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Im Jahre 1862 bewohnte der Kaufmann Mylius ein freundliches Häuschen in der Hamburger Vorstadt St. Georg, während sich die Geschäftsräume in der inneren Stadt befanden. Mylius hatte sich in seinem Besitztum ein schlichtes, trauliches Heim geschaffen, in dem er mit seiner kleinen Familie stille, friedliche Jahre verlebte und noch zu verleben hoffen durfte. Die Ehe Gustav Mylius mit einer entfernten Verwandten war die denkbar glücklichste; die ganze Liebe beider Gatten aber vereinte sich für das Wohl ihres einzigen Kindes, eines Knaben, der eben das dreizehnte Jahr hinter sich hatte. Otto Mylius war ein hübscher, blonder, schlankgewachsener Knabe, der Eltern und Lehrern Freude bereitete; nur eine kleine Schwäche war ihm eigen, die freilich aus der dem Jungen angeborenen Gutmütigkeit entsprang; Otto ging allzuleicht mit seinem Vertrauen um und mehr als eine kleine Unannehmlichkeit war ihm selber wie seinen Eltern aus der Leichtgläubigkeit Otto's erwachsen.
Es war ein herrlicher Julimorgen, als der junge Sohn des Hauses die elterliche Wohnung verließ. Er hatte die für die Schule nötigen Bücher in einen Riemen geschnallt unter dem Arm, aber erst um die neunte Stunde forderten die dumpfen Klassenräume ihr Recht und jetzt hatte es eben sechs geschlagen. Wie Otto seinen Eltern am Abend vorher mitgeteilt, beabsichtigte er mit einem gleichalterigen Kameraden noch einen längeren Spaziergang in der erquickenden Morgenluft zu unternehmen, um sich für die Studien in der heißen Luft der Schule zu stärken. Das Ehepaar war natürlich mit diesem Vorsatz einverstanden. Frau Mylius bereitete ihrem Liebling noch sorglich den Morgenkaffee und stellte ihm eine Lieblingsspeise für den Mittag in Aussicht; dann entließ sie ihn mit einem Kuß, – es war der letzte im Leben, – Vater und Mutter sahen den Sohn lebend nicht wieder.
Gegen drei Uhr pflegte Otto von der Schule heimzukehren, – der Tisch war dann bereits gedeckt und da auch der Vater meist um diese Zeit pünktlich von der Börse eintraf, wurde sofort zu Tisch gegangen. – Herr Mylius fand sich auch zur gewohnten Stunde ein, aber obwohl die Uhr bereits auf vier wies, wartete das Ehepaar vergebens auf ihren Knaben. Noch nehmen beide die Verspätung von der wahrscheinlichsten Seite, – der heiteren. Der Bursche hatte sich zweifellos an einem dummen Schülerstreich beteiligt und eine Stunde Arrest dafür erhalten, – um seinetwillen wollten die Eltern nicht länger hungern, – er mochte nachessen.
Der Tisch ward abgeräumt und das Kouvert des Knaben stand noch auf dem weißen Tafeltuch. Spätnachmittag war es geworden und Otto Mylius war noch immer nicht von der Schule nach Hause gekommen. Beide Gatten konnten ihre Besorgnis nicht unterdrücken, die Mutter war es, die zuerst ihrer Bangigkeit Ausdruck verlieh, – dem Knaben könnte aus dem Heimweg von der Schule ein Unglück passiert sein.
»Aber in diesem Falle,« meinte Herr Mylius, »wäre doch gewiß Nachricht eingetroffen, denn die Hefte und Bücher Otto's trugen den vollen Namen des Besitzers«; – dennoch ergriff auch ihn allmählich eine unbezwingliche Unruhe als abermals eine geraume Zeit in erfolglosem Harren verstrichen war. Er bestieg eine Droschke und ließ sich zu der Schule seines Sohnes fahren. Die Klassenräume der Anstalt befanden sich in einem hohen und luftigen Hinterbau des Hauses, inmitten eines geräumigen Hofes. Dorthin lenkte der bekümmerte Vater zuerst seinen Schritt; hatte Otto eine so lange Arreststrafe verschuldet, was kaum anzunehmen, so mußte er sicher hier zu finden sein.
Aber der Gesuchte war nicht hier, – die Türen der einzelnen Klassenräume standen offen und ein paar Arbeitsfrauen waren mit der Reinigung der Lokale beschäftigt, – pochenden Herzens stieg Herr Mylius in den ersten Stock hinauf, wo sich die Privatwohnung des Direktors befand. Glücklicherweise war der Leiter der Anstalt, Dr. Fischer, ein würdiger und hochgeschätzter Philologe, zu Hause. Er empfing den Kommenden auf das freundlichste und erkundigte sich sofort nach seinem »lieben Otto« bei dem er ein Unwohlsein vermutete, weil er nicht in die Schule gekommen war, hoffentlich kein ernstes, zu welcher Meinung der Besuch des Vaters Anlaß geben mochte.
Aber Dr. Fischer erschrak nicht minder wie Gustav Mylius selber, als er vernahm, daß Otto in vollstem Wohlsein in früher Morgenstunde das elterliche Haus verlassen habe, um vor Schulbeginn noch einen Spaziergang in Begleitung eines Kameraden zu unternehmen. War dieser ein Schüler der Anstalt, so hatte er sich zu bestimmten Zeit eingefunden, denn außer Mylius hatte keiner der Schüler gefehlt. Vielleicht aber, so beschwichtigte der erfahrene Pädagoge den in höchster Erregung befindlichen Vater, habe sich der sonst brave aber leicht zu beredende Knabe verlockt durch irgend einen Bekannten und den herrlichen Sommermorgen, verleiten lassen zum ersten Mal die Schule zu schwänzen – was eben kein seltenes Vorkommnis in der Erfahrung von Schulleitern sei. Er riet Herrn Mylius, nur dann weitere Schritte zu tun, wenn Otto bei angebrochenem Abend noch nicht eingetroffen sei, – freilich fügte er selber hinzu, halte er den Knaben für völlig unfähig, ohne dringende Notwendigkeit seinen Eltern so große Sorge zu bereiten.
Herr Mylius fuhr heim, in seinem Herzen schlummerte die Hoffnung, beim Nachhausekommen seinen Otto vorzufinden, – das bleiche sorgenvolle Antlitz seiner Gattin die mit brennenden Augen dem Wagen entgegenstürzte belehrten ihn sofort über die Selbsttäuschung. – »Bringst Du ihn?«
Ein stummes Nein war die Antwort, – ohne auszusteigen ließ sich Mylius nach dem nächsten Polizeibureau fahren. – Die Meldung ward ziemlich kühl aufgenommen, dem diensttuenden Beamten schien es nichts neues, daß ein bereits erwachsener Junge sich einmal einen freien Tag aus eigner Machtvollkommenheit gönnte, wenn er auch dem Vater des Vermißten gegenüber seine Meinung verschwieg. Er versprach, sofort die notigen Nachforschungen bei den verschiedenen Polizeistationen zu veranlassen, zu jener Zeit eine weit schwierigere Sache als heute, wo das gefällige Telefon nur nach Minuten rechnen läßt.
Aber die Nacht verstrich und das Bett des Sohnes stand in seiner Schlafkammer unberührt. Natürlich hatten die Eltern kein Auge geschlossen, jedes Geräusch auf der Straße dünkte ihnen ein Zeichen des heimkehrenden, ja selbst mit diesem Gedanken hatte sich das Ehepaar schon vertraut gemacht, – des heimgebrachten Sohnes, – gleichviel in welchem Zustand, – nur ein Ende der Ungewißheit mit ihren Höllenqualen. –
In der Morgenfrühe ließ sich der unglückliche Vater bei dem Polizeiherrn, Senator Petersen melden und schüttete dem humanen und energischen Manne sein tief bekümmertes Herz aus. Nun wurden sofort die umfassendsten Anstalten getroffen, – einer der schneidigsten Beamten, der Polizeivogt Tittel nahm die Sache persönlich in seine oft erprobte Hand.
Und trotzdem verstrich abermals ein Tag ohne jedes Ergebnis, obgleich sich die Kunde des Geschehenen mit Blitzesschnelle weit über Hamburgs Weichbild hinaus verbreitet und in allen Kreisen Mitgefühl mit dem Schicksal der gebeugten Eltern gefunden hatte.
Am Nachmittag des folgenden Tages erschien ein Handwerker aus dem Polizeibureau des Stadthauses und brachte zur Anzeige, daß sein neunjähriger Sohn auf der Straße von einem Burschen angesprochen und gegen Versprechen eines Schillings Hamburger Münze vor 1868 etwa 8 Mark Wert. aufgefordert worden sei, mit ihm unter eine der zahlreichen Brücken zu gehen, von denen der innere Stadtteil Hamburgs mit seinen Kanälen (Fleethe) durchschnitten ist. – Der Junge habe sich auch bereden lassen und den Burschen begleitet, ohne sich etwas Arges zu denken. Unten aber an abgelegener Stelle habe dieser Hand an ihn gelegt und ihm gedroht, wenn er schreie, ihn totzustechen. Zum Glück sei ein Mann die Stufen herunter gekommen, welche Gelegenheit der Junge benutzte um sich rasch davon zu machen. Nach der von dem Bürgersmann infolge der Beschreibung des Jungen gemachten Aussage, war der Bursche etwa achtzehn Jahre, untersetzt und trug einen dunklen Kittel.
Nun begann eine fieberhafte Nachforschung nach dem Bezeichneten, der möglicherweise auch mit dem Verschwinden des Otto Mylius in Verbindung stehen mochte. Allein trotz der Findigkeit der Hamburger Polizei ließ sich so wenig von dem einen noch von dem Verbleib des andern eine Spur entdecken.
Das Signalement des von dem Sohn des Handwerkers bezeichneten Burschen ward inzwischen veröffentlicht und wiederum war ein Tag ohne merklichen Erfolg verstrichen, als am nächsten Morgen ein Milchbauer aus einer der umliegenden Ortschaften mit seinem Wagen vor dem Stadthaus hielt und einen der »Herren« zu sprechen verlangte, da er vielleicht einen Nachweis über den verschwundenen Knaben zu geben vermöge. – Der Mann wurde sofort zum Polizeivogt Tittel geführt und was er diesem mitteilte, erschien demselben so wichtig, daß er sich mit dem Bauern in das Bureau des Polizeiherrn begab.
Am Morgen des Tages, da Otto Mylius zur Frühstunde das elterliche Haus verlassen hatte, angeblich um einen Spaziergang zu unternehmen, war der Milchhändler mit seinem Fuhrwerk auf einem wenig belebten Pfad der Hinterseite eines nieder umfriedigten Parks vorübergefahren, der zu einem seit langer Zeit leer stehenden Herrschaftshause in dem dicht an der Vorstadt St. Georg grenzenden Vorort Hamm gehörte. Der Besitzer war gestorben und die Erben beeilten sich nicht mit dem Verkauf, so daß unbeaufsichtigt, die Anlagen ziemlich verwildert waren. In demselben Augenblick da er den Zaun passierte, gewahrte er wie ein Bursche hinter demselben auftauchte, erschreckt zusammenfuhr als er das Gefährt ansichtig ward und dann nach kurzem Zaudern sich über das niedere Gatter schwang und davonlief. – Der Fuhrmann hatte keine böse Gedanken, zweifellos hatte der Bursch drinnen nach Nester gesucht oder gar eine Vogelschlinge gestellt, nachdem er aber das Verschwinden des Knaben und später das Signalement des Burschen gelesen, der sich an dem Jungen des Handwerkers vergreifen wollte, stieg die Erinnerung in ihm auf, – daß, so viel er flüchtig wahrzunehmen vermochte, die Beschreibung auf den Burschen passen dürfte, den er vor ein paar Tagen unter verdächtigen Umständen in Hamm den einsamen Park verlassen gesehen hatte.
Eine Stunde später betrat eine rasch berufene Kommission an deren Spitze sich Tittel selber befand, den Park. Lange suchte man erfolglos – endlich inmitten einer kleinen von Gestrüpp umwucherten Rasenlichtung löste sich das Rätsel der letzten Tage – auf eine entsetzliche Weise. Völlig entkleidet bot sich den Hervortretenden die Leiche eines Knaben, der auf dem Rasen ausgestreckt lag und dessen Arme mittels eines Stricks aus den Rücken gebunden waren. Der Unterleib war geöffnet, der Geschlechtsteil abgeschnitten und mitgenommen, die Gedärme sichtlich aus dem Innern gezogen und wieder zusammen gerollt. Das an sich hübsche Gesicht der Leiche, die bereits in Verwesung überging, trug den Ausdruck der furchtbaren Qual die der Lebende erduldet haben mußte, denn nach sachverständiger Aussage hatte der Unmensch sein Opfer noch lebend auf diese kaum glaubliche Weise zugerichtet und dessen Leiden um so furchtbarer vermehrt, als das Instrument mit dem die Tat vollzogen worden, sich als ein völlig stumpfes mittelgroßes Taschenmesser erwies, das neben der Leiche im Gras lag.
Nach Aufnahme des Tatbestandes übernahm der humane Oberbeamte die traurige Pflicht, die Eltern des gemordeten Knaben in schonendster Weise von dem furchtbaren Geschick ihres Lieblings in Kenntnis zu setzen. Die Verzweiflung der unglücklichen Eltern spottete aller Beschreibung und doch war der stumme fast tränenlose Jammer der Mutter der gefährlichere – denn als man die verstümmelte Leiche ihres Knaben in's Haus brachte und auf das frisch bezogene Bett legte, stieß Frau Mylius ein helles Gelächter aus und brach zusammen. Als sie erwachte, zählte auch sie kaum mehr zu den Lebenden in höherem Sinne des Wortes, – der Geist der unglücklichen Frau war umnachtet, – an demselben Tage, an dem man den Gemordeten unter der Teilnahme der ganzen Stadt in sein frühes Grab bettete, überführte man die Mutter in eine Irrenanstalt.
Eine ganze Anzahl von Verhaftungen fanden in dieser Sache statt, sie erwiesen sich als fruchtlos. Wohl kamen bei dieser Gelegenheit bis jetzt verborgen gebliebene, an Kindern verübte unlautere Handlungen an den Tag, allein sämtliche Eingebrachte mußten als an dem in Frage stehenden Verbrechen unbeteiligt außer Verfolgung gesetzt werden. Man nahm an, daß der Täter geflüchtet sei und sandte nach der freilich im ganzen ziemlich unsicheren Aussage des älteren und des kindlichen Zeugen über seine Persönlichkeit nach allen Richtungen hin Steckbriefe nach. Der Polizeivogt Tittel, dem die Ergreifung des elenden Buben als Ehrensache galt, machte sich seine eigenen Gedanken. Ihm war nicht unbekannt, daß häufig ein geheimnisvoller Drang schwere Verbrecher an die Stätte zurückführt, an der sie ihre dunkle Tat verübt haben. Aus diesem Grunde ließ der Beamte die Gegend, in der sich der Knabenmord vollzogen, in unverdächtiger Weise und auf das schärfste überwachen. Aber es schien als solle in diesem Fall die obige Annahme sich nicht bewähren, es zeigte sich keine Persönlichkeit, die den Geheimpolizisten irgend wie auffällig erscheinen konnte.
Auch die nach Hunderten zählenden Teilnehmer am Begräbnis des gemordeten Knaben standen unbewußt unter scharfen Ueberwachung, – aber die ergreifende Feier verlief für die Polizei völlig resultatlos.
Es war an einem Abend, die Dämmerung begann sich allmählig über die Erde zu breiten, als ein kaum mittelgroßer aber stämmig gebauter Bursche in harmlosem Spaziergang durch die Allee des freundlich angelegten Kirchhofs der Vorstadt St. Georg schritt, auf dem das jugendliche Opfer der dunklen Bluttat das letzte Bett gefunden. Nun lag der mit Blumen völlig verdeckte Grabhügel öde und einsam da, die scheidende Sonne warf ihre letzten matten Strahlen auf die Stätte.
Der sich wie zufällig, ohne jede merkliche Absicht ihm nähernde Mann trug eine blaue Jacke von grobem Stoff über einem bunten Hemde und gleichfarbenen Beinkleidern, den Kopf mit kurzgeschorenem, dunkelblondem Haar bedeckt, eine schwarze Stoffmütze mit steifem Lederschirm. Als er sich dem Grabe näherte, blickte er sich nach allen Seiten um, – der Friedhof war vereinsamt, nur in einiger Entfernung stand ein älterer Bürgersmann vor einem sichtlich frischen Grabe, mit dem Rücken der Ruhestätte des gemordeten Knaben zugekehrt; er schien in tiefem Schmerz versunken, völlig unempfindlich für alles, was um ihn herum vorging.
Der Bursche umkreiste den Hügel, der Otto Mylius Erdenreste barg, – einmal, zweimal, – dann blieb er den Blick zu Boden gesenkt am Fußende stehen, in dieser Stellung hatte er nun unbewußt, dem Leidtragenden am benachbarten Grabe den Rücken zugewandt. Da wurden plötzlich dicht hinter ihm ein paar Schritte vernehmbar, eine muskulöse Hand faßte mit eisernem Griff seine Hand und eine Stimme schallte an sein Ohr: Mörder! – –
Dem am Grabe Trauernden war die Stätte und die Person über die sie sich wölbte eine völlig fremde und gleichgültige. Der Mann war ein Geheimpolizist der Ordre hatte, das Grab Otto Mylius bis zum Anbruch der Nacht zu überwachen. Und abermals hatte sich die alte Erfahrung bewährt, das geschehene Verbrechen zog mächtig den Verbrecher an die Stätte oder an die Person. – Diesmal hatte der Arm der vergeltenden Gerechtigkeit den Rechten gefaßt, – aus dem totbleichen, verzerrten Antlitz des am Grabe weilenden Burschen sprach die Schuld.
Mit voller Bestimmtheit erkannte der Milchbauer in dem auf dem Friedhof verhafteten Burschen den Menschen, der am Morgen der Bluttat in heimlicher Weise sich aus dem Hammer Park gestohlen und zugleich der jugendliche Sohn des Handwerkers den Elenden, der im Begriff war, eine Schandtat an dem Jungen an einsamer Stelle zu verüben und durch das Hinzukommen von Leuten an ihrer Vollziehung gehindert wurde. Und seltsamerweise mehrten sich jetzt noch die Anschuldigungen ähnlicher Attentate, deren Urheber der Behauptung demselben gegenübergestellter jugendlicher Zeugen nach, kein anderer als der Inhaftierte sein könnte. Derselbe hieß Karl Döpcke, zählte neunzehn Jahre und schaffte als Hausbursche. Er wohnte bei seiner verwitweten Mutter, die sich durch Waschen und Putzen ernährte, man konnte der Frau nichts Unrechtes nachsagen.
Döpcke war ein schlechter, unbotmäßiger Schüler gewesen, auch seine Brodherren hatten wenig für ihn übrig. Bei den Verhören trug er ein keckes, zynisches Wesen zur Schau. Da er sah, daß ihm den erdrückenden Beweisen gegenüber das Leugnen nichts nützte, bequemte er sich zu einem offenen Geständnis seiner Tat. Wiederholt war er dem hübschen blonden Knaben begegnet und böse Gedanken waren in seiner Brust entzündet. Unter einem Vorwand hatte er ihn angesprochen und kurz darauf abermals. Er hatte dem leicht vertrauenden Knaben erzählt, daß er einen Ort kenne, wo es prächtige Nester mit Eier darinnen und außerdem herrliche Schmetterlinge gäbe und auf den Wunsch Ottos diesen Ort kennen zu lernen, ihm versprochen, sein Führer zu sein. Freilich dürfe er mit keinem darüber sprechen, denn sonst käme alle Welt, ihm selber aber sei von dem abwesenden Besitzer bei dem er gearbeitet, der Besuch gestattet worden. Er beredete den Knaben ihn zu früher Morgenstunde an einem bestimmten Punkte zu erwarten, den Eltern aber zu sagen, daß er einen Spaziergang unternehmen wolle.
Das Opfer ging, wie wir berichtet, ahnungslos seines Geschicks, in das ihm zugedachte Verderben. Er traf zur verabredeten Zeit zum Stelldichein mit Döpcke zusammen und der Bursche führte innerlich triumphierend den Knaben auf wenig belebten Pfaden an den Hammer Park. Er veranlaßte Otto ihm in gebückter Stellung durch eine Oeffnung des Zaunes zu folgen und führte ihn tief in das Innere des Gehölzes, wo sich die ihm bekannte und für seinen Zweck ausersehene verschwiegene Lichtung befand. Hier warf Döpcke die Maske ab, – er zog das später gefundene Messer, öffnete es und hieß den Knaben unter Androhung ihm bei dem geringsten Laut die Kehle abzuschneiden, sich vollständig zu entkleiden. Als dies geschehen, ging er um ihn herum und band dem vor Angst halb betäubten Opfer mit einem in der Tasche bereit gehaltenen Strick die Arme auf dem Rücken zusammen, warf es zu Boden, steckte ein Tuch als Knebel gewaltsam in den Mund des Wehrlosen und begann seiner Lust zu fröhnen. Dem unglücklichen Knaben blieb wie die Untersuchung festgestellt, der Gipfel der Schande erspart, – nach heutigen Anschauungen geschah es wohl, weil der perverse Verbrecher nicht in diese Richtung inklinierte.
Fast eine Stunde dauerte die stumme Orgie, dann folgte ihr die noch entsetzlichere Bluttat. Wie Döpcke aussagte, war plötzlich in ihm der Gedanke erwacht, einmal zu sehen, wie das Innere des Menschen beschaffen sei und mit ihm vereinte sich der, daß er sich mit der Ausführung desselben einen Verräter vom Halse schaffe. – Ohne weiteres begann er mit dem blutigen Werk, – der Knebel erstickte jeden Laut des gefesselten, völlig der Gier seines Mörders preisgegebenen Opfers. Die bei demselben fehlenden Körperteile will Döpcke aus Neugier entfernt, mitgenommen, aber schon am selben Tage an einer einsamen Stelle außerhalb der Stadt in die Elbe geworfen haben, – sie wurden bei dem Täter nicht gefunden. Als der Elende seiner furchtbaren Lust genug getan, entfernte er das Tuch aus dem Munde des bereits erkaltenden Körpers und steckte es zu sich. Das ihm entfallene Messer zu suchen und an sich zu nehmen, unterließ er in der Hast, in der er sich nun unbemerkt vom Schauplatz seines Verbrechens zu stehlen anschickte. Als er hinter dem Zaun auftauchend das vorüberfahrende Fuhrwerk erkannte, überlegte er, ob es nicht geraten sei sich wieder zurückzuziehen, aber da er bemerkte, daß ihn der Lenker gesehen, zog er vor, als weniger verdächtig über die Einfriedigung zu steigen; der Fahrer mochte annehmen, was auch der Fall war, daß es sich um eine ganz harmlose Bubensache handle. –
Der Prozeß Döpcke dauerte nur ein paar Wochen, – dann kam das Urteil, das bereits aus Volksmund dem Richterspruch vorangegangen war – »Tod durch Enthauptung.« Mit Mühe fand sich ein Verteidiger für den Delinquenten. Die Tätigkeit desselben beschränkte sich, einen gelinden Zweifel in Döpckes Zurechnungsfähigkeit zu erheben, ward aber durch die Erklärung des berufenen Arztes widerlegt. – Heute würde der Fall zu langen Erörterungen Gelegenheit bieten und nach der Lombroso-Theorie, überhaupt den Anschauungen unserer Zeit wäre dem Verbrecher die »geistige Minderwertigkeit« als mildernd zuerkannt worden, die ihn freilich ebensowenig als damals vor dem Schafott geschützt haben würde.
Sowohl im Gefängnis als nach der Verkündigung seines Urteils zeigte sich Karl Döpcke apathisch und verriet wenig innere Erregung. Er nahm willig geistlichen Zuspruch entgegen, aber es war hier wie bei dem Abschied von der Mutter keine Spur von tieferem Gefühl zu bemerken. Auch das Schicksal der armen Mutter seines Opfers, das als weitere Last sein Gewissen beschwerte, ließ den Verbrecher ungerührt, – er büßte ja was er verschuldet mit dem Tode.
An derselben Stelle wo das Haupt des Doppelmörders Wilhelm Timm unter dem Richtbeil gefallen war, im Hof des Zuchthauses, – das sonderbarerweise in einer der vornehmsten Straßen der Hansastadt, der Ferdinandstraße stand, erhob sich an einem nebliger Frühmorgen des September 1862 das Gerüst das die Guillotine trug. Die Hinrichtung Döpckes geschah im engsten Kreise derjenigen Personen, die amtlich der Exekution beiwohnen mußten. Der Delinquent war leichenblaß als er den Hof betrat und das Schafott erblickte. Die Lippen fest zusammengepreßt äußerte er keine Silbe, aber um die paar Stufen zur Plattform hinanzuschreiten mußte er geführt werden. Der Scharfrichter Vogt aus Altona vollzog sein Amt sicher und schnell und die furchtbare Tat hatte ihre irdische Sühne gefunden, – »der Fall Döpcke« war amtlich erledigt.