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»Also, du bist nicht mehr im Ministerium!« fragte ich meinen Freund, den ich seit drei Jahren nimmer gesehen hatte.
»Nein,« sagte er, »die ›große Sterb‹ hat mich fortgetrieben,« und als ich ihn verwundert ansah: »Es ist einer nach dem andern von unsern Leuten abgegangen, da hab ich mich angeschlossen, aber zugleich eine feste Wendung zurück ins Leben gemacht: Ich habe meine medizinischen Studien wieder aufgenommen, du kennst ja meine Vorliebe dafür seit jeher. Wenn du willst, erzähl' ich dir in einer ruhigen Stunde, wie das alles gekommen ist.«
Gewiß war meine Teilnahme für die Vorgänge, die mein Freund durch diese Worte angedeutet, lebhaft wachgeworden und abends, als wir in einer lauschigen Weinstube der inneren Stadt beieinander saßen, erinnerte ich ihn an sein Versprechen. Er begann sofort und man sah, es machte ihm keine Mühe, diese Bilder aus seiner Vergangenheit zurückzurufen.
»Du hast das kleine alte Haus gekannt, in das ich mit den Zukunftsplänen meiner achtzehn Jahre gesteckt wurde, um ein paar mühselige Sprossen auf der Leiter der Beamtenhierarchie hinaufzuklimmen. Es ist mit seinem steilen Mansardendach und den bunten Schildertafeln, die seine Mauern bedeckten, oft gemalt worden. Denn da man es erträglicher gefunden, die Außenseite mit beklexten Brettern verdecken zu lassen, statt den Mörtelverputz zu erneuern, so hatte sich das Auge daran gewöhnt, diese nicht sehr vornehme Kleidung als zum Charakter des Ganzen hinzugehörig zu betrachten. Innen war es eng und winkelig und ich erinnere mich genau, wie ich aus dem ersten Schreck, den mir die Düsterkeit, der Staub und Schmutz dieser Räume einjagten, vergeblich eine Art Romantik herauszulösen suchte. Ich glaube, so ist es jedem jungen Menschen ergangen, der hier von dem freien Leben auf der Hochschule träumte und immer wieder und wieder nach einem Durchschlupf suchte, der ihm Freiheit des Leibes und des Geistes zurückgeben hätte können. Geglückt ist es nur wenigen. In jenen Jahren wurde übrigens die ältere Beamtengeneration, die zum Teil noch aus gedienten Unteroffizieren bestand, durch die neue, aus den Mittelschulen kommende abgelöst und so traf es sich, daß ich mich bald unter fast lauter jüngeren Leuten sah, unter denen sich nur der alte Revident Strobl zu behaupten wußte, ein heiterer, genügsamer Mann, der sich unserem Ton anzupassen verstand und darum wohl gelitten war. Als ein freundliches Überbleibsel jener früheren Zeit saß er noch ein paar Jahre in unsrer Mitte, strichelte seine Rechnungen, schlürfte täglich seine drei Achtel Wein und nickte hie und da ein kleines Schläfchen. Als endlich auch er in den Ruhestand trat, hat er die Trennung von dem Orte seines gewohnten Behagens nicht lange überdauert. Er starb bald danach und lebte im Amt in einzelnen krausen Wendungen fort, die er auf dem Amtsschimmel geritten, sowie in der fröhlichen Vorstellung eines himmlischen Zechers, auf den sich manch einer berief, der den trockenen Dienst durch ein frisches Krügel anfeuchten wollte.
Dieser Revident Strobl war der Gründer einer seltsamen kleinen Sammlung gewesen, die in einem, freventlich »das Allerheiligste« genannten Raume hinter seinem Schreibtisch untergebracht war. Sein Sitz stieß nämlich an eine außen verstellte doppelte Tür, deren Zwischenraum so ein kastenähnliches Fach bildete, in dem sich Kleider, Schirme und Stöcke, aber auch sonst mancherlei unterbringen ließ. Vor allem konnte man an der einst weißen Innenseite des beweglichen Türflügels die Namenstage längst verblichener Angehöriger des Amtes verzeichnet finden, die hier sicher gehalten wurden, daß keine Gelegenheit zu freiem Trunk versäumt werde. Daneben war eine auf fast vierzig Jahre zurückreichende Zusammenstellung der tiefsten Kältegrade im Oktober, wo der Ofen noch nicht, und im April, wo er nimmer geheizt werden durfte. Ein kleines, schmieriges Holzpferdchen mit gebrochenem Bein stand darunter. Ein Übermütiger hatte dieses Überbleibsel eines ehemaligen Dienerhaushaltes auf dem Boden zwischen alten Faszikeln hervorgezogen, um das Vieh zu bergen, wo es, zumal an helleren Tagen, die es seine einstige Farbe nicht ganz verleugnen ließen, als Sinn- und Standbild des gottsjämmerlichen Amtsschimmels unschwer zu erkennen war. Dann war das Titelblatt einer »Gartenlaube«-Nummer an den Laden geklebt, das das Bildnis eines ältern Herrn mit dichtem Haar und starkem Schnurrbart zeigte und dessen unterer Rand wie zufällig weggerissen schien. Dafür war die Bezeichnung angesetzt worden: Rechnungsdirektor Johann Rosmanith. Das war einer der früheren Vorstände gewesen und ich hatte erstaunt und auch geschmeichelt und gehoben gefragt: »Wie, das war ein so berühmter Mann, daß sein Bild in die ›Gartenlaube‹ kam!« worauf mir gesagt wurde, der Dargestellte sei eigentlich Lesseps, der Baumeister des Suezkanales, aber weil jener alte Vorstand einige Ähnlichkeit mit ihm gehabt, so habe man das Bild des vielgenannten Technikers hier als das seinige eingeschmuggelt. Endlich war dort noch aus jüngerer Zeit eine nicht ohne Gewandtheit angefertigte Tuschzeichnung des Hauses zu sehen, unter der die resignierten Verse standen:
Man glaubt zuerst, man hält's nicht aus,
So seltsam ist's in diesem Haus!
Und doch vergeht dann Jahr um Jahr
Im gleichen, wie es immer war.
Nun aber muß ich dich mit dem Spender des Lessepsbildes bekannt machen. Er hat eine besondere Rolle in meiner Geschichte, wie ja auch in manchen Ämtern die Amtsdiener nicht die letzte Rolle spielen. Von dieser Art war übrigens unser alter Simon Henz nicht, vielmehr das Gegenteil und überhaupt ein Unikum seines Standes: ein eisgraues Männlein von über siebzig Jahren, welches nach allen Seiten so unentbehrlich geworden, daß es uns eine Beruhigung war, als er, schon in den Genuß der Ruhestandsgebühren übersetzt, gegen ein mäßiges Taggeld seinen Dienstposten weiter versah. Niemand wußte so sicher wie er die ältesten Vorakten aufzutreiben, niemand wie er in Verstoß geratene Rechnungsstücke ans helle Licht des Tages zu fördern. Von früh bis zum Schluß der Amtsstunden sah man ihn geräuschlos herumtrippeln, geradezu väterlich um uns besorgt und in jedem Dienst verläßlich. Neueintretende hatten vielleicht anfangs ihren Spaß mit ihm, sahen sich aber bald durch seine selbstlose Geschäftigkeit so beschämt, daß sie die eine oder andere Wunderlichkeit an ihm, die nicht erst das Alter ausgebrütet haben mochte, willig hinnahmen. Schon an meinem ersten Tage erfuhr ich, was seine besondere Liebhaberei war. Ich stand verschüchtert im Vorzimmer, und wohl um mich aufzumuntern, begann er davon. Er hatte nämlich, ohne irgendwelche Fachkenntnisse zu besitzen, eine ziemlich verhängnisvolle Leidenschaft für Stiche und Bilderblätter und sich in seiner Leichtgläubigkeit manch teuer bezahlten Schund aufschwätzen lassen, der ihm zu Hause dicke Mappen füllte. Damals entnahm er seinem Kasten sorglich ein Papierröllchen, das er ehrfürchtig vor mir auftat. Ich erkannte auf den ersten Blick, es waren zwei, aus dem Meyerschen Konversationslexikon herausgerissene gewöhnliche Holzschnittafeln mit Darstellungen aus der Steinkohlenzeit. Er wies auf die wuchtig ungefügen Pflanzenformen und lispelte ganz entzückt: »Sehen Sie nur, wie fein das ist, wie zart diese Blätter und das Gefieder dieser Palmen!«, so daß ich Mühe hatte, nicht laut aufzulachen. Aber zugleich waren mir wie durch ein Zauberwort das fremde Haus und seine noch fremderen Inwohner menschlich näher gerückt worden.
Zwei Jahre nach meinem Eintritt kam etwas, was seine Gedanken von nun an fast einzig beschäftigte. Wir sollten in ein neues Gebäude umziehen, das in einem entlegenen Stadtteil errichtet wurde, das alte ward zum Abbruch bestimmt und der Grund sollte als Baustelle losgeschlagen werden. Für diesen Mann im achten Jahrzehnt seines Lebens gab es nun nichts Angelegentlicheres mehr als die Schilderung jenes Neubaues, den er gern aufsuchte, und schenkte man ihm Gehör, so konnte er nicht genug Worte finden dafür, wie schön, reinlich und bequem wir es künftig haben würden, wie man an die Mißstände, unter denen man hier leiden müsse, nur mehr kopfschüttelnd zurückdenken werde, und ähnliches. Daß der Greis von der Stätte, wo er fast sein ganzes Leben verbracht, so leicht Abschied nehmen könne, fanden wir, meine Kollegen und ich, seltsam genug und wir wunderten uns um so mehr darüber, als uns selber unser altes morsches Haus, das wir vielleicht manches Mal in den Erdboden verwünscht hatten, jetzt lieb und ehrwürdig zu werden anfing. Wir meinten, so ruhig wie hier würden wir es anderswo nicht haben. Auch die paar grünen Bäume, die drunten im Hofe standen, würden wir vermissen. Eigentlich sei so ein alter Kasten mit seiner jahrhundertalten Geschichte und Überlieferung doch etwas beinahe Poetisches und von der Stimmung, die sich einem hier, wenn man nur wolle, auf Schritt und Tritt auftue, sei in einem nüchternen Neubau nichts zu finden. Kurz und gut, wir sahen dem Umzug ohne Verlangen entgegen und waren froh, daß er sich durch Schuld der Bauleute und andere Verhältnisse immer wieder um einige Monate hinausschob.
In diesen Gefühlen hatten wir, in dem großen oberen Zimmer des Hauses, uns immer mehr zusammengelebt. In einer kleinen Stube auf der anderen Seite des Ganges saß noch der Adjunkt Rauch, ein stiller, weltscheuer Mensch, den man tagelang nicht zu sehen bekam, dem ich aber aus meiner ersten Zeit, wo er, selber noch fast jugendlich, sich des jungen Menschen voll einer etwas zeremoniösen Liebenswürdigkeit angenommen hatte, dankbare Erinnerung bewahrte. Wir sieben waren, was in den Wiener Zentralstellen nicht zu häufig vorkommt, lauter Deutsche, Volksgenossen aus allen Kronländern, bis auf einen und der war kein Tscheche, kein Pole und kein Windischer, sondern ein Ladiner aus den Südtiroler Dolomiten, der wie so viele jenes romanischen Völkchens neben seiner Muttersprache auch unverfälschtes Tirolerisch zu sprechen wußte und im übrigen ein ebensolcher oder vielleicht noch »richtigerer« Wiener Staatsbeamter geworden war wie wir andern. Zum Teil gab es wirkliche Freundschaft in diesem Kreis, alle aber hielten untereinander gute Kameradschaft und lauten Streit, wie man ihn durch die Türen anderer Ämter zuweilen hören kann, hat es bei uns eigentlich nie gegeben.
Dafür aber hatten wir unser Sorgenkind und dieses war, stand er selber auch noch im besten Mannesalter, zugleich der Älteste unter uns: Raimund Apfelthaler, ein Bajuvare aus dem oberösterreichischen Innviertel, breit, stark und gutmütig, wie man sich die Riesen vorstellt, dabei von einer Derbheit des Humors, die auf mich nie abstoßend, sondern als etwas Gesund-Elementares geradezu erfrischend wirkte und jene freilich nicht jedermann bemerkbare Feinheit der Empfindung nicht ausschloß, die ihn gelegentlich zum still genießenden Leser einer poetischen Prosa machte, welche man sonst nur in Frauenhänden suchen möchte. Für die Unkompliziertheit seines Wesens zeugte es übrigens, daß er ein ihm angetanes Unrecht nicht leicht vergessen konnte, wo wir andern nach der ersten Erregung wieder schwankend werden, seichte Entschuldigungsgründe finden und einer schwächlichen Versöhnungsstimmung anheimfallen. Man hätte sagen können, daß sich in ihm alle innern Dinge leicht zugänglich, fest und schlicht nebeneinander eingeordnet vorfänden. Und er hat wohl in seinem Leben nie Übles getan außer einem Ding, das ihm freilich schlimm genug ausging. Früh schon, auf dem Kremsmünsterer Gymnasium, hat er die verstohlenen Schleichwege zur Bierbank gefunden und statt auf der Wiener Hochschule sein Jus zu studieren, ließ er sich in runder Behaglichkeit für vierzehn Semester in Studentenkneipen nieder, so daß er zufrieden sein mußte, endlich in reiferen Jahren, als seine Angehörigen drängten, noch eine einfache Praktikantenstelle in unserem Amte zu bekommen. Allerdings ging es anfänglich hier in der gleichen Weise fort. Er blieb zeitweise dem Dienste fern oder kam so katzenjämmerlich daher, daß man ihm raten mußte, sich zu Hause tüchtig auszuschlafen, und schließlich wurde die Sache so bedenklich, daß auch dieser Weg, den er so spät eingeschlagen, zu versagen drohte. Für Vorstellungen von Seite Wohlgesinnter nicht unzugänglich, war er zu schwach, gute Vorsätze zu halten. Diese Kraft kam ihm erst, als er zu unser aller Überraschung heiratete. Er hatte nie ein Sterbenswörtlein von der Vorgeschichte seiner Ehe verlauten lassen, aber wir hatten alle den Eindruck, er habe das Richtige getroffen. Manche sagten zwar, er wäre nun ein Pantoffelheld geworden, aber ich meine, es war ein mildes Joch, und die paar Jahre, die er noch leben durfte, hatte er seiner klugen und in Liebe starken Frau zu verdanken. Man sah ihn fast nur mehr Arm in Arm mit ihr spazieren gehen und im Amt fand ich ihn von nun an, ich war keiner der Frühesten, jeden Morgen schon in seine Rechnungen und Papiere mit einem humoristischen Eifer vergraben, dem für das langweilige Gewerke das zutreffende Wort jederzeit zur Verfügung stand, ohne daß er darum im Geringsten von seiner verfluchten Pflicht und Schuldigkeit gelassen hätte. Stundenlang war er so, der übrigens ohnehin nicht sehr beweglich war, von seinem Sitz nicht aufzubringen und nur das Klappern seines Blaustiftes war zu hören, mit dem wir die Richtigkeit und Gebührlichkeit aller Posten der Rechnungsjournale zu bezeichnen hatten. Blieb dieses blaue Pfeifchen irgendwo durch ein Versehen weg, so pflegte die oberste Kontrollbehörde, die in unseren Arbeiten Stichproben anstellte, den Anstand zu erheben, es fehle »das sichtbare Zeichen der Zensur«. Danach liebte es unser Freund, das gleichmäßige Geklopfe seines Blaustiftes »das hörbare Zeichen der Zensur« zu nennen, ein beifällig aufgenommenes Scherzwort, das sich in der konservierenden Luft der Amtsräume sicher lange Jahre hindurch erhalten wird.
Seiner früheren Lebensgewohnheit weihte er nur mehr eine streng eingehaltene Gepflogenheit, die sich wie eine verklärte Erinnerung ausnahm und am ersten Tage eines jeden Monats in fröhlicher Weise immer wieder auferstand. Am Morgen eines solchen Tages fand ich ihn nicht unter seinen Papieren am Schreibtisch, sondern aufrechtstehend inmitten des Zimmers, noch mit dem guten Rock am Leib, den er sonst immer schon mit dem Kanzleikittel vertauscht hatte. Dabei trug er eine gewisse heitere Unruhe zur Schau, die ihn immer wieder nach der Uhr greifen ließ: Schon halb zehn! Zehn Uhr! Wurde aber dann das Losungswort ausgegeben, die Kasse sei zur Auszahlung unserer Gehälter bereit, so durfte ihm keiner in den Weg treten. Ehe sich noch der Letzte aufgemacht, war er schon wieder zurück, hatte den Hut aufgestülpt und ging, von unseren Zurufen begleitet, ging zum Frühschoppen in eines jener alten heimeligen Gasthäuser, die ihm aus früheren Zeiten noch in lieber, gemütlicher, vertrauter, – böser Erinnerung waren. Übrigens bestellte er sich meist einen Gesellschafter aus unserer Mitte, der, da das gleichzeitige Weggehen von zweien auffällig gewesen wäre, an der nächsten Straßenecke mit ihm zusammentraf. Dem entschlug sich keiner und, da diese Ordnung drei und manchmal auch vier Tage hintereinander eingehalten wurde, so kam so ziemlich an jeden von uns die Reihe. Nach der Mittagsstunde kehrte das Paar zurück. Apfelthaler war frisch und aufgeräumt, niemals mehr, verrichtete aber jetzt nur die dringendsten Arbeiten und störte uns andere in einem übermütigen Zustand, den wir gerne ertrugen. Einmal drohte ich ihm lachend: »Im neuen Haus wird das aufhören müssen!« Er wurde für einen Augenblick ernst und sagte: »Wer weiß, was dann sein wird!« Und schon wieder munter fügte er hinzu: »Der alte Strobl im Jenseits läßt sich's heut' auch gut geschehen!« Nach Ablauf dieser paar Tage stellte sich dann bei ihm immer ein fast erschreckender Eifer ein, das Versäumte nachzuholen, kaum, daß es dann und wann kleine Besprechungen gab, wo nächstens Einkehr zu halten wäre, und hier war freilich deshalb nicht leicht zu einem Entschluß zu kommen, weil seine Erfahrungen groß und weitreichend waren und weil man bei der Vervollkommnung der Verkehrsmittel vor Entfernungen nicht mehr zurückzuschrecken brauchte. Was aber jene Erfahrungen betrifft, so hätte man sagen können, daß er nicht nur in Hinsicht auf Wien und Umgebung, sondern auch auf die meisten Landstädte ob und unter der Enns geradezu heraldische Kenntnisse in Wirtshausschilder besaß. Und stand der Krug vor ihm – er trank bloß Lagerbier und hatte für jeden anderen Stoff nur ein geringschätziges Wort – so war es eine Augenfreude, in welch gesitteten, ja eigentlich ästhetischen Formen sich dieser Kult jetzt abspielte. Ehvor der Teller nicht leer war, wurde das Glas nicht berührt, aber die prüfenden Blicke streiften es schon ein ums andremal. Nun aber wischte er sich sorgfältig den Mund, hob es vor seine Augen, um den letzten Durchblick zu tun, setzte an und trank in ruhigen, mächtigen Zügen die Diagonale. Das Aufatmen danach geschah in etwas kräftigerer Weise, was aber seiner Körperbeschaffenheit entsprach. Nach einer Weile kam dann der zweite ausschöpfende Zug und während er sich ein neues Krügel anfahren ließ, lachte er der dilettantisch oberflächlichen Art, in der sich sein Begleiter dem gleichen Genusse hinzugeben meinte.
In solchen gemäßigten Bahnen verlief jetzt sein Dasein und nur geschärftere Blicke mochten erkennen, wie diesem Leben trotzdem seine Grenzen schon gezogen waren. Gebreste, die sich aus jener früheren Zeit herschrieben, stellten sich an dem Vierzigjährigen ein und ließen ihn nun auch schon jedesmal die bescheidenen Freuden des Monatsbeginns büßen. Als es so weit war, daß er schon Ärzte aufsuchte und wegen Herzbeklemmungen zeitweise daheim bleiben mußte, ließen wir uns nur noch darum zu der herkömmlichen Begleitung herbei, weil wir die Gelegenheit wahrnehmen wollten, ihn vom Übermaß abzuhalten. Es wurden zwar Stimmen laut: »Laßt ihm die Freude! Es nützt ja doch nichts mehr!« Ich selber aber mochte nicht zu dieser düsteren Auffassung neigen und kam ihm, je bedrohlicher die Anzeichen wurden, mit desto ausgeklügelteren Mahnungen und Ratschlägen.
Da ergab sich eines Tages, als der Adjunkt Rauch und unser Ladiner, Pescara war sein Name, Zeugen eines solchen Bekehrungsversuches waren, eine kurze seltsame Wechselrede, die ich damals für den Ausfluß von Launen hielt, deren unheimlichen Sinn ich mir aber bald, als die »große Sterb'« vorüber zog, zurechtlegen konnte.
Apfelthaler hatte meiner Rede nachdenklich standgehalten und tat dann die einfachen vielsagenden Worte: »Wenn es schlecht steht, dann kann ich's auch nimmer anders machen.«
Worauf der Sohn der Berge mit einem triumphierenden Lächeln einwarf: »Ha, man darf nicht nachgeben. Sehen Sie mich an!« Wir verstanden nicht, wie er es meinte.
Der Adjunkt Rauch lächelte gleichfalls, aber es war ein unheimliches Lächeln. »Er ist beneidenswert,« sagte er zu mir, »Sie werden ihn nicht ablenken!« Und für sich fügte er hinzu: »Hätt' ich diese Kaltblütigkeit!« Ich sah nach ihm, aber meine Blicke begegneten denen des alten Henz. Dieser stand neben den dreien und machte ein seltsam trauriges, kummervolles Gesicht, daß es mir ganz wunderlich wurde.
Wie gesagt, ich ging diesen Reden nicht weiter nach. Aber die Geschehnisse setzten nun Schlag auf Schlag ein.
Mit unserem guten Apfelthaler ging es schnell. Als er zum letzten Male zu seiner hochgelegenen Wohnung hinaufgekeucht war, entschlüpfte ihm gegen seine Frau das ankündigende Wort: »Bin ich froh, daß ich die hundert Stufen nimmer zu steigen brauche!« In einem Buch meines Schrankes liegt das Seidenbändchen noch an genau derselben Stelle, wo er es an seinem letzten Abend, da er sich's nicht nehmen hatte lassen, der beklommenen Betreuerin in gewohnter Weise vorzulesen, hingelegt. Um Mitternacht starb er in ihren Armen.
Sein Platz in unserm Zimmer war nun leer und gedrückt und still taten wir unsere Geschäfte. Jeder dachte an den nächsten Ersten, der nimmer fern war, aber keiner wollte davon reden. Als der neue Monat dann gekommen, versorgten wir ruhig das empfangene Geld und noch immer war der Name des lieben Kameraden nicht genannt worden. Der Jüngste im Zimmer löste endlich den Bann. »Ich muß mir etwas holen lassen, ich habe Durst!« sagte er. »Unser Apfelthaler sitzt jetzt schon mit dem alten Strobl beieinander.« Dieser schlichte Scherz war allen willkommen. Wir hoben die Köpfe, gaben jeder nach seiner Art Antwort, die Gesprächigen kramten die alten Erinnerungen aus und fühlten sich dabei schier gemütlich, wie ja Beamte bekanntlich nie so zum Erzählen aufgelegt sind, als an dem gesegneten ersten Tage des Monats.
Nur einer tat nicht mit. Er war dem Verstorbenen vielleicht am fernsten gestanden von allen, aber das war nicht der Grund. Im Gegenteil. Die Trauerkunde hatte ihn anscheinend ganz besonders niedergedrückt, als hätte sie ihn noch in etwas Persönlichem getroffen. Und eines Tages, als ich mich im Zimmer allein verspätet hatte und unser Henz, dem ich wohl im Wege stand, sich schon da und dort zurechtrichtend zu schaffen machte, hörte ich die eigentümlich zitternde Stimme des Alten: »Mir scheint, unser Herr Pescara wird auch nimmer viel haben vom neuen Haus. Es wird ihm so gehen wie dem Herrn Apfelthaler.« Ich rief: »Was fällt Ihnen ein!«, war aber doch nachdenklich geworden.
Ja, ja, unser Pescara! Sein liebster Gesprächsstoff waren die Personal- und Vorrückungsverhältnisse gewesen. Gerüchte und leere Vermutungen, denen ich nie viel Geschmack abgewinnen hatte können. Traf ich aber auf dem Nachhauseweg mit ihm zusammen, so wußte ich die Unterhaltung immer auf seine heimatlichen Berge und seine Jugend zu lenken, wo er noch Geißhirt gewesen, und wenn er dann erzählte, lebhaft, anschaulich, zu bäurischen Späßen geneigt, die ihm nicht übel anließen, so wurde mir dieser Romane mit den germanisch blauen Augen, dem roten Bart zu einer Persönlichkeit, mit der mein naturschwärmendes Innere Fühlung nehmen konnte. Und einmal, es war zur Urlaubszeit vor zwei Jahren, lenkte ich meine Wanderschritte auch in sein Heimatstal und sah ihn für ein paar Tage als einen ganz verwandelten Menschen inmitten der rosenrot überhauchten Felsentürme seines Ländchens. Er führte mich in sein Stammhaus droben auf grüner Berghalde, ich stand am Grabe seines Vaters neben der großen Wallfahrtskirche auf der jenseitigen Höhe und am letzten Tage ging es in lustiger Gesellschaft auf einem Wäglein bis zu einem kleinen Dorf am Fuße der Marmolata, wo ein Jugendfreund von ihm als emsiger, geschickter Landwirt der Pfarre vorstand. Es waren schöne Erlebnisse für mich, die mich meinem Zimmerkollegen, der so von seiner Art hatte lassen müssen, für immer verbanden.
Aber nun über die Rede des Henz war es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Wirklich, der arme Kerl war krank, krank an der Wiener Luft, und wenn er es auch zu verbergen suchte, von Zeit zu Zeit wurden wir doch wieder daran gemahnt. Durch Zufall hatte ich erfahren, daß er sein ganzes Vertrauen in eine eben damals versuchsweise angewendete Lichtbestrahlungsmethode gesetzt hatte und der Natur das Unerreichbare, Unmögliche abtrotzen wollte. Seine freien Nachmittage verbrachte er in den Wartezimmern der Ärzte und auf dem Marterstuhl vor der Lampe. Laß mich kurz sein. Er besprach mit Fachleuten die Verbesserung der Apparate und, als er zuletzt für einige Zeit in einer Heilanstalt Aufnahme fand, mußten sich die Ärzte von ihm schelten lassen, die das neue Verfahren erst zagend und unsicher anwandten. Sein Vertrauen war felsenfest, und die Geduld, die er sich darum auferlegte, hatte etwas von Größe an sich. Er kämpfte um sein verlorenes Leben und es war ein Selbsterhaltungstrieb, der Bewunderung verdiente, nicht ein armseliges Hängen am Dasein, sondern ich möchte sagen, das Zeichen eines Verantwortlichkeitsgefühles, das vielleicht in seiner, wie ich weiß, tiefen Gläubigkeit seine Wurzeln hatte. Zuletzt verlor ich ihn aus den Augen. Der Sommer war nimmer fern und aller Mut war ihm eines Tages jäh entsunken. Er wollte fort, heim in seine Berge. Dort im Dolomitgestein schläft er jetzt neben seinem neunzigjährigen Vater.
Es gibt Menschen, die bei all und jedem ihren Spaß suchen und für die unpassendsten Gelegenheiten ein Witzwort bereithalten, und so konnte man jetzt schon aus anderen Kanzleien allerlei unheimlichen Scherz über die Verhältnisse eines Amtes herüberklingen hören, in dem der Tod in so kurzer Zeit zum zweitenmal seine Ernte bestellt hatte. Eines Tages, als uns eine solche Kunde wieder überbracht worden und ein mir ungefälliges Gespräch auslöste, erhob ich mich mißmutig und erklärte, daß ich das neue Amtsgebäude, das nun fertig geworden, besichtigen und wegen der Platzzuweisung Umschau halten wolle. Als ich dort dann durch die nüchternen, hallenden Räume schritt, begegnete mir, freudig herumtrippelnd, unser guter alter Henz, der alles, was unser Wohlbehagen anging, schon im voraus für sich bestellt zu haben schien. Er führte mich in ein hübsches, abseits gelegenes Zimmer und meinte, das wäre was für mich, der ich gerne Ruhe hätte und ungestört sein möchte.
»Das wär' mir schon recht,« sagte ich, indem ich selber empfand, daß ich mich hier mit der Neuerung am ehesten befreunden könnte, »aber der Herr Rauch ist mir im Range vor und wird diesen hübschen Platz für sich beanspruchen.«
Henz schüttelte den Kopf.
»Nun, wo soll er denn sitzen?«
»Hm,« machte er, »drüben wär' ja noch ein Platz, der ihm gefallen dürfte. Übrigens ,… hm ,…«
»Na, was denn?«
»Ich kann mir nicht helfen, aber ich muß es sagen: Mit dem Herrn Rauch, fürcht' ich, werden wir bald was erleben.«
»Na hören Sie, was haben Sie denn?« drang ich in ihn und wurde unruhig.
»Er hat etwas so Seltsames im Blick,« begann der Alte und brach in Tränen aus. »Gestern früh habe ich ihn in seinem Zimmer auf- und ablaufen und mit den schweren Büchern auf den Tisch schlagen hören. Ich bin dann hinein, aber er hat mich nicht gesehen und laut mit sich selber gesprochen. Heute früh ist er nicht mehr gekommen.«
Ich ging die treue Seele etwas scharf an, mahnte ihn, er solle nicht an solchen Unsinn denken, selber aber zitterten mir die Knie. Also, so ging es zu Ende. Ich wußte es in diesem Augenblick und erinnerte mich gleichzeitig, wie ich es in letzter Zeit einige Male schon geahnt hatte: Dem lieben alten Genossen, der oft so grundlos barsch gewesen, um in der nächsten Stunde von einer unerklärlichen, fast bedenklichen Herzlichkeit zu übersprudeln, hatte sich sein wunderlicher Geist umnachtet. Als ich am nächsten Morgen das erste Zeitungsblatt sah, faßte es mich plötzlich wieder. Ich schlug es hastig auf und da stand es: Er hatte sich nach stundenlangem Herumirren in den Praterauen in die Donau gestürzt und war nimmer zum Vorschein gekommen. Rock und Brieftasche waren an der Uferböschung gefunden worden.
So, jetzt war mir der Platz sicher, den mir der alte Henz zugedacht hatte. Aber ich mochte nicht mehr daran denken. Die zwei oder drei Mitarbeiter, die mir noch geblieben, wurden mir, so sehr ich mich auch dieser Empfindung zu erwehren suchte, umso fremder, je mehr ich sie von den Vorbereitungen für die immer näher rückende Übersiedlung erfüllt sah. Dann kam der letzte Morgen, wo der gute Henz auch über mich entschied, wenn auch in ganz anderem Sinne. Gott sei Dank, es war der Weg ins Leben! Alles war schon ausgeflogen, ich nur kramte noch zögernd um, während der Alte draußen die Arbeiter, die den Umzug besorgten, zu überwachen hatte. Er kam dazwischen auf einige Zeit ins Zimmer und, da ich gleichgültige Neuigkeiten über die Sache, die heute am nächsten lag, befürchtete, stellte ich die unvermittelte Frage: »Na, ist nichts los mit neuen Bildern!« Für einen Augenblick überzog ein verklärender Schimmer seine Runzeln. »O ja,« sagte er, »ich wüßte schon einiges.« Und nach einer Weile: »Aber es ist so schlechtes Wetter heute.«
»Na hören Sie,« meinte ich ahnungslos, »was hat das schlechte Wetter mit Ihren Bildern zu tun?«
Wieder eine Pause. Als ich dann aufsah, bemerkte ich, wie er vom Ofen, wo er sich zu tun machte, mit bangen Blicken zu mir herüberblinzelte. Ganz leise begann er, wie vor sich selber hinsprechend: »Ja, ja, schlecht, so schlecht für die Gesundheit! Ich meine nur ,… Ich glaube ,… Aber Sie sollten doch ,…«
Ein fürchterlicher Gedanke durchzuckte mich, »Warten Sie!« schrie ich auf. »Dieses Bündel geht mit dem nächsten Transport. Für mich selber ist Zeit, daß ich verschwinde.« Und verließ das Haus im Sturm. Ich habe es nimmer gesehen. Jetzt ist es längst dem Erdboden gleichgemacht. Das neue Amtsgebäude betrat ich nur mehr zur Erfüllung jener Förmlichkeiten, die mein Abschied notwendig machte.«
*
Mein Freund, der zuerst in dem eigentümlichen Tone eines wehmütigen Behagens erzählt hatte, war allmählich rascher geworden und der Nachhall einer tiefen Erregung klang merkbar in seiner Stimme mit. Nun brach er jäh ab und sah ernst nach mir herüber, bis sich auf einmal ein sinnendes Lächeln aus seinen Zügen freimachte: »Das hättest du nicht geglaubt, daß ich so abergläubisch bin?« fragte er unsicher.
»Ich verstehe dich recht gut«, sagte ich, »und kenne auch deine Natur. In dieser war dein Entschluß längst schon im geheimen vorbereitet, nur noch eines Anstoßes hatte es bedurft. Den gab dir ein seltsames Verhängnis und es ist schließlich gleich, ob die treibenden Kräfte unseres Seins da oder dort ihren Ursprung nehmen, wenn es nur zum guten ist. Unser Leben steht inmitten von Rätseln, ist umwunden und umstrickt von unlösbaren, geheimnisvollen Gewalten. Was Wunder, wenn uns da einmal unsere rationalistische Schulweisheit durchbrennt!«
»Und ich glaube,« bekräftigte er, »es hat zum guten geführt. Ich bin wieder ganz nüchtern und vernünftig geworden, und wenn ich es nun zum Arzt bringen will, folge ich nur einem Drange meines Herzens. Mein Gott, es ist so wenig, nur ein kleines bißchen darf der Mensch in die geheime Werkstätte der Natur gucken! Aber kann es etwas Herrlicheres, Idealeres geben, als auch nur ein geringes Teilchen von dem namenlosen Elend zu bannen, zu verscheuchen, das auf uns allen lastet?«
»Und was ist aus dem alten Henz geworden?« mußte ich noch fragen.
»Es geht ihm gut,« berichtete mein Freund lachend. »Ich habe während dieses kurzen Aufenthaltes in Wien jede Berührung mit dem mir fremd gewordenen Kreise meiden wollen. Ihn aber mußte ich doch anhalten, als er mir gestern in der Mariahilferstraße in die Quere kam. Er erkannte mich anfangs kaum: so gut sähe ich jetzt aus, meinte er. Aber damals, ja damals, da wäre ich übel dran gewesen! Übrigens muß er jetzt eines entbehren: an der neuen Stätte wäre alles so schön geordnet und wohl verwahrt, daß es gar nichts mehr zu tun und zu suchen gäbe. Der arme Mann! Ich meine, das wird er nicht lang ertragen können.«
»Und dieser vierfache Abgang! Wird er sich in euren Geschäften nicht übel fühlbar gemacht haben!«
»Meinst du das ernstlich! Der Beamte ist eine Nummer, die immer ersetzt werden kann. Die Jüngeren rücken nach und drücken auf die Vorderen. Alle Persönlichkeit, so hat es den Anschein, verflüchtigt dabei, was aber nicht ausschließt, daß es viele, viele von solchen Naturen darunter gibt, die sich willig, kaum unterschieden vom Durchschnitt, unters Joch beugen und dann nachmittags Quartett spielen oder allein in ihrer Kammer in ergreifenden Geigenstrichen alle Träume ihrer Jugend wieder aufklingen lassen.«