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Wilhelm Timm.

Ein Hamburger Kriminalfall.

Wer heute die selbst in den älteren Stadtteilen der prächtigen Handelskönigin des Nordens unseres deutschen Vaterlandes, der freien Stadt Hamburg breit und luftig angelegten Straßen durchschreitet, hat keine Ahnung, welch ein Gewirr von engen licht- und luftlosen Gassen und Gäßchen sich in verschiedenen Vierteln des städtischen Weichbildes in einander verschlangen, bis das energische Eingreifen der Reichs- und Stadtbehörden infolge der furchtbaren Cholerakatastrophe des Jahres 1891 eine gründliche Aufräumung jener gesundheitlich völlig unzulässigen Gebiete herbeiführte.

Mit »Torieten« bezeichnete man sehr schmale, für Fuhrwerk kaum passierbare Gassen mit hochstöckigen Gebäuden; inmitten dieser Verkehrswege aber befanden sich wieder sog. »Gänge« und Höfe, deren meist überbauter Durchgang so schmal war, daß man nicht von hohem Wuchs zu sein brauchte, um sich gezwungen zu sehen, nur in gebückter Stellung zu den hinter denselben befindlichen Wohnungen zu gelangen. Natürlich waren diese Gänge noch schmäler als die »Toriete« der sie entsprossen.

Selbstverständlich barg dies Durcheinander von Gässchen manche Stätte, die lichtscheuem Treiben Unterschlupf bot, – aber auch ganz anständige Familien des geringeren Bürgerstandes, vornehmlich Handwerksleute und Arbeiter hatten ihr Heim in solch einer Toriete, selbst in einem »Hofe« – und einzelne Distrikte dieser »Gängeviertel« waren durchweg nur von rechtschaffenen, meist Handwerktreibenden Personen bewohnt. Manche solcher Familien erfreuten sich sogar ganz behäbiger Verhältnisse.

Zu den besseren Quartieren zählte der in der Neustadt belegene »Breite Gang,« der sich durch eine weitere Spannung auszeichnete und zu dem man aus der sich lang hinziehenden verkehrsreichen »Neuen Straße« gelangte, eines der ersten Häuser der obengenannten Gasse gehörte der in den Fünfzigern stehenden Witwe Jakob die im Jahre 1854 mit ihrer in den zwanziger Jahren befindlichen Tochter ihr Eigentum allein ohne weitere Mieter bewohnte.

Ein Schloß war das kleine ziemlich verfallene Gebäude nicht zu nennen. Die steile Treppe die zum niedern einzigen Stockwerk führte, war eng und die Stufen der steinernen Stiege von der man in den Keller gelangte feucht und ausgetreten. Die Zimmer hatten wenig Licht – indessen ein geräumiger Hofplatz hinter dem Hause mußte die vielen Mängel des kleinen Besitzes ausgleichen, da er dem Gewerbe der Eigentümerin zu Statten kam, denn die Witwe Jakob war Wäscherin und Marie ihre Tochter unterstützte die Alte redlich in ihrer Arbeit. Obwohl der Kundenkreis der Jakob ein ausgedehnter war, bewältigten die beiden Frauen ihr Geschäft allein und nahmen nur hin und wieder eine Aushilfe an. Mutter und Tochter lebten ziemlich zurückgezogen und hielten sich fern von allem bei so engem Zusammenwohnen leicht vorkommenden Nachbarklatsch. Dagegen waren sie zu jedermann freundlich und gefällig und sowohl bei den Kunden der sauberen Arbeit halber als auch bei den Bewohnern des Viertels beliebt, in dem fast jeder den andern kannte. Die Witwe Jakob galt allgemein als wohlhabend; sowohl die alte Frau als auch Marie hatten wenig Bedürfnisse und letztere äußerte wiederholt, daß sie weit mehr auf ein paar Taler in der Ecke sehe, als auf Putz und Tand. Einige annehmbare Bewerber waren von dem Mädchen mit der Erklärung abgewiesen, daß sie zum Heiraten noch Zeit genug habe und vorläufig noch der Mutter als Stütze zur Seite bleiben wolle. –

Der 7. Mai 1854 war ein Sonntag und ein sonnenheller Frühlingstag obendrein. Die zwei Frauen Jakob hatten die Nachmittagsstunden zu einem kleinen Ausflug benutzt und kamen mit dunkelwerden heim, Mutter und Tochter in hellem Sonntagskleid, – beide vergnügt mit einander plaudernd. – Ein paar Schritte vor ihrem Hause hielt sie ein älterer Mann mit freundlicher Frage »wohin sie gemacht?« an. Es war der unmittelbare Nachbar der Witwe, der Drechslermeister Vernimb, ein wohlberufener Bürger und Familienvater, die mit der Jakob in freundlichem Verkehr stand und außerdem zu den Kunden der Wäscherin zählte. – Die Frauen gaben dem Nachbar Bescheid und Marie fügte noch lachend hinzu, daß sie bald die Sonntagsherrlichkeit abzustreifen gedenke, da sie den freien Abend benutzen wolle um den rauchenden Ofen im ersten Stock des Hauses gründlich auszuputzen, auf dem sie die Bügeleisen erhitzte. Man plauderte noch ein paar Worte, – Meister Vernimb ging seines Weges und Marie Jakob schloß die Tür des Hauses auf, – die Frauen betraten ihr bescheidenes Heim, – sie sollten es lebend nicht wieder verlassen.

Vorsichtig wie Mutter Jakob es stets zu halten pflegte, legte die Frau die Kette in den Riegel des Haupteingangs; dann legte sie die guten Kleider ab und begab sich in die Küche das Abendessen zu bereiten. Als das Mahl fertig war, stellte sich auch Marie im Hausrock ein, – Mutter und Tochter speisten, dann blieb die Witwe in der Küche, um zu spülen, während das Mädchen sich in den Oberstock begab, den widerspenstigen »schwarzen Gesellen« einer gründlichen Reinigung zu unterziehen.

Es war dunkel darüber geworden; die nur schwache Gasbeleuchtung des Breitengangs warf nur spärliches Licht über den nächsten Umkreis, – in den Häusern brannte längst die trauliche Lampe, meist noch der Docht mit Oel getränkt, denn erst in den sechziger Jahren fing das Petroleum an sich seine Bahn durch die weite Welt zu brechen. – Im Erdgeschoß des Jakob'schen Hauses war alles dunkel, – denn die Küche in der sich die Witwe aufhielt lag im hinteren Teil, – im Stock aber schimmerte ein schwacher Schein, – das Licht einer Talgkerze leuchtete zur Arbeit der Tochter des Hauses, – da ihre Mutter die Lampe benutzte.

Es mochte etwa 9 einhalb Uhr sein als es an der Tür des Jakob'schen Hauses pochte. – Ein fünfzehnjähriger Bursche stand vor dem Eingang, ein Bündelchen im Arm und heischte Einlaß. Aber keines drinnen willfahrte ihm – er pochte wieder und wieder, bis die über das ungebührliche Lärmen am Sonntagabend ärgerlichen Nachbarn an die Fenster kamen und den Jungen zur Rede stellten, der berichtete, er sei Lehrling des Büchsenmacher Meyer, eines Kunden der Wäscherin und von seiner Meisterin beauftragt, einen Bündel Wäsche an die Frau Jakob abzugeben, aber obgleich sie doch zu Hause sei weil oben Licht brenne, mache man ihm nicht auf. Eine Frau bedeutete dem Burschen, daß die beiden Jakob wohl zu Hause sein möchten, aber wahrscheinlich schon in bequemer Nachtkleidung, keine Lust bezeigten noch so spät abends Bestellungen anzunehmen; der Bringer möge nur am andern Tag mit der Wäsche wiederkehren und jetzt das nutzlose und störende Klopfen unterlassen. Verdrießlich zog der Bote ab, – die Nachbarn zogen sich zurück und in die friedliche Stille der warmen Frühlingsnacht leuchtete das Licht aus dem unverhüllten Fenster des Jakob'schen Hauses. – Und das Licht brannte noch in der Frühe des nächsten Morgens, da die Männer und Frauen der Nachbarschaft an ihre Tätigkeit gingen, – wer dachte sich dabei etwas besonderes, – Mutter und Tochter, die fleißigen, vielbeschäftigten Arbeiterinnen, waren eben noch früher aufgestanden. – Und doch als es heller ward und ganz taghell, da schimmerte es noch immer hinter den kleinen Scheiben, – sollte jemand in der Wohnung krank geworden sein? Man hatte auch weder Mutter noch Tochter das Haus zu gewohnter Zeit verlassen sehen um das Brod zum Morgenkaffee bei dem nahen Bäcker zu besorgen. Eine Nachbarin wollte sich überzeugen, – sie fand die Tür verschlossen, – sie pochte und pochte wieder, andere Leute kamen hinzu, – man rief laut die Namen der Witwe und der Tochter, alles blieb stumm und geisterhaft blinkte das Licht oben in den hellen Frühlingstag hinein.

Eine Art von abergläubischem Grauen ging durch die vielköpfige Versammlung; ein jeder fühlte die Schwere eines noch unbekannten, aber hoch bedeutsamen Ereignisses.

Die Kunde davon verbreitete sich mit Blitzesschnelle über die ganze Gegend und gelangte natürlich auch rasch zur Kenntnis der Polizei. Zwei Beamte wurden sofort an den verdächtigten Ort gesandt, sie hatten im Voraus einen Schlosser mitgebracht. Als auch den Vertretern der Behörde nicht geöffnet ward, tat er was seines Amtes und erbrach die verschlossene Tür, deren Schlüssel nicht im Schlüsselloche stak, also sicher von außen verschlossen sein mußte.

Man brauchte nicht weit zu gehen um zu der Ueberzeugung zu gelangen, daß hier ein schweres, blutiges Verbrechen begangen war. Schon wenige Schritte hinter der Haustür lag der entseelte Körper der Wittwe, – völlig angekleidet, – aber der Schädel der alten Frau war sichtlich mittels eines wuchtigen Instruments eingeschlagen und der Nacken wies die Spuren von Messerstichen, – Frau Jakob war einem Morde zum Opfer gefallen.

Doch wo war Marie die Tochter? Nicht in der Küche, nicht im oberen Stock fand sich eine Spur des Mädchens. Hier oben schien alles still und friedlich, – aber es schien, als sei die fleißige Helferin im mütterlichen Hause plötzlich in der Beschäftigung unterbrochen worden, von deren Vornahme sie am Abend zuvor dem Nachbar, Meister Vernimb erzählt hatte, – der zu putzende Ofen schien kaum zur Hälfte in den dabei stehenden Eimer entleert, – das ungelöschte Licht, das nun mit leisem Zischen sein Ende erreichte, kündete auch eine unheimliche Geschichte und nun bemerkte einer der Polizeibeamten, daß ein in der Ecke stehender Pult gewaltsam erbrochen war, – nicht minder die Lade und Kommode im anstoßenden Schlafzimmer der Frauen, deren Betten unberührt mit den sauberen Decken behangen dastanden.

Zugleich kündeten Rufe von unten ein neues fürchterliches Ergebnis. Hatte man auch amtlicherseits sofort den Eingang gegen die unablässig zuströmende Menschenschaar abgesperrt, so ließ sich doch nicht verhindern, daß sich im ersten Augenblick des Betretens des Innern das Haus mit zahlreichen Personen aus der Nachbarschaft angefüllt hatte. Einer derselben, ein ehrsamer Schneidermeister, war an der Hinterseite der Flur die in tiefem Schatten lag ausgeglitten, ein feuchter Fleck auf dem Estrich war die Ursache, – bei näherer Untersuchung zeigte sich dieser Fleck als eine Blutlache, von ihr sickerte ein feiner Strahl die zum Keller des Hauses führende Stiege entlang und unterhalb der letzten lag regungslos der Körper der Marie Jakob, aus dem gleich wie bei ihrer Mutter längst das Leben entflohen war. Auch an ihrem Haupt zeigte sich die klaffende Wunde, zweifellos von der Gewalt eines Hammers herrührend, wie bei der Witwe zeigten auch Hals und Nacken die Spuren zahlreicher Messerstiche. – Ein blutbeflecktes Messer lag bei dem Leichnam der alten Frau, – es konnte möglicherweise zur Entdeckung des Mörders führen, – aber schon der nächste Augenblick vernichtete diese Annahme, der blutbefleckte Stahl gehörte zum Haushalt der Ermordeten, – ihr eigner kleiner Besitz hatte ihnen die eigene Todeswaffe liefern müssen.

Und doch war diese Meinung wie wir sehen werden, eine irrige.

Die sofort an den Tatort gerufenen Beamten der höheren Kriminalpolizei, vor allem der bewährte Oberpolizist Tittel (das Institut der Staatsanwaltschaft war zu jener Zeit in Hamburg noch nicht eingeführt) hatte sich natürlich schleunigst am Ort der grausen Tat eingefunden. Sie ließen sofort das Haus von allen nicht dort dringlich nötigen Personen säubern und unterzogen die Räume einer nochmaligen Untersuchung, die natürlich noch weit peinlicher als die erste vorgenommen ward. Und jetzt stellte man nicht nur den mit dem Mord verbundenen Raub fest, der sicher die Ursache des Verbrechens gebildet hatte, sondern man fand auch in einem Winkel der Flur ein zweites Messer, – diesmal ein fremdes, – über und über mit Blut bedeckt. – Außerdem aber hob der rastlos spürende Oberbeamte ein gleichfalls mit Blut besudeltes Männervorhemd vom Estrich empor. War dies Stück, im Hause einer Wäscherin ja nichts ungewöhnliches, nur durch Zufall an den Fundort geraten oder hatte es auch seine Rolle in dem blutigen Drama gespielt, – ein stummer Zeuge, das aber menschlicher Scharfsinn und das Walten der höheren Gerechtigkeit vielleicht zu einem sehr beredten zu machen im Stande war?

Das Leichenbegängnis der beiden Opfer fand am Dienstag nach der sonntäglichen Mordnacht statt. Die Teilnahme der Bewohnerschaft Hamburgs von den höchsten Kreisen an bis zu den schlichtesten war eine unerhörte. Tausende und abertausende von Zuschauern bildeten Spalier in den Straßen durch die der unabsehbare Leichenzug dahin wallte, dessen Mittelpunkt die beiden Leichenwagen bildeten, auf denen die im Leben so eng verbundenen Frauen zum gemeinschaftlichen Grab geführt wurden. Aller Häupter entblößten sich bei ihrem Nahen, aber aus mehr als einem Munde brach sich das Herz in Verwünschungen gegen den oder die elenden Mordbuben der grausen Tat gewaltsam Bahn.

Unter den zahlreichen Nachbarn die den beiden stillen allbeliebten Frauen das letzte Geleit gaben, fehlte natürlich auch der biedere Drechslermeister Vernimb nicht. Sein Altgeselle hatte sich mit ihm dem Zuge angeschlossen und an der Seite des schon älteren ruhigen Mannes schritt ein junger Geselle, der gleichfalls zur Werkstatt und zum Hause des Handwerksmeisters in Beziehung stand. Sein Name war Wilhelm Timm, – er zählte neunzehn Jahre. Von mittlerer Größe und kräftig gebaut, bartlos mit schlicht anliegendem, kurz geschnittenem Blondhaar machte der junge Mensch gar keinen üblen Eindruck und hatte sich bis dahin wissentlich auch nichts schlechtes zu schulden kommen lassen. Freilich war ein Hang für Vergnügungen und gewisse Ausschweifungen schon früh an Timm zu bemerken gewesen und hatte manchen ehrbarer denkenden Altersgenossen von seinem Umgang zurückgehalten. Er selber schien auf engeren Verkehr sobald die Persönlichkeit desselben nicht seinen Zwecken entsprach, wenig Wert zu legen, nur mit dem Schuhmachergesellen Heinrich Bonneck, einem jungen Schwaben, schien sich in letzter Zeit ein engeres Band knüpfen zu wollen, um das sich indessen mehr der Suchende als der Gesuchte bemühte.

Wilhelm Arnold Timm war der Sohn einer klein-bürgerlichen Witwe, einer braven Frau, die ihren Kindern unter eigener Entbehrung eine gute Erziehung zu geben bemüht war. Die ganze Familie Timm zeichnete sich durch Biedersinn und Strebsamkeit aus und stand im besten Ruf. – Nach seiner Konfirmation kam Wilhelm zu einem Drechslermeister und nach dort überstandener Lehrzeit als Junggesell in die Werkstatt des Meisters Vernimb, in dessen Hause der junge Mann auch zugleich Wohnung und Kost genoß.

Mit jenem verhängnisvollen Sonntag ging indessen Timms Verhältnis zu Vernimb zu Ende. Ohne daß hüben oder drüben ein Zerwürfnis oder ein triftiger Grund vorlag hatte er dem Arbeitgeber gekündigt. Wie er diesem mitteilte hatte er in nächster Zeit eine einbringlichere Stellung in Aussicht und gedachte bis dahin auf eigene Faust zu arbeiten. Sein Bruder der verheiratet, eine kleine eigene Wohnung hatte, wolle ihn kostenlos beherbergen und er bitte nur um Erlaubnis noch bis zum 9. Mai seine bisherige Schlafkammer benutzen zu dürfen, da sein Quartier bei dem Verwandten erst dann für ihn frei werde, – ein Verlangen das Meister Vernimb gern gewährte.

Am Morgen nach der Bluttat im Nachbarhause erschien Timm in der Werkstatt seines früheren Meisters und suchte die Erlaubnis nach eine kleine Arbeit auf der Drehbank vollenden zu dürfen, was ihm natürlich nicht abgeschlagen ward. – Man merkte weder an der Miene noch an dem Wesen des jungen Burschen etwas besonderes, nur daß er etwas bleich und abgespannt aussah; als man ihn damit neckte, erzählte er den beiden anwesenden Gesellen lachend, daß er am vergangenen Sonntag Abend schon frühzeitig in ein Freudenhaus geraten sei und dort die ganze Nacht zugebracht habe. Er selber lenkte dann das Gespräch auf den schändlichen Mord im Nachbarhause, dessen Bewohnerinnen ihm natürlich genau bekannt gewesen waren. Auf dem Heimweg aus dem nächtlichen unlauteren Quartier war er seinem früheren Lehrherrn, dem Drechslermeister Goldschmidt begegnet und hatte aus dessen Munde die Kunde des Geschehenen vernommen. In heftigen Worten drückte er seinen Abscheu über die Bluttat aus und verwünschte den oder die Mörder. Wie er meinte, könne die Beute der Schurken gar nicht so groß gewesen sein, daß sie einen Doppelmord lohne, – denn nach seiner Ansicht habe man den Wohlstand der Witwe Jakob weit überschätzt.

Auch an dem Begräbnis der beiden Opfer nahm, wie schon oben mitgeteilt, Wilhelm Timm teil. Schwarz gekleidet, mit allen Zeichen der Ergriffenheit, folgte er den Leichenwagen bis zum Kirchhof und den von Blumen überdeckten Särgen bis zur Gruft, – zustimmend neigte er das Haupt, als der die Leichenrede haltende Priester zu der allwaltenden Gerechtigkeit Gottes flehte, der furchtbaren Bluttat schon auf Erden die verdiente Sühne angedeihen zu lassen.

Und die Mühlen Gottes, die langsam mahlen aber sicher, bereiteten schon die irdische Sühne vor, – schon stand vor den Augen weniger Wissenden auf des ahnungslosen Mörders Stirn das Blutzeichen und dieser Mörder hieß Wilhelm Timm. –

Sofort nach der Entdeckung der furchtbaren Tat ward die ganze Nachbarschaft der Ermordeten auf die Polizei geladen um alles mitzuteilen, was irgendwie zur Aufklärung des geheimnisvollen Verbrechens dienen konnte, – denn es ward angenommen, daß es von einer oder mehreren Personen verübt worden sein mußte, denen die innere Einrichtung des Jakob'schen Hauses nicht fremd war. Dieses Verhör verlief völlig resultatlos, – es wurde nur konstatiert, daß das vorgefundene Messer zu der Einrichtung der kleinen Familie gehörte. – Aber noch an demselben Tage erfolgten neue Vorladungen diesmal in weit beschränkterem Umfang. Man hatte auch das zweite blutbefleckte Messer gefunden und zugleich das schmutzige Männervorhemd, das einzige Wäschestück, daß entgegen der Gepflogenheit der ordnungsliebenden Frauen sich am Boden herumtrieb und nicht in der zur Aufnahme der zu reinigenden Wäsche bestimmten Körbe sich befand.

Unter den Neugeladenen befand sich natürlich als nächster Nachbar des Jakob'schen Hauses Meister Vernimb. Wie die übrigen Zeugen fand auch die Vernehmung seiner Aussagen ausschließlich in Gegenwart der die Untersuchung führenden Beamten und dessen Aktuar statt, so daß nichts von dem Ergebnis der Verhandlungen in die Oeffentlichkeit zu dringen vermochte. Selbst bei ganz unwesentlichen Mitteilungen ward den betreffenden Personen die Pflicht des strengsten Schweigens auferlegt, verschiedene sogar eidlich dazu verpflichtet. Wenn dies auch bei Meister Vernimb geschah so hatte es nicht den Grund, daß man der Zunge des ehrsamen allgeachteten Mannes mißtraute, sondern weil er es war, dessen Aeußerung den ersten Lichtstrahl in die dunkle Nacht des Verbrechens ergoß. Es ward dem Zeugen das zweite gefundene Messer vorgelegt, dessen Ursprung keinem der bisher erschienenen bekannt war – und schaudernd, aber mit voller Bestimmtheit bezeichnete Vernimb die Waffe des Mörders die dem Dasein der harmlosen Frauen das blutige Ende bereitet, an dem noch das getrocknete Blut der beiden Opfer klebte, an untrüglichen Zeichen erkennbar als eines der eigenen Messer, die in größerer Anzahl in einer Lade seiner Werkstatt lagen und selbstverständlich höchst selten nachgezählt wurden.

Aber die Berufung des Meisters ergab noch ein weiteres Resultat. Bei Ansicht des ihm zu Augen gebrachten Vorhemds sprach der ehrenhafte Mann die feste Ueberzeugung aus, daß es einem der in seinem Hause befindlichen Gesellen gehören könne und zwar, fügte er hinzu, wie von einer Eingebung getrieben, dem bis zum Tag des Mordes in seiner Werkstatt tätigen Wilhelm Timm. –

So lastete denn bereits der Schatten des furchtbaren Verdachts auf dem jungen Burschen und keinen gab es, der ihn benachrichtigte, keinen guten Freund der ihn warnte, denn in seltener Uebereinstimmung, im Gedanken an die Furchtbarkeit des zu sühnenden Verbrechens herrschte unter der kleinen Anzahl der näher in das Geheimnis gezogenen Personen ein unverbrüchliches Schweigen, was die Aufgabe der Behörde bedeutend erleichterte. Nicht allein von heimlichen Organen der Polizei, auch von mit dem Verdächtigen in Berührung kommenden Privatpersonen ward Timm auf Schritt und Tritt beobachtet und überwacht.

Durch einen Beamten in bürgerlicher Tracht war in ganz unauffälliger Weise eine Beziehung zu dem Schuhmachergesellen Bonneck gewonnen und der junge Mensch ganz unerwartet dem untersuchenden Richter zugeführt worden. Er gab sofort zu, mit Wilhelm Timm in einem gewissen freundschaftlichen Verkehr zu stehen, versicherte aber zugleich, daß er schon längst bestrebt sei dieses abzubrechen, da die Gesinnungsart des jungen Menschen der seinen völlig widerspräche. Obwohl dies der Behörde schon bekannt und der Vernommene als braver Mensch und geschickter Arbeiter bekannt war, auf dem nie ein Makel gelastet, so ward er doch dringend von dem Richter gebeten, wenigstens vorläufig den Umgang mit Timm noch zu unterhalten und genau auf seine Handlungen Acht zu geben. – So sehr auch die Rolle eines »Aufpassers« dem wackeren Burschen widerstreben mochte, so fügte er sich schließlich doch dem Verlangen der Behörde, als ihm klar gemacht wurde, daß es sich hier um ein Werk der Gerechtigkeit handle, um Entdeckung und Sühne einer furchtbaren Bluttat, und daß nach geglückter Enthüllung des Frevlers der Name des Helfers von jedem Verdacht amtlich gereinigt, öffentlich ehrenvolle Erwähnung finden solle.

Und in der Tat war es eben Bonneck durch den der bis dahin schwebende Verdacht gegen Wilhelm Timm zur greifbaren Wahrheit sich gestalten sollte.

Einige Tage vor dem Morde hatte der junge Drechslergeselle dem Freunde ein paar Stiefel zum Vorschuhen in Arbeit gegeben. Bei der Bestellung war aus seinem Munde die Aeußerung gefallen er wolle pünktlich und auf das feinste bedient sein, dafür aber auch pünktlich und auf das feinste bezahlen. Drei Tage nach der Bluttat überbrachte der Schuhmacher die fertige Arbeit an Timm der bereits sein neues Quartier bei dem Bruder bezogen hatte. Der Besteller lobte die Arbeit, erklärte aber, als der Schuhmacher um die versprochene pünktliche Bezahlung bat, augenblicklich kein Geld in seiner Wohnung zu haben. Ein Bekannter von ihm sei ihm indessen eine größere Summe schuldig, die er jederzeit abheben könne. Er forderte Bonneck auf bis er diese geholt zu verweilen und unterdessen ein Glas Wein zu trinken; die Sache sei rasch abgemacht, da der Schuldner in der Nähe wohne und wie er wisse um diese Zeit zu Hause sei.

Der Freund stimmte scheinbar dem Vorschlag zu; er ließ sich behaglich nieder und schenkte sich ein Glas aus der von Timm vor ihn hingestellten Flasche Wein ein, – aber kaum hatte er durch das Fenster den Verdächtigten das Haus verlassen sehen, als er ihm heimlich nachschlich und sah wie dieser seine Schritte dem sog. Walle zulenkte, zu dem ganz nahe der Wohnung eine hohe steile Treppe hinanführte. Die heute noch bestehenden Anlagen, die sich eine lange Strecke entlang ziehend, nun teilweise geebnet, einen Teil der Innenstadt durchschneiden, bezeichneten früher die Grenze derselben, da die alte Hansastadt noch befestigt war. Nach dem französischen Kriege des ersten Napoleon wurden die Mauern der Stadt geschleift, die Gräben zugeworfen und die Wälle in Anlagen umgewandelt, die von der hochliegenden Neustadt sich mälig in die Altstadt senkten. Ohne Verdacht, daß ihm jemand folge, schritt Timm vorwärts, stand aber plötzlich still, – sofort verbarg sich der ihn Beobachtende hinter dem nächsten Baum, – früh genug, ehe der Freund sich umblickte. Er sah keinen Menschen, – hastig trat er an ein Gebüsch heran und beugte sich zum Boden mit den Händen tief in den Sand wühlend, – Bonneck wußte genug, – erhielt er nun das ihm von Timm geschuldete Geld, kannte er die Quelle der es entstammte.

Geräuschlos, von dem Verfolgten unbemerkt, glitt der Schuhmacher aus der Nähe des bedeutsamen Ortes und eilte in das Quartier Wilhelm Timms zurück. Fast eine Viertelstunde verstrich ehe sich der Bewohner wieder einfand. Er traf Bonneck wohlgemut am alten Platz, – die Flasche Wein war halb geleert; daß es dem braven Burschen nicht möglich gewesen war auch nur einen Tropfen des roten Rebensaftes herunter zu bringen und er das in der Flasche fehlende auf die Straße geschüttet, – konnte Timm nicht ahnen, – noch weniger, daß der angeblich auf sein Wiederkommen harrende Freund genau von dem Ziel seiner Wanderung unterrichtet war.

Mit prahlerischer Gebärde zog der Heimkehrende eine Hand voll preußischer Taler aus der Tasche und ließ den Rest des mitgebrachten Geldes darin klirren. In reichlicher Weise bezahlte er davon den Bonneck, – der Geselle mußte sich zwingen, mit gleichgiltiger Miene den empfangenen Betrag einzustecken, – an einzelnen Stücken klebte feuchte Erde, – dem braven Menschen war es zweifellos, daß seine Hand Blutgeld faßte, – aus der Beute des schnöden Mordes, die der Täter an sicher dünkender einsamer Stätte vergraben hatte.

Er blieb noch eine kurze Weile mit Timm zusammen, dann entfernte er sich unter einem triftigen Vorwand. So lange er den Blicken des Verdächtigen ausgesetzt war nahm er den Gang eines harmlos Dahinschreitenden an, – dann aber beschleunigte er seine Schritte und wenige Minuten später befand er sich auf dem Bureau der Kriminalpolizei, wo er sofort seine Entdeckung zugleich mit den Beweisen derselben niederlegte. Man tauschte dem wackeren Helfer, der jedes »mehr« standhaft ausschlug die unheimlichen Münzen gegen reinliches Geld aus, ermahnte Bonneck aber, mit keiner Miene, mit keinem Wort seine Stellung zu Timm zu ändern noch, gegen irgend wen etwas über den bedeutsamen Vormittag verlauten zu lassen. Denn selbst aus die hier gelieferten zwingenden Verdachtsgründe hin wollte die Behörde gegen den vermeintlichen Mörder amtlich noch nicht Vorgehen, – er sollte sich noch tiefer in den eigenen Netzen verfangen. So eng war der ehemalige Geselle Meister Vernimbs übrigens überwacht, daß ein Entrinnen aus der Hand der Justiz gar nicht denkbar war, sobald diese es für nötig hielt sie nach ihm auszustrecken.

Ein Geheimpolizist hatte seine Bekanntschaft gemacht und besuchte mit ihm Wirtschaften aller Art, meist zweideutige, – bei diesen Ausflügen verbrauchte Timm viel Geld, – es waren stets harte Taler, mit denen er zu zahlen pflegte. Auf die scherzhafte Frage seines Begleiters und anderer Anwesenden, ob der junge Gesell, der eben nichts schaffte vielleicht das große Loos gewonnen habe, erwiderte er, daß sein Bruder, von dem er alles haben könne, ihm eine Summe auf künftigen Verdienst hin vorgeschossen habe. – Zum erstenmal griff jetzt die Polizei ein. Eine Anfrage, bei dem völlig unverdächtigen Bruder Wilhelms, einem achtbaren Handwerker, ergab, daß der Arbeitslose allerdings eine Anleihe bei dem nächsten Verwandten erbeten und dieser ihm 10 Mark Hamburger Courant (gleich 4 Taler) vorgestreckt habe, während die Ausgaben des jungen Menschen weit höhere Posten ergaben. – Jetzt endlich ward die Hauptperson des blutigen Dramas zur Verantwortung auf das Gericht zitiert. Wilhelm Timm erschien völlig unbefangen. Die Frage nach der Herkunft des von ihm verschwendeten Geldes erklärte er erst, daß er einen Beutel von der Straße aufgehoben, den ein vor ihm gehender völlig betrunkener Auswanderer verloren habe. Aber diese Angabe fand wenig Glauben bei dem Richter und flugs war Timm mit einer andern zur Hand. Ein unbekannter Herr, dem er nicht näher zu beschreibende Gefälligkeiten geleistet, sollte der großmütige Spender gewesen sein. Natürlich wußte die Behörde, daß der »unbekannte Herr« ebensowohl ein leeres Gebilde sei als der betrunkene Auswanderer, – der untersuchende Richter schellte, – eine Anzahl Gerichtsdiener erschienen im Verhörzimmer und ehe sich Timm von seiner Bestürzung zu erholen vermochte, befand er sich in wohlverwahrter Zelle unter ständiger Aufsicht zweier Wärter.

Auf's neue vor Gericht geführt versuchte er anfänglich den über eine Beschuldigung des Raubmordes empörten Unschuldigen zu spielen, – allein die Beweise seiner Tat, – das blutige Messer aus dem Besitz seines früheren Meisters, das ihm gehörende Vorhemd das man neben der Leiche der Ermordeten gefunden, das vergrabene, jetzt an's Licht gezogene Geld, das übrigens schon zu einem winzigen Betrag zusammengeschmolzen war, – seine erwiesene Kenntnis des seinem Quartier bei Meister Vernimb benachbarten Hauses der Familie Jakob, – das alles ergab so erdrückende Beweise, daß aller Widerstand unter ihrer Wucht zusammenbrechen mußte. Schon am zweiten Tag nach seiner Verhaftung entrang sich das Geständnis den zuckenden Lippen des Verbrechers: »Macht mit mir was ihr wollt, – ich hab's getan!«

*

Die Gerichtsverhältnisse der freien Stadt Hamburg waren bis zur Einführung der neuen Gesetzgebung und Justizpflege des deutschen Reiches ganz eigener Art. Sie kannten keine Geschworenen, keine Schöffen, keinen Staatsanwalt. In Kriminalfällen fanden die Verhandlungen vor dem sog. »Niedergericht« statt, einer Vereinigung von Rechtsgelehrten. In wichtigen Fällen hatte ihr Spruch der Entscheidung des »Obergerichts« zu unterliegen und dann mußte diese meist noch vom »hochweisen Senat« bestätigt werden. Es war dies ein langsamer und förmlicher Instanzenweg, der zuweilen wichtige Prozesse in auffallend langer Frist hinziehen konnte.

So erging es der Timm'schen Sache. Am 10. Juni hatte er dem die Untersuchung wider ihn führenden Richter sein Geständnis abgelegt, aber erst am 28. August war die erste öffentliche Verhandlung des Niedergerichts anberaumt, die in solchen Fällen nur eine Form, nämlich die Wiederholung des bereits Ausgesagten zu sein pflegte, – aber hierdurch rechtskräftig wurde.

Der größte Raum des damaligen Rathauses, eines altertümlichen Gebäudes der Admiralitätstraße, das in neuer Zeit durch einen Prunkpalast im Mittelpunkt der Stadt ersetzt ist, reichte nicht hin, die Schaaren der Andrängenden zu fassen, die Zeugen der bedeutsamen Verhandlung zu sein wünschten. Die Stimmung der Hamburger Bevölkerung gegen den Mörder war die denkbar erbittertste. Man sah sich genötigt, den Wagen der den Gefangenen unter der Bewachung von drei Polizisten zum Rathause führte, vor einer unscheinbaren Hinterpforte Vorfahren zu lassen um den Insassen vor etwaigen Ausbrüchen der Wut von Seiten der Menge zu entziehen.

Ungefesselt, aber in jeder seiner Bewegungen überwacht, betrat der Angeschuldigte den Gerichtsraum. Den Hintergrund des Saales füllte eine Estrade, zu der zwei Stufen führten. Hier saß hinter schwarz verhangenem Tisch das Richterkollegium, – in schwarzer Kleidung, – die heute übliche Amtsrobe war damals noch nicht eingeführt.

Wilhelm Timm sah infolge der Haft etwas bleich aus, zeigte aber keine Spur von seelischer Erregung oder körperlicher Gebrochenheit. Ganz ruhig als ob es sich um die Sache eines dritten handle erzählte er den lautlos zuhörenden Anwesenden »seinen Fall.«

Kaum dem Knabenalter entwachsen galt dem Drechslerlehrling und späteren Gesellen der Genuß des Lebens als höchster Zweck des Daseins und kein Mittel seiner Leidenschaft zu fröhnen erschien ihm verwerflich; freilich standen ihm selten die dazu nötigen Mittel zu Gebote – das empfand er besonders schmerzhaft in jener Zeit da seine Dienstzeit bei Meister Vernimb zu Ende ging. Mehrfach hatte er nachgesonnen wie seine Verhältnisse aufzubessern seien, – da fiel ihm eines nachts ein, daß seine Nachbarinnen Mutter und Tochter Jakob als wohlhabend bekannt, ganz allein in ihrem Hause lebten und sicher etwas bei ihnen zu holen sei. Nur zwei Tage bedurfte es, um den keimenden Entschluß zur vollen Reife zu gestalten. An jenem verhängnisvollen Sonntag Abend, eben da die harmlosen Nachbarinnen von ihrem kleinen Ausflug heimkehrten, war er mit sich selber einig geworden. Er wußte im Voraus ganz genau, – es handelte sich hier nicht um einen Diebstahl, nicht um einen gewaltsamen Raub, – es galt hier einem Mord, – nein einem Doppelmord sogar – und daraufhin traf der Verbrecher seine Vorkehrungen. Gegen neun Uhr abends als es bereits dunkel geworden war schlich er in die leere Werkstatt des Meister Vernimb, nahm aus derselben einen Hammer und aus der ihm bekannten Lade eines der darin liegenden Messer. Hierauf ging er in seine Kammer und holte ein gebrauchtes Vorhemd, das er zu sich steckte, mit dem Vorwand sich unverdächtig Einlaß, im Hause der Wäscherin zu verschaffen, die ihn als Nachbar kannte und bereits für ihn gewaschen hatte.

Nicht geradenwegs ging er zum Ziel, – der Abend war ihm noch nicht weit genug vorgeschritten und sein Gang von Haus zu Haus konnte leicht gesehen werden. Vorerst begab er sich in einen Schnapskeller um sich zu der bevorstehenden »Arbeit« zu stärken, – dann wanderte er langsam den Weg wieder zurück und stand nun vor dem Ziel seines blutigen Plans. – Er blickte sich spähend nach allen Seiten um, – kein Mensch war zu sehen, kein lästiger Zeuge etwa an einem Fenster der Nachbarhäuser sichtbar. Im Erdgeschoß der Jakob'schen Wohnung schien alles dunkel, – hinter den Scheiben des Oberstockes schimmerte es matt, – es war das Licht das Marie Jakob angezündet hatte um ihr beim Ofenputzen zu leuchten, das Licht das fortbrannte oberhalb der Leichen von Mutter und Tochter, in gespenstigem Schein, – die Totenkerze der Frauen Jakob.

Mit fester Hand öffnete er die zu dem Hausflur führende Eingangstür, – eine Klingel schlug leise an, – aber nur bis zu einer Spalte öffnete sich der Flügel, – die Tür war durch die sorgsam vorgehängte Kette versperrt. – Nun kam die alte Frau aus der Küche, sie trug die kleine Lampe in der Hand und fragte nach dem so spät Kommenden und seinem Begehr. Timm gab sich zu erkennen und bat ein Vorhemd zur Wäsche am nächsten Tag annehmen zu wollen, da er dasselbe dringend so bald als möglich gebrauchen wolle.

Mutter Jakob hatte nicht den mindesten Grund, dem ihr wohlbekannten Gesellen des Nachbarn den Einlaß zu verweigern. Sie streifte die Kette ab, der Eingang war frei, Wilhelm Timm schritt über die Schwelle des Hauses, – mit ihm der Tod.

Dicht hinter dem Eingang den er sorgsam wieder schloß, stand die Witwe, – auf sie, wie auf den ihr Entgegentretenden fiel der Schein des Lämpchens, das ihre Rechte hielt. Timm sprach kein Wort, mit zwei gewaltigen Schlägen des mitgebrachten Hammers traf er das unbedeckte Haupt der alten Frau, – die Lampe entfiel ihrer Hand, mit dem erstickten Aufschrei: »Hilfe, – Mord!« sank sie zu Boden. Zu der Liegenden beugte sich der Verbrecher, ehe sie einen weiteren Laut äußern konnte, der zum Verräter werden mochte. Er hatte das Messer hervorgezogen und der nun völlig regungslosen Greisin tiefe Schnitte über den Hals beigebracht, – nun war sie stumm, die erste Arbeit war getan. –

»Mutter, Mutter, was ist?« – mit diesen Worten eilte Marie Jakob die Stiege hernieder, die aus dem Oberraum des Häuschens in das Erdgeschoß führte. Aber am Fuß der Treppe stand bereits der Mörder auch des zweiten Opfers harrend. In dem fahlen ungewissen Schein der von außen her durch das Flurfenster drang hatte Timm das Mädchen gepackt und ähnlich wie bei der Mutter ihr ein paar kräftige Hammerschläge versetzt. Doch hier hatte der Verbrecher es mit einem stärkeren Gegner zu tun, – die Tochter Jakob war ein starkes, kräftig gebautes Mädchen. Obwohl betäubt, wehrte sie sich gegen ihren Angreifer; sie hielt ihn fest gepackt und ein Ringen entstand, das sich den Flur bis zur Kellertreppe hinzog. Fast schien es, als ob Timm der unterliegende Teil sein werde, – er fiel und zog das Mädchen mit sich, – da fühlte seine umhergreifende Hand den Stiel des Messers das ihm, nachdem er sein erstes Opfer still gemacht, entfallen war. Er packte es, – noch einmal gelang es ihm mit gewaltiger Anstrengung die sich verzweifelt Wehrende unter sich zu bringen und nun stieß und schnitt er in blinder Wut darauf los, bis sie nach seiner Meinung genug hatte. Aber noch zuckte in dem Körper das Leben in seiner letzten Wallung, konvulsivisch wälzte sich der Körper der Gemordeten auf den Dielen des Flurs, – nun lag er am Rand der Kellertreppe, – noch einmal ein Aufbäumen, dann kollerte er mit dumpfem Geräusch in die Tiefe, – dort unterhalb der letzten Stufe blieb er liegen, – ein Leichnam. Die Tat war vollbracht wie der Vollbringer sie geplant, – Wilhelm Timm war im Jakob'schen Hause allein. –

Mit der Oertlichkeit bekannt, wußte er, daß ein Suchen nach Beute in den unteren Räumen die nur Flur und Küche enthielten nutzlos war. – Nachdem er den im Schlüsselloch der Haustür steckenden Schlüssel umgedreht und damit den Eingang versperrt hatte, stieg er in den oberen Stock hinauf und begab sich in das Wohnzimmer der Frauen. Der Mörder brauchte sich nicht erst ein Licht zur weiteren Ausführung seiner Bluttat anzuzünden, – die Kerze die Marie Jakob zu ihrer Arbeit geleuchtet, leuchtete auch dem Verbrecher zu der seinen. Um sich die Hände zu waschen hatte das Mädchen eine Schale mit Wasser auf den Tisch gestellt und ein Handtuch daneben gelegt, – beides benutzte der Mörder, seine Hände vom Blut zu reinigen. Eben war er damit beschäftigt, da pochte es unten an der Haustür – wie erstarrt wurzelte sein Fuß auf dem Fleck, – die Gefahr der Enthüllung der Tat am Orte selbst schwebte über dem Haupt des Verbrechers.

Der Einlaß heischende war der oben erwähnte Bursche des Büchsenmachers, der mit dem Wäschebündel der Meisterin draußen stand. Timm hörte wie die Nachbarn dem Jungen sagten, am nächsten Tage wieder zu kommen, da sich gewiß die Frauen so spät am Sonntag Abend nicht mehr stören lassen wollten.

Der Bote zog ab, – alles ward wieder ruhig wie vorher und der aufatmende Verbrecher konnte sich nun ungestört nach der Frucht seiner Bluttat umsehen. In einer Ecke stand ein Pult, der Schlüssel stak im Schloß, – seine Meinung, daß sich im Innern desselben Geld befinde, täuschte ihn nicht. Und doch war die Beute bei dem vermeintlichen Wohlstand der Jakob nur eine verhältnismäßig geringe, – etwa 100 Mark Hamburger Courant in preußischen Talerstücken (120 Mk. heutiger Rechnung) – die Witwe hatte ihr übriges Baargeld bei der Sparkasse angelegt.

Baares Geld konnte nicht zum Verräter werden, – nichts weiter als das steckte der Mörder zu sich, dann schickte er sich an, das Haus zu verlassen, als er bemerkte, daß er im Flur bei dem Ringen mit der Tochter Jakob das Messer verloren, mit dem er bei beiden Frauen das Verbrechen vollendet.

Er zündete ein paar Streichhölzer an und suchte, aber er fand es nicht. Rasch entschlossen ging er in die Küche des Hauses, nahm dort ein anderes eben zur Hand liegendes Messer, tauchte es in die Blutlache neben dem entseelten Körper der Witwe und legte es der Gemordeten zur Seite. Er nahm an, wenn sich sofort ein Messer finde sobald die Ermittelung der Behörde begann, daß man gar nicht auf den Gedanken kommen könne, – es sei nicht das Werkzeug der Bluttat und bis später vielleicht das zweite entdeckt wird, verstrich Zeit. –

Das Glück war ihm bis jetzt noch treu geblieben. Unverdächtigt verließ er die Stätte des furchtbaren Ereignisses. Das Haus schloß er mit dem mitgenommenen Schlüssel hinter sich ab, – bald war er aus dem Bereich desselben, – und nun spürte er Hunger. –

In der Nähe befand sich eine Kellerwirtschaft: »Der Pfannkuchenkeller« genannt; das Lokal ward von Arbeitern besucht und war hauptsächlich dem schmackhaften Küchenprodukt der Wirtin halber bekannt, dem es seinen Namen verdankte. Mit voller Gemütsruhe ohne in Miene und Wesen die geringste Erregung zu verraten, aß Wilhelm Timm hier nach Herzenslust zu Abend, unterhielt sich mit der Wirtin und einigen anwesenden Gästen. Dann verließ er den Keller um sich nicht nach Hause, sondern in ein anderes, weniger harmloses Lokal zu begeben. Der Mörder zweier schuldloser Frauen, dessen Hände fast noch warm vom Blut seiner Opfer, suchte ein berüchtigtes Freudenhaus im »Ehebrechergang« (schon der Name ist bedeutsam für die in jener Gasse befindlichen Wirtschaften) auf. Er ließ sich ein Zimmer zu ungestörter Benutzung anweisen und in ruchloser Orgie ward der Rest der Nacht verpraßt. Aus den Steindielen des Jakob'schen Hauses lagen zwei Leichen stumm und starr in ihrem Blute und aus dem Fenster des ersten Stockes schimmerte einsam und gespenstisch das Licht der Kerze in das nächtliche Dunkel hinaus. –

Mit dem Morgengrauen verließ Wilhelm Timm die Stätte gemeiner Lust, bleich und erschöpft, – nicht von dem mahnenden Gedanken seiner Tat, sondern infolge der durchtobten Stunden nach dem Vollbringen derselben. – In nur kurzer Entfernung befand sich die hohe und steile Treppe, die zu dem sog. »Wall«, dessen wir schon vorhin erwähnten, hinan führte. – Alles war hier einsam, kein Mensch störte ihn als er im nächsten Gebüsch die Erde aufwühlte und das nach Abzug seiner Kosten der Nacht ihm verbleibende Geld in die Oeffnung legte, – die er wieder verdeckte mit einem sicheren Merkzeichen versah. – An dieser Stätte war es wo der Schuhmacher Bonneck, ihm heimlich folgend, Zeuge seines Schaffens war. –

Als Timm mit seiner Arbeit zu Ende war, ging er in sein Quartier – legte sich zu Bett und schlief ein paar Stunden lang ungestört den Schlaf des Gerechten.

Zwischen der ersten öffentlichen Verhandlung des Prozesses Timm vor dem Niedergericht in dem dem Gefangenen die Anklage formuliert und Timm die von ihm verübte Tat bis in ihre Einzelheiten bestätigte und der zweiten Sitzung in dem die Verteidigung des Beschuldigten zu Worte kam, verstrichen drei Wochen. Während dieser Zeit befand sich der Angeklagte in enger Haft. Man hatte über sein Betragen nicht zu klagen. Kalt und ruhig ohne Zeichen innerer Bewegung verkehrte er mit seinen Wärtern. Auf richterliche Anfragen gab er kurze aber genügende Auskunft, – ein Besuch seiner Familie ward nicht zugelassen.

An demselben Tage da man den Gefangenen aus der ersten Verhandlung des Niedergerichts in seine Zelle zurückgebracht hatte, erbat sich Timm als Verteidiger einer der schneidigsten Rechtsanwälte der Hansastadt, der sich hauptsächlich als Verteidiger in Kriminalprozessen einen Namen gemacht hatte und besonders von dem Mittelstand zur Wahrnehmung der Rechtsinteressen ausgesucht ward: Dr. Gallois. Schon am folgenden Morgen begab sich der zustimmende Advokat zu seinem Klienten, mit dem er ohne Zeugen verhandeln durfte.

Hier ereignete sich ein ganz besonderer Fall. Zwischen dem Anwalt, einem Manne in den besten Jahren, von gedrungener Gestalt, das Antlitz mit dem klugen Ausdruck, den scharfen, grauen, von einer feinen Brille verdeckten Augen, von einem kurz gehaltenen Vollbart umrahmt und seinem Schutzbefohlenen entspann sich schon nach ganz kurzer Frist ein Verhältnis, das man, klänge es nicht gar zu paradox, beinahe mit dem Ausdruck: »Zärtlichkeit« bezeichnen möchte. Dem Dr. Gallois gegenüber ward Wilhelm Timm warm und gab ihm die vollsten Beweise seiner Anhänglichkeit und seines vollsten Vertrauens; dagegen opferte sich der Advokat für die Sache des überwiesenen Mörders förmlich auf.

Seine Verteidigungsrede, als endlich der Tag des zweiten entscheidenden Termins angebrochen war, bildete in Form und Inhalt ein Meisterstück. Freilich konnten die schönsten Worte von Verführung, Beanlagung und ähnliche Argumente der nackten Tatsache eines eingestandenen Doppelmordes schnöden Raubes willen nichts von ihrer Furchtbarkeit nehmen. Die blutige Tat erforderte hier blutige Sühne, eine andere wäre dem allgemeinen Volksbewußtsein völlig unverständlich gewesen.

Aber erst nach drei Monaten wurde der entscheidende Spruch gefällt, – er lautete auf »Enthauptung durch das Fallbeil.« Nun hatte noch das Obergericht das Urteil zu bestätigen, – aber volle dreiviertel Jahr mußte es dauern, ehe die rasch erfolgte Zustimmung dieses Gerichtshofes rechtsgültig werden konnte, – denn die advokatorische Kunst des Dr. Gallois hatte immer wieder neue Rechtsbeschwerden vorzubringen verstanden, die man, obgleich an sich ganz unbedeutend, doch nicht zurückweisen durfte. – Bei den jetzigen Verhältnissen der Justiz wäre solcher Vorgang kaum denkbar. Aber eines findigen Kopfes Klugheit erschöpft sich nicht so leicht. Als sich gegen den Zustimmungsspruch des höheren Gerichts nichts mehr einwenden ließ, wandte sich der Verteidiger Timms mittels einer Eingabe an das Oberappellationsgericht zu Lübeck, der höchsten Instanz; – in dem betreffenden Schriftstück behauptete er, daß schon bei der Einleitung des Prozesses grobe Formfehler vorgekommen und bat um Aufhebung des ergangenen Urteils und Einleitung einer neuen Untersuchung des Falles. – Gleichzeitig wandte sich Wilhelms alte Mutter mit einem von Dr. Gallois aufgesetzten Gnadengesuch an die Milde des hochweisen Hamburger Senats, daß weder das eine noch das andere Schriftstück eine Abschwächung des gefällten Urteils zu erwirken vermochten, war den Petanten selber – zweifellos bewußt, aber die Verhandlung und Entscheidung des zuständigen Gerichtes über dieselben erforderte abermals Frist. Doch alles muß ein Ende nehmen. Am 26. März 1856 kam der Endspruch des Oberappellationsgerichts heraus; es erklärte die Nichtigkeitbeschwerde gegen die bisherigen Verhandlungen als unbegründet und unpassend. Das Todesurteil der Hamburger Gerichte ward einfach bestätigt. Zugleich mit dieser Entscheidung lehnte der Senat das Gnadengesuch der Witwe Timm für ihren Sohn kurzer Hand ab, – das Schicksal des Mörders war entschieden.

Aus dem Munde seines Anwalts vernahm Wilhelm die endgültige Entscheidung ohne tiefere Bewegung; er erkundigte sich nach dem Datum der Hinrichtung und wurde beschieden, daß die Exekution am 6. April früh morgens im inneren Hof des Zuchthauses vollstreckt werden solle. Einen Tag vorher ward die Guillotine in ihren einzelnen Teilen vom Boden des Zuchthauses herunter geholt, von Zimmerleuten zusammengefügt und fertig gestellt auf ein erhöhtes Gerüst gehoben, zu dem ein paar Stufen hinan führten. Die Hinrichtung sollte entgegen der Gepflogenheit früherer Zeit ohne weitere Zeugen als die amtlich, zur Beiwohnung der Urteilsvollstreckung verpflichteten Personen stattfinden; es waren sogar Vorkehrungen getroffen um den Blick von den Dächern benachbarter hoher Gebäude in den Zuchthaushof möglichst zu verhindern. Gegen Nachmittag des 5. April fanden sich Mutter und Bruder des Verurteilten zum letzten Abschied bei Timm ein. Mit großer Fassung empfing der Delinquent seine nächsten Verwandten, die sich ihrerseits Mühe gaben ihre Erschütterung zu verbergen. Trotz der auf ihm lastenden Blutschuld spendete die Mutter ihren Segen auf das Haupt des verlorenen Sohnes, – Timm wischte sich die Augen, der im Hintergrund der Zelle stehende Wärter sah indessen keine Träne darin.

Weit herzlicher als von seinen Nächsten war das Scheiden des Delinquenten von seinem treuen Anwalt, der nach jenen die Zelle betrat; seinen Bemühungen hatte er als letztes noch zu danken, daß ihm die Eisenfessel abgenommen waren; die Fügsamkeit und Ergebenheit des Verurteilten, der willig jeder Mahnung der Wärter nachkam, befürwortete diese ihm erwiesene Gunst. Timm dankte dem Dr. Gallois in herzlichstem Ton für die Mühe die er sich um eines armen verleiteten Burschen willen gegeben habe, wogegen sein bisheriger Schützer ihm versprach, sich der alten Mutter des Gerichteten freundlich annehmen zu wollen. Mit innigen Worten verwies ihn der Anwalt auf den ewigen Richter, dessen Gnade beginne wo die irdische Sühne ihr Ende gefunden habe. Dann mit einem Händedruck hüben und drüben schied der Verteidiger von seinem Klienten für das Leben.

Nicht wenige Stimmen im Gebiet Hamburgs und weit hinaus über das Weichbild der Hansastadt gab es, die sich in der Meinung erhoben, das Interesse Dr. Gallois für einen ganz gemeinen Raubmörder sei viel zu weit gegangen; er habe die Grenze des »Sachlichen« zu dem ihn sein Beruf verpflichtete, überschritten und geradezu einen persönlichen Anteil an dem von ihm zu vertretenden Verbrecher bewiesen. Es ist dieses Handeln abermals eines der psychologischen Rätsel, die eben heute in den Kreisen ernster Wissenschaft versucht werden gründlich zu lösen und für die früher weder die Juristerei noch die Medizin genügende Erklärung fand.

Ob den älteren Mann die Jugend des Mörders gerührt hatte, ob er sich durch das dankbare zutunliche Gebühren Timms bestechen ließ – wer mag es wissen?

Wer mochte glauben, daß diese Ruhe, diese Fügsamkeit und Bescheidenheit des jungen Menschen nichts als Maske war, die er sofort abwarf als er erkennen mußte, daß sie seinen Zwecken nicht mehr dienen konnte?

Um die sechste Stunde des Nachmittags ward der Verurteilte in ein Zimmer geführt, das zu einer Art Kapelle eingerichtet war. Der Geistliche der Anstalt, Pastor Cropp und ein zweiter Prediger, beide im Ornat ihrer Würde harrten seiner an dem kleinen, zu diesem Zweck errichteten Altar, an dem der aus dem irdischen Dasein Scheidende das Abendmahl erhalten sollte. Knieend empfing Timm den Kelch und die Hostie, mit Andacht folgte er den Ermahnungen der beiden Seelsorger und schien sich gottergeben und glaubensvoll in sein Schicksal gefunden zu haben, das er nun selber als durch seine Schlechtigkeit verdient bezeichnete.

In seine Zelle zurückgebracht verhielt er sich völlig ruhig, – als gegen die neunte Abendstunde sein Aufseher Witt nach ihm sah, klagte er über Durst und bat um ein Glas Bier. Der Wärter dem Anweisung erteilt war, jedem billigen Wunsch des Verurteilten zu entsprechen, entfernte sich und kehrte bald mit einem Krug des schäumenden Stärketrunks zurück. Kaum aber hatte Witt mit seiner Last die Schwelle des Gelasses überschritten, als Timm blitzschnell an ihm vorüberschoß, ihm einen Stoß versetzte, daß der kräftige aber völlig überraschte Mann seitwärts taumelte und durch die halb geöffnet gebliebene Tür der Zelle die er mit dem von außen steckenden Schlüssel versperrte aus den Korridor eilte. Am Ende desselben befand sich wie der Gefangene wußte, eine Vorratskammer, deren unvergittertes Fenster nach einem Seitengäßchen hinaus ging. Der Befreite schlüpfte in diesen Raum, riß einen Flügel auf und sprang ohne jede weitere Vorbereitung durch denselben aus dem ersten Stockwerk des Gebäudes auf das unter ihm befindliche Straßenpflaster des Trottoirs. Aber das kühne Wagestück mißglückte, der Flüchtling war unglücklich gefallen und lag mit gebrochenem Bein auf dem Boden, – ein unwillkürlicher Schmerzensschrei lenkte die Aufmerksamkeit der Anwohner und in der Nähe passierenden Personen auf den Fleck, wo sich das Ereignis abspielte. Gleichzeitig vollführte der eingesperrte Wächter mit Händen und Füßen einen Höllenlärm an der inneren Zellentüre, von allen Seiten eilten die Beamten des Hauses herbei und befreiten den Eingesperrten aus seiner mißlichen Lage, – gleichzeitig aber trug man den vom Straßenpflaster aufgehobenen Flüchtling in das Erdgeschoß des Gebäudes und legte ihn auf ein Lager, bis der rasch herbeigerufene Krankenwagen ihn in das sog. Kurhaus überführte, eine Anstalt die als Krankenhaus für Sträflinge oder übel berüchtigte Personen diente. – Da indessen bei der nun an den Tag gekommenen Raffiniertheit des Verbrechers der Aufenthalt in jenen Räumen nicht genügende Sicherheit bot, ward Timm in eine Zelle des nebenan befindlichen Detensionshauses getragen, – ein Gefängnis für minder belastete Individuen. Hier ward der Eingebrachte Tag und Nacht von zwei sich ablösenden Wärtern überwacht. Es hatte sich bei ärztlicher Untersuchung herausgestellt, daß der Verurteilte bei dem Sprung des verunglückten Fluchtversuchs ein Bein gebrochen hatte – aber nie kam eine Klage trotz der sichtlichen Schmerzen, selbst bei der Einschienung des Beins über Timms Lippen; er aß mit vielem Appetit, war wohl aufgelegt und äußerte nur die Sorge, daß das Bein nicht gerade angeheilt werde, was bei einem so stattlichen Burschen wie er doch schade sei. Betreffs der Hinrichtung meinte er, die habe jetzt gute Wege und werde sicher nun in Anbetracht des letzten Vorkommnisses in Zuchthausstrafe umgewandelt werden.

Allein der Senat war anderer Meinung. Noch in derselben Nacht die dem abendlichen Fluchtversuch des Verurteilten folgte, versammelte sich die oberste Behörde Hamburgs zu einer außerordentlichen Sitzung. In dieser ward beschlossen, die Hinrichtung unter allen Umständen am 10. April früh morgens stattfinden zu lassen. Im großen Publikum erfuhr man nichts von dieser Entscheidung.

Am Abend vor diesem bedeutungsvollen Tage ward Timm mittels eines Krankenwagens in sein erstes Haftquartier, das Zuchthaus, zurück transportiert; die Heilung des gebrochenen Beines hatte rasche Fortschritte gemacht, von einem Wärter unterstützt, vermochte der Verunglückte sich schon aufrecht zu halten.

In einem hell erleuchteten Raum empfing den Eingebrachten ein Kriminalaktuar von acht Polizisten umgeben, etwas entfernt standen die beiden Geistlichen mit ernsten, bedeutungsvollen Mienen.

Der Beamte entfaltete ein Aktenstück – »Timm« nahm er das Wort, »ich habe Ihnen mitzuteilen –«

Der Delinquent nickte, – »ich weiß schon,« meinte er anscheinend ruhig, – »wann?« »Morgen früh sechs Uhr!« lautete die Auskunft des Aktuars.

»Es ist gut!« –

Der Beamte entfernte sich schweigend und der Gefängnisgeistliche Pastor Cropp trat an den Verurteilten heran, für den man einen Ruhesessel hingestellt hatte. – Er sprach eindringliche Worte zu dem Verbrecher, – der hörte sie ruhig an, aber äußerte keine Silbe, kein Zug in seinem jugendlichen Antlitz veränderte sich, – selbst als der Pastor ihn aufforderte, mit ihm gemeinschaftlich zu beten schwieg er. »Nun so will ich für Sie beten!« sprach Pastor Cropp und in rührender Weise erhob er seine Stimme zum Richtstuhl der Göttlichkeit und flehte um Erbarmen für einen irdischen verblendeten Sünder.

Dann ward Timm in seine ihm bekannte Zelle zurückgetragen und dort gebettet. Die beiden Wächter verblieben die ganze Nacht hindurch an seiner Seite. Und ihnen gegenüber enthüllte sich nun in den letzten Stunden seines Erdendaseins, wo er keiner Verstellung mehr bedurfte, der wahre, furchtbar verderbte Charakter des neunzehnjährigen Jünglings. Daß er acht Cigarren hinter einander rauchte, kaum glaubliche Mengen von Kaffee und Limonade nebst Kuchen vertilgte, kurz vor seiner Abführung noch ein großes Hamburger Beefsteaks forderte und erhielt, ist noch nicht so schlimm als die Gespräche, mit denen er seine Aufseher unterhielt und deren Cynismus den in ihrem Beruf sicher abgehärteten Männern geradezu Entsetzen einflößte. – Er erzählte, daß er an Seelenwanderung glaube und sicher nach seinem Tode eine Nachtigall werde, – aber fangen lasse er sich nicht, »er habe schon zu lange im »Bauer« gesessen.« Als man ihm mitteilte, daß das Haus der Witwe Jakob seit dem Tode der Frauen leer stehe, weil keiner den Mut habe der erste Nachfolger der bisherigen Bewohnerinnen zu sein, meinte er lachend, – »die Stadt Hamburg solle ihm die Liegenschaft nur zum Geschenk machen, er wolle sich schon gemütlich darin einrichten. Uebrigens,« fügte er später hinzu, »sei es eigentlich doch ganz gut, daß die Sache zeitig herausgekommen, – denn er hätte unbedingt noch ein paar Personen »abmurksen« müssen, um sich das nötige Geld zur beabsichtigten Auswanderung nach Amerika zu verschaffen. Am furchtbarsten aber berührte die Hörer das Bedauern des fast noch knabenhaften Mörders, die Marie Jakob vor ihrer völligen Hinschlachtung nicht noch mißbraucht zu haben, – es sei eine fixe, stämmige Dirne gewesen!

Der anbrechende Morgen machte der lästerlichen Unterhaltung, die fast nur von dem Delinquenten allein geführt wurde, ein Ende. Um 5 Uhr besetzten starke Detachements des Hamburger Linienmilitärs alle umliegenden Straßen des Zuchthauses, – Abteilungen von Polizeibeamten sorgten außerdem für Ordnung. Da, wie schon bemerkt die Hinrichtung geheim gehalten ward, waren nur wenig Menschen in der nächsten Umgegend des Gebäudes zu sehen und diese von der Stätte der Exekution völlig abgesperrt. Gegen sechs traten noch einmal die Geistlichen in Timms Zelle, er ließ die würdigen Männer reden ohne nur ein Wort der Erwiederung zu finden, – selbst als die Uhr der nahen Kirche aushob und die sechste Stunde kündete, als Pastor Cropp tief bewegt sagte: »Die Zeit ist da, Timm«, – zeigte sich keine Spur der Erregung in dem glatten Antlitz des nun aus dem Dasein gestrichenen Jünglings. Er bat nur den Seinen wie seinem lieben Dr. Gallois die letzten Grüße zu überbringen und bot auch den in der Zelle anwesenden Personen ein letztes Lebewohl.

Des kranken Beines halber setzte man den Verurteilten aus einen Stuhl und trug ihn zum Innenhof des Zuchthauses; mit dem Rücken gegen das Schafott gewendet, ließ man den Sitzenden nieder. Auf dessen Höhe neben dem Fallbeil stand der aus der dicht benachbarten damals noch dänischen Stadt Altona requirierte Scharfrichter Voigt mit seinen Knechten, ersterer in schwarzer bürgerlicher Kleidung.

Eine zahlreiche Versammlung erfüllte den offenen Raum, über den sich der graue Himmel eines milden Frühmorgens wölbte. Anwesend waren alle bei dem Prozeß beteiligten hohen und niederen Beamten, an ihrer Spitze die Senatoren Hüdtwalcker und Sieveking in ihrer Amtstracht, dem Sammttalar und der mächtigen weißen Krause um den Hals. Noch einmal trat Pastor Cropp in vollem Ornat an den Verurteilten heran und betete für ihn das »Vater unser« – Timm zuckte mit den Achseln. Der Geistliche trat totenbleich zurück und nun umgaben die Knechte des Scharfrichters den Stuhl mit ihrer Last. Abermals rückwärts trugen sie den Delinquenten die Stiegen zum Schafott hinan, – er warf einen Seitenblick auf das Fallbeil und den amtlichen Vollstrecker der irdischen Gerechtigkeit und dann gleich wieder von demselben hinweg auf seine Umgebung. Die handfesten Gehilfen hoben ihn empor, schnitten ihm das Hinterteil der dunklen Gefängnisjacke durch, schnallten ihm die Hände auf den Rücken und banden ihn auf das bedeutungsvolle Holzbrett fest, das langsam unter das Fallbeil geschoben wurde, – das Haupt genau unter der schweren scharfen Stahlmasse, die noch im Holzwerk verborgen ruhte. Mit eigener Hand legte der Scharfrichter Voigt eine Art Halsband um den Hinterkopf des Verurteilten um die richtige Lage ohne Verrückung zu erzielen, – dann trat er zurück – ein dumpfes beängstigendes Schweigen lastete auf den Versammelten – die Hand des Vollstreckers irdischer Gerechtigkeit bog den Drücker nieder und sausend fuhr das achtzigpfündige Beil nieder, – mit einem Hieb hatte es den Kopf des Gerichteten vom Rumpf getrennt. – Es ist unleugbar, daß die Augen Timms sich noch bewegten als ein Scharfrichterknecht ihn bei den Haaren faßte und in den zu diesem Zweck bereit gehaltenen kleinen Sack von schwarzem Stoff warf, – der hauptlose, konvulsivisch zuckende Körper fiel sofort nach Wegnahme eines Brettes in einen unter dem Schafott verborgenen Holzsarg – und stumm und ergriffen trennten sich die bei der Exekution anwesend gewesenen Personen. Timms Leichnam ward der Anatomie übergeben, dem Wunsche der Familie, ihr den Körper des Gerichteten zu einem stillen Begräbnis auszuhändigen, ward keine Folge geleistet. – Eine Stunde später war bereits die Kunde der erfüllten Sühne des ruchlosen Doppelmordes in der ganzen Stadt verbreitet, – »endlich!« war das Wort, das Hamburgs Bevölkerung dem Mörder in die Ewigkeit nachrief!


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