthums einzudringen und uns denselben zu erschließen wenigstens versuchte.

Diese drei Richtungen nahm Klopstock von Anfang an mit einer Art von fast vollendeter Meisterschaft auf, sie offenbaren sich uns schon in seinen frühesten Oden. Er steht von Anfang an über seinen Zeitgenossen, an Geist und Bildung, an Klarheit und Sicherheit, und vor allem an wirklicher poetischer Begabung. So wird auch die Begeisterung, mit der man ihn aufnahm und gewissermaßen als Ideal begrüßte, sehr begreiflich. Allein in dieser gleich anfänglichen Meisterschaft und Vollendung sind auch schon die Grenzen seines Talents gegeben und die Keime der Irrthümer und Schwächen enthalten, denen er je länger, desto entschiedener erlag. Ein Fortschritt war hier von Anfang an im Grunde ausgeschlossen und findet sich auch nicht in seinen späteren Werken. Statt seiner erscheint alsbald der Stillstand und nur allzuschnell der wirkliche Rückschritt. Jene drei vorhin aufgestellten Richtungen führen ihn mehr und mehr, die eine in die Mystik und zur Einbuße aller sinnlichen Anschaulichkeit, die andere zu einem unverstandenen und unhistorischen Deutschthum, richtiger einem durchaus undeutschen Bardenthum, die dritte endlich zu einem neuen starren Formalismus, der in Wirklichkeit von den Alten selber wenig mehr noch als das Wörtergepolter leiht, das er in der Ode an Voß dem deutschen Reimverse vorwirft, und zu stets zunehmender Dunkelheit und wirklicher Verschrobenheit.

Klopstocks wirkliche Größe und seine wirklichen Verdienste, hier in der Schöpfung und Begründung der poetischen Sprache und in der Wiedereinführung wahrhaft großer Gedanken in die Poesie, dort als Dichter jener Oden seiner Jugend und auch noch seines Mannesalters, in denen eben diese Gedanken sein religiöses Gefühl, seine Liebe zum Vaterlande und seiner Sprache, das Gefühl der Freundschaft uns voll tiefer Empfindung zum Herzen sprechen und, zum erstenmal, auch der Mensch uns sein tiefstes Inneres rückhaltlos erschließt – sie sollen ihm unverkümmert bleiben und in keiner Weise angefochten werden. Allein wir müssen uns, und zwar auf das ernstlichste vor der Uebertreibung hüten, welche sich in der Verehrung für Klopstock und in dem Urtheil über ihn uns nicht selten sogar bis auf den heutigen Tag entgegendrängt. Schon Lessing sagt in einem bekannten Epigramm, daß man Klopstock wohl lobt, aber nicht liest, und Schiller in seiner meisterhaften Abhandlung, »über naive und sentimentalische Dichtung«, erklärt trotz dem überaus günstigen und ehrenvollen Urtheil über ihn, daß man fast »jeden Genuß, den seine Dichtungen gewähren, durch eine Uebung der Denkkraft erringen muß«, daß es ihm »um den Kopf desjenigen bange sei, der wirklich und ohne Affectation diesen Dichter zu seinem Lieblingsbuche machen könne«, und endlich, daß man, wenn man einsichtig und klar geworden sei, ihm kaum noch Liebe zu widmen vermöge, ob man ihm auch die höchste Achtung gewähren müsse.

Von seinen Verdiensten um die poetische Sprache zu reden, vermögen wir, trotz unserer dankbaren Anerkennung auf der einen Seite, es auf der anderen noch nicht für so ausgemacht zu halten, wie Gervinus und andere es behaupten, daß die Einführung der klassischen Maße und vor allem des Hexameters für die eposartigen Gedichte unserer Poesie und Literatur wirklich zu so ganz außerordentlichem Vortheil und Segen gereicht habe. Wenn ihm darin unsere größten Dichter gefolgt sind und selbst die Heutigen zuweilen noch folgen, so beweist das in unseren Augen wenig mehr, als daß bei uns Bequemlichkeit und Autoritäts-Angst eine keineswegs lobenswerthe Herrschaft ausüben; man könnte sonst unmöglich die Nachtheile übersehen, welche sich jenen sogenannten Vortheilen gegenüberstellen. Und wäre es nur der eine, beklagenswerthe, daß solche Dichtungen durch die fremden Maße von vornherein nur für Leser eines bestimmten Bildungsgrades und Bildungskreises geschaffen zu sein und der vollen Wirkung auf die Nation entzogen zu werden scheinen.

Klopstocks Werke, die biblischen Dramen, die »Bardiete«, die Messiade und sogar seine Oden – sie sind alle so gut wie völlig vergessen, und die krampfhaften Anstrengungen, mit denen man sie zuweilen wieder hervorzuziehen und anzupreisen sucht, bleiben vergeblich. Ueber seine Prosaschriften ist am besten ganz zu schweigen. Klopstock hat für uns im Grunde nur noch einen literar-historischen Werth.

12.

Von ihm gehen wir zu demjenigen über, der von ähnlichen Anfängen beginnend, eine Zeitlang auf ihn sich stützend, ihn bewundernd und nachahmend, später in den entschiedensten Gegensatz zu ihm trat, von den Zeitgenossen hier über ihn erhoben, dort dem heiligen Messiaden- und Bardensänger als eine Art von Antichrist gegenübergestellt, und in der Literaturgeschichte endlich als der dritte von den drei sogenannten älteren Klassikern anerkannt – das ist Wieland. – Lessing, seinem Alter nach allerdings zwischen Klopstock und Wieland stehend, muß, wenn man ihm gerecht werden und ihn in seiner vollen Größe gelten lassen will, für sich allein betrachtet werden. Er nimmt in der Literatur wie in der ganzen Zeit eine so völlig unabhängige, selbstständige und isolirte Stellung ein, daß er weder mit Früheren, noch mit Späteren in Verbindung gebracht, ja auch nur verglichen werden kann. Es gab nicht neben und nicht nach ihm seines Gleichen.

Christoph Martin Wieland wurde am 5. September 1733 zu Oberholzheim bei Biberach geboren, kam jedoch schon früh mit seinen Eltern – sein Vater war Prediger – in die kleine Reichsstadt und genoß hier den ersten Unterricht. Mit dem vierzehnten Jahre bezog er das altberühmte Gymnasium zu Kloster Bergen bei Magdeburg, wo er, daheim schon streng und fromm erzogen, anfangs dem Einflusse des herrschenden Hallenser Pietismus unterlag. Bald aber regte sich schon hier sein eigener freierer Geist und die Wolf'sche Philosophie, die Schöpfungen der großen Alten, die Werke der Franzosen und Engländer führten ihn weit über die starren Schranken hinaus. Bei einem längeren Aufenthalt zu Erfurt, wo er philosophische Studien machen wollte, beschäftigte er sich statt dieser aber lieber mit dem Don Quixote, den er eben erst kennen lernte, und schöpfte daraus eine bessere Kenntniß der natürlichen und wirklichen Verhältnisse der Welt und der Menschen. Aber zum vollen Durchbruch kam seine Natur noch nicht. In Biberach, wohin er 1750 zurückkehrte, begann seine schwärmerische Liebe zu Sophie von Gutermann, der späteren La Roche. Sein Dichtertalent regte sich; zu Tübingen, wo er die Rechte studiren wollte, beschäftigte er sich bald nur noch mit der Poesie und schrieb 1751 als Achtzehnjähriger sein erstes Werk, ein philosophisches Lehrgedicht, »Die Natur der Dinge«. Zu dieser Zeit waren Klopstock und neben diesem Thomson vom größten Einfluß auf ihn. Ein unvollendetes Heldengedicht, »Hermann«, brachte ihn mit Bodmer in Verbindung; er wurde von diesem 1752 in Zürich mit offenen Armen aufgenommen und gab sich ihm, eindrucksfähig, wie er es sein ganzes Leben lang blieb, vollständig hin. Er gab die Streitschriften der Schweizer gegen Gottsched neu heraus, er schrieb für Bodmer und seinen Ruhm, endlich sogar einen »geprüften Abraham« in Hexametern. Der Verlust der Geliebten, die 1754 mit Herrn von La Roche verheirathet wurde, stürzte ihn in Verzweiflung. Er warf sich auf die Platonische Philosophie und in die mystisch-ascetische Theologie, und Klopstocks und Youngs Dichtungen rissen ihn immer weiter fort auf dieser neuen Bahn und verdüsterten seine Stimmung dermaßen, daß er sich gegen die gesammte Liebesdichtung der alten und neuen Zeit erklärte, die nicht in Klopstocks Weise schwärmte, ja sich sogar in der an den Prediger Sack zu Berlin gerichteten Zueignung der »Empfindungen des Christen« zu einer offenen Denunciation der »Anbeter des Bachus und der Venus«, d. i., der anderen deutschen Lyriker fortreißen ließ.

Erst mit dem Jahre 1758 begann die Zeit der Aufraffung und Wiedergenesung. Aus Bodmers Banden erlöst und seinem Einfluß entzogen, das alte Liebesleid in mehr als einer neuen zärtlichen Neigung vergessend, fing er an, sich wieder mit den Alten, mit Cervantes, mit den Engländern und Franzosen zu beschäftigen und auch der sich eben mächtig regenden deutschen Literatur seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. So kam er 1760 nach Biberach zurück, und als er sich zwei Jahre später in den Kreis und Umgang des früheren Chur-Mainzischen Ministers, Grafen Stadion, aufgenommen sah, der in dem nahe gelegenen Warthausen residirte, da fand er alles, was er bedurfte, um sich seines wahren Naturells und seiner außerordentlichen Begabung bewußt und dem einen, wie der anderen gerecht zu werden. In diesem Umgang – es weilten auch La Roche und seine Gattin, die frühere Geliebte, hier – empfing er Erhebung und Aufheiterung, eine stete Anregung, die feinste weltmännische Bildung; ein Leben im großen Stil, eine geistvolle Unterhaltung, eine große Bibliothek, alles kam ihm zu Hülfe. Die französischen Philosophen und Encyclopädisten, die englischen Humoristen, Ariost, Lucian und Horaz, alles drängte ihn in die Richtung auf die Natur und Lebensweisheit und machte ihn zum Gegner aller Schwärmerei und jeder Art von Idealismus. Nachdem er seine hochverdienstliche Uebersetzung von »Shakespeare's theatralischen Werken« schon 1762 begonnen hatte, folgten neue, größere und kleinere Schöpfungen einander Schlag auf Schlag, Zeugnisse der gefährlichen Anstauung seines Geistes und einer fast unerhörten Fruchtbarkeit. »Komische Erzählungen«, »Don Silvio von Rosalva«, »Agathon«, »Idris«, »Nadine«, »Musarion«, »Die Grazien«, »Der neue Amadis«, von 1769 an auch philosophische Versuche – alle diese und zahlreiche andere Schöpfungen drängen sich in diese Jahre zusammen. Das Aufsehen war ein gewaltiges, der Beifall, ob auch getheilt, ein ganz ungemeiner. Emmerich Joseph von Mainz berief ihn 1769 als Professor der Philosophie nach Erfurt, und als er 1772 den »Goldenen Spiegel oder die Könige von Scheschian« geschrieben hatte, wählte Herzogin Amalie von Weimar ihn zum Erzieher ihrer Söhne. In Weimar blieb er, als ältestes Mitglied des glänzenden Kreises, der sich um die Herzogin und Karl August zusammen fand; mit F. H. Jacobi zusammen gründete er den von 1773 an erscheinenden »Deutschen Merkur«, eine Zeitschrift von höchster Bedeutung für die Entwickelung der Literatur, wie für die gesammte Bildung der Zeit. Von seinen übrigen Werken nennen wir nur »Die Abderiten«, den »Oberon«, sein Meisterwerk, und die noch heute werthvollen Uebersetzungen des Lucian, der Briefe und Satiren des Horaz und der Briefe Cicero's. Er starb am 20. Januar 1813.

In dem, von den Banden Bodmers und seinen Jugendverirrungen befreiten Wieland begrüßen wir ein Talent ersten Ranges, voll ächt poetischen Geistes, ausgerüstet mit Witz, Ironie und Laune, mit reicher Erfindungsgabe, mit Grazie, Anmuth und Geschmack, und hochbefähigt, diese glänzenden Gaben auch in glänzendster Weise, mit wunderbarer Leichtigkeit zum Ausdruck zu bringen. Klopstock hat der Poesie einen großen und hohen Inhalt gegeben und der poetischen Sprache einen Ernst und eine Würde, die dem ersteren angemessen waren; Wieland führt der Poesie in seinen antikisirenden, orientalischen, romantischen Schöpfungen eine Fülle von neuen Stoffen zu, er gibt ihr zahllose neue Gesichtspunkte, er verleiht der Darstellung und Diction eine Anschaulichkeit, Lebendigkeit und Natürlichkeit, eine Geschmeidigkeit, eine graziöse Leichtigkeit, wie man sie bei uns vor ihm nicht gekannt und für unerreichbar gehalten hatte. Die Breite, Zerflossenheit und Weichlichkeit, denen man in seinen Werken, zumal den prosaischen, nicht selten begegnet, kommen gegen solche Vorzüge und Verdienste kaum in Betracht.

Hier schließt sich ein anderes, zwar gewissermaßen nur mittelbares, aber kaum geringeres Verdienst Wielands um unsere Literatur an. Was man einen tiefen Schriftsteller heißt, war Wieland nicht, und, bis auf einen gewissen Grad auch kein selbstständiger. Er hat vom Alterthum sozusagen nur den leichten und lockeren, zierlichen Schaum geschlürft und alle seine Stoffe, weniger ernst und gründlich, als spielend, mit dem Geist und Geschmack, dem Witz und der Laune eines freigeistigen Welt- und Lebemanns behandelt. Er huldigt durchaus der materialistischen und sensualistischen Philosophie der Franzosen und Engländer; er lehnt sich als Dichter gleichfalls an die neueren Franzosen, einen Voltaire und Diderot; er schließt sich an die Encyclopädisten und erhebt sich mit ihnen gegen alle Verschrobenheit und Erstarrung, gegen jeden Zwang, gegen Despotie und Obskurantismus, gegen jede leibliche und geistige Unfreiheit, unter steter Hinweisung auf das Vernünftige und Natürliche. Und da er dies alles, wie schon bemerkt, in die glänzendste und verlockendste Form zu kleiden verstand, so ist es sehr begreiflich, daß er alsbald und vor allem Aufnahme und Beifall in jenen Kreisen fand, wo man den französischen esprit und die französische Grazie bewunderte und für unnachahmlich erklärte – er zeigte ihnen, daß das alles im Deutschen ebenso gut möglich sei und von einem Deutschen in gleicher Weise geschaffen werden könne. Allein mit diesem Einflusse auf die feinen Weltleute und französisch Gebildeten ist es keineswegs genug. Wieland ist kein Nachahmer der Fremden, vielmehr ein, in gewissen Richtungen gleichgearteter, in seiner Tiefe jedoch grunddeutscher Geist, voll Gemüth, Ehrlichkeit und Gutmüthigkeit. Vermöge einer ganz ungemeinen Empfänglichkeit vermag er von allerwärts her alles Verwandte auf- und anzunehmen; aber er verarbeitet es in sich und läßt es endlich als sein volles Eigenthum hervortreten – es offenbart sich an ihm bereits etwas von dem Kosmopolitismus der folgenden Zeit. So reicht sein Einfluß denn auch in gut deutsche Kreise hinein und er erweckt auch hier ein gesteigertes Interesse, zuerst für die durch ihn repräsentirte neue Entwickelungsphase der Literatur und damit endlich für diese selber im Ganzen.

Das erscheint uns aber beinah' als die Hauptsache und, um dies zu wiederholen, als ein Hauptverdienst Wielands. Unsere Literatur war nicht am wenigsten um dessentwillen so tief gesunken, weil sie kein theilnehmendes und verständnißvolles Publikum mehr gefunden hatte. Jetzt, wo mit der neuen Entwickelung sich ein solches wieder zu bilden begann, kam es vor allem darauf an, die Theilnahme und das Verständniß sich ausbreiten und steigern zu lassen und sie der Literatur zu sichern.

Wie an Freunden und Bewunderern, hat es Wieland auch an Feinden und Verkleinerern nie gefehlt. Die ächten Klopstockianer nebst den Göttinger Hainbündlern, die Frommen im Lande, die späteren Romantiker und wer weiß sonst noch alles, haben die volle Schale des Zornes und der »moralischen Entrüstung« über ihn ausgegossen. Es gibt selbst heute noch Leute genug, die ihn für einen Gottesleugner, Volks- und Jugendverführer, Verhöhner aller Sitte und alles Anstandes erklären, seine »Frivolität« aus das eifrigste verdammen, ja ihn am liebsten für all die schlechten, schmutzigen und schamlosen Scripturen verantwortlich machen möchten, die in den letzten Zeiten des 18. und im ersten Decennium des 19. Jahrhunderts zu Platz kamen. Darüber läßt sich nicht streiten. Abgesehen von dem letzten, gradezu albernen Vorwurf, muß man Wieland so gut, wie jeden Schriftsteller, als Sohn seiner Zeit und Wieland insbesondere als Repräsentanten einer ganz bestimmten Richtung derselben auffassen und beurtheilen und dabei nicht übersehen, daß seine sogenannte Leichtfertigkeit sich ausdrücklich der Tugendseligkeit und Scheinsittsamkeit entgegenstellte, die in den gegnerischen Kreisen herrschte. Ueber seine Zeit hat Wieland sich nicht erhoben, wie Lessing und nach ihm Goethe und Schiller es thaten. Er wurzelt vielmehr in ihr mit all seinen Anschauungen, seinem gesammten Wesen, seiner ganzen Poesie. Und wie wir Heutigen über diese Zeit hinausgegangen sind, so sind auch, bis auf den »Oberon«, seine Dichtungen heutzutage so gut wie vergessen.

Als neue Gattungen in unserer poetischen Literatur erscheinen mit Wieland das romantische, eposartige Gedicht, die komische und didactische Erzählung und, trotz mancher vorausgehenden Versuche auf diesem Gebiet, auch der eigentliche Roman, fürs erste noch mit pragmatisch lebhafter, später mit mehr historisch philosophischer Tendenz. »Agathon« ist der erste Roman von wirklich originaler Erfindung. Denn wie, um es kurz so zu heißen, im ganzen Zuschnitt, so lehnte man sich selbst in der Erfindung an die ausländischen – englischen, spanischen, französischen – Vorbilder an, fast als ob das Einheimische, Stoff und Lokal, Auffassung und Behandlung, für die deutschen Leser den ersteren gegenüber, keinerlei Interesse zu haben vermöge.

So tritt uns Wielands hohe Bedeutung überall entgegen. Die Bahnen, die er neu eröffnet hat, die leichte Auffassung, die geistvolle Behandlung, die glänzende und gewandte, einschmeichelnde Darstellung, sind unserer Literatur und Sprache, nicht bloß für den Augenblick und während seines eigenen Lebens und Schaffens, sondern für alle Folgezeit zu gute gekommen. Trotzdem finden wir verhältnißmäßig Wenige, welche sich unmittelbar an Wieland anschlössen und sich entschieden auf ihn stützten. Die Zeit der Schulen, wie wir sie in der vergangenen Periode beobachtet haben, war vorüber, die Entwickelung im Ganzen, wie im Einzelnen war eine raschere, eine freiere und selbstständigere geworden, und wer zu Anfang vielleicht noch auf den Wegen des Meisters wandeln und seinem Beispiel folgen mochte, suchte dennoch gewöhnlich bald genug eigene Pfade auf und gab den eigenen Eingebungen Gehör.

Wenn wir daher in diesem Abschnitt noch einiger anderer Schriftsteller gedenken, so geschieht dies nicht sowohl um dessentwillen, weil sie, abgesehen von den wenigen wirklichen Nachahmern, zu Wieland in einem Abhängigkeitsverhältnisse ständen, sondern nur, weil sie allerdings, auch schon durch Arbeiten auf den gleichen Gebieten, eine gewisse Verwandtschaft mit ihm zeigen, sich, wenn überhaupt irgendwo, am ersten noch an ihn anschließen und somit hier am leichtesten sich gruppiren lassen.

Auf dem Gebiete des romantischen Epos hat L. H. v. Nicolay sich nur in Nachbildungen Ariosts und Bojardo's versucht; I. B. v. Alxinger (1755-1797, »Doolin von Mainz« und »Bliomberis«) und Fr. A. Müller (1767-1807, »Richard Löwenherz«, »Alfonso«, »Adelbert der Wilde«), sind Beide ziemlich gleich gering an poetischem Geist und Werth. – In der kleinen poetischen Erzählung gibt es kaum etwas, das der Erwähnung Werth wäre, dagegen ist es auf dem Gebiet des Romans wenigstens nicht ganz leer, obschon auch hier das Meiste vergessen zu bleiben verdient.

I. K. A. Musäus, geboren zu Jena 1735, zuerst Pagenhofmeister, später Lehrer am Gymnasium in Weimar, wo er 1787 starb, trat zuerst, 1760, mit einem »Grandison der Zweite« auf, worin er sich über die Vergötterung der englischen, besonders Richardson'schen Romane und ihrer Charactere lustig machte. In seinem späteren Werk, »Physiognomische Reisen«, wandte er sich gegen Lavaters Träumereien auf diesem Gebiet, und versuchte auch die kleine Erzählung in seinen »Straußfedern«. Am bekanntesten wurde er durch seine »Volksmärchen der Deutschen«, welche einen ungemeinen Beifall fanden, durch witzelnden Ton und satirische Abschweifungen aber schon längst jeden Unbefangenen mehr abstoßen als anziehen. – An ihn schließen wir, als Repräsentanten jener übertriebenen Schwärmerei für den englischen Familienroman, J. T. Hermes (1738-1821). Seine »Geschichte der Miß Fanny Wilkes« spielt auf englischem Boden und lebt und webt in englischer Weise. Und von der oben erwähnten Anschauung der Schriftsteller wie des Publikums zeugt es, daß Hermes auf den Titel setzen konnte, der Roman sei »so gut wie aus dem Englischen übersetzt«, und dadurch wirklich einen nicht unbedeutenden Erfolg gewann. Sein zweiter Roman »Sophiens Reise von Memel nach Sachsen« spielt, ohne das englische Vorbild zu verleugnen, allerdings in Deutschland und gibt uns Charakter- und Sittenschilderungen aus dem deutschen Mittelstande. Es ist ein Buch von außerordentlicher Weitschweifigkeit und Langweiligkeit, voll zahlloser Thränen, jammervoller und gefährlicher Situationen und endlosen Tugendgeredes. Seine Aufnahme war trotz alledem eine schier enthusiastische und selbst bis in unser Jahrhundert hinein fand es noch Beifall und Leser.

Den beiden genannten Schriftstellern an Geist und Geschmack weit überlegen ist M. A. v. Thümmel (1738-1817), dessen komisches Heldengedicht – in Prosa – »Wilhelmine« schon allgemeinen Beifall fand, ja in mehrere fremde Sprachen übersetzt wurde. – Ein zweites in Versen, »Die Inoculation der Liebe«, tritt dagegen bedeutend zurück. Sein Hauptwerk aber, der humoristische Roman, »Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich«, ist zumal in Ansehung der Darstellung und der Sprache, zum Allerbesten zu rechnen, was unsere Prosaliteratur besitzt. Zu bedauern ist allein, daß das Werk manches enthält, was das sittliche Gefühl der Heutigen allzusehr verletzt, als daß man es zur Lecture wählen könnte.

In die Wieland'sche Zeit und Weise gehören gewissermaßen auch W. Heinse's (1749-1803) wilde, völlig verwerfliche und alles Maß überschreitende Anfänge; nicht minder Uebersetzungen aus dem Petron, von Tasso's »befreitem Jerusalem« und Ariosts »wüthendem Roland«. In seinen späteren Romanen, »Ardinghello« und »Hildegard von Hohenthal«, erscheint er, nachdem die sogenannte Sturm- und Drangperiode bereits überwunden war, als einer der Schrankenlosesten und Ausgelassensten von allen Zeitgenossen. Beide Romane sind in Ansehung der ästhetischen Beurtheilung, hier der bildenden Künste, dort der Musik, von einer doch wohl um vieles höheren Bedeutung, als man ihnen, befangen in allzuweit getriebener Prüderie, in der Literaturgeschichte zugestehen möchte. Zu lesen sind sie allerdings trotzdem kaum oder gar nicht. Denn eine recht eigentlich abstoßende Sinnlichkeit vernichtet gewissermaßen jeden Genuß an dieser Lecture und schreckt selbst den Vorurtheilsfreiesten zurück.

13.

Als Gleim im Jahre 1740 nach Berlin kam, war von etwas wie einem literarischen Leben und Streben daselbst vielleicht weniger zu finden, als an irgend einem anderen Platze Deutschlands. Um die Geistesbildung und die Verfolgung geistiger Interessen hatte es in den Marken von jeher schlecht ausgesehen, und als die Königin Sophie Charlotte im Verein mit Leibnitz die Gründung der Akademie der Wissenschaften durchsetzte, blieb dies Institut selbst in den nächsten Jahren und bis zum Schluß der Regierung Friedrich I. wie eine ausländische Pflanze, die auf dem märkischen Sande kein Gedeihen zu finden vermochte. Schon mit dem Tode der Königin gerieth die Akademie ins Stocken und ging unter der Regierung Friedrich Wilhelm I. thatsächlich vollständig zu Grunde. Es gab in Berlin, mit Ausnahme vielleicht von ein paar Theologen (Jablonsky, Reinbeck), vermuthlich kaum eine Menschenseele von höherer deutscher Bildung, und wir glauben nicht zu irren, wenn wir Friedrich des Großen Mißachtung unserer Literatur diesem Umstände in kaum geringerem Grade beimessen als seiner vorherrschend französischen Erziehung.

Wir haben oben schon von dem Umschwung gesprochen, der mit dem Beginn seiner Regierung sich überall bemerklich machte; allein man darf denn doch nicht vergessen, daß die Wirkungen dieser geistvolleren und freisinnigeren Regierung sich nicht von heut zu morgen offenbaren konnten: vergingen doch noch neun Jahre, bis Klopstock »den aufsteigenden Geist« des großen Königs feierte. Die beiden ersten schlesischen Kriege betäubten mehr und schreckten zurück, als daß sie begeistert und das Selbstbewußtsein erweckt hätten, wie es dem siebenjährigen Kriege gelang.

Gleim fand sich anfangs so einsam in Berlin, daß er bald entwich und in Potsdam eine Hauslehrerstelle annahm. Hier lernte er in Ewald Christian von Kleist einen strebsamen und poetischen Geist kennen, mit dem er fortan im regsten Verkehr blieb. Zu ihnen gesellte sich bald Pyra, der von 1742 an in Berlin angestellt war, aber schon 1744 starb. Dafür trat jetzt Ramler heran, ihm folgten, wenn fürs erste auch noch brieflich von Magdeburg aus, der Schweizer Sulzer, der Hofprediger Sack, schon seit 1740 in Berlin, der Theologe Spalding, so daß Gleim, als er aus dem Feldzuge von 1745 nach Berlin zurückkehrte und daselbst bis 1747 verweilte, schon in Mitten eines regen literarischen Lebens stand. Daß sich dasselbe rasch entwickelte und hob, dürfen wir schon daraus folgern, daß mit dem Ende des Jahres 1748 Lessing, seinem Freunde Mylius folgend, in Berlin erschien, um alsbald der Mittelpunkt dieses Kreises zu werden und, trotz seiner mehrfachen Abwesenheit und seines endlich vollständigen Scheidens, auch zu bleiben.

Schon in diesen ersten Anfängen zeigt sich als characteristisch für den Berliner Literaturkreis und seine Thätigkeit das Zurücktreten der dichterischen Richtung und das Vorwiegen der kritischen und populär philosophischen, die unbedingte Herrschaft des Verstandes und das rastlose Streben nach Aufklärung hier und dem Realismus da. Als Gleim nach Halberstadt gegangen war, blieben zwar in Kleist und Ramler zwei Dichter zurück, welche lange Zeit zu den ersten Deutschlands gezählt wurden. Beide waren indessen nicht productiv und Ramler wurde obendarein der Form und der Sprache wegen mehr gerühmt, als wegen seiner dichterischen Begabung. Das erste Werk von literarischer Bedeutung, das aus diesem Kreise hervorging, war der von Ramler und Sulzer unternommene Versuch einer kritischen Zeitschrift, »Kritische Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit«. Das Blatt hatte aber keinen nennenswerthen Erfolg, und die Herausgeber zogen sich schon im nächsten Jahre davon zurück. Dagegen schrieb und redigirte Lessing im Jahre 1751 und nach einer längeren Abwesenheit vom Winter 1752 bis zum Herbst 1755 den sogenannten »kritischen Artikel« der Vossischen Zeitung und ein eigenes Beiblatt derselben, »Das Neuste aus dem Reiche des Witzes«. Während dieses zweiten Abschnitts lernte er Moses Mendelssohn kennen, der schon seit zehn Jahren in Berlin lebte, aber noch völlig unbekannt war, und trat auch mit Christoph Friedrich Nicolai in Verbindung, aufmerksam gemacht durch dessen 1755 erscheinende »Briefe über den jetzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland«. Als Lessing im Jahre 1755 nach Leipzig ging, verband Nicolai sich mit Mendelssohn zur Herausgabe der »Bibliothek der schönen Wissenschaften und freien Künste«, und als der Erstere 1758 nach Berlin zurückkehrte, begann er mit den beiden Anderen eine Zeitschrift, die unter dem Titel »Briefe, die neueste Literatur betreffend«, kürzer gewöhnlich »Literaturbriefe« geheißen, alles übertraf, was in Deutschland bisher auf dem Felde der ästhetischen und wissenschaftlichen Kritik versucht worden war. Vom Jahre 1705 an erschien dann endlich unter Nicolai» Leitung die »Allgemeine deutsche Bibliothek«, ein Blatt, das als Organ der deutschen Aufklärungspartei, als Verkündiger und Vertreter des Realismus und Rationalismus, trotz des sich als hie und da regenden Widerspruchs, doch manche Jahre lang von überwältigendem Einfluß auf die deutsche Literatur, die Bildung des literarischen Urtheils, ja auf die ganze Entwickelung des geistigen Lebens bleiben sollte.

Friedrich der Große war aus dem siebenjährigen Kriege siegreich und in einem Glanze hervorgegangen, wie kaum ein Fürst vor ihm; von jetzt an war er der erste Geist und Held der Welt, sein kleines Preußen hatte er zur europäischen Großmacht erhoben, und was von ihm ausging, steigerte die Bewunderung und trieb zur Nacheiferung. Was Wunder, daß in seinem eigenen Lande der Eindruck seiner Größe der tiefste war, das Anstaunen sich mit Stolz vermischte und das Selbstgefühl mehr und mehr in jenes Selbstbewußtsein und Selbstüberhebung überging, die man von dieser Zeit an dem übrigen Deutschland entgegenzuhalten, mit denen man auf dasselbe herabzuschauen begann. Es bedurfte, auch auf literarischem Gebiet, schwerer Schläge, um hier endlich eine gewisse Ernüchterung zu erzwingen.

Auf die einzelnen Dichter und Schriftsteller des alten Hallenser und des mit ihm stets in einem gewissen Zusammenhange bleibenden Berliner Kreises übergehend, können wir uns kurz genug fassen. Wie langjährig die Wirksamkeit des einen oder anderen auch gewesen sein mag, und welchen Einfluß, welches Ansehen dieser und jener auch gewann – das alles ist von temporärem Werth geblieben und für uns nur noch rein geschichtlich vorhanden – daß wir Lessing ausnehmen, ist selbstverständlich. Eines aber müssen wir bei beiden Gruppen festhalten: von einem festen Anschließen an die eine oder andere der kämpfenden Parteien, von einem entschiedenen Anlehnen an die damaligen Spitzen der Literatur, finden wir im Grunde kaum bei einem sämmtlicher hieher Gehörender etwas. Im Gegentheil, wenn auch bis auf einen gewissen Grad unter einander verbunden, verharren sie doch fast alle, dichtend oder kritisirend, auf ziemlich eigenen Wegen und in einer Art von Selbstständigkeit, welche auf kritischem Gebiete zu einer wenigstens versuchten, höchst achtungswerthen Unparteilichkeit führt, gleichviel, ob sie dieselbe hauptsächlich nur dem Einfluß und dem Beispiel Lessings verdankten.

14.

Ueber Pyra und den Laublinger Pfarrer S. G. Lange, die Stifter des ersten Hallischen Kreises, würden wir, nach dem oben Angeführten, hier ganz schweigen können, hätten wir nicht des Letzteren Uebersetzung des Horaz zu erwähnen, die Friedrich dem Großen gewidmet und zugesendet, ein Dank- und Belobigungsschreiben desselben hervorrief, während sie ungefähr zu gleicher Zeit Lessing zu der unter dem Namen »Vademecum für den Pastor Lange« bekannten, vernichtenden Kritik veranlagte, der ersten, welche wirklich in den Geist des Alterthums eindrang und ihn den Neueren zu erklären suchte.

Von größerer Bedeutung ist der zweite Hallische Kreis, in welchem wir die Nachfolger Hagedorns vereint fanden, die sogenannten Anakreontiker. Johann Wilhelm Ludwig Gleim, geboren zu Ermsleben im Halberstädtischen 1719, folgte nach seiner Studienzeit dem »alten Dessauer« als Stabssecretär in den zweiten schlesischen Krieg, wurde 1747 Domsecretär in Halberstadt und alsbald auch Kanonikus und gelangte damit in so günstige Verhältnisse und zu einer Muße, wie sie unseren deutschen Dichtern nur ausnahmsweise einmal zu Theil zu werden pflegen. Hier lebte er im regsten literarischen Verkehr, im enthusiastischen oder sentimentalen Freundschaftsbunde mit Allem und Jedem, was in der Literatur hervortrat, selbst ein unermüdlicher Sänger, bis er 1803 starb. Als Dichter ist er über die Versetändelei kaum jemals hinausgelangt, trotzdem aber von den Zeitgenossen fast als ein Dichter ersten Ranges gepriesen worden. Seine Anspruchslosigkeit, trotz der gelegentlich durchleuchtenden, behaglichen kleinen Eitelkeit, seine Gutmüthigkeit, seine Zufriedenheit oder vielmehr sein Entzücken über alles Dichterische, was ihm nahe kam, die schon erwähnte, ausgeprägteste Freundschaftsschwärmerei – das alles verband ihm so zu sagen alle «Welt und ließ niemand eigentlich ihm feind werden – sein eigener Zorn oder seine eigene Feindschaft, wo sie jemals bemerkbar werden, machen fast immer nur einen beinah komischen Eindruck. Zwischen seinen Fabeln findet sich noch am Ersten etwas Erträgliches, ja gewissermaßen, wegen Einfachheit und Klarheit Schätzbares; seine, die Kriegsjahre 1756 und 1757 begleitenden »Grenadierlieder« sind das Beste, was er geschrieben und als Ausdruck der Aufregung und Begeisterung für Friedrich den Großen wirklich von Werth. Von dem Enthusiasmus der Zeitgenossen freilich spüren wir Heutigen nichts mehr. Vor allem aber müssen wir an die wahrhaft liebenswürdige und zarte, unermüdliche Theilnahme und Unterstützung erinnern, die er jungen, durch die Verhältnisse gedrückten Talenten zuwendete, mit denen er für sie sorgte und selbst älteren Freunden zu Hülfe kam. Und ob er auch manch liebes Mal fehl gegriffen hätte, hat er dadurch dennoch noch viel mehr Gutes gewirkt. Das soll ihm in der Geschichte unserer Literatur unvergessen bleiben.

Von viel höherer Bedeutung ist sein alter Hallenser Freund Johann Peter Uz, geboren 1720 zu Ansbach und gestorben ebendaselbst 1796. Er zeichnet sich nicht nur durch seine Lieder aus, in denen er Gleim weit übertrifft, sondern auch durch Oden, in denen er sich mehr an Klopstock lehnt. Für die edlere Sprache und den einfacheren, natürlichen Ausdruck verdanken wir ihm viel, und die Gunst, welche ihm das gebildetere Publikum erwies, war eine dauernde und verdiente. – Mit dem dritten Hallenser, Johann Nicolaus Götz, geboren 1721 zu Worms und gestorben als Superintendent 1781 zu Winterburg, ergeht es uns eigen. Wir besitzen von seinen Dichtungen nicht die Originale, sondern nur die von Ramler besorgte Redaction und wissen daher nicht, was wir als des Einen oder Anderen Eigenthum zu erkennen haben.

Von den Uebrigen, welche sich zu Gleim hielten und meistens zu Halberstadt bei ihm weilten, haben wir den später weit über ihn hinausgehenden Wilhelm Heinse schon angeführt. Aehnlich ist es mit Johann Georg Jacobi, 1740-1814, dem Bruder des Goethe'schen Freundes Friedrich Heinrich. Mit Gleim in einem, durch Tändelei und Uebertreibung bis zum Komischen gesteigerten Freundschaftsbunde, stand er in der Poesie anfangs ganz auf dessen Boden. Später, in den siebziger Jahren, erhob er sich zu mehr als einem trefflichen Liede, und seine Quartalschrift »Iris« ist ein Sammelpunkt der damaligen Dichtung – es stehen manche der schönsten Jugendgedichte Goethe's darin – und daher noch heute von Wichtigkeit.

Als der bedeutendste Dichter dieser Zeit und Richtung begegnet uns hier jener Ewald Christian von Kleist, den Gleim in Potsdam, wo er in Garnison stand, kennen lernte und fortan zu seinen besten und geliebtesten Freunden zählte, wie denn Kleist, ein geistvoller, liebenswürdiger und trefflicher Mensch, abgesehen von den anderen Freunden, auch mit Lessing in kurzer, aber sehr herzlicher Verbindung stand – es ist sogar leicht möglich, daß er dem Letzteren Züge zur Zeichnung des Tellheim in »Minna von Barnhelm« geliefert hat. – Bekannt ist er besonders durch sein Gedicht »Der Frühling« geworden und lange Zeit geblieben, während seine übrigen Gedichte, wenn auch zwischen den übrigen jener Zeit einen guten Platz beanspruchend, längst vergessen sind. Sein »Frühling« aber, das Vorbild Geßners und der übrigen Idyllen-Dichter, bietet uns Naturschilderungen der einfachsten und zugleich anschaulichsten Art und führt uns, fast zuerst, in das wirkliche Leben und die volle Wirklichkeit ein. Geboren war Kleist 1715 in Pommern, bei Cöslin, und starb, 1759 in der Schlacht bei Kunnersdorf an der Spitze seines Bataillons schwer verwundet, einige Tage darauf in Frankfurt a. O., zum – wir dürfen wohl sagen: unüberwindlichen Schmerz für alle seine Freunde.

Mit ihm sind wir zum eigentlichen Berliner Kreis gelangt. Wir haben schon oben als characteristisch erwähnt, daß das dichterische Element hier gegen das kritische und philosophische zurücktritt. Karl Wilhelm Ramler, 1725 bis 1798, während Friedrich II. Leben als Lehrer an der Kadettenschule in der ärmlichsten Stellung und erst nach dem Tode des Königs von seinem Nachfolger anerkannt, mit einem Jahrgehalt bedacht, zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften ernannt und Director des Nationaltheaters, ist als Dichter, obgleich außerordentlich gefeiert, von sehr untergeordneter, dagegen in formeller Beziehung von höchster Bedeutung. In seinen Oden zu Klopstock neigend und in seinem preußischen Patriotismus eins mit Gleim, hat er der Metrik einen festen Grund und Halt gegeben und zugleich mit aller Schärfe auf die Reinheit und Correctheit des Ausdrucks gehalten – nicht selten bis zur Pedanterie. Ebenso bedeutend ist er in allem Formellen der Uebersetzungskunst, und wenn er auch von Voß und den Neueren bei weitem übertroffen ist, so darf man dennoch sagen, daß von diesen allen nur weiter gebildet wurde, was von ihm begonnen ist. Sein Takt und sein kritischer Scharfblick standen in solchem Ansehen, daß seine Freunde – selbst Lessing – ihm ihre Gedichte zur Feile und Correctur anvertrauten. So hat er im Verein mit Lessing Logau's Sinngedichte herausgegeben und Lichtwer's Fabeln bearbeitet. Später artete diese Neigung und Thätigkeit zu einer immer rücksichtsloseren – Verarbeitung der fremden Dichtungen aus. Wir haben in dieser Richtung vorhin seiner Ausgabe von Götz' Gedichten zu erwähnen gehabt.

Hier müssen wir denn auch die Dichterin Anna Luise Karsch, gewöhnlich die Karschin genannt, 1722-1791, wenigstens erwähnen. Man muß es immerhin anerkennen, daß sie, ihr ganzes Leben lang in den allertrübseligsten Verhältnissen existirend, oft genug mit wirklicher Noth und wirklichem Mangel kämpfend, dennoch durch ihre poetische Begabung aufrecht erhalten wurde. Sie fand neben dem Mitleid und der Theilnahme doch auch gar keine geringe Anerkennung – Gleim erklärte sie sogar für »die deutsche Sappho«. Mit Friedrich dem Großen, den sie auf das glühendste verehrte und in ihren Versen feierte, hatte sie eine Unterredung und erhielt eine kleine Unterstützung. Später, als sie sich um 1773 von neuem an ihn wandte, erhielt sie zwei Thaler, schickte dieselben jedoch entrüstet mit den bekannten Versen zurück:

»Zwei Thaler sind zu wenig
Für einen großen König.«

Friedrich soll herzlich darüber gelacht haben. Erst sein Nachfolger aber hat, wie für Ramler, auch für die Karschin einigermaßen gesorgt.

Eine ganz andere Bedeutung und einen ganz anderen Einfluß als die dichterischen, erlangten jene kritischen und philosophischen Köpfe, die wir oben schon kurz erwähnt haben.

Hier begegnet uns zuerst der Schweizer Johann Georg Sulzer, geboren 1720 zu Winterthur, dann Hauslehrer in Magdeburg, seit 1747 durch Gleims Vermittlung Professor am Joachimthal'schen Gymnasium zu Berlin, später Mitglied der Akademie der Wissenschaften, gestorben 1779. Sulzer, Schüler und Verehrer von Bodmer und Breitinger, verkündigte und vertrat ihre Dicht- und Geschmackslehre in Preußen zuerst und fortan in solcher Hartnäckigkeit und Befangenheit – er pries Bodmers »Noah« als das beste Gedicht neben dem Messias! –, daß er darüber mit den meisten früheren Freunden zerfiel. Sein Hauptwerk ist die, auf die Grundlage von Baumgartens, Breitingers und Batteux' Lehren gestützte »Allgemeine Theorie der schönen Künste«, welche jedoch, als sie 1771 zuerst erschien, schon von der Literatur völlig überholt war.

Wir gehen zu Moses Mendelssohn über, der 1729 in Dessau geboren war und seit 1743 in Berlin, hier trotz der allerdürftigsten Umstände nicht aufhörte, sich mit den alten Sprachen, mit Mathematik und philosophischen Studien zu beschäftigen, bis ihn endlich die Anstellung in einer Fabrik wenigstens der wirklichen Noth entzog. Durch sein Schachspiel kam er mit Lessing in Verbindung und blieb fortan in freundschaftlichster Verbindung mit ihm bis an den Tod. Lessing machte den jungen Mann, den er in Wolff's und Locke's Schriften schon eingeführt fand, auch mit Shaftesbury bekannt und brachte ihn dadurch auf die Behandlung von Fragen über die Natur des Schönen und die Wirkungen desselben auf das Gemüth – »Ueber die Empfindungen«, – »Betrachtungen über die Quellen und Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften« –, so daß auch hier die Baumgarten'sche Aesthetik weiter entwickelt und ihre Grundsätze auch auf die redenden Künste zur Anwendung gelangten, vorzüglich aber die englischen Aesthetiker und ihre Lehren für unsere Literatur fruchtbar gemacht wurden. Nicht am wenigsten wichtig wurde er für die Einführung und Kräftigung einer populärphilosophischen und publicistischen Literatur, welche nicht bloß im Sinn und Geist der sogenannten »Aufklärung« wirkten, sondern auch in Ansehung der fortschreitenden wirklichen Bildung, der wachsenden Theilnahme und des zunehmenden Verständnisses von größter Bedeutung sind. – Als sein Hauptwerk sieht man »Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele« an. Er starb 1786.

Christoph Friedrich Nicolai wurde 1733 zu Berlin geboren. Nach vorausgegangener tüchtiger Schulbildung, kam er in eine Buchhandlung zu Frankfurt a. O., arbeitete jedoch unablässig auf den Gebieten der deutschen Literatur, der Wolff'schen Philosophie, des Englischen und Griechischen weiter, so daß er, 1752 nach Berlin zurückkehrend und mit seinem Bruder die väterliche Buchhandlung fortführend, des Geschäfts alsbald überdrüssig wurde und sich, zumal seit seiner Bekanntschaft mit Lessing und Mendelssohn, ganz den Wissenschaften zu widmen beschloß. Der Tod des Bruders zwang ihn jedoch, die Handlung wieder selber zu übernehmen und fortzuführen. Er ist auch Mitglied der Akademie geworden und endlich 1811 gestorben. – Seine kritischen Unternehmungen, an denen er sich selber auf das thätigste betheiligte, und die von außerordentlichem, unleugbar wohlthätigen Einfluß auf unsere Literatur und Bildung waren, haben wir bereits kennen gelernt. Daß Nicolai nicht ganz der öde und geistlose Kopf war, als den man ihn auszuschreien beliebt hat, dürfte nicht bloß aus einem Theil seiner eigenen kritischen Schriften und Arbeiten, sondern vorzüglich auch aus seinem Verkehr mit vielen seiner bedeutendsten Zeitgenossen und aus der Achtung und Freundschaft hervorgehen, die ihm mehr als einer von ihnen unausgesetzt erhalten hat. Allein, das Haupt der »Aufklärer« und der Verkündiger und Verfechter der »Aufklärung«, welche, freilich im besseren und edleren Sinn, als er Nicolai begreiflich wurde, diese ganze Periode der Literatur und Bildung. erfüllt und ihr sogar ihren Namen leiht, ist er jeder Weiterentwickelung und jedem Fortschritt über diese Periode hinaus fremd geblieben, und von dem Einfluß, den er gewonnen und von der Verehrung, die man ihm erwies, betäubt, erstarrte er zu immer größerer Kälte und Oede, verlor er allmälig alles Verständniß für jede freiere und geistigere, wie für jede gemüths- und gefühlvolle Regung und versank in erbitterten Kämpfen für seine schwindende Autorität in stets zunehmenden Dünkel und – stets hohlere Anmaßung, die letzte Zuflucht solcher absterbenden Köpfe. Von Poesie war in seinem Kopse nie auch nur eine Ahnung vorhanden, und was er selber in dieser Richtung zu versuchen wagte, wie seine Romane, von denen wir nur »Leben und Meinungen des Magisters Sebaldus Nothanker« anführen, sucht an Dürre und Nüchternheit seines Gleichen.

Nicht bloß, weil er hauptsächlich in Berlin lebte, sondern auch, weil er im Grunde noch ganz der alten Richtung angehört und von dem Ausschwung der Geister in der folgenden Periode fast gänzlich unberührt geblieben ist, führen wir hier endlich auch noch den späteren Johann Jacob Engel, (1741-1802) an, – Gymnasiallehrer, Prinzenerzieher, Mitglied der Akademie und Oberdirector des Nationaltheaters. Er hat allerhand geschrieben, »Ideen zu einer Mimik«, – »Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten«, »Der Philosoph für die Welt«, – »Herr Lorenz Stark«, – Schauspiele u. s. w., alles voll des nüchternen, guten, ein wenig philiströsen Hausverstandes.

15.

Am 22. Januar 1729 wurde zu Kamenz in der Oberlausitz Gotthold Ephraim Lessing als der älteste von zehn Söhnen des späteren Hauptpastors der Stadt geboren. Die Verhältnisse waren nicht ganz die dürftigen, wie wir sie in anderen Pfarrhäusern dieser Zeit finden: man hielt dem Knaben einen Hauslehrer und ließ ihn sogar mit einem seiner Brüder von einem, uns nicht weiter bekannt gewordenen Künstler malen, ein Bild, das erst vor kurzem wieder aufgefunden ist. Er besuchte sodann einige Jahre lang die Stadtschule, kam jedoch, als sein Vater sich mit dem, in seinen Augen allzu frei- und schöngeistigen Rector Heinitz – derselbe stand mit den Gottschedianern in Verbindung – überworfen hatte, im Sommer 1741, wenig über zwölf Jahre alt, auf die altberühmte Fürstenschule zu Meißen. Er war, wie man sich denken kann, zum Theologen bestimmt und die ganze Einrichtung der Schule war auch auf ein solches Studium berechnet und bereitete ausdrücklich auf dasselbe vor. Allein Lessing schlug schon hier seine eigenen Wege ein. Er studirte für sich die Alten und unter ihnen zumeist Plautus und Terenz; neben ihnen kamen Theophrast und Euklid, und damit auch die griechische Poesie nicht fehle, Anakreon. Er scheint schon jetzt sich dem Geist des Alterthums genähert zu haben und legte den Grund zu der tiefen Auffassung desselben, die alle seine späteren Schriften auszeichnet.

In Leipzig, wohin er 1746 ging, sollte nun das Studium der Theologie wirklich beginnen. Er war in der lebhaften Stadt mit den vielen gelehrten, schöngeistigen, geputzten Leuten, die man ja »das kleine Paris« hieß, zuerst wie betäubt und lebte monatelang in tiefster Zurückgezogenheit. Dann aber raffte er sich auf. Er begriff, daß »die Bücher ihn wohl gelehrt, aber nicht zum Menschen machen« könnten; er wollte leben und sich im Leben bewegen lernen; er übte sich im Tanzen, Reiten, Voltigiren und Fechten; er trieb sich mit lustigen Gesellen und auch mit Schauspielern der Neuber'schen Truppe umher; er warf die gelehrten Bücher auf die Seite und las Schauspiele, welche »ihn sich selbst kennen lehrten«. – Für viele, ja die meisten Anderen dürfte ein solches Treiben verderblich geworden sein; für Lessing, der sozusagen ein geborener Character war, wurde es eine wirkliche Schule der Bildung, wie er denn selbst auch aus dem intimen Umgange mit seinem leichtsinnigen und haltlosen, aber geistvollen Freunde, Christlob Mylius, nur Vortheil zu ziehen verstand. Denn ernste Studien gingen stets nebenher, er besuchte die Vorlesungen Kästners, der damals noch in Leipzig war, des großen Philologen Ernesti, des Archäologen Christ; er studirte daheim die Philosophie Wolff's und trieb mit dem ebengenannten Freunde Naturwissenschaften und Mathematik. In zwei, von eben diesem Freunde gegründeten Zeitschriften trat er dann auch zuerst mit eigenen Arbeiten, lyrischen und epigrammatischen Kleinigkeiten und einem Lustspiel, »Damon oder die wahre Freundschaft«, hervor. Am wichtigsten aber wurde für ihn, daß die Neuberin 1748 sein Stück, »Der junge Gelehrte«, aufführen ließ und ihn dadurch in noch nähere Verbindung mit den Schauspielern und dem Theater brachte. Denn aus diesem Umgange, aus dem Spiel der zum Theil tüchtigen Künstler, aus der lebendigen Anschauung gewann er, was keine Bücher und keine Studien hätten gewahren können, nicht nur die Praxis, sondern auch die Einsichten, mit einem Wort alles, was ihn befähigte, der Reformator der deutschen Bühne und des deutschen Drama's zu werden.

Inzwischen hatte er die Theologie aufgegeben und sich der Medicin zugewendet, mit der er, zur Beschwichtigung der unzufriedenen Eltern, Schulfach-Studien verbinden wollte. Trotzdem ließ ihn der Vater, der über sein Leben allerhand Bedenkliches erfahren haben mochte, nach Hause kommen, überzeugte sich jedoch bald, daß es mit dem Sohne besser stand, als er gefürchtet, und entließ ihn von neuem nach Leipzig. Aber Lessing hielt hier nicht mehr aus. Die Neuber'sche Truppe zerfiel, Mylius ging nach Berlin, und Lessing, von Schulden gedrückt, folgte ihm, nach einem kurzen Verweilen in Wittenberg, zu Ende des Jahres 1748 oder in den ersten Tagen 1749 gleichfalls dahin. Damit begann jenes rastlose Wanderleben und die unermeßliche, anscheinend zersplitterte Thätigkeit, die wir an ihm fast während seiner ganzen Lebenszeit in gewissem Sinne sogar noch zu Wolfenbüttel beobachten. Man hat mit Recht gesagt, daß wie Klopstock der Erste war, der in voller Unabhängigkeit von Amt und öffentlicher Stellung, nur Dichter sein wollte und den Namen und Rang eines solchen zur Anerkennung und Ehren brachte, ebenso, ja noch entschiedener Lessing als Schriftsteller überhaupt das gleiche Ziel ins Auge faßte, den gleichen Anspruch erhob und den gleichen Erfolg hatte.

Von seinem Leben und seiner Thätigkeit in Berlin ist oben schon das Hauptsächliche angedeutet worden. Er hatte anfangs mit bitterer Armuth zu kämpfen und nach allein zu greifen, was ihm seine Existenz möglich machte. Allein, wie er im lustigen Leipziger Leben niemals sich selbst verlor, so erhielt er auch hier sich stets über der Noth des Daseins, in der ehrenhaftesten Selbstständigkeit. Eine Vierteljahrsschrift, »Beiträge zur Historie und Aufnahme des Theaters«, die er schon im Jahre 1749 im Vereine mit Mylius unternahm, ließ er bald wieder fallen, weil sein Mitarbeiter seiner Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit nicht mehr Genüge that. Dafür übersetzte er nun, schrieb selber mehrere Lustspiele, gab 1751 die erste Sammlung Gedichte, »Kleinigkeiten«, heraus, denen zwei Jahre später die beiden ersten Theile seiner »Schriften« folgten, redigirte, wie wir erfuhren, den gelehrten Artikel und das Beiblatt der Vossischen Zeitung und arbeitete endlich daneben unermüdlich an Vermehrung und Vertiefung seiner Kenntnisse.

Wie ernst er es damit nahm, ersehen wir auch aus seinem Aufenthalt zu Wittenberg, der vom Ende 1751 an fast ein rundes Jahr währte; er verweilte beinah' unausgesetzt auf der Universitätsbibliothek, studirte die Gelehrtengeschichte und römische Dichter und schöpfte, gleich Wieland, aus Bayle's kritischem Wörterbuch die vielseitigste Anregung. Als Frucht dieser Studien – Magister wurde er hier gleichfalls – dürfen wir seine Epigramme und seine »Rettungen« ansehen, in denen er sich älterer, verkannter und falsch beurtheilter Schriftsteller und Gelehrter annahm. Aber auch in allem, was er fortan, wieder in Berlin thätig, schuf, treten solche Früchte zu Tage. Es vertiefte oder, wenn man so will, klärte sich alles. Er stand schon beim Beginn seiner kritischen Thätigkeit wunderbar frei und unbefangen über den kämpfenden Parteien der Gottschedianer und Schweizer. Wie er dem alten Gottsched den Todesstoß versetzte, so begann er auch Bodmers angemaßten Einfluß zu brechen; wie willig er Klopstocks Verdienste und Werth anerkannte, so sicher wies er doch auch auf die Mängel im Messias und in Klopstocks Sprache hin. Er verlangte, wie der auf ihm fußende Nicolai in seinen »Briefen über den jetzigen Zustand u. s. w.«, für die feste Begründung und gedeihliche Entwickelung unserer Literatur keine nachsichtige und schönrednerische, sondern eine scharfe, ja die schärfste und präziseste Kritik. Er übte diese aber auch selber von Anfang an, wie z. B. in jenem unübertrefflichen »Vademecum für S. G. Lange«. Allein er erkannte auch die Aufgabe und erfüllte dieselbe in eminentem Grade, daß die gesunde und wirklich nützliche Kritik nicht bloß die Irrwege, sondern zugleich auch die rechten Pfade nachweisen müsse; daß sie nicht nur unerbittlich die alten Schäden und Irrthümer bloßzulegen und zu verurtheilen habe, sondern auch jede neue Wendung zum Besseren und Richtigeren, jedes frische, aussichtsvolle Streben von Herzen anerkennen und unterstützen, mit einem Wort, nicht bloß unireißen, sondern auch aufbauen, nicht bloß tödten, sondern auch beleben solle.

So hielt und übte er es sein ganzes Leben lang, mit zunehmender Sicherheit und Klarheit; so zieht es sich wie der rothe Faden durch alles, was er schuf, durch seine Beiträge zu der »Bibliothek der schönen Wissenschaften« und den »Literaturbriefen«, durch die kunstphilosophischen und antiquarischen, durch die literarhistorischen, die theologischen, die polemischen Schriften. Sie bilden im Verein das gährende und endlich klärende Element, dessen unsre Literatur bedurfte, um sich gedeihlich und kräftig fortbilden zu können. Seine eigenen poetischen Arbeiten sind gewissermaßen nur die Belege der sich aus seinen anderen, besonders kritischen Arbeiten emporhebenden neuen Dichtungs- und Kunstlehre. Seine früheren dichterischen Schöpfungen erklärte er selber als Producte nicht des wirklichen Genie's, sondern nur der Schaffenslust und zugleich als Versuche auf allen möglichen Gebieten der Poesie; von den späteren sagt er, daß er das, was »darin erträglich«, »einzig und allein der Kritik zu verdanken« habe. Man darf schon sagen, daß er in und mit allen diesen Schöpfungen gewissermaßen eine Art von Probe mit der Richtigkeit und Haltbarkeit seiner neuen Lehren zu machen und abzulegen versuchte.

Wie er von Anfang an der Bühne zugewendet war, so nahm er alsbald nach seiner Rückkehr von Wittenberg die frühere Mylius'sche Zeitschrift in seiner »theatralischen Bibliothek« wieder auf. Daneben führte er 1755 in seiner »Miß Sara Sampson« das bürgerliche Familientrauerspiel in unsere Literatur ein, einem Stück, das in zwiefacher Richtung bedeutend erscheint, denn es lenkte zum erstenmal mit Entschiedenheit in die freieren englischen Kunstformen hinüber und es stellte sich auf den Boden der bürgerlichen Familie, d. i. jenes dritten Standes, der eben drüben in Frankreich sich aus dem Drucke zu erheben begann. Noch deutlicher zeigte sich dies freilich in einigen Stücken Diderot's, die er ein paar Jahre später übersetzte. – Inzwischen ging er im Herbst 1755 nach Leipzig, wo die Koch'sche Gesellschaft spielte und ihn von neuem anzog. Dabei kam er auf Goldoni's Lustspiele und sammelte auch hier wieder Stoff zu eigenen Arbeiten und zur Weiterbildung seiner sich immer fester gestaltenden Kunstlehre. Was aber die Hauptsache war, – er machte zu dieser Zeit schon einen neuen Versuch auf dem Gebiete des nationalen Schauspiels, indem er die Faustsage zum Stoff eines Trauerspiels wählte. Er hat sich damit lange Jahre beschäftigt. Das Manuskript aber ging auf der Reise nach Italien verloren und es ist nichts als ein kleines Bruchstück gerettet worden.

Seine Unruhe und seine Lust, sich in der Welt umzusehen, ließ ihn jedoch nicht in Leipzig. Als Reisebegleiter eines reichen jungen Mannes brach er 1756 auf und zog mit ihm durch Norddeutschland nach Holland. Weiter kamen sie nicht, der Ausbruch des siebenjährigen Krieges scheuchte sie zurück und Lessing begann von neuem jenes trübselige Arbeiten um die nackte Existenz, wie es jeden Anderen zu Grunde gerichtet haben würde, ihm aber Stimmung, Muße und Kraft ließ, in altgewohnter Weise seine ernsten Studien, zumal altdeutsche Dichtung und Sprache, und seine großen Ziele zu verfolgen. Denn in dem Briefwechsel dieser Zeit finden wir ihn zuerst mit kunstphilosophischen Fragen und der Theorie des Trauerspiels ernstlich beschäftigt. Kleist's Verweilen in Leipzig bildete einen Lichtpunkt in dieser ernsten Zeit, und als der Freund im Frühling 1758 wieder schied, brach Lessing noch vorher auf, und ging aufs neue nach Berlin.

Hier folgte jetzt eine Zeit der literarischen Thaten. Mit Ramler im Verein gab er Logau's verschollene Sinngedichte neu heraus; er arbeitete im Stillen an seiner »Emilia Galotti«, ließ 1759 seine prosaisch abgefaßten »Fabeln« nebst den »Abhandlungen über die Fabel« erscheinen, veröffentlichte demnächst das Trauerspiel »Philotas«, wo er ebenso, wie in der Fabel, auf die vollste Einfachheit und stricteste Wesenheit der Gattung zurückzugreifen suchte. Dazu kamen eine Arbeit über den »Sophokles« und die schon erwähnte Uebersetzung Diderot'scher Stücke, vor allem aber der Beginn der gleichfalls schon mehrfach genannten »Literaturbriefe«. Gedenken wir zur Kennzeichnung derselben nur des einen, 17. Briefes, wo Lessing es zum Erstenmale mit Entschiedenheit ausspricht, daß der deutsche Volkscharacter und unsere alte dramatische Poesie sich mehr zum Geschmack und Wesen der Engländer, als zu dem der Franzosen neige, daß Shakespeare, selbst nach den Mustern der Alten, ein um vieles größerer tragischer Dichter sei als Corneille, und daß eine Anlehnung unserer – zumal dramatischen Dichtung an Shakespeare und die Engländer für uns von viel günstigeren Folgen gewesen sein würde als jene von Gottsched verlangte und eingeführte Abhängigkeit von den Franzosen. So liegt denn auch in diesen Sätzen, obschon nicht ausgesprochen, die bewußte Forderung, daß unsere Literatur versuchen müsse, eine wirklich deutsche, nationale zu werden, wie sie denn eine solche in den verworfenen und verdammten rohen Anfängen und Auswüchsen unserer dramatischen Poesie im Grunde schon mehr gewesen sei, als gegenwärtig nach den Gottsched'schen Reinigungsmanipulationen.

Die hier hinter einander aufgeführten Arbeiten Lessings sind alle in dem kurzen Zeitraum bis zum Herbst 1760 vollendet. Nachdem er zuletzt in Berlin noch zum Mitglied der Akademie ernannt worden, ging er zu der angegebenen Zeit als Secretär des Generals von Tauenzien nach Breslau und blieb hier, auch nach dem Frieden, noch bis 1765. Auch hier wieder war's, wie vordem in Leipzig: trotz des zerstreuten, ja wilden Lebens in und mit den militärischen Kreisen, blieb er innerlich unangefochten und arbeitete in der alten Weise weiter. Angeregt durch Johann Joachim Winckelmann's (geb. zu Stendal 1717, ermordet zu Triest 1768) Schrift: »Von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst«, und durch das spätere unsterbliche Werk des Gleichen: »Geschichte der Kunst des Alterthums«, begann er jene Aufsätze zu schreiben, die er im Jahre 1766 unter dem Titel »Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie« vereint erscheinen ließ, – ein Buch, das unter Lessings Meisterwerken vielleicht das meisterlichste ist. In ihm ist nicht bloß mit jener Gründlichkeit, Klarheit und Schärfe, wie nur er sie besaß, die Scheidelinie zwischen der bildenden und redenden Kunst überhaupt gezogen, sondern er verfolgt auch und stellt auch fest die Grundgesetze und höchsten Ziele der einen wie der anderen, und er eröffnet endlich der deutschen Wissenschaft und Dichtung zum erstenmale den offenen und sicheren Einblick in die antike, vorzüglich griechische Poesie und Kunst.

Unmittelbar an dies Buch schloß sich eine andere, nicht weniger schöne und reife Frucht seines Breslauer Lebens, das ist »Minna von Barnhelm«, vollendet bereits 1763, herausgegeben aber erst vier Jahre später, das Stück voll wunderbarer Frische und Kraft, voll unübertrefflicher Einfachheit und Naturwahrheit, mitten aus der Zeit heraus und mitten aus dem Leben und der bewegten Wirklichkeit, mit dem großartigsten Hintergrund und voll endlich von einer Handlung, voll von Zuständen und Characteren, welche von vorn herein die Theilnahme aller in Anspruch nehmen; »ein Markstein«, wie man es bezeichnet hat, »nicht nur der dramatischen, sondern der gesammten deutschen Dichtung«, bis auf den heutigen Tag das reinste und vollendetste deutsche National- und Volksdrama.

Inzwischen war Lessing 1765 von neuem nach Berlin gegangen, verließ dasselbe aber schon wieder nach kaum zwei Jahren auf einen Ruf, den er nach Hamburg an das hier zu begründende Nationaltheater erhielt. Und hier beginnt er vom 1. Mai 1767 an sein drittes Meisterwerk erscheinen zu lassen, die »Hamburgische Dramaturgie«. Was er schon in den »Literaturbriefen« zum Theil als Grundideen der Dramaturgie angedeutet hatte, gelangte hier zur ausführlichen Entwickelung und Feststellung. Hier wurde der Einfluß der Franzosen vollständig gebrochen und neben den großen Alten auf die Engländer und Spanier hingewiesen, vor allem aber Shakespeare als Muster und Führer im Gebiet der dramatischen Kunst festgestellt. Sie blieb, wie Gervinus schön sagt, »der Leitstern unserer gesammten folgenden Poesie«.

Was Lessing von dem Hamburger Theater gehofft hatte, wurde jedoch nicht erfüllt und die »Dramaturgie« ging an der Theilnahmlosigkeit des Publikums zu Grunde. Von Feiern war trotzdem für ihn keine Rede. In diese Jahre 1768 und 1769, fallen seine »Briefe antiquarischen Inhalts«, und seine Abhandlung »Wie die Alten den Tod gebildet«, hervorgegangen aus seinem Streit mit dem Hallenser Philologen Klotz, Meisterstücke in ihrer Art, wie alles, was von ihm fortan erschien. Aber verstimmt wurde er und mißmuthig und trug sich mit Plänen nach Italien und Rom zu entweichen, dort ganz für sich zu leben und zu arbeiten. Da erhielt er 1769 einen Ruf als Bibliothekar nach Wolfenbüttel mit dem Titel eines »Hofraths«, und folgte demselben im Frühling 1770.

Damit beginnt der letzte Abschnitt seines Lebens, äußerlich der einförmigste, da er, ein paar Reisen abgerechnet, in dieser Stellung bis an seinen Tod blieb; innerlich der ruhloseste und bewegteste, ein fortwährender Kampf zwischen Gehen und Bleiben, eine Zeit der Vereinsamung, der Verbitterung, der Sorgen und der Noth und gegen ihr Ende hin erfüllt von den erschütterndsten Erlebnissen. Lessing hatte nicht unberührt vierundzwanzig Jahre lang gelebt, wie er gelebt hatte. Das Genügen an Enge und Stille war ihm abhanden gekommen, von einer gewissen festen Ordnung des täglichen Lebens verstand er nichts; die Fesseln, welche ihm seine Stellung anlegte, drückten ihn wund, die engen, die ärmlichen und sorgenvollen Verhältnisse zerdrückten ihn. Der Adler siechte und verging vor Heimweh nach der alten Freiheit. Es ist auch anderen so ergangen.

Daß er trotzdem nicht feierte, sondern rastlos weiterstrebte, braucht von diesem Geist nicht erst versichert zu werden. Doch müssen wir uns begnügen, hier nur ein paar von den Werken anzuführen, welche er noch erscheinen ließ. 1772, ein Jahr vor dem »Götz von Berlichingen«, erschien seine »Emilia Galotti«, deren Anfänge bis in die Zeit der »Miß Sara Sampson« zurückreichen. Es ist ein bürgerliches Trauerspiel, dessen Stoff, dem Alterthum entnommen, auf das meisterhafteste in die Neuzeit und ihre Zustände und Anschauungen herübergerückt ist, voll der, grade damals schärfer und schärfer hervortretenden Conflicte der Stände, ihrer Ansprüche und ihrer Bildung. Die Klarheit der Exposition, das Ineinandergreifen der Begebenheiten und der Handlung, die feinste und sicherste Characterzeichnung machen es bis auf den heutigen Tag zu einer unserer größten dramatischen Dichtungen.

Sieben Jahre später, 1779, erschien Lessings letztes dramatisches Werk, »Nathan der Weise«, auf »Subscription«, um – ihm eine bessere Einnahme zu sichern! Ein didactisches und zugleich ein wesentlich polemisches Stück, ging es aus seinen damaligen theologischen Streitigkeiten hervor; seinen Stoff schöpfte es aus einer Novelle von Boccaccio und brachte die Idee zur Darstellung, daß der Werth des Menschen sich nicht auf die Religion des dogmatischen Bekenntnisses, sondern auf diejenige des frommen, liebevollen Herzens gründe. Es ist in fünffüßigen Jamben geschrieben und hat, obschon darin nicht ohne Vorgänger, die Herrschaft dieses Verses in unserer dramatischen Poesie begründet. Rein dichterisch betrachtet, ist Nathan sicherlich eine der höchsten Schöpfungen unserer Poesie und die größte Lessings: es ist voll mehr Wärme und Gemüth, als irgend eines seiner anderen Werke, und was es an Poesie überhaupt in Lessing gab, athmet uns hier entgegen. Als dramatisches Werk dagegen wird es, trotz seiner technischen Vollendung, schon durch den bestimmten Zweck und die ausgesprochene Tendenz unter seine anderen Werke dieser Gattung hinabgerückt.

Von 1773 an gab Lessing die »Beiträge zur Literatur aus den Schätzen der Bibliothek zu Wolfenbüttel« heraus und veröffentlichte darin »Fragmente des Wolfenbüttel'schen Ungenannten«, Bruchstücke eines von dem Hamburger Professor H. S. Reimarus hinterlassenen Werks, welches sich vom deistischen Standpunkte mit der Untersuchung der geoffenbarten Religion und der in den Evangelien enthaltenen Lebens- und Leidensgeschichte Jesu beschäftigt. Das Aufsehen und die Wirkung dieser Fragmente waren beide gleich groß, die Theologen zumal geriethen in hellen Aufruhr und allen voran erhob sich der Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze zum grimmigsten Angriff. Daher richtete sich denn auch Lessings Abwehr hauptsächlich gegen ihn, und die Reihe der kleinen Schriften, die den gemeinsamen Titel »Anti-Goeze« tragen, sind auf dem Felde der polemischen Literatur das Kühnste, Großartigste und Vollendetste, was wir besitzen, ja was auch in anderen Literaturen kaum seines Gleichen findet. – Der »Nathan« ging, wie wir schon sagten, aus diesem Streite hervor, und im Jahre 1780 erschien die gleichfalls hieher gehörige kleine Schrift: »Die Erziehung des Menschengeschlechts«, eine Art von religiösem Testament Lessings.

Nachdem er, so viel wir wissen, bis in sein vierzigstes Jahr jeder näheren Verbindung mit einer Frau so gut wie völlig fremd geblieben war, lernte er zu Hamburg in Eva König, der Gattin eines ihm befreundeten Kaufmanns, das Wesen kennen, vor dem seine Kälte schmolz. Der Mann starb nach einiger Zeit auf einer Geschäftsreise und wiederum nach einer Weile verlobten sich die Beiden – Lessing sah in ihr »die einzige Frau, mit der er sich zu leben getraute«. Nach solchem glücklichen Anfang folgte nun aber ein unendlich trübseliger und langwieriger Verlauf; Hindernisse und widrige Verhältnisse aller Art traten eines über das andere dem Paare entgegen, und erst nach sechs Jahren, als Lessing von der unerquicklichen und unfruchtbaren Reise zurückgekehrt war, die er als Begleiter des Prinzen Leopold durch Italien gemacht hatte, konnte im Herbst 1776 die Verbindung geschlossen werden. Nun begann Lessings schönstes und glücklichstes Lebensjahr, allein eine längere Dauer war dieser schönen Zeit auch nicht beschieden – »ich wollte es auch einmal so gut haben, wie andere Menschen,« schrieb er später davon, »aber es bekam mir schlecht.« – Um Weihnachten 1777 wurde ihm ein Sohn geboren, der indessen schon nach vierundzwanzig Stunden wieder starb, und am 10. Januar 1778 folgte ihm die Mutter nach.

»Meine Frau ist todt,« schreibt er am gleichen Tage an Eschenburg, »und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht. Ich freue mich, daß mir viele dergleichen Erfahrungen nicht mehr übrig sein können zu machen; und bin ganz leicht.« – Die Briefe oder vielmehr Zettel aus dieser Zeit an den genannten Freund und seinen Bruder Karl wird kaum jemand ohne Thränen zu lesen im Stande sein.

Grade in der folgenden, schwersten Zeit schrieb Lessing den »Anti-Goeze«, und wie die anderen oben genannten Werke zeigen, blieb er auch in den folgenden Jahren nicht müssig. Aber seine rechte Kraft war dennoch gebrochen. Er »mußte nun wieder anfangen, seinen Weg allein so fort zu duseln«. Er war »ein fauler knorrichter Stamm«. – »Die Scene war aus«. – Er kränkelte, die Verstimmung wuchs, die geistige Abspannung nahm zu, und bei einem Besuch in Braunschweig starb er nach kurzem Unwohlsein plötzlich am 15. Februar 1781. Er war so arm, daß der Herzog ihn begraben lassen mußte. Sein Grab versank und wurde vergessen. Als man in neuerer Zeit danach zu suchen begann, konnt' es nur mit Mühe wieder ausgefunden werden. Jetzt erhebt sich darauf das würdige Denkmal von Rietschel's Meisterhand.

Die Nachwelt ist gegen ihn gerechter gewesen und geblieben, als es seine Zeitgenossen waren. Zwischen diesen und den ihnen zunächst Folgenden gab es nur wenige Einzelne, welche sich zu einem gewissen Verständniß dieses Geistes erhoben, und seinem ganzen Werthe und seiner vollen Bedeutung nach wurde er selbst von denen nicht erkannt und gewürdigt, welche ihm als »Freunde« verbunden waren und von uns wenigstens als Mitarbeiter an dem großen Werke der Regeneration unserer Literatur und der Aufklärung auf allen geistigen Gebieten anerkannt werden müssen. Von einem Einfluß und Erfolgen seiner wunderbaren reformatorischen Wirksamkeit ward unmittelbar und offen bei weitem nicht so viel bemerkbar, wie man es erwarten sollte. Wir müssen schon wiederholen: es gab zwischen seinen Zeitgenossen, den einzigen späteren Herder ausgenommen, nicht einen Geist! der dem seinen gewachsen gewesen wäre, der seinen Bahnen zu folgen und auf den von ihm gegründeten Fundamenten weiter zu bauen vermocht hätte. Lessing wurzelte allerdings wie jeder andere in seiner Zeit, er war erfüllt von den Ideen und Bestrebungen der Aufklärungsperiode, er vereinte in sich die gesammte Bildung seines Zeitalters. Aber es war damit nicht genug. Er erhob sich mehr und mehr über dies alles bis zu einer, damals noch völlig einsamen Höhe und ragte über die Gegenwart weit in die Zukunft hinaus.

Daß er dies selber geahnt, daß er auf diese Zukunft gerechnet und auf den unermeßlichen, allseitigen Fortschritt gehofft hätte, dürfen wir schwerlich annehmen. Grade zu der Zeit, als die neue Entwickelungsphase unserer schönen Literatur begann, wandte er sich verstimmt und unmuthig von ihr ab und was ihm von dem jungen, aufstürmenden Dichtergeschlecht zu Gesicht kam, wies er im Allgemeinen kalt oder verdrießlich fortan zurück, sah er doch durch die beginnende Regel- und Schrankenlosigkeit einen guten, ja den besten Theil seiner Lebensarbeit gefährdet. Selbstverständlich hatte diese Entfremdung seinerseits nur die Folge, daß man auch aus der anderen Seite ihm fremd wurde oder fremd blieb. Und zwar um so eher, als die Stürmer und Dränger ohnehin verzweifelt wenig dazu angethan waren, sich vor einer Autorität zu beugen, schon geöffneten Wegen zu folgen und vor ihnen Geleistetes anzuerkennen. Sie waren sich selber genug.

Größere Dichter besitzen wir, einen größeren Geist gibt es weder vor, noch neben und auch nicht nach ihm. Schon mit seinen Jugendwerken stellte er sich neben, ja über die Besten seiner Zeitgenossen und fortan führte ihn jeder neue Schritt eine Stufe höher, wurde jedes Werk ein neuer kernfester Baustein zu dem aufstrebenden Gebäude der Literatur und Kunst, der gesammten Bildung seiner Nation. Denn in dieser seiner Nation wurzelt Lessing mit allen Fasern seines Wesens, mit seiner ganzen Natur, gleichviel, wie weit der Weltbürger über solche Beschränkung sich zu erheben meinte.

Von welcher, seine ganze Umgebung überragenden und bis in unsere Zeit reichenden Größe Lessing gewesen und wie sein Einfluß, wenn auch in aller Stille und meistens kaum erkannt, fortgelebt und fortgewirkt und selbst heute noch nicht gebrochen ist, das zeigt uns jeder unbefangene Blick auf die Entwickelung der Literatur und des geistigen Lebens überhaupt: wir finden uns überall grade auf ihn zurückgeführt und vermögen ihn nicht zu entbehren. Aber wir erkennen es auch an seinen Werken selber und an der Gewalt, welche sie noch immer über uns haben. Lessing ist, wenn wir von seinen Jugendversuchen absehen, weniger veraltet als die meisten anderen, ja als im Einzelnen selbst die Größten unter unseren sogenannten klassischen Schriftstellern. Seine Werke und zwar zumeist grade die prosaischen, haben auch heute und für uns noch nichts von ihrer unwiderstehlichen Anziehungskraft und ihrem fesselnden Reiz verloren. Wir sind ihnen, mag der Stoff hie und da ein anscheinend noch so fremdartiger oder sage man immerhin: veralteter sein, schon von den ersten Zeilen an zu eigen, wir kommen nicht mehr los, bis zum Schluß und wir beugen uns an diesem Schluß bewundernd und dankbar vor dem Geiste, der das geschaffen.

Und das Geheimniß dieses Reizes und dieser Anziehungskraft, dieser Herrschaft über uns? Es liegt nicht nur in der Fülle von großen und treffenden Gedanken, welche sich in ununterbrochener Reihe aneinander schließen, in der durchsichtigen Klarheit, in der überzeugenden Wahrheit, in und mit denen sie uns entgegentreten; nein, es beruht auch und zwar vor allem auf dem unvergänglichen, man möchte sagen, gegenwärtigen Leben, das diese Arbeiten erfüllt und durchzuckt. Sie treten nicht, wie andere Bücher, von Anfang an vor uns wie etwas Fertiges hin, sondern entstehen gewissermaßen, wachsen, werden fertig unter unseren Augen, unter unserer lebendigen, ja beinahe thätigen Theilnahme. Ihr Verfasser zwingt uns, mit seinen Gedanken zu denken, mit seinen Empfindungen zu empfinden, mit ihm zu studiren, mit ihm zu suchen und zu finden, mit ihm zu gestalten und endlich festzustellen. Und wiederum ist dies alles nicht bloß die Gewalt des außerordentlichen Geistes, der sich uns unterthan macht, es ist daneben auch die Macht der Darstellung und der Sprache, wo nicht ein Wort zu viel, nicht ein Wort zu wenig laut wird, nicht eines am unrechten Platz uns begegnet – es ist die kunstlose Kunst, die Frische, die Kraft und Schönheit dieser gewaltigen Prosa, welche, vielleicht nur von Goethe in seiner besten Zeit zuweilen auf anderen Gebieten erreicht, bis auf den heutigen Tag als unübertroffenes Muster zu, uns redet.

16.

Wie der Einfluß und die Wirkungen von Lessings kritischer und überhaupt reformatorischer Thätigkeit, trotz der Bewunderung, die man ihm zollte und trotz der Angst, welche man vor ihm hatte, zum mindesten auf practischem Gebiet anscheinend sehr geringfügige blieben, so führten auch die Arbeiten und Bemühungen der Berliner Kritiker und Aufklärer fürs erste zu keinen recht nennenswerthen und erfreulichen Folgen. Diejenigen, welche außer Klopstock und Wieland eine Art von höherer und freierer Begabung und, wo nicht wirkliche Einsicht, doch einen richtigeren Instinct verriethen, welche bald wahrhaft poetisch angehaucht wie Kleist und Uz, bald technisch wie Ramler, oder in jener harm- und sorglosen Duselei, wie Gleim vorwärtsschritten und sich einen Namen sicherten, blieben vereinzelt und gelangten zu keinen durchschlagenden Erfolgen – finden wir doch auch sie meistens in keiner wirklichen Selbstständigkeit, sondern gestützt auf ältere oder gleichzeitige größere Vorgänger. Alles, was wir neben ihnen finden, tappt in Unfreiheit und Unklarheit vorwärts, es vermag des freilich unermeßlichen und überwältigenden, von allen Seiten herandrängenden neuen Stoffs, der Flut von neuen Ideen und Anschauungen, mit einem Wort, der anbrechenden neuen Zeit nicht Herr zu werden und sich aus der Betäubung und Confusion zur Selbstständigkeit und Klarheit zu erheben.

Hier finden wir einige von den oben genannten, alten Mitarbeitern an den »Bremer Beiträgen« wieder, wie den Klopstockianer J. A. Cramer, den »vortrefflichsten Versificateur«, wie er von Lessing bezeichnet wurde, dessen »poetisches Feuer aber ein kaltes Feuer« blieb, der in seiner Wochenschrift, »der nordische Aufseher« sich besonders auch mit der »christlichen« Erziehung der Jugend beschäftigte und hierin bald J. B. Basedow zum Nachfolger und Genossen fand, der, von Rousseau's »Emile« beeinflußt, der Reformator des Erziehungswesens werden wollte und 1774 zu Dessau eine Musterschule, das bekannte, sogenannte »Philanthropin« gründete. – Hier begegnen wir anderen, nur an Plattheit und Geistlosigkeit Großen, wie dem furchtbaren Vielschreiber und Nachahmer J. J. Dusch, der alles Denkbare und Undenkbare zu Stande brachte, Lehrgedichte, Epopöen, Uebersetzungen, Romane, oder, wie Lessing sagt: »Schoßhunde und Gedichte, Liebestempel und Verleumdungen, – bald satirische, bald hämische Schriften, bald verliebte, bald freimüthige, bald moralische Briefe u. s. w.«

Allein wir treffen auch noch andere, wirklich Talentvolle und Begabte, nur daß sie sich eben, wie wir oben sagten, nicht zur Freiheit und Selbstständigkeit zu erheben vermochten. Da ist der österreichische Jesuit Michael Denis (1729-1800), weniger nennenswerth wegen seiner eigenen, an Klopstock und Ossian sich anlehnenden Bardenpoesie, als wegen seiner Uebersetzung »Ossians«, mit der er 1765 hervortrat. An ihn schließt sich ein anderer »Barde«, K. F. Kretschmann, der seinerzeit sogar fast berühmt war. – Als Natur- und besonders Idyllendichter machte sich der Züricher Salomon Geßner (1730-1787) einen ganz außerordentlichen Namen, über den wir, wenn wir jetzt in diese öden und unwahren, bis zur Unerträglichkeit süßlichen Producte (»Schäfergedichte«, »Der erste Schiffer«, »Der Tod Abels« u. s. w.) hinein zu lesen versuchen, nur bestürzt den Kopf zu schütteln vermögen. – Die Fabelndichter J. G. Willamov (»Dithyramben«, »Dialogische Fabeln«) und der um vieles höher stehende, blinde Colmar'sche Lehrer G. K. Pfeffel, von dem das Gedicht »Der Türkenkopf« ja noch heute bekannt ist, gehören gleichfalls hierher und schließen sich noch an Gellert und Lichtwer, obgleich Pfeffel, der erst 1899 starb, sich in seiner späteren Zeit an die Franzosen hält und mit bemerkenswerther politischer Freimüthigkeit auftritt.

Um vieles bedeutender und ein wirkliches Talent ist L. F. G. von Göckingk (1748-1828), der gleichfalls in dieser Zeit wurzelt, mit Gleim und Nicolai verbunden ist, ja zuerst sich in satirischen Jugendversuchen noch zu Rabener hält. Besseres aber finden wir schon zwischen den »Epigrammen« und »poetischen Episteln«, und seine »Lieder zweier Liebenden« sind voll von so viel Naturwahrheit, Anmuth und wirklicher Empfindung, daß man sie nicht mit Unrecht mit Goethe's Liedern verglichen hat.

Zuletzt begegnet uns H. W. v. Gerstenberg (1737-1823), der in seinen »Tändeleien« (1759) noch französischen Mustern folgte, sich an Theokrit und Anakreon lehnte und gewissermaßen als ein Vorläufer des lustigen Wieland angesehen werden könnte. Später ging er zu den Klopstockianern über; seine »Gedichte eines Skalden« verrathen eine wirkliche Kenntniß der nordischen Mythologie und Poesie, und seine, im Verein mit Anderen herausgegebene Zeitschrift, »Briefe über Merkwürdigkeiten der Literatur« begründeten nicht am wenigsten den gewaltigen Einfluß Shakespeares auf unsere Literatur. Von seinen selbstständigen dichterischen Werken nennen wir nur noch die zwei, welche weit über ihre Zeit hinaus im höchsten Ansehen blieben: die Cantate »Ariadne auf Naxos«, und das Trauerspiel »Ugolino«, das, aus Dante's Hölle geschöpft, die erste deutsche Tragödie ist, welche sich nicht nur frei von den französischen Kunstregeln macht, sondern auch ausdrücklich unter Shakespeare's Einfluß entstanden ist.

Während sich alle hier und früher erwähnten dichterischen Arbeiten und Bestrebungen mit nicht vielen Ausnahmen zwanzig und mehr Jahre lang so ziemlich in der gleichen Ebene halten und nur wenig von dem großartigen Aufschwung verrathen, den das geistige und sociale Leben nahm, – währenddem, sagen wir, zeigt sich unsere Prosaliteratur in einem ganz anderen Fortschritt begriffen. Hier ist die »Aufklärung«, die Signatur dieser Periode, so zu sagen in Action, hier vollzieht sich eine Arbeit, über deren Vielseitigkeit wir erstaunen, wo der Ernst und der Eifer ihrer Arbeiter uns mit Achtung und Bewunderung erfüllen. Wie viel auch auf dem eigentlich literarischen Gebiete zu thun sein mochte, es gab anderwärts nicht weniger zu schaffen. In Staat und Kirche, in Wissenschaft und Leben und wo sonst immer, man fand überall das Veraltete und Zusammengebrochene, eine Erstarrung und Verfinsterung sonder Gleichen. Es galt überall Luft und Licht zu schaffen, um nur erst wieder sehen und athmen zu können, und den Schutt fortzuräumen, um den Platz zum Neubau der kommenden Zeit zu gewinnen. Und das geschah in jeder Richtung und auf alle Weise, mit unermüdlicher Thätigkeit, so daß wir, wie wir schon wiederholen müssen, mit Achtung, ja Bewunderung erfüllt werden. Man muß nur von den Auswüchsen und Extremen absehen, in welche sich die plötzlich Erlösten und ihrer Glieder und ihres Verstandes kaum noch Mächtigen hie und da verrannten; und man darf sich andrerseits auch nicht durch das verdammende Zetergeschrei des aufgescheuchten damaligen und heutigen Nachtgevögels betäuben lassen, das sein erstarrendes und verfinsterndes Regiment aufgedeckt und umgestoßen sah und ohnmächtig zu erhalten strebte, was nicht zu erhalten war.

So sehen wir denn, ganz abgesehen von den kritischen Arbeiten Lessings und der Berliner, eine Literatur entstehen und heranwachsen, die ungeachtet aller Schwächen, Mängel und Fehlgriffe, als eine hoch erfreuliche zu bezeichnen ist. Sie geht nicht mehr vom Gelehrtenstande aus und wendet sich nicht mehr bloß an diesen oder überhaupt an besondere Klassen und Kasten, sondern an die immer wachsende Zahl der Gebildeten. Sie verbreitet sich über alle Gebiete des Wissens, der Erfahrung und Erkenntniß, sie rückt vor allen Dingen den Menschen selber dem Menschen wieder näher; sie erweckt die Theilnahme und steigert sie; sie erregt das Selbstdenken und vermittelt das Verständniß, sie schafft sozusagen und läutert zugleich den Geschmack; sie trägt die allgemeine Bildung in immer weitere Kreise. Hier hauptsächlich begegnen wir dem Einfluß der englischen und französischen Philosophen und zwar nicht bloß in der Wahl der Gegenstände, sondern auch in ihrer Auffassung und Behandlung und vor allem in der Darstellung: man fängt an, einfach, klar und gut zu schreiben. Und dies alles gilt nicht bloß von den eigentlichen Schriftstellern, sondern auch allmälig immer entschiedener von den wirklichen Gelehrten und Fachleuten, welche aus ihren engen Kreisen hervortreten und die Wissenschaft und die Resultate ihrer Forschungen und Studien dem großen Publikum zugänglich zu machen beginnen.

Die Zahl der hieher gehörenden Schriftsteller und ihrer Schriften ist so groß, daß wir nur die hauptsächlichsten kurz namhaft machen können. –

Thomas Abbt, geboren zu Ulm 1738, gestorben schon 1766, führte nach Lessings Abgang von Berlin 1760 die »Literaturbriefe« in anerkennungswerther Weise weiter. Sein »Fragment der portugiesischen Geschichte« ist das erste Beispiel einer gedrängteren und lebendigeren Darstellung aus diesem Gebiet; seine Abhandlungen, »Vom Verdienste«, und »Vom Tode für's Vaterland«, sind lange Zeit im Ansehen geblieben. – Christian Garve (1742 bis 1798), einer der Hauptvertreter und Verbreiter der populären Philosophie, entwickelte eine große Thätigkeit nicht nur in den Uebersetzungen aus den alten und neuen Sprachen (Cicero's Schrift de officiis, die Ethik und Poetik des Aristoteles, Burke's Buch über das Erhabene und Schöne, Ad. Smiths Untersuchung über die Natur und Ursachen des Nationalreichthums, u. s. w.), sondern auch in eigenen Schriften (»Ueber Gesellschaft und Einsamkeit«, »Ueber Gegenstände der Moral, der Literatur und des gesellschaftlichen Lebens«). Er gehört neben H. P. Sturz (1736-1779) in seinen »Briefen eines Reisenden« zu den besten Prosaisten dieser Zeit. – Johann Georg Zimmermann, geboren 1728 zu Brugg in der Schweiz, gestorben 1795 als Leibarzt zu Hannover, schrieb ein paar bekannte Werke »Vom Nationalstolz« und »Ueber die Einsamkeit«; sein Landsmann und Zeitgenosse Isaak Iselin (1728-1782) die hochangesehenen »Philosophischen Muthmaßungen über die Geschichte der Menschheit«, »Philosophische und patriotische Träume eines Menschenfreundes«, u. s. w. An ihn schließen sich die Universitätslehrer Johann Matthias Schröckh zu Wittenberg (1733-1808) in seiner »Kirchengeschichte« und mehreren biographischen Schriften; der große Staatsrechtslehrer Johann Stephan Pütter (1725-1807, »Grundriß der Staatsveränderungen des deutschen Reichs«), der Historiker und Geograph Joh. Chr. Gatterer (1727-1799, »Handbuch der Universalhistorie«), der freilich schon etwas spätere, hochbedeutende August Ludwig Schloezer (1735-1809), einer der Hauptbegründer der lebensvollen Geschichtschreibung, durch seine »Staatsanzeigen« besonders bekannt und gefürchtet – alle drei in Göttingen. Selbst die Theologen blieben nicht zurück, die Aufklärung und Toleranz zu fördern und die religiöse Bildung zu heben und auszubreiten, nicht nur in ihren Predigten, sondern auch in anderen Schriften, wie sich denn in solcher Weise G. J. Zollikofer (1730-1788) zu Leipzig, J. F. W. Jerusalem (1709-1789) zu Braunschweig, J. J. Spalding (1714-1804) und der Dogmatiker W. A. Teller (1734-1804) zu Berlin auf das rühmlichste hervortraten.

Vor allen übrigen aber müssen wir hier noch zweier Schriftsteller gedenken, deren Einfluß nicht nur auf diese Zeit, sondern auch noch weit hinein in die kommende, ein tiefgreifender und folgenreicher war. Friedrich Karl von Moser, geboren zu Stuttgart 1723 und, nachdem er acht Jahre lang Staatsminister zu Darmstadt gewesen, gestorben zu Ludwigsburg 1798, hat in zahlreichen kleinen und größern Schriften – »Der Herr und der Diener«, – »Beherzigungen«, – »Vom deutschen Nationalgeiste« u. s. w. – sein ganzes Leben lang auf das kühnste für Recht und Freiheit gekämpft, für die Menschen- und Unterthanenrechte, für die Hebung aller noch herrschenden Uebelstände im Staat und bürgerlichen Leben gestritten., Der vollen Wirkung dieser Schriften stand leider eine meistens mangelhafte Form entgegen, durch welche sie für uns sogar beinahe ungenießbar werden. Dagegen ist Justus Moeser, geboren zu Osnabrück 1720 und gestorben ebendaselbst 1794, gerade auch formell zu unseren Besten zu zählen. In ihm begrüßen wir einen Volksschriftsteller ersten Ranges, ja wir besitzen und kennen keinen, der einfacher und wahrhaftiger, edler und vor allen Dingen gesunder für das leibliche und geistige, für das sittliche Wohlergehen seiner Mitbürger und Zeitgenossen, für die Forträumung von Vorurtheilen, für die Verbreitung einer vernünftigen Aufklärung gesorgt und gearbeitet hat. Alles, was er geschrieben hat, trägt den Stempel der Vortrefflichkeit. Seine »Osnabrückische Geschichte« ist eine Grundlage der ältesten Geschichte des ganzen Deutschlands; seine »Patriotischen Phantasien« darf man trotz ihrer häufig anscheinend nur lokalen Bedeutung, fast als ein klassisches Werk bezeichnen, und seine Antwort auf Friedrich des Großen Schrift » de la littérature allemande« – das »Schreiben an einen Freund über die deutsche Sprache und Literatur«, verdient als Aeußerung eines hohen und klaren, vor allem männlichen Geistes, noch heute unsere lebhafteste Anerkennung.

17.

Wenn wir während dieser sechziger Jahre uns auf deutschem Boden und im deutschen Leben umsehen, begegnen wir überall, in den Bildungszuständen, in den Lebensverhältnissen, in den Geistesregungen, in der Literatur endlich und hier natürlich vor allem einer merkwürdigen Verwirrung und Aufregung und erkennen darin ohne Schwierigkeit bereits alle Elemente, aus denen der wenige Jahre später sich erhebende Sturm, man möchte sagen, zusammengesetzt war und durch die er zum Ausbruch getrieben wurde. Herz und Gemüth, Geist und Verstand der Deutschen waren überfüllt mit einer Flut von neuen Empfindungen, Vorstellungen und Ideen, Anregungen aller Art, unter denen man sich kaum mehr zurechtfand, geschweige denn, daß man ihrer Herr zu werden vermochte. Die Verfeinerung und Vertiefung der Empfindung, schon mit den Hallenser Pietisten anhebend, gelangte in und durch Klopstock zum vollen Durchbruch und freien Ausdruck, als Anbetung Gottes, als überströmende irdische Liebe, als Begeisterung für die Freundschaft, für die Natur und das Vaterland. Aber wie sie schon bei ihm selber aus ihren klaren Höhen herabsank und zu nebelhaften Umrissen verschwamm oder sich in Mysticismus und Schwärmerei verlor, so wurde sie bei seinen Nachfolgern und Nachahmern zur leeren Gefühlsschwelgerei, und ging, oben darein begünstigt und gesteigert durch die schwärmerischen und sentimentalen englischen Muster, von hohler Empfindsamkeit zur noch hohleren Empfindelei über.

Gegenüber machte sich, seit Wielands Rückkehr nach Deutschland, seine heitere, nicht selten leichte, ja leichtfertige Lebensanschauung und seine anmuthige und pikante Darstellung geltend, während Lessing mit seiner gewaltigen Kritik nach allen Richtungen hin, bald umstürzend und ausräumend, bald neu gründend und aufbauend, vor allem befreiend eingriff; während die Aufklärer, wie wir sahen, theils auf das unermüdlichste an der Ausrottung der alten Vorurtheile und des Aberglaubens, an der Läuterung des Geschmacks, an der Klärung und Vertiefung des Denkens und Erkennens arbeiteten, theils in ihren Extremen sich schon zur nüchternen und platten Negation alles Höheren und Geistigen steigerten und dadurch eine, sich nicht selten gleichfalls überstürzende Opposition wachriefen.

Allein es war mit diesen einander, sei es ergänzenden, sei es sich begegnenden oder gar feindlich gegenüberstehenden Anregungen und Einflüssen bei weitem nicht zu Ende. Auf allen Seiten erschlossen sich dem deutschen Geist und Gemüth neue Gebiete, mit dem von überallher herbeiströmenden neuen Stoff ergaben sich immer neue Gesichtspunkte, Anschauungen und Ideen. Wieland, Lessing und Gerstenberg brachten Shakespeare uns näher und näher; mit der Uebersetzung der jüngeren Edda (1765) eröffnete sich ein Einblick in die nordische Poesie und Mythologie von ungeahnter Neuheit und Großartigkeit. Die englischen Humoristen gewannen einen neuen und stärkeren Einfluß; Sterne's »Tristram Shandy«, »Yorik's empfindsame Reise«, Goldsmith's »Landprediger von Wakefield«, erschienen fast zugleich in Uebersetzungen und machten einen geradezu unermeßlichen Eindruck. Und wiederum fast zugleich kam Macpherson's »Ossian« herüber und erschienen Percy's »Ueberbleibsel der alten englischen Poesie«, wo nach langer Vergessenheit und schnöder Mißachtung die Volkspoesie endlich wieder sich zu ihrem gebührenden Range erhoben sah.

Mit dieser Wiederentdeckung der Volkspoesie und dem Hinweisen und Zurückgreifen auf diese ursprünglichen Aeußerungen und Schöpfungen des Volksgeistes trifft, wir möchten sagen, in überraschender Weise die geradezu unbeschreibliche Wirkung zusammen, welche theils im Verein mit Montesquieu's (1689-1755) Werken, theils weit über diese hinaus, die Schriften Jean Jacques Rousseau's (1712-1778) hatten. Seine » Julie ou la nouvelle Héloise« drang in Deutschland nicht minder als in Frankreich durch alle Thüren und in alle Herzen; sein » traité sur l'origine de l'inégalité parmi les hommes«, und noch mehr der » contrat social« stellten den glücklichen Naturzustand der Menschen der Verderbniß der civilisirten Welt gegenüber; sie leugneten die Gründung des Staats auf das Recht des Stärkeren und erklärten als Grundlage der rechtlichen Gewalt unter den Menschen den freien Vertrag. – Sein » Emile« und die » lettres de la montagne« predigten und verlangten eine Erziehung der Jugend, welche mit den bisher aufgestellten Principien in nächster Verbindung stand – auch sie sollte vor allen Dingen der Natur folgen. – Neben dieser Sehnsucht und diesem rastlosen Streben nach Unabhängigkeit und Natürlichkeit bildet das Bedürfniß der Liebe den Grundzug von Rousseau's Wesen, und der Kampf des Herzens wider die conventionellen Schranken und seine Befreiung von ihnen, der Zusammenstoß des Ideals und der Wirklichkeit erfüllen sein eigenes Leben so gut, wie sie durch alle Schöpfungen seines Geistes hinklingen.

Es braucht kaum noch betont zu werden, mit welcher Gewalt solche Anschauungen und Lehren in die Ueberfüllung, Verwirrung und Aufregung der deutschen Herzen und Geister griffen. Wenn das alte Bild vom angehäuften Brennstoff und zündenden Funken jemals der Wirklichkeit entsprach, so war es hier der Fall. Die ganze, während und nach dem siebenjährigen Kriege heranwachsende Generation war voll von den neuen Ideen, Vorstellungen und Regungen. Es begann ein immer leidenschaftlicheres Streben nach Umkehr zum Naturzustande, bis zum Brechen mit aller bisherigen Cultur, mit allen bisher giltigen Regeln und Gesetzen. Es steigerte sich zum überwältigenden Freiheitsdrang, zum Kampf wider jede Beschränkung, jeden Zwang, wider alle angemaßte Autorität, sei es auf staatlichem, auf socialem, sei es auf rein geistigem Gebiet; zum Kampf für die Rechte des Menschen und des Herzens wider die traditionellen, allmälig immer mehr verschrobenen und erstarrten gesellschaftlichen Institutionen; zum Kampf des hohen, reinen, schönen Ideals wider die rauhe, nüchterne Wirklichkeit. Mit einem Wort, es war auf geistigem Gebiete die gleiche Revolution, welche sich zwanzig Jahre später in Frankreich auf dem weltlichen vollzog. Die Vorbereitungen derselben lassen sich schon von der Mitte des Jahrhunderts an verfolgen, aber zum Ausbruch gelangt sie erst in der nächsten Periode, welche wir unter dem Namen des Sturmes und Dranges kennen lernen werden.

Auf geistigem Gebiete erhielt der neue Aufschwung nicht nur seinen ersten Anstoß, sondern auch sogleich eine bestimmte Richtung durch das Wiederauftauchen der Volkspoesie, wie man sie im Ossian und in Thomas Percy's altenglischen Balladen und Gedichten zu finden glaubte. Die Umkehr zum Besseren, Natürlicheren und Einfacheren, welcher wir in unserer schönen Literatur begegneten, war im Grunde nichts weniger als eine Rückkehr zu dem gewesen, was wir selber schon in dieser Art von Altersher besaßen. Man hatte zwar hie und da angefangen, den mittelalterlichen Dichtern eine gewisse Aufmerksamkeit zu widmen und ihre Werke in einzelnen Fällen aus langer Vergessenheit wieder ans Licht zu ziehen; man begann überhaupt sich in der älteren Literatur umzusehen und sich mit seinem vererbten Besitze wieder bekannter zu machen. Allein von der eigentlichen Volksdichtung war dabei bisher so gut wie gar nicht die Rede gewesen; man wußte nichts und wollte nichts von ihr und erklärte sie, wo man dennoch einmal zufällig auf sie stieß, für alles eher als für Poesie und beachtenswerth. Wie weit das Verständniß für sie selbst den Einsichtigsten und Geistvollsten entschwunden war, müssen wir schon aus dem Beifall schließen, der Gleims Grenadierliedern gespendet wurde – angeblich grade wegen ihrer Volksthümlichkeit, während die zwar sparsam erscheinenden, aber immer noch einmal sich erschließenden ächten Blüthen, wie die Soldatenlieder »Prinz Eugenius, der edle Ritter«, »Als die Preußen marschirten vor Prag«, u. s. w., so viel wir noch zu erkennen vermögen, auch nicht den leisesten Eindruck auf die Gebildeten machten.

Da ist es denn von höchster Bedeutung, daß sich wiederum grade zu dieser Zeit zwei Männer fanden, in denen sich bereits jenes verloren gegangene Verständniß von neuem geregt hatte und die nun, als der äußere Anstoß von England herüber dazu kam, denselben aufzufassen und für Deutschland fruchtbar zu machen vermochten. Das sind die beiden Ostpreußen Hamann und Herder, in denen wir die hauptsächlichsten Vorläufer und Verkündiger der Sturm- und Drangzeit zu erkennen haben und die wir daher auch, obgleich der zweite weit über dieselbe hinaus und fast bis ans Ende unserer großen Literaturepoche reicht, auch schon hier zum Schluß des ablaufenden Zeitalters, zu besprechen haben. Und zwar zusammen, wie sie denn genau zu einander gehören: Hamann, der ältere und tiefere; Herder, der in ihm wurzelt und von ihm aus, aber auch über ihn hinausgeht, der Schüler, der des Meisters dunkle Lehre erst klärt und feststellt, weiterbildet und nutzbar macht; Hamann als dichterisches Talent ohne irgend eine, und Herder als solches von nur untergeordneter Bedeutung, und beide dennoch für das neue Dichtergeschlecht und in der neuen Dichtungsperiode anregend und weiterführend, auf höchster Höhe, als – wie man sie schön geheißen hat – »offenbarende Geister«.

Johann Georg Hamann's Leben ist ein trübselig zerrissenes und zerstreutes, ärmliches und mühevolles. Geboren wurde er zu Königsberg 1730, als Sohn eines verhältnißmäßig wohlhabenden Wundarztes, der ihm nicht nur eine ausreichende Schulbildung geben, sondern ihn auch von 1746 an fünf Jahre lang die Universität der Vaterstadt besuchen ließ. Von der Theologie ging Hamann bald zur Jurisprudenz über, ohne jedoch auch dieser treu bleiben zu können, obgleich ihn fürs erste noch der Wille des Vaters und die Nothwendigkeit, sich eine Lebensstellung zu schaffen, äußerlich daran festhielt. Er war von Jugend auf ein Geist voll hoher Befähigung für die Speculation nicht nur, sondern auch für die Kunst, für Poesie und Musik, voll unstillbaren Wissensdurstes und nie rastenden Bildungstriebes, ein Mensch voll des tiefsten Gefühls, voll einer hohen Begeisterung für alles Gute und Schöne und voll wunderbarer Ursprünglichkeit und Kindlichkeit; voll Freiheit und Klarheit endlich in sich selbst, aber auch voll Befangenheit und Unbeholfenheit der Welt gegenüber. So war er denn auch jetzt schon in den Schranken des Brodstudiums und in den engen bürgerlichen Verhältnissen nicht mehr an seinem Platz und ging 1752 als Hauslehrer nach Kurland. Aber auch hier hielt er nicht aus, lebte bald zu Riga in einer befreundeten Kaufmannsfamilie, beschäftigt mit Politik und Handelswissenschaft und Uebersetzungen aus dem Französischen, bald wurde er nochmals Hauslehrer und gab auch diese Stelle wieder auf, um von neuem bei den Freunden in Riga zu leben, bis er für das Geschäft derselben eine Reise antrat, welche ihn über Berlin, Lübeck und Hamburg nach Holland und England führte.

Diese Reise wurde von höchster Bedeutung für ihn, und zwar nicht nur durch die Bekanntschaften, die er unterwegs, wie in Berlin mit Mendelssohn und Ramler, machte, durch die Verbindungen, die er anknüpfte, durch die Einblicke in die Literatur und die literarischen Zustände in den durchreisten Ländern, sowie durch die Erweiterung seines ganzen Gesichtskreises; sondern auch und vor allem durch die schweren Erfahrungen, welche ihm zu London wurden und durch die Ein- und Umkehr, die sich in Folge derselben in ihm vollzog. In seinen Geschäften scheiternd, durch Betrug Anderer und durch eigene schlechte Wirthschaft um das Letzte gebracht, überließ er sich den wildesten Ausschweifungen, die ihn an den Rand des Verderbens führten und der Verzweiflung nahe brachten. Da, in tiefster Versunkenheit und fast völliger Vereinsamung, griff er nach der Bibel und fand in ihr den Trost, den er suchte, den neuen Lebensmuth, dessen er bedurfte, und die Hauptrichtung seines gesammten inneren Lebens, seiner Studien und seines Schaffens.

Nach einem neuen kurzen Aufenthalt zu Riga, kehrte er endlich 1759 auf den Wunsch des alten Vaters nach Königsberg zurück und gab sich fortan allen möglichen Studien und einer gradezu unermeßlichen Lecture hin. Im gleichen Jahre erschien seine erste Schrift, die »Sokratischen Denkwürdigkeiten«, und wandte ihm sogleich die Aufmerksamkeit und Anerkennung unserer größten Geister zu, und die lange Reihe der übrigen, welche allmälig in den folgenden Jahren, sämmtlich vom geringsten Umfang, hervortraten, verringerte diesen ersten Eindruck nicht. Sein äußeres Leben blieb dabei das denkbar kümmerlichste. Eine Zeitlang war er Copist, später Kanzellist ohne Besoldung. Dann bot ihm der oben von uns erwähnte Präsident von Moser eine Anstellung in Darmstadt. Allein als Hamann, hier anlangend, den Gönner verreist fand, verzichtete er auf die Stelle und kehrte nach Königsberg zurück. Endlich, gegen das Ende der sechziger Jahre erst, erhielt er aus Kants und Anderer Empfehlung eine Anstellung bei der Accise- und Zolldirection und wurde zehn Jahre später »Packhofsverwalter«. Gebessert wurde für ihn dadurch kaum etwas, denn sein Einkommen war das armseligste und wurde obendarein, wo irgend möglich, stets von neuem beschnitten – ein beständiger, bitterer Kampf mit Noth und Hunger. Erleichterung kam ihm erst 1785 durch die Theilnahme eines jungen reichen Westfalen, Buchholz, der ihm freigebig ein größeres Capital zur Verfügung stellte. Und da er zu gleicher Zeit durch seine Schriften auch mit der Fürstin Gallizin zu Münster und ihrem Kreise in Verbindung gekommen war, so nahm er nun seinen Abschied und reiste zu den neuen Freunden, lebte bei ihnen, bald bei der Gallizin, bald bei F. H. Jacobi, bald bei Buchholz, starb aber, schon zur Heimreise gerüstet, bereits im Sommer 1788 in Münster.

Hamann ist eine Erscheinung von solcher Eigenartigkeit und Vereinzelung, wie wir ihr weder in unserer, noch in irgend einer anderen Literatur jemals sonst begegnen. »Der Magus im Norden«, wie Moser ihn zuerst genannt hat und wie man noch heute ihn bezeichnet, steht wie ein Räthsel vor uns, dessen Lösung uns nicht ruhen läßt. Ueberall begegnen wir an und in ihm einer Reihe von scheinbaren und wirklichen Widersprüchen, die uns stets von neuem verlegen machen und häufig genug umsonst nach einer Erklärung und Vermittelung suchen lassen. Sein Character ist ein schwankender, voll Entschiedenheit, ja Härte hier, voll Weichheit und Schwäche da. Seine Persönlichkeit und sein Umgang haben nichts Bestechendes und bestechen doch alle Welt, sie stoßen beinahe ab und verbinden sich doch jedermann. Als Schriftsteller endlich galt er den Einen für einen »abstrusen Schwärmer« und Schwätzer, während die Anderen in ihm einen der tiefsten Geister der Nation und seiner Zeit ahnen. Es ist wahr, Hamanns Schriften sind durch Dunkelheit und unbeholfene Sprache, durch Paradoxen, seltsame Wendungen, Anspielungen und Beziehungen aller Art, schwer, ja zuweilen fast ungenießbar. Dies wird noch dadurch gesteigert, daß wir in ihnen fast immer eine Art von Gelegenheitsschriften zu erkennen haben, hervorgerufen durch ganz ausdrückliche Anregungen und Veranlassungen des Augenblicks, welche selbstverständlich für einen Dritten, je später, desto weniger erkennbar sein müssen.

Hier tritt aber der Umstand hülfreich ein, daß außer den Aeußerungen der Zeitgenossen, welche Hamann und seinen Schriften noch näher standen und sich die Mühe eines gründlichen Forschens nicht verdrießen ließen, auch seine zahlreichen Briefe, durch Einfachheit und Klarheit die Schriftwerke weit übertreffend, uns nicht nur hin und wieder jene, anscheinend verschwundenen, augenblicklichen Anregungen erkennen lassen, sondern uns auch die willkommensten Einblicke gewähren in seine Anschauung und, wenn man es so heißen will, seine Lehre, in das Arbeiten seines Geistes und diesen selbst. In solcher Weise und auf solchem Wege, welche freilich für manchen zu schwer oder vielmehr zu langweilig sein mögen, gelangen wir denn auch zu dem ächten Kern seines Wesens, seines Strebens und Schaffens und vor allem zu einem gerechteren Urtheil, als es grade neuerdings Verkehrtheit und Oberflächlichkeit zu fällen beliebte.

»Das Princip, auf welches sich die sämmtlichen Aeußerungen Hamanns zurückführen lassen,« sagt Goethe, »ist dieses: alles was der Mensch zu leisten unternimmt, es werde nun durch That oder Wort oder sonst hervorgebracht, muß aus sämmtlichen vereinigten Kräften entspringen; alles Vereinzelte ist verwerflich.« – Was Hamann immer von neuem und vor allem verlangt, ist eine möglichst vollkommene Uebereinstimmung zwischen dem natürlichen und geistigen Leben, zwischen Empfinden und Denken, Wissen und Glauben; er fordert die Umkehr zur Natur und zur Einfalt des kindlichen Glaubens an die Offenbarung Gottes in der Natur, in der Geschichte, in seinem Wort. Die Poesie gilt ihm als die Muttersprache des menschlichen Geschlechts und die Poesie des alten Testaments erscheint ihm als die höchste, da er in ihr die, durch den Gottesglauben geheiligte, innigste Vereinigung des natürlichen und geistigen Lebens findet. Daher verlangt er denn auch hier die Umkehr von der modernen Schul- und Kunstdichtung zu der Natur- und Jugendpoesie der Völker; nur aus dieser könne die erstere neue Kraft, Frische und die Möglichkeit einer wirklichen und gedeihlichen Entwickelung schöpfen.

Diese höchst eigenartige Verschmelzung der weltbewegenden Ideen Rousseau's mit dem vertieften, lebendigen und belebenden Gottesglauben, der eben als naturgemäße Reaction gegen die sich zu wüsten Extremen steigernde Aufklärerei, die Gemüther zu erfüllen begann, finden wir bei Hamann zuerst und bei niemand in schärferer Ausprägung. Diese Richtung unserer Bildung und Literatur geht nicht minder von ihm aus, als der Kampf des Ideals wider die Wirklichkeit, welcher sich durch sein ganzes geistiges und leibliches Dasein zieht.

Daß Hamanns unmittelbarer Einfluß auf die Grundrichtung und Gesammtentwickelung der Bildung und Literatur seiner eigenen und der folgenden Zeit trotzdem nur ein beschränkter bleiben mußte, ja nicht selten übersehen oder gar völlig verkannt wurde, wird nicht nur durch seine persönliche Stellung und seine traurigen Lebensverhältnisse, sondern auch durch die schriftstellerischen Mängel erklärt, deren wir gedacht haben. Durch seine inhaltsvollen, nicht selten inhaltsschweren Briefe und durch die von ihm im persönlichen Verkehr ausgehende mächtige Anregung konnte er stets nur bei Einzelnen und im Einzelnen wirken. Allein er verzagte und rastete nicht in der trostlosen Gegenwart. – »Was sind die sämmtlichen Leiden des jungen Werthers gegen den Druck«, sagt er einmal, »worunter ich gottlob schon sieben Jahre in meinem Vaterlande als ein Palmenbaum getrieben!« – Und er schaute auch mit ruhigem Vertrauen, oder heißen wir's Selbstbewußtsein, in die Zukunft. Die Worte, welche er einmal (Brief vom 11. Februar 1762) an Mendelssohn schreibt, sind ganz abgesehen von der augenblicklichen Veranlassung und Beziehung, interessant und bezeichnend genug: er appellirt an die Zeit, »die alle Fragen beantworten wird in meinem Namen, denn sie erobert, aber erfüllt auch alles.«

Darin hatte er sich nicht betrogen. Die Zeit eroberte und erfüllte alles früher, als er gerechnet haben mochte. Denn Herder war schon da, Herder, der wie wir schon oben sagten, von Hamann ausgehend, die Ideen und Lehren desselben zur Klarheit durch- und weiterbildete, verkündete und anwandte, und den »Magus im Norden« trotz aller Mängel und Schwächen zu der Bedeutung erhob, die wir ihm, wo wir nicht blind und kleinlich sein wollen, ein für allemal zugestehen müssen.

Johann Gottfried Herder wurde am 25. August 1744 zu Mohrungen, einer kleinen Stadt Ostpreußens, als Sohn eines Mädchenschullehrers geboren. Ausgerüstet mit einem unstillbaren Wissenstrieb, fand er zwar bei zwei Geistlichen seiner Vaterstadt, Willamov und Trescho, beide auch literarisch thätig und bekannt, freundliche Aufnahme und Unterstützung, sowie auch die wackeren und frommen Eltern nach Kräften für die Erziehung des reich begabten Knaben sorgten; allein die Verhältnisse blieben so eng und drückend, daß der Arme nur allzubald und allzutief des Mißverhältnisses zwischen dem leidenschaftlichen Aufwärtsstreben seines Geistes und dem Druck des häuslichen Lebens inne werden mußte. An diese Zeit hat selbst der spätere Mann niemals anders als mit Trauer und auch mit Bitterkeit zurückgedacht, und zwar mit vollem Recht. Denn die damals empfangenen Eindrücke sind, niemals überwunden, für sein ganzes Leben und seine ganze Entwickelung verhängnißvoll geworden.

Als ihm die Aussicht zum Studiren anscheinend völlig abgeschnitten war, ging er mit einem russischen Regimentschirurgus 1762 nach Königsberg, um – es klingt unglaublich! – bei ihm die Chirurgie zu erlernen und dadurch womöglich zum Studium der Medicin zu gelangen. Allein schon nach kurzer Zeit erkannte er seine vollständige Unfähigkeit für eine solche Laufbahn und wandte sich, trotz seiner verzweiflungsvollen Lage der Theologie zu. Privatstunden, die Unterstützung einzelner freundlicher Menschen, endlich auch ein kleines Stipendium halfen ihm fort, und als er schon im Jahre 1763 zum Unterricht an dem Collegium Fridericianum berufen wurde, waren die Erfolge seiner Lehrthätigkeit so überraschend, daß er die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich lenkte und sich eine steigende Achtung und Theilnahme erwarb. Hier ist neben Kant, dessen fleißiger Zuhörer und Schüler Herder war, vor allem Hamann zu nennen, mit dem er schon früh in eine sich immer enger und inniger gestaltende Verbindung trat. Hier lernte er nicht nur die englische Sprache kennen, sondern wurde auch zuerst mit Ossian und Shakespeare bekannt, während er sich ungefähr zugleich, vorzüglich durch Kant, in Rousseau's Schriften eingeführt sah. So wurde seine Neigung zu dem Natürlichen und Volksthümlichen von allen Seiten geweckt und gefördert und Hamanns Hinweis auf die ursprüngliche Poesie der Bibel und des Volkes traf bei ihm, der von Jugend auf schon selber in der heiligen Schrift daheim war, auf das lebhafteste Verständniß. Daß ein so empfänglicher und nie rastender Geist endlich der deutschen Literatur und dem, was auf diesem Gebiete geschah, nicht fremd blieb, braucht kaum noch gesagt zu werden. Die »Literaturbriefe« und ihre Kritik zogen ihn mächtig an.

Im Jahre 1764 ging er als Collaborator an die Domschule in Riga, wo er sich von neuem viel Theilnahme und gute Freunde erwarb und eifrig fortstudirte, bis er dann vom Jahre 1767 rasch hintereinander mit drei kleinen Schriften hervortrat – »Fragmente, die neuere deutsche Literatur betreffend,« – »Ueber Thomas Abbts Schriften«, und »Kritische Wälder«. In der ersteren Schrift schloß er sich an die »Literaturbriefe« an, in der letzten theils an Lessings Laokoon, theils erhob er sich gegen jenen Philologen Klotz, den wir auch mit Lessing im Streit fanden. Schon hier betrat er mit festem Schritt das Gebiet der Kritik und Aesthetik, wo sein Einfluß der größte und seine Bedeutung für unsere Literatur und Bildung die höchste werden sollte, schon hier dem Kern der wirklichen Poesie und dem wirklichen poetischen Verdienste der Dichter nachforschend und zuerst den vollen Einblick in Homers Gesänge eröffnend. Diese Schriften machten überall den bedeutendsten Eindruck. Was aber ihre Wirkung besonders vermehrte und Herders Ansehen und Einfluß steigerte, war, daß er die schriftlich aufgestellten Anschauungen und Lehren alsbald sozusagen persönlich fortführte und weiter verbreitete, als er nach einer lehrreichen Reise nach Frankreich und Paris im Jahre 1769 eine Stelle als Instructor und Reiseprediger bei dem Sohne des Fürstbischofs von Holstein-Eutin annahm. Auf der Fahrt zu seinem Zögling kam er nach Hamburg, wo damals noch Lessing weilte und einen Kreis hochbegabter Menschen um sich vereinigte; nach dem Antritt der eigentlichen Reise, 1770, traf er in Darmstadt auf Merck und lernte durch ihn Caroline Flachsland kennen, mit welcher er sich schon demnächst verlobte und den Briefwechsel begann, der zu den lesenswerthesten und stoffhaltigsten Büchern dieser Art in unserer Literatur gehört. Denn es sind darin nicht bloß die beiden Menschenkinder selber, die uns wahrhaftig schon eigenartig genug entgegentreten und unsere Theilnahme und unser Interesse fesseln, sondern es eröffnen sich auch von Seite zu Seite immer neue Einblicke in die Zustände des socialen und literarischen Lebens dieser Zeit und dieser Gegenden, und einen Verein von – man möchte sagen: Geistern und Herzen, wie wir ihn kaum jemals irgendwo wiederfinden.

Von Darmstadt führte die Reise nach Straßburg, wo Herder sich aus seiner Stellung bei dem Prinzen frei machte und eines alten Augenleidens wegen zurückblieb, für das er hier Heilung suchte. Und nun, im Winter von 1770 auf 1771 wurde die Bekanntschaft mit Goethe gemacht, die für Beide persönlich nicht nur, sondern auch für die Entwickelung unserer Literatur von höchster Bedeutung werden sollte. Hier drang Herder immer tiefer in Ossian und Shakespeare, in die Griechen ein, er wandte der Volkspoesie und dem Volksliede eine steigende Aufmerksamkeit zu und zog mit wunderbar anregender und fesselnder Kraft Goethe und dessen Freunde sich nach; nicht bloß hier, sondern auch, als er im Mai 1771 nach Bückeburg als Hauptpastor und Consistorialrath gegangen war: die Verbindung wurde fortan nicht mehr gelöst – wie herb und kalt, ja wie unfreundlich Herder sich auch gab, Goethe ließ ihn nicht wieder los.

Die Studien gingen in den erschlossenen Bahnen weiter, alles was Herder schrieb, war von tiefgreifendster Wirkung; die beiden Abhandlungen »Ueber den Ursprung der Sprachen«, und »Ursachen des gesunkenen Geschmacks«, gewannen die Preise der Berliner Akademie; zwei andere in den Blättern »Von deutscher Art und Kunst«, – »Ueber Ossian und die Lieder alter Völker« und »Shakespeare« sind gradezu epochemachend. Ihnen folgten die »älteste Urkunde des Menschengeschlechts« und andere von kaum geringerer Bedeutung. Im Frühling 1773 hatte er endlich die Braut heimgeführt, was nicht nur für die erwähnten Arbeiten, sondern auch für seine Gesundheit und Stimmung von den wohlthätigsten Folgen war. Nach dem Tode seiner Gönnerin, der Gemahlin des Grafen, wurde ihm jedoch seine Stellung zu Bückeburg entleidet, und 1776 folgte er dem Rufe Goethe's nach Weimar als Oberpfarrer und Generalsuperintendent. Hier ist er fortan geblieben, in rastloser Thätigkeit und frischer Strebsamkeit, für welche die Schriften dieser Zeit vollgültiges Zeugniß ablegen, die »Volkslieder«, die »Lieder der Liebe«, »Vom Geiste der ebräischen Poesie«, »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« u. s. w. – Von den letzten achtziger Jahren an erscheint an ihm eine zunehmende Verstimmung und Verbitterung – schon der Briefwechsel mit seiner Frau während seiner Reise nach Italien 1788-1789, enthält die auffälligsten Spuren –, hervorgerufen nicht nur durch die Häufung seiner Amtsgeschäfte, sondern auch durch zunehmende Kränklichkeit, und entfremdet ihn allmälig immer mehr dem glänzenden Weimar'schen Kreise und den alten Freunden und läßt ihn, sei es vereinsamen, sei es in Regionen zurückweichen, die nicht die seinen waren. Es ist traurig zu verfolgen, wie Mißmuth und Mißtrauen, Mißgunst und wie immer solche Feinde des gesunden und klaren Menschen geheißen werden mögen, sich fester und fester in ihm setzen, ihn von aller Welt entfernen, ihn aus der reinen Höhe herunterziehen.

Von den Schriften dieser Zeit nennen wir nur die »zerstreuten Blätter«, mit den »Blumen aus der griechischen Anthologie und den morgenländischen Dichtern«, »Parabeln« und »Legenden«, und außer mehreren kritisch philosophischen Schriften, »Kalligone«, »Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft«, durch die er auch mit Kant und seinen Schülern brach, sein letztes, treffliches Werk, den nach spanischen Romanzen gedichteten »Cid«, der erst nach seinem Tode vollständig erschien. Er starb am 18. December 1803 – wir müssen leider hinzusetzen: zu spät für seinen Ruhm.

In der Geschichte unserer Poesie tritt Herder nirgends in den Vordergrund. Das was er hier, aus dem eigenen Geiste schöpfend, selbstständig zu leisten versuchte, ist im Gegentheil von meist sehr geringer Bedeutung und bleibt, allegorisirend und didactisch, im Allgemeinen hinter der zeitgenössischen Dichtung zurück. Der lebendig ringende und treibende, poetisch schöpferische Geist ist in ihm in noch geringerem Grade mächtig gewesen als in Lessing. Dieser gesteht es in seiner nie getrübten, wunderbaren Klarheit und seiner, von keinen Ausflüchten und Beschönigungen, von keiner Selbsttäuschung wissenden Wahrheit und Wahrhaftigkeit, wie wir erfuhren, ruhig ein, daß er mit seinen dichterischen Arbeiten nichts beabsichtigte, als sich auch einmal in diesem oder jenem Genre zu versuchen und seine Kraft zu prüfen. Bei Herder könnte man beinah' zuweilen auf um vieles andere, gewissermaßen augenblickliche Motive rathen: es scheint in ihm wohl einmal etwas wie ein Nachahmungstrieb, wo nicht gar eine Art von Eifersucht auf das Blühen und Duften um ihn her rege geworden zu sein, etwas wie eine, in herbem Selbstbewußtsein wurzelnde Empfindung: das kann ich auch.

Dagegen ist Herders Geist von einer Empfänglichkeit, von einer Hingebungs- und Ausfassungsfähigkeit und von einer Reproductionskraft, wie wir diese Gaben kaum jemals in einem anderen in solchem Verein und in solcher Schärfe ausgeprägt wiederfinden werden. Und hier ist es, wo Herders unvergängliche Größe begründet ist.

Von Rousseau ausgehend, schreitet der unter Hamanns Augen entwickelte und durch dessen Geist genährte Herder alsogleich weit über jenen hinaus, indem er die allein auf staatliche und gesellschaftliche Verhältnisse gerichtete Grundanschauung desselben zuerst mit voller Klarheit aufnimmt, weiterbildet und auf die sozusagen geistigen Urzustände der Völker in der Poesie, der Religion und Geschichte überträgt. Er geht überall rastlos den ersten Aeußerungen des menschlichen Geistes nach; er führt die Kunst und Bildung der neuen Zeit so weit es möglich auf die ursprüngliche Einfachheit, Reinheit und lebenskräftige Frische zurück und sucht sie hier zu begründen. So entdecken wir mit ihm den innigen Zusammenhang der Poesie mit der Religion, Geschichte und Philosophie und erkennen die erstere, deutlicher und entschiedener als bei Hamann, als die Muttersprache des menschlichen Geistes und Geschlechts. Sie, die Poesie ist daher auch, wie Goethe es ausspricht, kein Privaterbtheil einzelner Bevorzugter und Gebildeter, sondern eine allgemeine Welt- und Völkergabe.

Von dieser Grunderkenntniß und Grundbestimmung ist der Schritt zum Volk und zu seiner Dichtung ein naher und gegebener. Herder hat ihn denn auch mit einer Klarheit und Sicherheit gethan, wie keiner vor ihm, und sein rastlos nach Ausbreitung strebender Geist und sein freier Blick haben sich nicht durch Zeit und Raum binden lassen, sondern dringen in alle Zeiten und zu allen Völkern; sie erschließen uns die Regungen und Offenbarungen ihres Geistes in ihrem Entstehen, ihrem nationalen Character und ihrem historischen Zusammenhange; sie versetzen uns mitten hinein in ihr tiefstes und edelstes Leben. Und indem Herder mit seiner schon erwähnten, wunderbaren Feinfühligkeit und Empfänglichkeit, mit seiner Aneignungs- und Reproductionskraft dies Leben entdeckt und in sich aufnimmt, es in sich verarbeitet und zu seinem eigenen macht und es endlich, erfüllt von seinem, dem deutschen Geist und Leben, von neuem entstehen und hervortreten läßt, – so stellt er einen großartigen Wechselverkehr zwischen dem deutschen Geiste und demjenigen aller anderen Zeiten und Völker her und erfüllt und befruchtet den ersterern mit dem der letzteren. Das ist der Universalismus, der in Herders Vorgängern, in Wieland und Lessing, nur angedeutet, bei ihm und durch ihn zuerst zur vollendetsten Ausprägung gelangt; der Universalismus, der nach dem Durchgang durch die gewaltigen Geburtsstürme unserer großen Dichtungsperiode ihren eigenthümlichen Character verleiht und sie zur klassischen erhebt und die gesammte deutsche Bildung erfüllt und beherrscht. Das ist Herders großes Werk und sein unvergängliches Verdienst. Aber wie seine Stärke, so ist hier auch seine Schwäche. Denn wie wir in ihm das Bestreben und auch die Fähigkeit finden, sich überallhin auszubreiten, so fehlt es ihm an dem einen, wie an der anderen, zum Abschluß zu gelangen. Er ist der offenbarende und anbahnende Geist, nicht der ausführende und gestaltende. Wo er aufhört, da tritt Goethe ein.

In Herders »Volksliedern«, die uns mit allen Nationen in Verbindung setzen, und nicht minder im »Cid« zeigt sich seine ganz eigenartige Begabung, die Aufnahms- und Reproductionsfähigkeit, im glänzendsten Licht; der »Cid« zumal ist durch ihn ein deutsches Gedicht von größter Schönheit geworden. Seine Prosa ist häufig voll Leben und Frische, ja von wirklicher Schönheit, erreicht jedoch ebensowenig wie der Geist den Geist, jemals die wundervolle Klarheit und bewußte Ruhe Lessings. Der unwiderstehliche, zauberhafte Reiz, den Lessings Schriften noch heute auf den Leser ausüben, fehlt den Herder'schen. Sie befriedigen uns, aber sie fesseln uns nicht.

 


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