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Die Poesie als Ausdruck der Gefühle und Empfindungen, der Freude, des Glücks und der Leidenschaft, als Schilderung des Wahrgenommenen, als Spott oder Neckerei, als Belebung der Natur und der gesammten Umgebung, ist so alt und dem Menschen so zu eigen, wie die Sprache selber, und sie bricht um so leichter, natürlicher und unbefangener hervor, je weniger er noch durch die Zustände und Verhältnisse des äußeren Lebens beschränkt ist. Der Trieb zu dieser Poesie ist, wie wir alle Tage beobachten können, auch in unseren Kindern noch vorhanden und äußert sich gelegentlich in voller Naivetät und Unbefangenheit, und nicht minder nehmen wir wahr, daß er sich selbst im eigentlichen Volke noch frischer erhalten hat und sich kräftiger regt, als es bei dem – sagen wir kurz: Gebildeten der Fall ist. Wie mit der Poesie ist es aber auch mit dem Gesange. Er ist gleichfalls ursprünglich nichts weniger als ein Product der Kultur, sondern gleich der Sprache und Poesie dem Menschen angeboren. Die erhöhte Betonung des in erregter Stimmung Ausgesprochenen, des Gedichteten, enthält die Anfänge der Melodie.
Da dies Alles selbst bei den rohsten Völkern zu beobachten ist, dürfen wir ohne Weiteres annehmen, daß es auch unseren Vorfahren, den alten Deutschen, niemals an diesen Gaben gefehlt hat. Die Deutschen sind, wo wir sie genauer kennen lernen, ein so durchaus edler, gesunder und kräftiger Stamm, daß sie selbst in der fernsten Urzeit sich über die Rohheit und Barbarei erhoben haben müssen, in denen wir noch heutigentags andere Urvölker versunken sehen und welche – es ist kaum zu glauben – in einer noch gar nicht fernen Zeit, gerade von deutschen Geschichtsforschern auf das willkürlichste auch bei den Germanen angenommen wurden.
Die ersten genaueren und einigermaßen ausführlichen Nachrichten, welche wir über die Deutschen erhalten und bei dem großen römischen Geschichtsschreiber Tacitus, besonders in seinem unschätzbaren Buche »über Germanien« finden, können uns daher auch schon von mehreren Liederarten erzählen, welche bei dem Volke im Gange waren und gesungen wurden. Ja es fanden sich zwischen ihnen, wie Tacitus versichert, einige, welche schon sehr alt waren und anscheinend in die Urzeit zurückreichten, da sie dem Volke als geschichtliche Erinnerungen und Ueberlieferungen galten. Das sind diejenigen, in denen sie den Gott Tuisco, seinen Sohn Mannus und dessen Söhne, die Stammväter und Namensgeber der einzelnen Stämme des Gesammtvolkes feierten. An diese schlossen sich Schlachtgesänge zu Ehren des Herkules, des tapfersten aller Männer, und aus den Tönen dieser, deren Vortrag Baritus oder Barritus (Barditus) geheißen wurde – ein Name, der dann zu Klopstock's Zeiten Veranlassung zu dem wunderlichsten Mißverständniß geben sollte, – schlossen sie auf den Ausgang der Schlacht. – Auch das Andenken des Arminius soll in Liedern zwischen ihnen fortgelebt haben, und endlich erwähnt Tacitus auch noch sogenannter »froher Gesänge«, die bei fröhlichen Gelagen erklangen.
Das sind die Anfänge unserer Literatur, und selbst dieser Reichthum an Arten beweist uns, daß die Dichtung und der Gesang schon zu einer bemerkenswerthen Ausbildung gelangt waren, welche, wenn sie in den folgenden ruhlosen und blutigen Zeiten auch keine großen und schnellen Fortschritte machte, dennoch sicherlich auch nicht in ernstliche Abnahme verfiel. Kaiser Julian, der Apostat, der dreihundert Jahre nach Tacitus wieder der Lieder der Deutschen gedenkt, welche er am Rhein vernahm, vergleicht dieselben zwar mit dem »Gekrächze der Raubvögel«; allein ein solches Zeugniß über die bitter gehaßten und nicht weniger gefürchteten, übermächtigen »Barbaren« ist um so bedeutungsloser, als selbstverständlich zwischen einem so außerordentlich großen und in so zahlreiche Stämme getheilten Volke mehr als einer der letzteren, aus fernen Gebieten erst heranziehenden zu finden sein mußte, der anderen in Ansehung nicht nur der Kultur, sondern vielleicht auch der geistigen Begabung und Ausbildung nachstand.
Daß dies wirklich der Fall war, erfahren wir aus dem großartigen Werke, das uns wirklich erhalten ist und das erste, unüberschätzbare Denkmal unserer alten Sprache bildet, – wir meinen die gothische Bibelübersetzung des Ulfilas, welche leicht möglich schon zu derselben Zeit, als Kaiser Julian jene wegwerfende Aeußerung that, im Entstehen begriffen gewesen ist. Ulfilas, geboren um 318 und gestorben 388, war ein Bischof der Gothen, deren Hauptsitze wir damals in den Landstrichen an der unteren Donau finden, obgleich der Sage nach alles Volk vom schwarzen Meer bis an die Küsten der Ostsee ihrer Herrschaft unterworfen war. Sie waren zum Theil seit kurzem zum Christenthum bekehrt, und für sie wurde von Ulfilas selber oder unter seiner Aufsicht die erwähnte Bibelübersetzung abgefaßt. Die Sage fügt prägnanterweise hinzu, daß die »Bücher der Könige« ausgeschlossen blieben, weil der Bischof gefürchtet habe, daß die in denselben erzählten kriegerischen Begebenheiten sein kaum noch an friedliche Zustände gewöhntes Volk allzu heftig aufregen würden.
Kunde soll man von diesem Werke bis ins neunte Jahrhundert behalten, ja unter den Nachkommen der spanischen Gothen sogar die Sprache noch verstanden haben. Nach dieser Zeit verscholl es, und man erfuhr erst wieder von ihm, als gegen Ende des 16. Jahrhunderts in der Benedictinerabtei Werden die berühmte Abschrift entdeckt wurde, welche, wenn auch nach dem Verluste zahlreicher Blätter, noch heute unter dem Namen des silbernen Codex ( codex argenteus) zu Upsala in Schweden aufbewahrt wird. Später sind einzelne Bruchstücke auch zu Wolfenbüttel und Mailand aufgefunden worden, und zu ihnen gesellen sich als weiter erhaltene Reste jener ältesten Zeit und Sprache gothische Namensunterschriften und Fragmente eines Kalenders, sowie einer angeblichen Homilie oder Erklärung – Skeireins – des Evangeliums St. Johannis.
Mit dem Uebergang der Hunnen über die Wolga, im Jahre 374, bezeichnet man gewöhnlich den Beginn der großen Völkerwanderung, jener – wir dürfen schon sagen: grausigen Zeit, die wenn irgend eine dazu angethan zu sein schien, nicht nur alle Kultur, sondern auch alles edle und selbstständige Volksthum zu vernichten und unsern Erdtheil in den Abgrund der Barbarei zu stürzen. Das Auf- und Abwogen der Völkerschaften und ihr Andrängen gegen das römische Reich hatte freilich schon viel früher begonnen, war aber bisher stets von Pausen einer, sei es freiwilligen, sei es durch die römischen Waffen erzwungenen, sei es durch innere Zwistigkeiten veranlaßten Ruhe unterbrochen und gestört worden. Seit dem Einbruch der Hunnen aber war es damit zu Ende und die Völker brausen fast hundert Jahre lang rastlos heran und vorüber, bis endlich einzelne glücklichere und kräftigere Stämme sich wieder seßhaft zu machen versuchen können.
Kräftig hatten sie sich durch die Stürme durchgearbeitet und diese Kraft und Tüchtigkeit erprobte sich bei den meisten auch in den neuen Sitzen und Verhältnissen, denn sie behaupteten sich in den nächsten Jahrhunderten gegen die Araber, die sogenannten Ungarn und gegen die, in das entvölkerte Deutschland hereindrängenden Slaven. Allein im Uebrigen war die schreckliche Zeit auch an ihnen nicht spurlos vorüber gegangen, und von den alten Stammes-Erinnerungen und Ueberlieferungen, von den geistigen Besitzthümern wird ihnen schwerlich viel erhalten geblieben sein. Einzig von den Gothen erzählt ihr Geschichtsschreiber Jornandes (um 550), daß sie noch alte Gesänge und Lieder besaßen, von dem Zuge ihres Volkes aus Skanzien nach dem Süden; von den Thaten und dem blutigen Ende des großen Königs Ermanrich, der gleich anfangs den hereinbrechenden Hunnen erlag, und er fügt hinzu, daß diese Lieder vor den Königen des Volks im Rythmus gesungen und mit Citherklang begleitet wurden. Außerdem finden sich leise Spuren, daß auch die Siegfrieds- und die Thiersage in die Zeit vor der Völkerwanderung zurückreichen, die Grundstoffe der Nibelungen und des Reineke Fuchs. Damit ist aber auch so ziemlich alles erschöpft, was wir von der Rettung solcher alten geistigen Schätze erfahren und wir dürfen getrost annehmen, daß die übrigen Stämme, die Longobarden, Burgunden, Franken, Alemannen, Thüringer, Sachsen, Friesen, und wie sie uns sonst genannt werden, schwerlich glücklicher hierin gewesen sind als die unleugbar in Kultur und Bildung – vordem wenigstens – vorgeschrittenen Gothen.
Es ist hierbei aber noch mehr zu berücksichtigen als die aufreibende Zeit der rastlosen Wanderzüge und Kämpfe. Die Verhältnisse und Zustände waren vollständige andere geworden und wurden es, zum mindesten bei den Stämmen, welche sich in den früheren römischen Provinzen niederließen, im Laufe der Zeit mehr und mehr. Die Sieger traten mit den Resten der alten Bevölkerung in eine Verbindung, in Folge deren sie sich der Kultur und Bildung, so viel davon noch erhalten geblieben, den Anschauungen, ja bis auf einen gewissen Grad der Sprache der Besiegten unterwarfen und sich, wo dies nicht schon stattgefunden hatte, auch schnell zum Christenthum bekehrten. Die Gothen machen auch hier eine, für die Erhaltung ihrer Stammeseigenthümlichkeit günstige Ausnahme: sie waren seit Ulfilas' Zeiten Christen und zwar Arianer, ihre Sprache wurde seit eben damals geschrieben und der Gottesdienst in derselben abgehalten, wovon bei den übrigen Stämmen kaum jemals die Rede war.
Zu allem Uebrigen, was zur Abflachung der Stammesart und zur Ausgleichung der Gegensätze zwischen Siegern und Besiegten führte, gesellte sich fortan als Hauptfactor der Einfluß der Geistlichkeit, welche nicht bloß den neuen Glauben zu schirmen und weiter auszubreiten hatte, sondern auch, wie sich das unter solchen noch unfertigen und schwankenden Verhältnissen am Ende von selber verstand, die junge Bildung und die neuen Sitten in ihre Hut und Pflege, unter ihre Herrschaft nahm. Bei der Ausbreitung und Befestigung des Christenthums mußte es ihr hauptsächlich darum zu thun sein, das noch immer halb-wilde Volk von allem abzuziehen, was dasselbe an den »heidnischen Greuel«, an die alte Religion, an die gesammte, zumal kriegerische Vergangenheit zu erinnern geeignet war – wir erinnern hier an jene Sage von den »Büchern der Könige«, die den Gothen vorenthalten wurden. Die Geistlichkeit wandte sich daher auch ausdrücklich gegen die Volkspoesie, gegen die Götter- und Heldensagen und alles, was sonst hieher gehört. Und da sie in ihren Gliedern obendarein einstweilen noch häufig der alten Bevölkerung angehörte, fast ausschließlich im Besitze der Schreibkunst war und endlich der Volkssprache im Allgemeinen abgeneigt blieb, so läßt es sich begreifen, daß von ihr nichts zur Rettung der Erinnerungen, Sagen und Lieder geschah, welche sich durch alle Stürme etwa im Volke erhalten hatten.
Trotz alledem gelangte die Geistlichkeit nicht vollständig zum Ziele; die alten Erinnerungen, die Sagen- und Volkspoesie waren nicht zu besiegen, hier erhielten sie sich, dort rafften sie sich sogar auf und entwickelten sich weiter. Das erfahren wir zum Beispiel aus Paul Warnefrieds (Paulus Diaconus) Geschichte der Langobarden (Ende des achten Jahrhunderts), wo selbst durch den lateinischen Vortrag noch die Kraft und Fülle der Dichtung leuchtet, wo überall die schönsten Liederstoffe, ja ganze Stücke poetischer Erzählung hervortreten. Und wenn wir uns hier auch nur mit Andeutungen und Berichten begnügen müssen, so sind von der alten Sprache doch wirkliche Denkmäler vorhanden. Denn es fanden sich selbst unter der Geistlichkeit immer noch vorurtheilsfreie und einsichtige Männer, welche sich nicht mit Verachtung und Mißtrauen vom Volke und seiner Sprache abwandten, sondern die letztere einer sorgsamen Pflege für Werth hielten. Solche Männer begegnen uns dazumal in mehr als einem Kloster und besonders in demjenigen, welches der heilige Gallus um das Jahr 620 gründete. Hier entstanden schon im gleichen Jahrhundert deutsche Schriftwerke, wie z. B. das Glossar des heiligen Gallus oder im folgenden Jahrhundert des Mönches Kero Uebersetzung der Regel des heiligen Benedict; und ähnliche Arbeiten, Uebersetzungen des Vaterunser, Glaubensbekenntnisse, Beichtformeln u. s. w. sind uns auch von anderwärts erhalten. Hierher gehören denn auch, als gleichfalls erhalten, das sogenannte Wessobrunner Gebet und ein Muspilli geheißenes Bruchstück eines längeren Gedichts über das jüngste Gericht. Beide stammen sicher aus dieser, wo nicht aus einer noch viel früheren Zeit, wenn sie auch erst im neunten Jahrhundert aufgeschrieben wurden.
Das Beste zur Erhaltung der Volkspoesie mußte jedoch die Zeit mit ihren großen Ereignissen thun. Was die Völkerwanderung den Menschen an Erinnerungen nahm, das ersetzte sie auf der andern Seite durch neue Erfahrungen und Erlebnisse und statt der alten Stammhelden führte sie neue auf die Bühne. So war Attila oder Etzel, der Fürst aller Wanderer, eine Erscheinung, um den sich, wie um einen Kernpunkt, alles Uebrige zusammenzog und gruppirte, und neben ihm tritt beinah ebenbürtig Theoderich der Große, der Ostgothe, hervor, der Dietrich von Bern des Volksepos. So sammelten sich denn hier die Reste der Siegfriedssage, die nach Abstreifung des Heidnischen, als eine fränkische vom Niederrhein erscheint; die gothische kam dazu, die burgundische folgte, und alles Einzelne, was dem Volk sonst noch von Bedeutung war, sich aber in den großen Rahmen und das Hauptgemälde nicht recht einfügen wollte, wurde dennoch in irgend einer Weise in Beziehung zu ihm gebracht.
Eine Probe von derartigen Gedichten ist uns im Hildebrandsliede erhalten, das bestimmt in einer sehr frühen Zeit entstand und verbreitet war, obschon es erst zu Ansang des neunten Jahrhunderts von zwei Fuldaer Mönchen aufgeschrieben wurde. Die Sprache ist die alt-niederdeutsche, mit hochdeutschen Formen gemischt, die Versart die alliterirende, – die am stärksten betonten Wörter einer Zeile beginnen mit dem gleichen Laute, wie wir Heutigen es noch bei Zusammenstellungen wie Haut und Haar, Stock und Stein, Thau und Tage u. s. w. im Gebrauch haben. Den Inhalt bildet die Begegnung des alten Hildebrand, der vordem mit Dietrich von Bern zu Etzel zog, mit seinem, von ihm nicht erkannten Sohne Hadubrand, und der von diesem endlich erzwungene Kampf.
Ein zweites Gedicht dieser Zeit und dieses Sagenkreises ist der Walther von Aquitanien, der uns aber nur in lateinischer Umdichtung und Bearbeitung durch St. Galler Mönche, Eckehard I. und IV. und Geraldus (973-1024) erhalten ist. Als drittes können wir auch den angelsächsischen Beowulf erwähnen, der allerdings mehr zur englischen, als zur deutschen Literatur zu rechnen ist.
Neben diesen Heldenliedern gab es auch andere, leichtere, ins tägliche Leben eingreifende Weisen und Gesänge, Freundes-, Liebeslieder, fröhliche, possenhafte, spottende Dichtungen, mit dem gemeinsamen Namen Winiliod bezeichnet, und überall, auf Straßen und Plätzen, bei Festen und Gastmahlen, sogar in den Kirchen gesungen. Die Geistlichkeit wehrte sich nach Kräften gegen sie, die sie in ihrem Grimm wohl Teufelsgesänge schalt; sie versuchte es mit wirklichen und ausdrücklichen Verboten aller weltlichen Dichtung – es gibt ein solches, das sogar gegen Klosterfrauen gerichtet ist, welche sich mit diesen Liedern unterhielten! – ohne damit freilich etwas zu erreichen. Nur das eine mag mit diesem Widerstande in Verbindung zu bringen sein, daß von dieser gesammten Literatur so gut wie gar nichts für uns gerettet ist und wir von denselben fast nur gelegentlich, durch sehr ärgerliche und tadelnde Aeußerungen der geistlichen Zeitgenossen, überhaupt etwas erfahren. Höchstens ließen sich hier zwei Zaubersprüche anführen, welche nach dem Fundort die Merseburger Gedichte genannt werden. Auch sie sind erst viel später ausgeschrieben, als Ueberreste heidnischer Dichtung aber gleichfalls in eine frühere Zeit zurückzusetzen.
Mit Kaiser Karl dem Großen beginnt für unsere Sprache und Literatur eine bessere Zeit. Man hat befremdlicherweise neuerdings hie und da seine Verdienste herunterzusetzen versucht, indessen werden auch die Gegner kaum ableugnen können, daß seine Kriege das Reich gegen äußere Störungen sicherten und selbst die blutige Bezwingung und Bekehrung der Sachsen die Entwickelung geordneter Zustände ermöglichte und beförderte; daß seine Gesetze eine Ruhe und einen Wohlstand sich ausbreiten ließen, von denen bisher schwerlich die Rede gewesen war, und daß endlich der Eifer und die Einsicht, mit denen er auch die geistige Bildung in seine Hut nahm, zu reellen und erfreulichen Resultaten führten. Um sich Lehrer und Führer des Volks zu verschaffen, gründete er vor allem die Klosterschulen und berief zu ihrer Gründung und Leitung von allerwärts her die tüchtigsten Männer, von denen wir hier nur des Alkuin, des Peter von Pisa, des schon oben genannten Paulus Diaconus gedenken. Er gründete an seinem eigenen Hofe eine Schule und lernte selber, wie wir wissen, noch in seinen spätern Jahren die lateinische Sprache und schreiben. Er hielt – und damit kommen wir auf den für uns wichtigsten Punkt – die Volkssprache in Ehren, so daß er mit seltener Einsicht, gerade zur Stärkung der jungen christlichen Lehre, ihre Anwendung beim Gottesdienst verordnete; er interessirte sich, wie wir gleichfalls wissen, lebhaft für die Grammatik dieser mißachteten Sprache und befahl, die alten Volks- und Heldenlieder zu sammeln und aufzuschreiben.
Der Erfolg entsprach solchen Absichten und Hoffnungen leider nur in sehr beschränktem Maße. Die Klosterschulen entwickelten sich allerdings hin und wieder auf das erfreulichste – wir nennen als glänzendes Muster nur diejenige zu Fulda unter der Leitung des Rhabanus Maurus. Neben den theologischen Studien wurden weltliche Wissenschaften, neben der lateinischen die deutsche Sprache gepflegt, und neben den Uebersetzungen aus dieser in jene, entstanden neue deutsche Dichtungen, wenn auch meistens wohl nur über kirchliche Themata. Hatte doch für diese selbst Karl des Großen Nachfolger Ludwig der Fromme, noch eine gewisse Theilnahme, während er den Volksgesang verachtete! Auch jene Verordnung über die Aufzeichnung der alten Lieder blieb nicht ohne Wirkung und wurde befolgt: das Kloster Reichenau z. B. besaß um 821 zwölf solche Gedichte, das Hildebrandslied wird gleichfalls hieher zu rechnen sein, und auch später noch berufen sich die Chronisten zuweilen auf derartige Aufzeichnungen. Allein alle diese Erfolge blieben, wiederholentlich gesagt, im Allgemeinen nur lokale und temporäre. Karl der Große lebte für alle solche Schöpfungen nicht lange genug, und die Geistlichkeit im Großen und Ganzen blieb ihnen, zumal soweit sie die Sprache und Literatur betrafen, unzweifelhaft abgeneigt. Wenn dies häufig auch nur wegen der Schwierigkeit der ersteren der Fall war, so dürfen wir doch daneben auch mit Sicherheit auf andere Motive schließen. Es wäre zum mindesten ohne solche und den durch sie begründeten Widerstand kaum begreiflich, daß von wirklich vorhandenen zahlreichen Aufzeichnungen aus dieser früheren Zeit außer dem Hildebrandslied auch nicht eine einzige erhalten zu sein scheint.
Es ist noch ein Glück, daß sie trotzdem nicht ganz verloren sind. Wie schon jene oben erwähnte Umdichtung des Walther von Aquitanien bezeugt, liebte man die Uebertragung und Bearbeitung der alten deutschen Lieder in lateinischer Sprache, und in dieser Gestalt besitzen wir dieselben, sei es zum Theil auch nur ihrem Inhalte nach, noch größtentheils.
Die folgende Zeit selber mit ihrer Schwäche und Zwietracht, der inneren Unruhe und den äußern grausamen Kämpfen, war Karls Absichten und Schöpfungen gleichfalls wenig günstig. Die Klosterschulen gingen, kaum recht erblüht, schon wieder zurück, die allgemeine Bildung und der Wohlstand kamen in Verfall, und es mußten wieder einmal hundert Jahre und darüber vergehen, bis es – freilich auch nur momentan – besser wurde. Als die großen sächsischen Kaiser, Heinrich der Vogler und Otto I. die Feinde besiegten, Deutschland zur ersten herrschenden Macht erhoben und trotz Zwistigkeiten und Unruhen im Einzelnen, für das große Reich im Ganzen die Ordnung, das Vertrauen und ein berechtigtes Selbstgefühl – man möchte sagen: von neuem entstehen ließen, – da begann allerwärts wieder ein gedeihliches Regen und Schaffen. Die alten Klosterschulen blühten zum Theil von neuem auf, in den jungen Städten gesellten sich zu ihnen die Stifts- und Domschulen, und es fehlte nirgends an eifriger und ernster Thätigkeit. Nur war sie mehr den klassischen Studien zugewendet, die lateinische Poesie kam wieder zur Blüthe, und daneben begann, begünstigt durch die Verbindung des sächsischen Kaiserhauses mit den Byzantinern, auch die griechische Sprache und Literatur die Geister in Anspruch zu nehmen.
Die Zeit solcher friedensvollen und arbeitsamen Muße währte nicht lange. Einerseits litten die Blüthe und Wirksamkeit der Schulen und der durch sie beförderten Studien unter dem steigenden Reichthum, der Ueppigkeit und der zunehmenden Entsittlichung der Geistlichkeit, und wo solche Factoren hie und da möglicherweise nicht in Rechnung kamen, wurden sie leider nur allzubald und fast überall durch andere, noch um vieles verderblichere ersetzt. Die Folgen der verhängnißvollen, von Karl dem Großen begonnenen und von Otto I. wieder aufgenommenen Verbindung mit Italien fingen an immer schärfer hervorzutreten und der Streit der weltlichen und geistlichen Macht um die Oberherrschaft nahm mehr und mehr alle Interessen, alle Gedanken, Empfindungen und Leidenschaften und alle Thätigkeit in Anspruch. Das alles gedieh unter der langen, unglücklichen Regierung Heinrich IV. zur erschreckenden Höhe. Ueberall gab es Zwietracht und Streit, ganz Deutschland war in trostloser Verwirrung, alle friedliche, geistige wie sittliche Entwickelung wurde gelähmt und ließ bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts hiefür einer erschreckenden Rohheit und Unkultur nur allzuviel Platz und eine nur allzu freie Bahn.
Daß unter solchen Umständen und in solchen Zeiten, solchem Unfrieden, so vielen Störungen und solcher wirklichen Unlust gegenüber, von einer fröhlichen Entwickelung unserer einheimischen Literatur, zumal der Dichtung, nicht viel die Rede sein konnte, bedarf keiner weiteren Erklärung. Von der Begünstigung, die sie unter und von Karl dem Großen erfahren, zeigt sich, wie schon bemerkt, bei seinen Nachfolgern fast nirgends mehr eine Spur, und der lange Zeitraum vom Anfang des neunten Jahrhunderts bis zum Beginn des zwölften erscheint in Ansehung der nationalen und Volksdichtung beinahe vollständig verödet. Indessen ist es bei eindringender Forschung doch nicht ganz so schlimm. Zwar das sogenannte Ludwigslied, das ums Jahr 881 auf den Sieg König Ludwig III. über die Normannen, vermuthlich von einem Geistlichen, gedichtet wurde, und den halb deutschen, halb lateinischen Leich auf Otto den Großen oder von den beiden Heinrichen, entstanden nach dem Jahre 962 und Ottos zweite Versöhnung mit seinem Bruder Heinrich besingend, rechnen wir hieher eben nur als erhaltene Denkmäler der noch nicht ganz abgestorbenen weltlichen Dichtung. Aber auch die wirkliche Volkspoesie und die Theilnahme für dieselbe starben nicht aus. Dafür bürgen uns die unverwüstliche Kraft und Frische des deutschen Geistes und Gemüths, und mehr als ein noch vorhandenes ausdrückliches Zeugniß. Wir erinnern hier an jene Uebersetzungen und Bearbeitungen der alten deutschen Gedichte und wir gedenken vor allem jener in der »Klage« enthaltenen Angabe, nach der wir selbst, sei es nur den Grundstoff, sei es die Entstehung des Nibelungenliedes in seiner frühesten Gestalt, grade in der Mitte dieses Zeitraums zu suchen haben. Der Bischof Pilgerin von Passau (971-991), heißt es, habe aus dem Munde von Spielleuten, fahrenden Sängern, die Märe von dem furchtbaren Schicksal der burgundischen Könige zusammentragen und durch seinen Schreiber, Meister Konrad, in lateinischen Buchstaben niederschreiben lassen. Seitdem sei es (das Buch) öfter in deutscher Zunge gedichtet worden.
Desto reichlicher ist die geistliche und gelehrte Poesie unter den erhaltenen Denkmälern vertreten. Da ist ein religiöser Volksgesang, das Lied auf den heiligen Petrus; da sind, in Leichform, Christus und die Samariterin, eine Bearbeitung des 138. Psalmes, ein Gedicht auf den heiligen Georg und was dergleichen mehr ist. Vor allen übrigen aber sind die beiden Evangelienharmonien zu merken, die altsächsische und alliterirende, der Heliand geheißen, vielleicht schon zur Zeit Ludwig des Frommen von einem sächsischen Sänger, ja angeblich einem Bauer, verfaßt, auf die Volkspoesie gegründet und zu dem Besten zählend, was die religiöse Poesie hervorgebracht hat; und eine althochdeutsche, der Krist genannt, von dem Mönche Otfried, der das Werk mit einer deutschen Zueignung ums Jahr 868 König Ludwig dem Deutschen widmete. Es ist das älteste Denkmal der Reimpoesie, aber ohne eigentlich poetischen Werth. – Der gelehrten Poesie dieses Zeitraums gehört das Bruchstück eines größeren, anscheinend kosmographischen Werkes an, der sogenannte Merigarto.
Auch an Prosadenkmälern besitzen wir eine so reiche Zahl, daß wir von ihnen gleichfalls nur ein paar hervorragende anführen können: die Uebersetzung der Tatianischen Evangelienharmonie, deren unbekannter Verfasser zu Otfrieds Zeiten gelebt zu haben scheint; eine Uebersetzung und Umschreibung der Psalmen, von dem St. Galler Mönche Notker, und eine Uebersetzung und Auslegung des Hohenliedes von dem Abt zu Ebersberg, Williram. Dazu gesellen sich andere Schriften nicht streng geistlichen Inhalts, wie die, von dem eben genannten Notker herrührenden Uebersetzungen von einem Theile des Aristotelischen Organons, vom Trostbuch des Boëthius, von zwei Büchern der Vermählung Merkurs mit der Philologie, von Marcianus Capella, und dergleichen mehr. Bei solchen uns fremdartig berührenden Werken müssen wir bedenken, daß sie von sehr bedeutendem Werth für die Weiterbildung der Sprache waren, welche sich in ihnen und durch sie nun schon zur Darstellung und Behandlung philosophischer und abstracter Themata erhob.
Mit dem Auftreten der Hohenstaufen beginnt ein neuer Abschnitt in der Geschichte des deutschen Landes und Volkes, nach innen, wie nach außen. Es strebt alles auf- und vorwärts, überall zeigt sich eine gewisse frische und bewußtvolle Kraft und eine glänzende Größe, und auch die deutsche Literatur oder, was uns von dieser doch am meisten interessirt, die Dichtung entfaltet sich im raschen Austreiben zur leuchtendsten und duftvollsten Blüthe, von welcher noch ganz vor Kurzem kaum eine sich eben färbende Knospe sichtbar war.
Wir müssen es schon zugestehen, die Hohenstaufen sind ein wunderbares Geschlecht. Trotz der verderblichen Politik und der – wir Heutigen müssen sagen: räthselhaften Verblendung, welche sie rastlos einer Art von Phantom nachtrieben und sie dabei ihre eigenen und Deutschlands edelste Kräfte bis zur vollen Erschöpfung, bis zum vollen Ruin opfern ließen, – trotzdem finden wir in ihnen überall, wo jene Politik und Verblendung nicht mehr wirksam sind, eine Höhe und Klarheit des Geistes, eine helle Einsicht in die Forderungen der Zeit und ihrer Stellung, eine Willens- und Thatkraft, welche sie, Otto den Großen ausgenommen, alle ihre Vorgänger und Nachfolger hoch überragen läßt und die Zeit ihrer Herrschaft zu der glänzendsten macht, die Deutschland erlebt hat. Das Volk sieht und feiert in ihnen noch einmal gewissermaßen Nationalhelden, wie unsere Altvorderen sie in ihren Sagen und Liedern verherrlichten. Ja es thut das, obgleich die Hohenstaufen, selbst Friedrich I., durch ihre Kämpfe und ihre Politik Deutschland entzogen und entfremdet wurden und ihre Hauptkraft der Fremde widmeten. Und das Volk hat ein Recht zu seinem Glauben und seiner Treue. Vor dem Glanz, der von ihnen ausgeht, verschwinden alle Schatten, und wo sie erscheinen, treten sie in wunderbarer Größe auf. Trotz der inneren Zertheilung ist Deutschland unter solchen Häuptern ein einiges. Wie der Kaiser unter den Fürsten, stehen die Deutschen unter den Nationen voran, und das Bewußtsein ihrer Einigkeit, ihrer Kraft und ihres Werthes, ihres Ranges und ihres Glücks erfüllt sie, wie nie zuvor. Solche Zeiten vergißt kein Volk.
Wie stets zu solchen Tagen, blieben die Hohenstaufen nicht die einzigen großen Gestalten, die uns entgegentreten. Es standen ihnen grade Fürstengeschlechter zur Seite, welche ihnen an Geist, an Bildung, an Willens- und Thatkraft ebenbürtig, an Verständniß und Einsicht in die Zeit und ihre Forderung sogar überlegen waren. Wir gedenken nur der Babenberger, der Thüringer, der Braunschweiger, obschon auch Andere wohl genannt zu werden verdienten. Und mit und neben ihnen traten in allen Ständen und allen Gegenden Männer aus dem bisher herrschenden Dunkel hervor, welche überzeugend bewiesen, daß die anscheinend ganz Deutschland durchdringende Zerrüttung seinen tiefsten Lebenskern nicht zu schädigen vermocht, daß die geistige und sittliche Bildung trotz aller Hemmnisse und Störungen im Stillen stets vorgeschritten, stets sich weiter ausgebreitet hatte. Nur die Geistlichen waren im Allgemeinen zurückgeblieben oder zurückgewichen und hatten ihre Herrschaft auf diesem Gebiet verloren, sei es weil Wohlleben und Luxus, sei es weil der große Streit zwischen Kaiser und Papst ihnen weder Verständniß, noch Lust oder Zeit zur Verfolgung der früheren Interessen übrig ließen. –
Wir glauben nicht zu irren, wenn wir die Erklärung, ja die Ermöglichung des wunderbaren Aufschwunges, den die Literatur und vor allem die Dichtung im zwölften Jahrhundert nahm, vor allem in den vorausgegangenen schweren Zeiten suchen und grade aus der allgemeinen Zerrüttung ableiten zu müssen glauben. Die lange Minderjährigkeit Heinrich IV. und die Eifersucht seiner Erzieher hatte bereits Zustände in Deutschland hervorgerufen, welche jeden Einsichtigen und nicht direct am Streit Betheiligten mit Trauer und Sorge erfüllen mußten. Durch Heinrichs eigene Regierung wurde nichts gebessert, alles war voll von Verrath, von Aufruhr, von Fehden und Kämpfen, und der alsbald ausbrechende Streit zwischen Staat und Kirche vollendete das Unheil. Das gesammte Volk wurde aus seiner Ruhe aufgerissen und zur Parteinahme gezwungen; jedermann sah sich in den grausamen Conflict zwischen Gefühl und Verstand, zwischen Glauben und Vernunft hineingerissen, sich vor den Treubruch und die weltliche Strafe, oder vor die zeitliche und ewige Verdammniß gestellt. Hier gab es nur die Wahl zwischen der Betäubung durch Kampf und Krieg und wilden Lebensgenuß, und der ernsten Einkehr bei sich selbst, dem Ringen nach innerer Klarheit, nach geistiger Freiheit. In diesem letzteren Falle aber stand die Poesie nahe genug. Sie ist der natürlichste Ausdruck einer solchen tiefen, Geist und Gemüth erfüllenden Bewegung, und zugleich der einzige, welcher der Gewalt solcher inneren Kämpfe entspricht und derselben gewachsen ist. Eine derartige Poesie muß aber eine wesentlich subjective sein, und wir finden daher beim Beginn des neuen Zeitraums vor allem die Lyrik im raschen Erblühen, neben ihr aber auch das Lehrgedicht und selbst die Epik unter dem Einflusse der neuen Geistesrichtung.
Allein auch in anderer Weise ward der große weltliche und kirchliche Streit für die Entwickelung der Literatur und für die Richtung, die sie nahm, von Bedeutung. Früher hatte die Geistlichkeit durch Bildung, Kenntnisse, Reichthum und Einfluß in Wirklichkeit die erste Stelle eingenommen und den ersten Stand des Reiches gebildet. Sie stand den Kaisern im Rath und bei der That am nächsten und war ihre beste Stütze gegen die unruhigen und ehrgeizigen Großen. Mit dem Beginn des großen Kampfes gab sie diese Stellung freiwillig oder gezwungen auf und machte den Kriegsleuten und Waffenkundigen Platz, welche fortan bevorzugt und mit Vorrechten und Freiheiten aller Art belohnt wurden. So erhob sich der Herrenstand, der Adel, rasch aus der Masse des Volks und nahm alsbald eine um so abgesondertere Stellung ein, als gerade zu dieser Zeit das Ritterthum zur Ausbildung gelangte.
Den Ursprung desselben haben wir in dem Verkehr und den Kämpfen der Spanier mit den geistvollen, hochgebildeten Arabern zu suchen, und seine Weiterentwickelung finden wir bei den Provenzalen, Normannen, Franzosen und Burgundern, mit einem Wort, bei dem Adel jener Völkerschaften, welche den Stamm und Kern des ersten Kreuzheeres bildeten. Bei diesem Adel gelangte nicht nur die äußere Seite zur Ausbildung, zu der alles gehört, was man in Frankreich mit dem Worte Courtoisie, und hernach in Deutschland mit dem Ausdruck »höfische Sitte« bezeichnete; sondern es ging von ihm auch die edlere, tiefere und geistige Richtung auf die Poesie und ihre künstlerische Ausbildung aus, welche in Deutschland gleichfalls lebhaft aufgenommen und verfolgt wurde. Seinen rechten Gehalt, seine äußere Vollendung und eine größere Ausbreitung empfing das Institut, um es so zu heißen, jedoch erst durch die Kreuzzüge.
An dem ersten Zuge unter Gottfried von Bouillon waren die Deutschen allerdings nur in verhältnißmäßig geringer Zahl betheiligt gewesen. Der zweite, den Kaiser Konrad III. selber führte, zog sie dagegen in Schaaren herbei, und nicht kleiner war das Heer, das fünfzig Jahre später Friedrich der Rothbart um sich vereinigte. Auf diesen Zügen trafen alle Völker des Abendlandes zusammen, dem gemeinsamen Ziele zustrebend, von den gleichen großen Ideen erfaßt, vom gleichen Wetteifer beseelt. Die Anregung war für den Einzelnen wie für alle eine ganz außerordentliche, eine allseitige und unaufhörliche; wohin man blickte und horchte, wohin man sich wandte und wohin man griff, – überall fand man Neues an Erfahrungen, Vorstellungen und Anschauungen, an Sitten und Gebräuchen, und wer endlich nach Hause und zu den Seinen zurückkehrte, brachte möglicherweise Schätze und Reichthümer, sicherlich aber diesen ganzen inneren, geistigen und seelischen Erwerb in die Heimat zurück.
Wir brauchen es nicht auszuführen, daß darin aber leider Gutes und Böses gemischt war: das Leben, das man durchlebt, die Gefahren und Strapazen, die man bestanden, und der Verkehr mit allen, freundlichen und feindlichen Nationen, mußten auf jeden und selbst den Kraftvollsten und Gesundesten einen tiefen, unter Umständen verhängnisvollen Einfluß ausüben und konnten auf die heimischen Sitten und das schlichte häusliche Leben, auf den ruhigen und friedlichen Fortschritt der Bildung kaum von günstiger Wirkung sein. Es kam dazu, daß das erwählte Muster, dem zumal die höheren Stände bisher nachgestrebt hatten, unter solchen Einflüssen und Folgen selber am schwersten litt und von der früheren Höhe herabsank. Der Einfluß der vorgeschrittenen französischen und provenzalischen Bildung auf die deutsche war Anfangs unzweifelhaft nur ein günstiger gewesen, das Leben war unter ihm milder, heiterer und, in geistiger Beziehung, inhaltsvoller und strebsamer geworden. Jetzt aber kamen von dort auch Luxus und Ueppigkeit, leichte Sitten und – um es kurz so zu bezeichnen: Verzerrungen aller Art herüber und fanden in Deutschland nur allzubereitwillige Aufnahme und Ausbreitung. Denn man darf es nicht vergessen, daß die Kreuzzüge durch die heimgebrachte Beute so gut wie durch den steigenden Handel und Wandel Reichthum und Wohlhabenheit begründeten, und daß die herrschenden, verhältnißmäßig friedlichen Zustände dem freiesten Lebensgenuß keinerlei Hindernisse entgegenstellten. Man lebte so zu sagen lustig darauf los, und ließ sich von dem glänzenden Beispiel der lebensfrohen, leichtherzigen Nachbarn weiter und weiter locken. Die Bildung, wenn man es noch so heißen will, die Sitten und Lebensweise, ja die Sprache derselben herrschten am Hofe der Hohenstaufen, wie der meisten anderen Fürsten und breiteten sich von hier zu den anderen Ständen aus.
An Glanz und Pracht fehlte es nicht, zu Lust und Ausgelassenheit gab es schier täglich Gelegenheit und Platz, bei Königswahlen und Hochzeiten, bei Turnieren, bei Festen aller Art. Aber wie der Ernst des Lebens, so kamen auch die Würde und der Werth desselben rasch in Abnahme und Verfall. Die Dichter und Chronisten klagen bereits im zwölften Jahrhundert über die zunehmende Entartung der Sitten, der Bildung, des gesammten, immermehr nur auf raschen und wilden Genuß gerichteten Lebens. Und es spricht in eigenthümlicher Weise für die Wahrheit und Berechtigung solcher Klagen, daß die Dichter und die Dichtung selber, die sich so glänzend entfaltet hatte, schon gegen das Ende des zwölften und zu Anfang des dreizehnten Jahrhunderts, rasch von der erreichten Höhe herabzusinken begannen und, mit wenig Ausnahmen, dem vollen Verfall entgegentrieben.
Aber auch hier liegt die Erklärung nicht gar fern. Die Liebe zur Poesie war, in einzelnen geistig bevorzugten und gebildeten Fürsten eine ächte und verständnißvolle, alsbald zu einer Art von Modesache geworden und gehörte fortan zum Luxus des Lebens und zum Glanz der großen und kleinen Höfe. Solch' eine Mode, solcher Vorzug und der materielle Lohn, der auf's reichlichste gespendet wurde, waren aber, wie immer auch damals eine Lockung und ein Antrieb, dem nicht leicht zu widerstehen war, und dazu gesellten sich – wir reden hier selbstverständlich nicht von den großen und ächten, geborenen Dichtern, sondern nur von der großen Masse der Dichtenden! – hier das Beispiel und dort die Nachahmungssucht, welche, wie wir auch zu anderen Zeiten und in anderen Regionen beobachten können, zuweilen zu den wunderlichsten Folgen führen. Die »Dichter« schossen wie Pilze aus der Erde. Sie gehörten in großer, ja der größten Zahl dem Adel, und zwar dem ärmeren und dienenden an, was nicht bloß aus den ihm an den Höfen eingeräumten Vortritt und auf den materiellen Vortheil hindeutet, den man außer Ruhm und Ehre von der Ausübung der Kunst verlangte, sondern uns auch von neuem auf den Weg hinweist, auf dem wir zum mindesten den ersten Anstoß zu dem raschen Auftreiben und Erblühen der Dichtung gerade unter der Ritterschaft, d. i. dem Adel, in Deutschland zu suchen haben. Denn selbst die größten Dichter dieser Zeit, Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide und wie sie sonst heißen, sind meistens Adelige.
So ist auch von diesem Gesichtspunkte aus die Bezeichnung als »höfische Poesie und Dichtung« eine völlig richtige und berechtigte. Sie gedieh im Glanz und Schutz, unter der Begünstigung der Höfe, sie sonnte sich darin und buhlte schmeichelnd um dieselben, ja sie verwuchs damit. Als daher einerseits der Luxus in Ueppigkeit und die Sitten in – Liederlichkeit ausarteten, und andererseits mit dem Ausgang der Hohenstaufen und der anderen geistvollen, hochsinnigen und kunstliebenden Fürsten das Verständniß und die Begünstigung aufhörten; als alle Verhältnisse ins Schwanken und Stürzen kamen und Deutschland und sein Volk in Verwirrung, in Unfrieden und Unordnung gestürzt wurden: da verfiel das Ritterthum, da sank der Adel gerade fast am tiefsten, und die mit ihnen zusammenhängende Poesie ging rettungslos zu Grunde.
Mit der Pflege und Begünstigung des Adels und der höfischen Dichtung war aber selbstverständlich die Verachtung der volksthümlichen und der anderen Stände Hand in Hand gegangen. Man blickte aus die sogenannte Spielmannspoesie und ihre Ausüber, auf die »fahrenden Leute«, auf das gesammte Volk hoch herab, und wo wir die Dichter zu diesem herunter steigen sehen, wie in der sogenannten »höfischen Dorfpoesie« eines Neidhart, Tannhäuser u. s. w., ist dies ein ziemlich sicheres Zeichen der abnehmenden edleren Bildung und der ausartenden Sitte: man hatte an der Kunst kein Genüge mehr und haschte nach derben Reizmitteln.
Von den Höfen und dem Adel flüchtete die Dichtung in die Städte und zu den Bürgern, d. h. in den einzigen, einigermaßen sicheren Schutz, den es zu dieser Zeit noch gab, zugleich aber auch in eine äußerliche und innerliche Abgeschiedenheit und Beschränkung, wo an einen frischen Aufschwung und eine freie Entfaltung nicht zu denken war, vielmehr die Kunst fast unvermeidlich zur Künstelei und ihre Ausübung zu einer Art von Handwerk werden mußte. Die Bürger hatten dazumal mit der Ordnung ihres Gemeinwesens und des städtischen Regiments, mit der Sicherung ihrer Stadt, überhaupt mit materiellen Interessen im Allgemeinen allzuviel zu thun, als daß sie viel Sinn und Zeit für die Verfolgung der geistigen übrig gehabt hätten. Dafür spricht schon, daß von einem Verständniß der Volkspoesie bei ihnen ebenso wenig zu finden war, wie bei den höfischen Sängern. Auch hier herrscht jene schon erwähnte Verachtung des Naturwüchsigen und Volksthümlichen im vollsten Maße, und wir haben es wohl nicht am wenigsten ihr zuzuschreiben, daß uns von der Volkspoesie dieser ganzen Zeit so außerordentlich wenig erhalten ist.
Die deutsche Sprache war schon seit dem Anfang des elften Jahrhunderts in rascher Aus- und Umbildung begriffen gewesen und ging im zwölften vollends aus dem dialectischen Altdeutschen in jenes Mittelhochdeutsch über, das die dialectischen Abweichungen und Verschiedenheiten ausgleichend und selbst das Niederdeutsche zurückdrängend, sich zur herrschenden Hof-, Gesellschafts-, Schreib- und vor allem Dichtersprache erhob. Auch hier begegnen wir aber dem Zusammenhange unserer Dichtung mit der französischen, denn die Unsitte der eingestreuten und zu dieser Zeit französischen Fremdwörter erscheint bei den Dichtern schon im zwölften Jahrhundert, d. h. also zur Zeit der reinsten und schönsten Blüthe unserer Poesie.
Die Zahl der Dichter und ihrer Werke ist so überschwänglich groß, daß in unserer kurzen Uebersicht von einem näheren Eingehen, von einer Würdigung und Characterisirung gar keine Rede sein kann. Ja wir müssen selbst ein Namensverzeichniß uns versagen und die Leserinnen, die hier sich genauer unterrichten wollen, auf eines der zahlreichen Handbücher verweisen, in dem dieser Zeitraum eingehender behandelt wird. Als ein solches Buch läßt sich die »Geschichte der deutschen Literatur« von Heinrich Kurz warm empfehlen.
So gedenken wir denn nur der verschiedenen Abtheilungen und führen in der ersten, der epischen, vor allem auf alte deutsche Stoffe gegründete Dichtungen an: »König Rother«, »Ornit«, »Hug- und Wolfdietrich« u. s. w. Sie sind meistens viel früher entstanden und, weil sehr beliebt, später von neuem, ja mehrfach bearbeitet worden, zum Theil als Reste der Spielmannspoesie anzusehen. Ihre Verfasser und auch die Bearbeiter kennen wir meistens nicht. Dies gilt denn auch von dem größten Gedichte dieser Zeit, ja unserer gesammten Literatur: dem Nibelungenliede. In der uns vorliegenden Gestalt ist es keinenfalls vor 1190 vollendet worden, wenn es auch vermuthlich schon fünfzig bis sechzig Jahre früher gedichtet worden ist. Die Untersuchungen des zu früh verstorbenen Franz Pfeiffer, einer der ersten Autoritäten auf diesem Felde, machen es wahrscheinlich, daß wir in dem uns bekannten ältesten Liederdichter, dem Kürnberger (um 1120-1140) den Verfasser zu erkennen haben. Die Fortsetzung des Gedichts, die sogenannte Klage, ist um das Jahr 1200 entstanden und jedenfalls von einem anderen Verfasser. – Das einzige, den Nibelungen ebenbürtige, gleichfalls dieser Zeit angehörende Gedicht ist die Kudrun oder Gudrun. – Gleichfalls ins zwölfte Jahrhundert gehört noch ein Bruchstück des Reinhart Fuchs von Heinrich dem Glichesaere, das für uns als Grundlage des späteren großen Gedichts »Reineke Vos« von besonderem Interesse sein muß.
Die zweite Gruppe der epischen Dichtung bilden alle jene Gedichte, welche aus den Sagenkreisen von Karl dem Großen, von Artus und der Tafelrunde, dem heiligen Gral oder aus der antiken Götter- und Heldensage hervorgingen, mithin alle, welche ihre Stoffe aus der Fremde nach Deutschland herüberzogen. Hier begegnen uns der große Meister Wolfram von Eschenbach (um 1200, »Wilhelm von Oranse«, – »Parcival«, – »Titurel«), und die kaum weniger bedeutenden Hartmann von Aue (1170-1220 – »Erek«, – »Iwein«), und der zugleich glänzende und tiefe Gottfried von Straßburg (erste Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts – »Tristan«). – Von den poetischen Legenden, Gedichten über historische Personen, gereimten Chroniken und poetischen Erzählungen, gedenken wir nur »des armen Heinrich« von Hartmann von Aue, und des »Salman und Morolt«, der, noch aus dem zwölften Jahrhundert stammend, eines der wenigen Denkmäler der Spielmannspoesie dieser Zeit bildet.
Die lyrische Poesie tritt erst in diesem Zeitraum als selbstständige, von der epischen geschiedene Gattung vor uns, haben doch selbst die ältesten lyrischen Gedichte dieser Zeit noch etwas von der Erzählung. Gibt es hier frühere, für uns nicht erhaltene Ausnahmen, so müssen sie in den Gedichten gesucht werden, welche beim Tanz, bei Umzügen, bei Begrüßung der Jahreszeiten u. s. w. gesungen wurden, oder allenfalls auch in der längst beim Volke einheimischen Spruchpoesie.
Das Erfreulichste ist, daß wir in dieser ganzen Abtheilung fast überall auf nationalem Boden stehen und die Gedichte als Schöpfungen und Ausflüsse des deutschen Geistes, Herzens und Gemüths erkennen. Das eigentliche Minnelied trägt zwar manche Züge der Verwandtschaft mit der provenzalischen und französischen Poesie, doch liegt der Grund offenbar theils in der, von allem Lokalen unabhängigen, rein menschlichen Natur des Gegenstandes, theils im allgemeinen Character der Zeit und der, wieder überall ziemlich gleichmäßigen Entwickelung und Färbung der betreffenden höfischen oder ritterlichen Lebens- und Standesverhältnisse. Das Minnelied war vorzüglich bei den fürstlichen und adeligen Dichtern daheim, welche eben im Allgemeinen außerhalb der eigentlich nationalen Bildung standen. Alles Uebrige, was sonst zur Lyrik gehört, konnte sich selbstständiger entwickeln und hat dies auch gethan.
In Ansehung der Formen, in denen wir die lyrische Poesie sich bewegen sehen, darf uns wohl der Reichthum an solchen auffallen, der uns überall entgegentritt. Wir stoßen hier nämlich auf ein eigenthümliches Gesetz, das zu dieser Blüthezeit streng aufrecht erhalten und selbst während des herandringenden tiefen und tieferen Verfalls von den Meistersängerschulen in den Städten noch immer einigermaßen befolgt wird: jeder Erfinder eines neuen »Tons« oder einer neuen »Weise« bleibt im unantastbaren Besitz seiner Erfindung, die von Anderen wohl nachgeahmt, d. h. umgestaltet und erweitert, niemals aber unverändert angenommen werden darf. Wer dies Gebot übertritt, wird ein »Tönedieb« gescholten, und selbst dem Erfinder wird die öftere Wiederholung seines neuen »Tons« als »Unkunst« vorgeworfen, so daß jeder auf den häufigen Wechsel und immer Neues bedacht ist. Walther von der Vogelweide zum Beispiel hat in seinen Liedern und Sprüchen hundert verschiedene Tonweisen.
Ueber die Zahl der Dichter und die Fülle ihrer Lieder und Dichtungen, welche alle Gattungen der Lyrik vertreten, von der Minnepoesie, der eigentlichen Lyrik und der schon erwähnten »höfischen Dorfpoesie«, bis zu den religiösen Gedichten, den Lob-, Straf-, Klage- und politischen Liedern, den gnomischen Liedern und Sprüchen und hinüber in die didactische Poesie mit den Lehr- und Mahngedichten, den »Beispielen« – d. h. Thierfabeln und kleine Erzählungen mit angehängter Moral u. s. w., u. s. w. – darüber, sagen wir, haben wir uns schon oben geäußert und sind bescheiden in die uns gestatteten Grenzen zurückgewichen. Man muß eben nur bedenken, daß aus dieser Zeit über dreihundert Dichter bekannt sind, von denen nicht wenige sich einen guten Namen erworben haben.
So nennen wir denn nur die ältesten, von denen wir erfahren: den schon erwähnten Kürnberger, den Burggrafen von Regensburg, Meinlo von Seflingen, Dietmar von Eist (1143-1171), und als Begründer der eigentlichen Kunstform Friedrich von Hausen und Heinrich von Veldecke, den sogenannten »Vater der höfischen Poesie«. Ihnen gegenüber mag als einer der letzten Heinrich von Meißen, genannt Frauenlob, erwähnt werden, um den zu Anfang des vierzehnten Jahrhunderts zu Mainz die erste Genossenschaft bürgerlicher Sänger, wohl als eine Art von Schule, zusammentrat und welcher von Mainzer Frauen zu Grabe getragen wurde. – Zwischen ihnen steht als Repräsentant der gesammten Liederdichtung und als Fürst aller Lyriker derjenige Dichter, der für alle folgenden Jahrhunderte, bis auf Goethe, der größte blieb und dessen Rühm noch heute so glänzend und unverkümmert strahlt, wie zu seinen Lebzeiten – das ist Walther von der Vogelweide (ungefähr von 1170 bis 1230). Liebe und Religion, die Natur und das Leben, Zeitverhältnisse und Tagesereignisse, die tüchtige alte ehrenhafte Zucht und Sitte und ihr rascher Verfall, die Größe und der Ruhm Deutschlands und die Anmaßungen der Geistlichkeit – alles wurde von diesem außerordentlichen Geiste mit wunderbarer Kraft und Frische aufgenommen und in Liedern und Gedichten zum Ausdruck gebracht.
Von einer dramatischen Poesie läßt sich in diesem Zeiträume noch kaum reden, obschon es in den sogenannten geistlichen Spielen oder »Mysterien« schon im dreizehnten Jahrhundert zwischen dem lateinischen Text auch einzelne deutsche Zeilen und Strophen gegeben haben mag. Statt dessen müssen wir hier zum Schluß des Abschnittes noch der Prosa zum wenigsten gedenken, welche wir jedoch gegen den außerordentlichen Aufschwung der Dichtung weit zurückbleiben sehen – es drängte sich in dieser merkwürdigen Zeit alles zur poetischen Aeußerung und Darstellung. – Wir besitzen noch einzelne deutsche Predigten aus dem dreizehnten Jahrhundert vom Minoriten Bruder David und seinem Schüler Berthold; daneben die beiden Rechtsbücher, den »Sachsenspiegel« von Eike von Repgow (1215-1235) und dem »Schwabenspiegel« von einem oberdeutschen Geistlichen (vor 1276); darauf Land- und Stadtrechte, die sogenannten »Weisthümer«, Urkunden in wachsender Zahl und endlich Chroniken. Zum Schluß erwähnen wir noch das Bruchstück eines aus dem Französischen ins Niederdeutsche übersetzten Romans und die sogenannte Meinauer Naturlehre (Ende des dreizehnten Jahrhunderts), wo die Natur gewissermaßen schon von wissenschaftlicher Seite betrachtet wird.
Mit dem Ausgange der Hohenstaufen und dem Beginn der »kaiserlosen, der schrecklichen Zeit« gelangen wir zu einem Abschnitte, in welchem es der eigentlichen Poesie ebenso schlecht erging, als dem armen Deutschland selber. Auf anderen geistigen Gebieten, wie z. B. in der bildenden Kunst und in den Wissenschaften, sah es bei weitem besser aus; hier zeigte sich eine lebhafte Regsamkeit und ein ernstlicher, zum Theil der schönste Fortschritt: wurden doch grade in diesem Zeitraume alle unsere älteren Universitäten gegründet und die Buchdruckerkunst entdeckt, und gehören ihm doch jene Meisterstücke und Wunderwerke der Baukunst an, die bis auf den heutigen Tag unser Staunen erregen und uns mit Stolz und Verehrung der Männer gedenken lassen, deren Geiste so Herrliches und Großes entstammte. – Selbst um die deutsche Prosa stand es viel besser. Mag die Sprache während dieser Uebergangszeit im Allgemeinen auch noch so verwildert erscheinen; wir sehen sie trotzdem unverdrossen vorwärts arbeiten, bis sie sich endlich mit dem Beginn des nächsten Zeitraums zu der Fülle, Kraft und Schönheit erhebt, welche wir, vorzüglich in Luther's Bibelübersetzung, noch heute zu bewundern haben.
In Ansehung der Poesie aber sah es wirklich traurig aus, genau so wie – um dies zu wiederholen – in und für Deutschland und das deutsche Volk selber. Die gute Zeit war vorübergegangen und es folgten die Tage der Rohheit und Nichtswürdigkeit, der vollendeten Recht- und Sittenlosigkeit, der Auflösung aller politischen und socialen Verhältnisse, der Treulosigkeit und des Verraths, des Raubens und Mordens, mit einem Wort: des wildesten Faustrechts. Da konnte weder Rudolf von Habsburg mit seiner Strenge, seinem Hängen und Brennen helfen, geschweige denn die Nachfolger desselben, die sich einer immer unfähiger als der andere erwiesen oder durch Privatinteressen aller Art der Reichsregierung entzogen wurden. Es gab keine Unternehmungen nach außen mehr, welche die Nation als solche in Bewegung gesetzt, zur Theilnahme vermocht, zum Bewußtsein ihres Werthes und ihrer Würde, ihrer Einigkeit und ihrer Macht gebracht hätten, und auch im Innern geschah und zeigte sich nichts, was der Erweckung solcher Gefühle günstig gewesen wäre.
Das Unheil, welches die Schwäche oder – sagen wir: die Entartung der Menschen über Deutschland herausführte, wurde durch die Natur und das Geschick zur Vollendung gebracht. Es drängten sich zu dieser Zeit erschreckende Naturereignisse aller Art, Erdbeben, Ueberschwemmungen, Mißwachs und Hungersnoth, und daran schloß sich die in kurzen Zwischenräumen sich stets erneuernde, Land und Stadt entvölkernde Pest. Zu solchem Elend hin lag zur Zeit Ludwig des Baiern lange Jahre auch noch das Interdict auf dem unglücklichen Volke, und das kirchliche Schisma und der Hussitensturm verscheuchten vollends alle geistige und leibliche Ruhe.
Unter solchen Umständen, da nicht nur das Glück, sondern auch der Friede von Deutschland Abschied genommen zu haben schienen und das rauhste Leben und die wildeste Gegenwart an und in Jedem ihre unerbittlichen Forderungen geltend machten, – unter solchen Umständen hatte niemand Zeit oder Sinn für andere als practische Richtungen, und die eigentliche Poesie mußte weit zurückweichen. War doch von einer Liebe zu ihr, von einer Begünstigung, einer Pflege und einem Schutz, wie sie dieselben vordem an den Höfen und in der höheren Gesellschaft gefunden hatte, nirgends mehr die Rede; zeigte sich doch nirgends mehr eine von jenen Blüthen, welche damals die Liebe und Gunst hervorgerufen und gerechtfertigt hatte. Ja es sieht fast so aus, als sei dem gewaltigen Aufschwünge und der wunderbar reichen und glänzenden Entfaltung eine anscheinend fast nothwendige ebenso tieft Abspannung und Erschöpfung gefolgt, die man sich freilich nicht eingestehen mochte und der man auch wohl zu wehren suchte, indem man frisch daraus losproducirte. Aber es konnte nicht ausbleiben, daß bei solcher Thätigkeit die Kunst mehr und mehr der Künstelei wich und das Producirte sich daneben vor allem der Beschaulichkeit und Lehrhaftigkeit und – in klareren und kräftigeren Köpfen der Satire zuneigte. Nur im eigentlichen Volk erhielt sich auch jetzt noch etwas von der alten Frische und Regsamkeit des poetischen Geistes, wenn auch selbst die hier hervorbrechenden Blüthen häufig genug unter den traurigen öffentlichen Zuständen und der Unsicherheit des Lebens, vor allem aber unter der ihnen entgegentretenden Theilnahmlosigkeit, ja Mißachtung aller übrigen Stände zu leiden hatten. Denn abgesehen von den bürgerlichen Meistersängern, standen der Volkspoesie auch grade die Wiederbelebung des klassischen Alterthums und der Fortschritt der wissenschaftlichen Bildung auf das hinderlichste entgegen.
Indessen würde sich sehr irren, wer aus dem Vorstehenden schließen wollte, daß die poetische Production demgemäß im Allgemeinen nun auch wirklich ins Stocken gerathen sei. Wie schon angedeutet, fand vielmehr das grade Gegentheil statt, und wenn es nur auf die Zahl der »Dichter« und auf die Masse ihrer Schöpfungen ankäme, müßte dieser Zeitraum unbedingt als einer der reichsten bezeichnet werden. Allein wie gleichfalls schon erwähnt, müssen wir in Ansehung des wirklichen künstlerischen Werthes zu einem durchaus entgegengesetzten Urtheil kommen. Die Zeit und ihre Noth spiegeln sich in den Schöpfungen dieser Tage meistens nur allzudeutlich wieder, und mit wenig Ausnahmen ist die gesammte Literatur von der Art, daß man schon ganz besondere Zwecke und Ziele verfolgen muß, wenn man auch nur den Versuch machen will, sie kennen zu lernen.
Wir finden alle Arten und Unterarten vertreten, nur daß nach den großen Originalwerken des vergangenen Zeitraums gegenwärtig in der epischen Poesie nur Bearbeitungen der alten Stoffe und Umarbeitungen der großen Dichtungen erscheinen z. B. der »hörnen Siegfried«, das »Lied vom Hildebrand«, »Dietrichs Drachenkämpfe« u. s. w. – und obendarein gar, in wieder erneuerter Ueberarbeitung, in einem Werk zusammengestellt, den Lesern angeboten werden, – wie wir es zum Beispiel in dem »Heldenbuch« Caspars von der Rhön (gegen 1472) sehen. In gleicher Weise wurden die fremden Sagenkreise verarbeitet, den »Legenden« erging es nicht anders, und auch, wo einmal etwas Neues und Selbstständiges, wie Ereignisse der Gegenwart, zum Stoff der Dichtungen gewählt wurde, ist die Poesielosigkeit und Schwerfälligkeit stets in der gleichen Herrschaft. Selbst die namhaftesten Dichter, wie Peter Suchenwirth im vierzehnten und Hans Rosenblüt oder Michael Beheim im fünfzehnten Jahrhundert, kommen meistens nur durch den thatsächlichen Inhalt ihrer Dichtungen für uns in Betracht, und genau dasselbe gilt von allerhand allegorischen poetischen Geschichten und Erzählungen, welche wirkliche Begebenheiten mit freier Erfindung mischen. Dahin gehört der Roman »Theuerdank«, aus dem Jugendleben des Kaisers Maximilian I., von ihm selber entworfen und von Melchior Pfinzing überarbeitet.
Mitten zwischen all' diesem Armseligen, Nüchternen und Unfähigen ragt aber ein einzelnes Werk hervor, das bis auf den heutigen Tag den höchsten Werth behalten hat, – das ist das Thierepos »Reineke Vos«, welches wir allerdings nur in einer angeblich von Nicolaus Baumann verfaßten, plattdeutschen Uebersetzung aus dem Niederländischen besitzen. Allein dieselbe ist mit so viel Geist, Verständniß und Geschick ausgeführt, daß schon dadurch der Beifall gerechtfertigt wird, den das Gedicht von jeher bei Hoch und Gering fand, und wir uns desselben mit vollem Recht als eines eigenen, deutschen freuen dürfen. Der erste Druck desselben ist von 1498.
Hiermit gehen wir zu einer Gruppe über, in welcher uns Einzelnes gleichfalls einen besseren, hin und wieder sogar sehr erfreulichen Anblick gewährt, – das sind die kleinen poetischen Erzählungen, Schwänke und Schalksstreiche, »der Ritter von Staufenberg«, »der Pfarrer von Kalenberg«, einzelne Stücke von dem genannten Hans Rosenblüt und seinem jüngeren Zeitgenossen Hans Folz; vor allem aber eine ganze Reihe unserer schönsten, epischen Volkslieder, »der Tannhäuser«, »die Frau von Weißenburg« und die Kriegs- und Siegeslieder der Schweizer.
In der lyrischen Poesie gedenken wir des »Meistergesanges« und der städtischen Singschulen nur durch diese Anführung, und in gleicher Kürze erwähnen wir auch die geistliche Poesie mit den Liedern auf kirchliche Feste, bei Buß- und Bittgängen (der Geiselbrüder oder Flagellanten), dem eigentlichen, nicht selten aus dem Lateinischen übersetzten Kirchenliede und den Liedern der Mystiker ( Johann Tauler 1294-1361). Dagegen verdient das eigentliche Volkslied, so viel uns von demselben erhalten ist, auch hier wieder die herzlichste Aufmerksamkeit und würde die eingehendste Besprechung rechtfertigen. Da uns diese versagt ist, verweisen wir wenigstens auf des Freiherrn von Erlach »Volkslieder der Deutschen«, eine Sammlung, die trotz aller Ausstellungen für das nicht gelehrte Publikum noch immer eine durchaus brauchbare bleibt und eine genügende Ein- und Uebersicht gewährt.
Auf dem Gebiete der dramatischen Poesie begann in den schon früher erwähnten »Mysterien« gegenwärtig die deutsche Sprache allmälig die lateinische zu verdrängen – es gibt einen niederdeutschen »Theophilus« und des Theoderich Scherenberg (1480) »Spiel von Frau Jutten«. Dazu gesellten sich mehr und mehr »Fastnachtsspiele«, dialogisirte Schwänke und dergleichen ( Hans Rosenblüt und Hans Folz) und gegen den Schluß des Zeitraums Uebersetzungen der Stücke des Terenz und Plautus, welche vielleicht in den Schulen hie und da zur Aufführung gebracht wurden.
In der didactischen Poesie, welche in diesem Zeitraume, wie wir schon oben erwähnten, mit all' ihren Untergattungen besonders blühte und sogar in die übrigen Dichtungsarten hinübergriff, gedenken wir allein der sogenannten Priameln, d. i. einer Mittelgattung zwischen Spruch, Sprichwort, Räthsel und Epigramm mit einer kurzen Nutzanwendung zum Schluß. Hans Rosenblüt ist auch hier wieder als einer der besten Dichter zu nennen.
Gegen den Schluß dieses Abschnitts erscheint aber das bedeutendste aller hieher gehörigen Gedichte, »das Narrenschiff« des Straßburgers Sebastian Brant (1458-1521), in welchem die Thorheiten und Gebrechen der Zeit gegeißelt und verspottet werden. Und hieran schließen sich die sprachlich roheren, aber witzigern Dichtungen seines in den folgenden Zeitraum hinüberreichenden Landsmanns und jüngeren Zeitgenossen, des Thomas Murner (1475-1536), die »Narrenbeschwörung« und die »Schelmenzunft«.
In der Prosaliteratur begegnen uns die ersten Versuche auf dem Gebiet des Romans und der Novelle, häufig aus dem Französischen oder Lateinischen übersetzt, hin und wieder auch aus älteren deutschen Sagen und Dichtungen bearbeitet. Sie erschienen theils in Sammlungen kleinerer Stücke: »die sieben weisen Meister«, »die Gesten der Römer«, das »Decameron« des Boccaz, Johann Pauli's »Schimpf und Ernst« (zum Schluß des Zeitraums); theils einzeln: »Lother und Maller«, »Pontus und Sidonia«, »Melusine«, »Tyll Eulenspiegel«, »Wigalois« u. s. w., mit einem Worte jene Gattung von Geschichten, welche, im folgenden Jahrhundert noch eifriger cultivirt und selbst uns noch unter dem Namen der »Volksbücher« bekannt, viel des Guten und Schönen bietet und gewissermaßen eine friedliche und erquickende Oase in der öden, ja barbarischen übrigen Literatur dieser Zeiten bildet. Eine besondere Erwähnung verdient in unseren Augen aber die aus dem Lateinischen des Aeneas Sylvius von Niclas von Weil 1462 übersetzte Liebesgeschichte »Euriolus und Lucretia«, in der wir trotz der schwerfälligen Form und der breiten Darstellung noch heute eines der poesiereichsten und ergreifendsten Stücke dieser Gattung bewundern müssen.
Von der übrigen Prosa genügt für unsere Zwecke die Anführung der beiden Chroniken – der Limburger (1336-1398), und der Elsassischen von Jakob Twinger von Königshofen (1346-1420); daran schließen sich von Werken der lehrhaften Prosa Johann Taulers »Nachfolgung des armen Lebens Christi«, »das Büchlein von der ewigen Weisheit« von Heinrich dem Seusen ( Suso, 1300-1366), und endlich Predigten des großen Straßburger Münsterpredigers Geiler von Kaisersberg (1445 bis 1510), des Vorläufers und Vorarbeiters der Reformation und eines der größten Volksredners aller Zeiten. Von ihm gibt es sogar eine lange Reihe von Predigten über Sebastian Brants »Narrenschiff«.