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Herr Bröselmayer im Stammhaus

Herr Hans Bröselmayer sah mir einer gewissen Geringschätzung auf jene seiner Kollegen herab, die die Zeit nach den Amtsstunden in Gast- und Kaffeehäusern totschlugen, ob sie nun dort zum aberhundertsten Male und in weitschweifigster Art ihre Standesfragen erörterten oder am Billard- und Kartentisch ihr Geld verspielten, zuweilen aber auch das ihnen geneigte Glück gar zu einem kleinen Nebenerwerb machten. Fünf bis sechs Stunden täglich die Launen seiner Vorgesetzten erdulden, ärarische Lieferungen buchen und Fakturen nachrechnen, ist doch kein Lebensberuf, pflegte er zu sagen, und hat einer nicht Frau und Kind, denen ein Anrecht auf seine Zeit und seinen Umgang zusteht, so erwächst ihm erst recht die Pflicht, sich anderswie umzutun, etwa mit einer vernünftigen Liebhaberei sich zu beschäftigen, mag diese dem stumpfen Genußmenschen auch noch so unverständlich bleiben. Den Verheirateten unter seinen Kollegen – und es waren viele darunter, die sich schon in den ersten Zwanzig freudig ins Joch begeben hatten – begegnete er mit der von Selbstvorwürfen durchsetzten Hochachtung des Junggesellen, der trotz der nahenden Vierzig auch oder eben gerade den weit Jüngeren gegenüber, die nach seiner Meinung eine von ihm versäumte Lebenspflicht erfüllt haben, einer seltsamen, beinahe jünglingshaften Verlegenheit nicht ganz Herr zu werden vermag. Zwei unter ihnen besonders genossen seine herzliche und innige Zuneigung noch eines Gesprächsstoffes wegen, den sie beinahe täglich in den bemüßigten, noch öfter aber selbst veranlaßten Unterbrechungen ihrer Kanzleiarbeiten verhandelten. Sie hatten jeder ein kleines, mitten in kahlen Häusergevierten belegenes Gärtchen und waren in aller Bescheidenheit leidenschaftliche Rosenzüchter, denen die Kataloge der Händler in Luxemburg und Nizza als liebste Lektüre galten, in deren Auslegung sie sich halbe Stunden lang vertiefen konnten. Obwohl Herr Bröselmayer in diesem ihren Fach nur Laie war und sich in der Klassifizierung der königlichen Blume mehr an die untrüglichen Kennzeichen der Farbe hielt, die er als weiß, gelb und drei Abstufungen des Rot mit Sicherheit auseinanderzuhalten wußte, bereitete es ihm doch ein gemütliches, von altväterischer Gartenpoesie angeheimeltes Behagen, die Beiden von ihren Sträuchern und Stöcken, den Marschall Niel, Souvenir de la Malmaison, Himmelsauge und Namenlose Schöne, sprechen zu hören, oder auch das friedlich-ruhige Bächlein ihrer Rede an seinem Ohr vorübergleiten zu lassen, während er selber, von ihrem Liebhabereifer angesteckt, die Arbeit unterbrach und seiner Aktentasche – sie barg meist nur sein Frühstück und nur ausnahmsweise amtliche Konzepte – einige Blätter entnahm, die für ihn Rosenzucht, Billard und Tarock und Frau und Kind bedeuteten. Herr Bröselmayer war nämlich in der Muße seines einsamen und zurückgezogenen Lebens Genealoge und der Ausgangs- und Mittelpunkt seiner Forschungen war das ehrenwerte, von ihm auf Jahrhunderte zurückgeleitete Geschlecht der Bröselmayer selber. Um dieses Hauptgebiet hatte sich natürlich im Laufe der Zeit mancherlei herumgerankt, Er hatte Untersuchungen über die Familie, der seine Mutter entstammte, angestellt, einigen Bekannten ihre Stammbäume aufrichten geholfen und endlich auch, da sein Großvater mütterlicherseits Berührungen mit den Künstlerkreisen des Vormärz gehabt hatte, dieser Zeit seine Aufmerksamkeit zugewendet, wie ihn anderseits die Namen einiger Dörfer im Weinland, die mit seinen Vorvätern verknüpft waren, gelegentlich auf die niederösterreichische Landeskunde gebracht hatten, deren Erinnerungsstätten er mit dem Glasauge der schwarzen Kamera auf kleinen Wanderungen geschickt festzuhalten verstand. Von Siegel- und Dokumenten-Kunde und allerlei anderen interessanten Dingen, die dabei nebenherliefen, gar nicht zu reden. – Da er aber ein gewissenhafter Beamter war, erfuhren Kanzlei und Aktentasche doch nur Gelegentliches, was ihm etwa die Post, als er vom Hause fortging, zugebracht, oder wessen er zu einem Gang auf die Bibliothek bedurfte, der sich unmittelbar an das in einem Gasthof eingenommene Mittagsessen anschloß. Im übrigen hatte er daheim ein ganzes Archiv voll Schriften, Büchern, Bildern und Zeitungsausschnitten, deren Nähe er, um sich angelegentlich in seine Aufgabe zu vertiefen, nicht missen mochte. Ein Schrank mit Fächern, die Aufschriften trugen, und ein ungeheurer, aus großväterlichem Besitz stammender Schreibtisch bargen nebst dem Bücherkasten seine wohlgeordneten Schätze. Dieser Schreibtisch besaß beiderseits an ein halbes Dutzend Laden, aber Herr Bröselmayer mußte sich schon in allergrößter Zerstreutheit befinden, wenn er selbst im emsigsten Heraus- und Zuschieben dieser Fächer einmal einen Fehlgriff tat. Nur das Schloß der einzigen in der Mitte links genoß der Ruhe und wurde niemals umgedreht. Vergaß Herr Bröselmayer indes sich doch einmal und rührte im Eifer der Arbeit oder in Gedanken versunken an der gemiedenen, aber wohlbeschützten Lade, so starrte ihn ein Päckchen an, das Briefe zu enthalten schien und in bedächtiger Schrift den Namen »Johanna« trug. Dieser Anblick pflegte dann für die Arbeit, die ihn just beschäftigte, nicht sehr förderlich zu sein.

Über dem Schreibtisch aber hing unter Glas und Rahmen, auf Zeichenpapier gemalt, ein buntes Bildchen, das er einstmals mit Stolz, später mit süßsäuerlichen Gefühlen, nun nur mehr mit Lächeln betrachtete und aus bloßer Pietät an seinem Platz beließ. Es war ein Wappen mit geteiltem Feld, das oben einen grünen Dreiberg, unten rote Balken auf silbernem Grunde sehen ließ und von einem Ritterhelm und farbigen Helmdecken umgeben war. Über dem Helm saß eine Krone, aus der zwei Flügel emporwuchsen, die das Kleinod, ein Paar gekreuzter Sicheln, einschlossen. Darunter war in verzierter Schrift zu lesen: »Wappen aus dem Geschlechte Bröselmayer, aus der Pfalz abstammend, gezogen aus dem VII. Buche, 78. Blatt, der europäischen Wappensammlung vom Jahre 1450«. Bröselmayer erinnerte sich aus seiner Kindheit noch genau eines Abends, wo zwei fremde Männer in das Haus seines Vaters gekommen waren und diesem das Bild zum Kaufe anboten, das sie für einen in der Zwischenzeit verstorbenen Namensvetter angefertigt haben wollten. Eine gedruckte, genealogische Darstellung, die sie dem Bilde beigaben, beschworen sie fest als unzweifelhafte geschichtliche Wahrheit. Sein Vater hatte zu all dem ungläubig den Kopf geschüttelt, aber das unverhoffte Stück schließlich doch erstanden und seitdem hatte es der junge Bröselmayer täglich vor Augen gehabt, so daß er es trotz allem auch für die Zukunft in Ehren halten wollte.

Die genealogische Darstellung aber besagte: »Die Familie Bröselmayer soll nach beglaubigter Überlieferung aus folgender Begebenheit ihren Ursprung haben. Im Jahre lebte in Schwaben ein reicher Bauer namens Berthold Christian. Nachdem seine Ehe lange kinderlos geblieben war, tat seine Gemahlin das Gelübde, wenn ihr Gott einen Sohn schenken würde, diesen dem Dienste des Herrn zu weihen. Plötzlich ward sie schwanger und gebar einen Knaben, der in der Taufe den Namen Ludwig erhielt. Er kam in seiner Jugend in ein Kloster und wurde allgemein, weil der Maierhof seines Vaters in der Nachbarschaft eines sich abbröckelnden und bröselnden Berges lag, der Bröselmayer genannt. Als Ludwig das sechzehnte Jahr erreichte, flüchtete er aus dem Kloster in einen großen Wald, wo er seine Wohnung aufschlug und längere Zeit als Einsiedler sich von Wurzeln und Kräutern ernährte. Da ereignete es sich, daß eine Schar Ritter in dem Walde jagte und der Zufall wollte es, daß sich dieselben verirrten und keinen Ausweg finden konnten. Da erblickten sie in der Dunkelheit der Nacht einen Feuerschein, eilten demselben zu und fanden zu ihrem Erstaunen Ludwig, der ihnen seine Lebensgeschichte erzählte und den Wunsch aussprach, als Knappe in ritterliche Dienste zu treten. Die Ritter, welche an dem starken, jungen Mann Gefallen fanden, forderten ihn auf, sie aus dem Walde zu bringen und auf die Burg zu begleiten. Ludwig bereitete ihnen noch ein kräftiges Mahl und führte sie aus dem Walde. Unter den verirrten Rittern aber befand sich der Kaiser Friedrich. Er machte Ludwig zu seinem Leibknappen und Schildträger, als welcher er sich durch Tapferkeit und Treue zu seinem Herrn dessen Gunst erwarb. In einer Schlacht, wo er sich durch besonderen Mut wieder auszeichnete, wurde er vom Kaiser in den Adelsstand erhoben. Er verehelichte sich und die Nachkommen pflanzten den Namen bis in die jetzige Zeit fort. Unter ihnen sind Siegmund und Heinrich, welche sich im Jahre 1492 besonders auszeichneten.« Ob in einer Schlacht oder bei der Entdeckung Amerikas, ging aus dem Wortlaut leider nicht hervor.

Den ersten Schritt, die Stichhaltigkeit dieser Angaben zu prüfen, hatte Bröselmayer beinahe noch als Knabe getan, indem er sich hinsetzte und in einem sehr förmlichen und etwas schwulstigen Brief die Sache einem Beamten des kaiserlichen Adelsarchivs vortrug, dessen Namen er zufällig erfahren hatte. Die Antwort kam überraschend schnell und war erstaunlich kurz und bezeichnete Bild und Schrift als offenbar unlauterer Herkunft. Alle Bemühungen seiner späteren Jahre dann, Genaueres über das berufene europäische Wappenbuch vom Jahre 1450 zu erfahren, blieben ohne Erfolg. Er fand es zwar noch einige Male genannt, aber immer wie eine recht geheimnisvolle Sache, und die Auskünfte, die er sich von geschäftsmäßigen Genealogen, die ihre Dienste in den Zeitungen anbieten, holte, waren, wenn er dringlich wurde, so vorsichtig und zurückhaltend, daß er eines Tages Wappen, Adel und Ritterschaft zu jenem Vorfahren legte, der, wie die besagte Genealogie noch ferner meldete, zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges in Heidelberg – Chemie studierte. Zudem waren seine Lebensauffassung und Sinnesart im Gefolge sozialer und politischer Anschauungen gereift und ließen ihm Adelsstolz und Titelsucht jetzt als etwas längst Überholtes, Unzeitgemäßes erscheinen, daß er lachend auszurufen pflegte: »Gott bewahre mich davor, ein berühmter Mann zu werden, über den der Adel verhängt wird – der Bröselmayer mit einem ›von‹ wäre doch zu stilwidrig!« Ein hochgemuter Bauernstolz war in ihm eingezogen, der sich von der solideren Grundlage herschrieb, die er seinen Forschungen gegeben hatte, als er, von Vater und Großvater aufsteigend, die Genealogie seines Stammes auf Grund der kirchlichen Matrikelbücher herzustellen unternahm. Er sah da, daß seine Voreltern durch zwei Jahrhunderte als Landleute an den Hängen des Manhartsgebirges gesessen, und war des wohl zufrieden. Die erste Unterstützung hatte ihm ein freundlicher Kooperator gewährt, mit dem er häufig beim Mittagstisch zusammentraf und der, kaum er das Pfarrdorf genannt, das Nicklasdorf, den Geburtsort seines Großvaters, pastorierte, ihm schon die Mühe des Ansuchens abnahm, indem er ausrief: »Halt, unser Dechant ist ja ein guter Bekannter des Mannersbrunner Pfarrers, das lassen Sie mich nur machen! Ich bestelle einen schönen Gruß von unserem alten Herrn und die Sache ist in Ordnung.« Wirklich übergab er ihm schon nach wenigen Tagen einen wunderlich verschnörkelten, mit ungewöhnlichen Zwischenzeichen und Unterstreichungen verzierten Brief, der also anhob:

 

»Euer Hochwürden! Schon wegen des Ausspruches des heiligen Apostels Paulus an die Römer, 12. Hauptstück, 13. Vers, dann des heiligen Petrus, 1. Brief, 4. Hauptstück, 9. und 10. Vers, insbesondere und vor allem aber wegen Ihres hochverehrten, teuren, hochwürdigen Herrn Dechants, Rats und Pfarrers, endlich auch, weil Sie zu gewiß sehr löblichen Familienzwecken eines Ihrer Pfarrkinder den Wunsch hegen, alle hier geborenen Bröselmayer zu wissen, wann diese zur Welt gekommen sind, bin ich bereit, nach Ihrem werten Schreiben, erhalten gestern, Dienstag, den 20. dieses Monats, nachfolgende Daten auszuführen (zum Privatgebrauch ohne Stempel ausgestellt) – –« und also schloß: »Tiefachtungsvollst, mit den herzlich ergebensten, freundschaftlich innigsten, respektvollsten Grüßen von mir und meiner Haushälterin an P. T. hochwürdigsten Herrn Dechant, Pfarrer und Rat, wie an seine beiden Fräulein Nichten P. Emmeran Kiesewetter, Pfarrer.«

 

Auf den stichhältigen Angaben dieses freundlichen Briefes hatte Bröselmayer dann weitergebaut. Er holte sich noch da und dort einige Ergänzungen ein, ging dem nach, worauf das Schreiben nur hingewiesen, und malte hierauf nach den gesammelten Daten einen Stammbaum auf Büttenpapier in Form einer Eiche mit Namensschildchen auf den Ästen, den er neben das Wappenbild an die Wand hängte. Und als er so den Gegenstand seiner einstigen Phantasien und die Frucht seiner jetzigen ernsteren Arbeit nebeneinander sah, fiel es ihm plötzlich aufs Herz, daß der Wert aller dieser Bemühungen mit ihm vergehen werde und daß er das Ergebnis seiner Lieblingsbeschäftigung keinem Träger seines Namens als erhebendes Vermächtnis hinterlassen könne. Er hatte weder Bruder noch Neffen und kannte keinen, der so hieß wie er und sich in seinen Stammbaum einfügen wollte. Dieser Zustand war ihm neu und unbequem und er war froh, als ihn am nächsten Tage eine goldene Junisonne und eine ihm selber unaufgeklärte Ideenverknüpfung auf einen Gedanken brachte, in dessen Verfolgung er Hut, Stock und Kamera zurechtlegte, einige flüchtige Zusammenstellungen als Stimmungsbehelfe in seiner Tasche barg und sich zu dem bevorstehenden Sonntag noch einen oder zwei Tage Urlaub vom Amt erbat. Und als er dann an einem, Herz und Nieren erfrischenden Morgen auf dem Bahnhofe stand, mußte er den Kopf darüber schütteln, daß es ihm trotz allem Begehr immer als etwas so Fernliegendes und von Hindernissen Erschwertes erschienen war, den Boden zu betreten, den seine Väter gepflügt und wo sie ihre letzte Ruhestätte gefunden, das Örtlein aufzusuchen, das sein Vater einmal in jungen Jahren gesehen, den Blick in der Runde schweifen zu lassen, die ihre Augen erquickt, und heimlich nachzufragen, ob noch ein Vetter im Stammhaus sitze und an der Heimatsscholle festhalte, und sich ungesehen darüber zu freuen. Denn all das hatte er heute vor. Freilich Mannersbrunn, das Pfarrdorf, das er zuerst erreichen und Nicklasdorf, das er dort erfragen wollte, lagen nicht im Wienerwald und in den Vorbergen der Alpen, wohin es sich so leicht an freien Tagen fahren ließ, sondern drüben, jenseits der Donau, in der Nähe bescheidener Höhenzüge, die nur wenige Großstädter kennen, wenn sie gleich nur drei oder vier Stunden von Wien entfernt sind. Schon das Frühleben auf dem Bahnhof erfüllte ihn mit behaglichster Stimmung. Das war nicht der Touristentrubel vom Süd- und Westbahnhofe. Das waren schlichte Kleinbürger, in deren Gesichtern heute, wo sie zu ihren Angehörigen in den Dörfern, Märkten und Städtchen draußen fuhren, das Gesund-Ländliche ihrer Herkunft wieder freudig aufleuchtete. Bröselmayer fühlte sich ihnen verbunden und nicht minder in Feierstimmung als sie, da der Zug in die fruchtkeimende Ebene hinausrollte.

*

Nach zwei Stunden war er am Ziel. Es wurde vor einem geräumigen Stationsgebäude gehalten, das auf freiem Felde lag. Auf der andern Seite des Geleises stand ein Wirtshaus und von dort war das weiße Band einer Straße gegen blaue östliche Höhen geworfen, wo ein massiger Turm und ein dunkles Gewirre von Dächern einen größeren Ort ankündigten. Die Dörfer seiner Ahnen aber lagen gegen Westen zu, versteckt hinter hügeligem Gelände, auf dem hellfarbige Mahl- und Futterkräuter in breiten, weichen Wellen auf- und niedergingen. Weite Striche darunter waren rosenrot von den Schmetterlingsblüten der Esparsette, die der Landschaft einen Zauber fröhlicher Kindlichkeit und keuscher Jugend gaben. Mit ihm waren noch zwei Männer dem Zug entstiegen, die Handwerkszeug bei sich trugen und querfeldein irgendwohin in Arbeit gingen. Ein junges Mädchen in blauer, kleidsamer Tracht hatte den Zug erwartet und sich dann, als sie die Wagen mehrmals auf- und niedergeblickt, enttäuscht und zögernd auf den Rückweg gemacht. Bröselmayer sah sie mit ihrem weißen Sonnenschirm schlank und blond erst wieder vor sich dahinwandeln, als er den Blick, der zuerst und lange mit einer dankbar gerührten Wendung das ganze Gefilde in sich aufgenommen – die hellen Farben der Äcker, das festliche Spiel der Wolken, die sanfte Linie der Höhen, den Duft der Ferne, ein Feldkreuz am Rain –, wieder auf die Straße richtete, die er ohne vieles Fragen eingeschlagen hatte. Alles um ihn leuchtete und flirrte: Der Glimmer im Straßensande, die wellenden Flächen der Felder, das Kleid der Wolken, die Flügel der weißen, gelben und blauen Schmetterlinge, die in unsagbarster Stille seinen Pfad umspielten, der Seidenschirm und das Gold der Haare hundert Schritte vor ihm.

Alles das hob sich zart und duftig von den Formen und Farben eines Gegenstandes ab, der nun in sein Gesichtsfeld zu treten begann. Dieses neue Ding war derb, hart und schreiend und brachte in das liebliche Frühlingsbild eine realistische Note, der er ihre Berechtigung aber durchaus nicht bestreiten wollte. Es kam von einem Seitenweg nach der Straße her und war zuvörderst die breit rot- und weißgestreifte Hose eines jungen Fleischerknechtes, der grobe Stiefel anhatte, eine abgegriffene Mütze auf dem Kopf und einen nicht mehr ganz strohgelben Zöger über dem Rücken trug. Er schritt bald vor Bröselmayer einher und nahm diesem zeitweise den Blick auf die voranwandelnde zierliche Gestalt. Dann aber beschleunigte er seinen Gang und der hinten Nachfolgende sah mit einiger Verstimmung, wie er das Fräulein mit ein paar kräftigen Schritten einholte, wie er ein Gespräch begann und wie das Fräulein ihrerseits anfangs ein wenig zur Seite wich, aber nach einiger Zurückhaltung doch den Kopf nach dem Begleiter wendete, ja einmal sogar über sein Gerede in ein fröhliches Gelächter ausbrach. Bröselmayer ärgerte sich. Das wäre eigentlich sein Platz, sagte er sich, und das wäre der schönste Beginn seiner Wanderfahrt gewesen, von dieser freundlichen Gestalt in das Land seiner Väter geleitet zu werden. Dies und das, was ihm gefallen und ihn belehrt hätte, hätte sie ihm gewiß mit wohllautender Stimme erzählt. Statt dessen geht dieser vierschrötige Gesell an ihrer Seite und an seinen albernen Reden findet es am Ende noch Gefallen, dieses Fräulein ,… ja, wie mag sie wohl heißen? Vielleicht gar sowie er? Ein Fräulein Bröselmayer, eine Base dritten oder vierten Grades von ihm etwa? Nun vergrößerte auch er seine Schritte und erreichte das Paar gerade, als die Straße an ein Gelände angelangt war, das den Blick auf das unten geborgene Mannersbrunn eröffnete. Schon hier setzten die ersten Häuser ein und eine breite, sonnenhelle Marktstraße tat sich auf. Aber er sah es nicht und schaute nur nach dem Mädchen und einen Augenblick lang war ihm das Herz stillgestanden. Dann konnte er wieder aufatmen. Er hatte sich getäuscht. Aber diese Ähnlichkeit! Nein, Nase und Mund waren doch ganz anders, aber um Aug' und Stirne war etwas, das ihn erschreckt und beseligt zugleich hatte. Verwirrt ging er voran und war so mit sich beschäftigt, daß er sich plötzlich schon am andern Ende des Marktes sah, wo er über seine Zerstreutheit lächeln mußte und in dem Vorsatz umkehrte, seine Aufmerksamkeit nun wieder mehr nach außen zu lenken. –

Die Mittagshitze lagerte zwischen den Häusern. Die beiden Weggefährten waren nimmer da, nur von der roten Hose des Fleischers glaubte er gerade noch das eine Bein in einem Torbogen verschwinden zu sehen. Er las die Namen auf den Schildern der paar Handlungen und Wirtshäuser und war froh, hier noch keinen Namensvetter zu finden, eine unmittelbare, wenn auch ungenügende Beruhigung, derentwegen er sich selber schalt. Aber die Vorstellung, neue Beziehungen anzuknüpfen und Verpflichtungen einzugehen, war ihm unbequem. Er wollte still für sich bleiben, sinnend beobachten und unerkannt wieder entschwinden. Alles Gute den Vettern, aber er kam ja eigentlich doch jener wegen, die vor ihnen gewesen. So schlug er den steilen Weg nach der Kirche ein, in der diese ihre Lebensweihen empfangen hatten. Aber sie war versperrt. Als er sich, noch unentschlossen, ob er den Küster rufen sollte, umwendete, sah er ein weißhaariges Priesterlein mit einem freundlich-behäbigen Gesicht auf das Pfarrhaus zutrippeln. Das war der gute Pfarrer Kiesewetter, der so bibelfeste und altväterisch biedere Briefe zu schreiben verstand. Er nickte ihm dankbar lächelnd nach. Gleich darauf aber erfuhr er eine neue Enttäuschung. Er hatte den Friedhof, in dem seine Voreltern zur Erde zurückgekehrt, hier auf dem Kirchenberge gesucht und sah nun seine weißen Steine und vergoldeten Kreuze in greller Sonne draußen unterhalb der Straße aufblinken, auf der er, ohne ihn zu gewahren, vor einer halben Stunde noch geschritten war. Den Weg zurückzumachen, schien ihm um diese Zeit nicht verlockend und so verschob er den Besuch auf den Heimweg und suchte Kühle und Erfrischung in den Schatten der alten Ulmen, die die Kirche umstanden, wo er in wohliger Müdigkeit und in dem Zwiespalt hochgestimmter und dann wieder sehnsüchtiger und beunruhigter Gefühle vor sich hinduselte.

Das Läuten vom Turm schreckte ihn auf. Er erhob sich, von der brütenden Mittagsstille bedrückt und geblendet von dem Weiß der Straße und der Häuser, und ging nach dem Wirtshaus drunten an der Kreuzung, das ihm unter den dreien, die er bemerkt, am einladendsten geschienen. Der Garten freilich war nicht für Gäste gerichtet. Aber an der Schattenseite der Straße war ein schmaler, grünumsponnener Verschlag, hinter dem es sich just weilen ließ. Doch es war nicht so einfach, hier den richtigen Platz zu finden. Die Mauer des Hauses war dumpf und feucht, und es schien nicht rätlich, ihr den Rücken zuzuwenden. Von der andern Seite des Tischladens aus aber hatte man gerade diese Feuchtflecken und die halberblindeten Scheiben einer Vorratskammer oder ähnlichen Räumlichkeit vor Augen. Bröselmayer nahm nun schließlich doch diesen Sitz ein, indem er beschloß, während des Essens in den Teller zu schauen und dazwischen sich immer nach der Seite hinzuwenden, wo die Kirche und der dunkle Wald hereinblickten. Die Suppe schmeckte ihm vortrefflich. Nichts ländlich Besonderes, wie er heimlich gehofft hatte, war diesen langen, dünngeschnittenen, eigelben Nudeln in der bräunlichen Fleischbrühe nachzurühmen, aber es mundete, und das versöhnte ihn mit der Unbequemlichkeit seines Sitzes. Als er dann auch noch den schweinernen Sonntagsbraten verzehrt und sein Glas Wein ausgetrunken hatte, vertauschte er seinen Platz mit der Bank draußen an dem Zaun des Küchengärtchens. Drei Kinder, flachsblond mir zigeunerbraunen Gesichtern, spielten in seiner Nähe. Er rief die beiden Buben heran, ließ sie stramm vor sich aufstellen und examinierte sie:

»Geht ihr schon in die Schule?«

»Ja,« kam es schreiend hell wie aus einem Munde.

»In welche Klasse?«

»In die zweite.«

»Na, da könnt ihr mir auch sagen, ob ihr einen unter euch habt, der Bröselmayer heißt.«

In strengem, gepreßten Hochdeutsch: »Nein!« Und ihre Gesichter zaghaft ernst und starr. Aber das Mägdlein war hinter ihnen herangeschlichen und kicherte, daß es eine Art hatte. Die Frage dieses fremden Herrn war aber auch zu komisch. Waren die beiden Büblein derselben Meinung? Ihr Ernst bekam Fältchen und glich einer Seifenblase, die zerspringen will. »Na, ich werde euch!« sagte Bröselmayer. Da machten alle drei wie auf einen Zug kehrt und stoben lachend davon. Und ließen sich nimmer blicken. Und wenn die Sandkuchen, die sie in den Sonnenofen gestellt, verbrannten, war das Bröselmayers Schuld, der nicht recht wußte, wie er daran war.

Aber die Sonne fing an, sich zu neigen, und er fühlte plötzlich wieder alle Wanderrüstigkeit in sich erwachen. Er bezahlte seine Zehrung und als er sich bei der Wirtin beiläufig um die Richtung erkundigte, in der Nicklasdorf liege, wurde ihm die Landstraße bezeichnet, von der er nach einer halben Stunde einem links ableitenden Seitensträßchen zu folgen habe. Er dankte, beschloß aber sofort, zuerst in den Wald des Manhartsberges, der an den Kirchenberg anschloß, einzudringen und erst an passender Stelle wieder zur Straße niederzusteigen, deren lichte Spur er von droben aus jeweils immer wieder ins Auge fassen wollte. Und bald stieg er auch in duftigem Schatten hinan, dankbar für jeden Hauch der Kühle und den grünen Dom mit einem heimlichen Gefühl der Zugehörigkeit bestaunend. Eine verhängnisvolle Lust, die ihn schon in manches Reiseabenteuer gebracht hatte, überkam ihn wieder: unbekümmert um seinen Wanderplan dem Zug des Augenblickes zu folgen, immer tiefer hinein in diese Forste, die ihm so ganz anders erschienen, als jene, durch die die Pfade seiner sonstigen Fährten geführt, so ursprünglich und unentweiht, ein Wald nur für sich selber da, den Jäger, ein altes Holzweib und erdbeersuchende Kinder, aber durchaus nicht für das Treiben von Sommerfrischlern, Touristen und großstädtischen Ausflüglern. Eine Stunde lang verlor er sich in diesem Zauber, dann aber ermannte er sich, schalt sich, daß es genug sei an brünstigem Genießen, und lenkte nach Süden, wo er bald einen unwirtlichen Abhang durchqueren mußte, auf dem bescheidene Blumen blühten, die weiße Schafgarbe und der gelbe Bauernsenf, aber sich auch schon die Knospen hoben, welche bald als der blaue, trotzigaufrechte Natterkopf und die goldgelbleuchtende Königskerze dastehen sollten. Nun war er im Flachland. Die Sonne hatte sich bedeckt und der schwärzeste Wolkenschatten ruhte eben auf einem Fleck im Felde, auf dem er nur mit Mühe die lichteren Töne der hellen Mauern und das jetzt ganz nachgedunkelte Grau der Holzdächer und Scheunen unterschied. Eine jähe Freude bannte ihn: das war Nicklasdorf, unzweifelhaft, das Dorf seiner Ahnen, und er hätte niederknien mögen, den Boden zu küssen, den ihre Arbeit geheiligt hatte. Ehrfürchtig zagend und doch wieder leicht beschwingt, schritt er ihn, und als er den Saumpfad verlor, den er eingeschlagen, und eine Furche suchen mußte, um, ohne in den bestellten Feldern Schaden anzurichten, vorwärtszukommen, war es ihm, als ginge er auf Blumen und sammetweichem Moos. Und er meinte, die ganze Einwohnerschaft müsse ihm entgegenkommen und ihn bejubeln wie einen lang Verschollenen. Und sah seine Väter, wie sie die Erde pflügten, den Samen streuten, wie sie den Stand der Saaten prüften und am Sonntagsnachmittag in weißen Hemdärmeln und mit Silberknöpfen an den schwarzen Westen am Rande des Dorfes standen und hinausblickten in die gesegneten Fluren. Nur als er schon ganz nahe war, überfiel ihn ein banger Zweifel: wie, wenn er die Richtung verfehlt oder die Angabe der Wirtin mißverstanden hätte und es war gar nicht das ersehnte Ziel, sondern ein anderes fremdes Dorf, das sich von seinen Träumen hatte umspinnen lassen? Aber schon stand er beim ersten Haus und las die Ortstafel und lächelte voller Glück.

Er sah ein kleines graues Haus mit breiten weißen Borten um die Fensterläden und einem Vorgärtchen. Dann ein größeres mit gelber Tünche und einem hohen, weiten Tor. Und überall der reine, weiße Rahmen um Tür und Fenster. Die Tünche aber wechselte bei jedem Gebäude und war so frisch, als ob übermorgen Kirchtag wäre, und immer durch die zugesetzte Kalkmilch zu den lieblichsten und freundlichsten Farben abgetönt: Ultramarinblau leuchtete nun so sanft wie der Frühlingshimmel, das brennende Engelrot hatte die Farbe der Heckenrose, Ocker war ganz appetitlich rahmgelb geworden, Grün gab es in mehreren Abstufungen und wenn dazwischen einmal eine Wand kräftiger hervorstach, weil der Inwohner verschwenderischer mit dem Farbensäckchen aus dem Kaufmannsladen gewaltet hatte, um so besser in dem fröhlichen Gesamtbild.

Das war Bröselmayers erster Eindruck. Er war dabei bis zu einer Stelle gekommen, wo die Straße ein Knie machte und sich zu einem kleinen Platz erweiterte. Hier stand eine Kapelle mit einem hölzernen Zwiebeltürmchen und hinter einem alten eisernen Gitter ergoß sich rotes Licht auf buntbemalte Holzschnitte, Töpfe mit Papierblumen und gläserne Leuchter. Er hielt an und wie er immer mehr in Sinnen versank, war es ihm, als ob der rötliche Schein immer stärker würde und das Tageslicht verblaßte, und plötzlich trat er scheu vom Betschemel zurück, denn dort kniete jetzt in abendlicher Stunde ein junges Weib und er wußte, es war seine Urahne und sie trug den unterm Herzen, der einen Tropfen ihres Blutes weitergeleitet hatte bis zu ihm. Und die heilige Jungfrau und der Nährvater und die heiligen Sebastian und Florian, die diese Bitten um das Wohlergehen der Sippe empfangen und zum Stuhle des Gottvaters getragen hatten, lächelten ihm zu und bezeigten ihm ihre Freude, daß er nun gekommen sei, ihnen dafür zu danken, wie sie für seinen Stamm eingestanden.

Ein nahendes Donnerrollen riß ihn auf und als er sich umwendete, blendete ihn schier der Glast der Sonne, die sich über den ganzen Saum einer schweren Wolke, kämpfend und abwehrend, ausgebreitet. Noch hatte er den andern Teil der Straße zu gehen und war nach wenig Schritten wieder im freien Feld. Er erinnerte sich, daß sein Großvater gern gesagt hatte, er sei von dort her, wo es dreizehn Häuser und vierzehn Nachtwächter gäbe. Nun inzwischen, in den hundert Jahren, war die Zahl der Häuser, wie ihn der niederösterreichische Amtskalender belehrt hatte, auf fünfzehn gestiegen. Das war ein solides, gesundes Wachstum. Bröselmayer war durch den stillen, in sonntägiger Nachmittagsruhe liegenden Ort hindurchgekommen, ohne daß der außerordentliche Fall der Anwesenheit eines Touristen von der Inwohnerschaft bemerkt worden wäre. An einem einzigen Fenster hatte er ein kleines Kind gesehen, das ihm in fröhlicher Gleichgültigkeit einen unverständlichen Gruß zulallte. Sonst war niemand zu erblicken, nicht einmal ein Hund hatte gebellt. Nun wagte er es endlich auch, menschliche Beziehungen anzuknüpfen, und klopfte an die Türe des letzten, schon ganz im Felde stehenden Hauses. Ein Rudel Kinder drängte sich durch die Spalte. Hinter ihnen zeigte sich ein dürres Weib, das nach seinem Begehr forschte. Er gab sich Mühe, ganz einfach und gleichgültig zu fragen, ob hier im Dorfe einer mit dem Namen Bröselmayer sei.

»Ja, ja,« war die Antwort.

»Wo wohnt er denn?«

»Droben auf Nummer sieben, bei der Kapelle.«

Das war so gewöhnlich und uninteressiert gesagt, daß dem Frager neue Unternehmungslust zuwuchs. Er dankte, ging die Straße zurück und fand die Nummer sieben auf dem Hause mit dem weiten, ihm schon von seinem Vater aus früher Jugenderinnerung genannten Torbogen, der die Giebel des Wohnhauses und des Stallgebäudes miteinander verband und auf dem sein Auge schon früher prüfend geruht hatte. Unauffällig schleuderte er heran und suchte einen Blick in die der Mittagssonne wegen verhängten Fenster zu tun. Das sah alles so verlockend und geheimnisvoll aus, aber er wollte es trotzdem damit genug sein lassen. Wohl sagte er sich, es wäre nicht recht von ihm, als Fremder an dem Hause seiner Väter vorüberzugehen, aber diese Scheu galt ihm als ein Teil seines Wesens und daß er solcherart auch hier sein Verlangen zu zügeln verstünde, erfüllte ihn beinahe mit Befriedigung. Zugleich tröstete er sich mit der Vorstellung, da drinnen hause ein alter, grämlicher Bauer, der ihn mit Mißtrauen empfangen und ihm den ganzen Zauber der Stätte nehmen würde. Nur noch ein Kunststückchen galt es, auszuführen. Er entnahm seine Lichtbildkammer dem Rucksack, schraubte sie auf den eilig zusammengesetzten hohen Dreibein fest und suchte auf der gegenüberliegenden Seite des Plätzchens eine Stelle, wo er Stammhaus und Kapelle zusammen auf eine Platte bringen könne. Aber dieses Unternehmen hatte eine unerwartete Wirkung. Das Tor des Hauses, in dessen Winkel er Stellung genommen, öffnete sich und nacheinander erschienen ein lächelnder Bursche, ein langer Knecht mit einem pfiffigen Gesicht, zwei verschämte Dirnen und dann eine muntere und zwischendurch ein halbes Dutzend Kinder und umstanden sein Tun und ließen sich durch die ersten dicken Regentropfen nicht beunruhigen, die ihn zu größter Beschleunigung antrieben. Knips, das Haus Nummer sieben war abkonterfeit. Aber nun trat der lange Knecht vor und meinte bedächtig, was es koste, wenn er auch ihn abnehmen tät', und die andern stießen und mahnten sich gegenseitig, die außerordentliche Gelegenheit zu benützen. Bröselmayer hätte den Leuten vielleicht den Spaß gemacht, aber dazu war jetzt keine Zeit mehr. Der Lärm der aufschlagenden Tropfen wurde immer stärker und in den nächsten Minuten drohte der ganze Himmel niederzugehen. Die gerade noch seine Gefälligkeit hatten beanspruchen wollen, begannen sich zurückzuziehen, ohne sich um seinen Unterstand zu kümmern. Und Wirtshaus, das fiel ihm jetzt erst auf, gab es keines in diesem merkwürdigsten deutschen Dorfe. Seid ihr Mormonen? hätte er ausrufen wollen. Just noch erwischte er eine der Mägde beim Schürzenzipfel und fragte eilig: »Wer wohnt dort drüben!«

»Der Bröselmayer.«

»Ist er alt oder jung!«

»Na, soviel wie Sie wird er schon haben.«

»Danke!« Er hatte sein Geräte unter dem Arm und in seinem Kopf einen raschen Entschluß gefaßt.

*

Mit weiten Sprüngen, eingezogenem Kopf und abwehrend ausgespreizten Schultern, heimgetrieben von einem lustig niederprasselnden Regen, war Herr Bröselmayer in das Haus seiner Väter eingezogen. Er hatte das Hoftor aufgestoßen und rasch wieder zugeschlagen und stand nun unter einem schützenden Vordach, das über der Haustüre angebracht war, einer kleinen Ansammlung von Menschen verschiedenen Alters gegenüber, deren Aufmerksamkeit halb durch das längst erwartete, geräuschvolle Naturschauspiel, halb durch den eingedrungenen Fremdling in Anspruch genommen war.

»Erlauben schon, daß ich mich unterstelle,« sagte dieser, indem er sich aufrichtete und höflich den triefenden Hut zog und seine Augen suchten den Herrn des Hauses. Er erkannte ihn alsbald, denn die Blicke der Frauen waren nach ihm gegangen, als der Fremde sein Ansuchen vorgebracht hatte. Bröselmayer trat auf ihn zu und wiederholte seine Worte. »Ich glaube,« fügte er bei, »ein besonderes Anrecht darauf zu haben. Ich heiße nämlich gerade so wie Sie.«

»Ah,« machte der Bauer und lud den Besuch mit einem freundlichen Lächeln ein, in die Stube zu treten. Bröselmayer war von seinem Vetter entzückt. Keine in die Augen springende Familienähnlichkeit, aber ein stattlicher Mann von klugem Aussehen und dem Gehaben eines Gebildeten. Keine Spur von Mißtrauen.

»Mein Großvater wurde nämlich hier in diesem Hause geboren,« fing Bröselmayer wieder an, indem er sich mit einem neugierig verstohlenen Blick in der Runde auf den angebotenen Stuhl niederließ, »und wir sind wahrscheinlich gar nicht so entfernt verwandt.«

Der Vetter sah noch immer gleich aufmerksam drein, und wenn er den Besucher für einen Schwindler oder Schmarotzer gehalten hätte, hätt' es sich jetzt zeigen müssen. Statt dessen sagte er: »Dann glaube ich selber, daß wir uns nicht so fremd sind. Mein seliger Vater hieß Michael wie ich, und mein Großvater hat ebenso geheißen und ist gestorben, als mein Vater dreißig Jahre alt war. Die Großväter müssen also Brüder gewesen sein.«

Bröselmayer der Genealoge hatte bereits seiner Brieftasche eine Abschrift des Stammbaums entnommen und zwischen sich und dem Vetter ausgebreitet. Aber während er sich noch besann, wo er beginnen sollte, legte sich schon der Finger des anderen auf eine bestimmte Stelle: »Schellenberger, Rosalia Schellenberger, ja, so hieß meine Großmutter, ehe sie der Ähnl heiratete. Und das ist er selber, Michael, geboren 1793, gestorben 1859, ja im Neunundfünzigerjahre muß es gewesen sein. Und diese da, die Anna, ist die Mahm, die den Arndorfer Vetter in Plankenreith zum Mann hat.«

Hans Bröselmayer zeigte ihm nun auch den Namen seines Großvaters, der der letzte in der Geschwisterreihe war.

»Ja, die sind nun alle tot,« sagte der Vetter, »und sind schon im Leben früh auseinandergerissen worden, daß oft eins nichts mehr vom andern gehört hat. Und es ist eine schöne Fügung, daß wir wieder zueinander gefunden haben.« Er reichte ihm die Hand über den Tisch, in die Bröselmayer einschlug. Und wie er dabei freudig bewegt dem bäuerlichen Vetter ins Antlitz blickte, sah er darin etwas Vertrautes, das ferne, seltsame Erinnerungen in ihm weckte, und er erkannte, daß auch sein Gegenüber längst den Beweis für seine urkundlichen Angaben aus seinem Gesicht heraus gelesen.

Die Frau, eine hohe Gestalt mit rundlichen Wangen und schwer aufgesteckten Zöpfen, trat ein, stellte Wein und Brot auf den Tisch und begrüßte jetzt erst den Ankömmling förmlich. Sie stießen mit den Gläsern an und Bröselmayer erzählte von den Seinen, die alle schon dahin waren, und was sich als Überlieferung in seiner Familie erhalten hatte. Der Vetter wußte manches zu ergänzen und berichtete dann, was er über Haus und Hof von Vater und Großvater her wußte, was an Grundstücken von alters dazugehöre und wie es um seine Wirtschaft stehe. Und bruchstückweise, mit wunderlichen Veränderungen und als etwas, das er einmal gehört und zu dem er keine Stellung nehmen könne, brachte er einiges aus der Darstellung jener angeblichen Wappensammlung vom Jahre 1450 vor, daß der Gast erkannte, diese Lügenmären seien auf allerlei Umwegen selbst in dieses stille Bauernhaus gedrungen, dessen Bestand allein schon der vernichtendste Beweis gegen sie war. Auch daß er von einem Reserveoffizier ihres Namens gehört habe, erzählte der Vetter, der in Krems, wo ein Bursche aus dem Dorf in Garnison gelegen, zur Waffenübung eingerückt war und ein in glänzenden Verhältnissen lebender höherer Beamter in Wien gewesen sein soll. Bröselmayer errötete hierbei, indem er an seine bescheidene Stellung und an seine Lebensumstände dachte, die ihn in den Gerüchten der Landleute an Rang und Einkommen so hoch über die Wirklichkeit erhoben hatten. »Er war ein Junggeselle,« setzte der Vetter noch hinzu.

»Wie ich,« sagte Bröselmayer und der Bauer meinte kopfschüttelnd: »Daß es unter den Stadtherren soviel unverheiratete gibt!« Doch der andre fing zur gleichen Zeit, ohne sich als jenen vormaligen Leutnant der Reserve einzubekennen, an, ziemlich wegwerfend und geringschätzig über seine Tätigkeit an der Staatsmaschine zu sprechen. Als er sich aber dann bei der Versuchung ertappte, auch von seinen übrigen Verhältnissen ein Zerrbild zu geben, schämte er sich und brach jäh ab.

Auch ließ sich in diesem Augenblick ein Getrampel vor der Türe hören und gleich darauf stapften drei blonde Buben und ein kleines, braunlockiges Mädchen in die Stube: »Vater, es regnet nimmer!« riefen sie wie aus einem Munde. »Und ihr weckt mir die Resel auf!« greinte die Mutter und eilte in die Kammer nebenan. Der Vater aber ließ die Seinen in einer Reihe aufstellen und den Herrn Vetter aus der Stadt begrüßen, der sie mit aufgerissenen Augen wie kleine Wundertiere anstaunte. »Also, wenn es nimmer regnet, dann wollen wir in den Stall und auf die Felder gehen,« sagte der Bauer. Aber Bröselmayer bat, ob er nicht vorher die Gelasse des Hauses selber sehen könne, und der Bauer, dessen größter Stolz sein Vieh und seine Saaten sind, ließ ihn ins Schlafzimmer gucken, wo die kleine Resel eingewiegt wurde, und führte ihn noch in ein anderes Zimmer und in die Küche und einige Kammern und verweilte mit ihm im Flur und Bröselmayer besah alles mit Ehrfurcht und die frischgetünchten Wände und das ganze Innere des Hauses, das nichts Auffälliges an altertümlicher Architektur oder bäuerlichem Kunstgewerbe enthielt, sondern aussah wie hundert andere, die just ebenso alt und just ebenso einfach und immer auf die Jetztzeit gerichtet sind wie dieses, sie redeten zu ihm in einer Sprache, die noch kein Mensch hier vernommen hatte. Hier hatten sein Großvater, sein Urgroßvater und wiederum dessen Vorväter ihre ersten Schreie ausgestoßen, aber das hörte und empfand nur er, denn im übrigen war es jetzt eben nur das festgefügte und blankgescheuerte Haus, in dem die kleine Resel schrie und die gegenwärtigen Michel, Thomas, Anna und Seppl, unbekümmert um das Echo und die Schatten vergangener Zeiten, ihr fröhliches Daseinsrecht verkündeten.

Von Haus, Hof und Garten und den säuberlichen Nebengebäuden ging es hinaus zu den Ackern und Weinbergen, über denen sich nun wieder ein klarer Himmel wölbte. Michael Bröselmayer hieß seine Kinder zurückbleiben und wies dem Gaste die zum Teil weitverstreuten Grundstücke. Als er den Eifer bemerkte, mit dem der andere seine Blicke in die Erde bohrte und immer wieder die Vorstellung wachrief, wie hier ihre gemeinsamen Vorfahren schon die gleiche Arbeit getan wie der gegenwärtige Besitzer, schlich ein feines Lächeln um seine Lippen. Er schritt hierauf einige Zeit nachdenklich schweigend neben seinem Gaste einher. Dann sagte er:

»Wir haben immer das Gleiche getan, Jahr um Jahr, Tag um Tag, von früh bis abends, und ich denke, denen, die vorher waren, wird es nicht leichter gefallen sein als mir. Immer heißt es auf seinem Posten sein, und wenn auch der Herr seinen Segen und Sonne und Regen schickt, es macht sich nichts von selber. Wir waren viel Geschwister und ich habe die Fäuste rühren müssen, um Brüdern und Schwestern ihr Erbteil zu geben und doch den Grund zusammenzuhalten. Mit dreiundzwanzig Jahren bin ich hier als Bauer gesessen und habe sehen müssen, wie die Leute den Kopf schüttelten, und hören, wie sie hinter mir sagten, ich werde es nicht tun können. Und wenn mir oft genug bang ward, wie ich die hohen Steuern zahlen sollte, wie die Arbeiten, von denen eine die andere drängte, geschehen würden, da ich mir nicht viel Dienstboten halten konnte, wenn mir oft sogar der Schlaf ausblieb, wo ich doch am Tage munter und frisch von Kraft sein sollte: hörte ich solche Reden, so biß ich die Zähne übereinander und sagte mir: Es muß gehen, alles geht, man muß nur wollen! Und es ging auch. Ich lebte wie ein Knecht und mit den Knechten, aber sie achteten mich doch als den Herrn. Ins Wirtshaus wäre ich nicht gegangen, auch wenn wir eines gehabt hätten in Nicklasdorf. Aber zwei oder drei Kirchtage in der Umgebung habe ich doch besucht und als ich mir von einem einst meine Marie holte und nun ein Weib hatte, das nach dem Rechten in dem sah, was sie besser verstand, und die Bürde mit mir teilte, da sagten wir erst recht und lachten aller Sorgen: Alles geht, nur munter vorwärts! Und es ging so schön und schneller, als ich mir's selber zu hoffen getraut hatte, daß nun Zeiten kamen, wo ich den Kopf immer mehr und immer unternehmungslustiger zur Höhe richtete, meine Gedanken vom Augenblick ablenkte und Zukünftiges überschlug, bis ich Pläne machte und die Pläne ins Werk setzen wollte und glaubte, nun stehe nichts mehr im Wege, eins und das andere zu wagen und mit den paar Gulden, die zeitweise im Geldkasten klimperten, der Welt ein wenig in die Speichen zu greifen. Aber da klopfte mir der Herrgott schön auf die Finger! Und eine ganz, ganz leise Stimme in mir flüsterte: Alles geht nicht! Ei, wie mich das überrascht hat! Aber es war doch auch wahr und so erfuhr ich immer eindringlicher: Es hat jeder und jedes Leben und Trachten eine Grenze und bis hieher geht alles und darüber hinaus geht es nicht mehr. Sehen Sie, von da an hatte ich zwei Wahlsprüche und ich mußte nur wissen, an welchen ich mich halten sollte: Alles geht! oder: Alles geht nicht! Waren es Pflichten, deren Erfüllung mir schwer fiel, sollte ich zu dem, was ich gerne getan, noch eins hinzutun, daß es ein Ganzes sei, forderten Vernunft und Recht, Sitte und Rücksicht das Gegenteil von dem, was mich gerade gelüstete, dann hieß es immer: Alles geht! und ich habe mir schon längst abgewöhnt, auch wenn's mir am bittersten war, nur eine Miene zu verziehen. Waren es aber Wünsche, die in den Wolken hingen, dann hieß es immer rechtzeitig sich besinnen: Alles geht nicht! Ich kann, wenn ich mein Feld betreue und im Eifer auf Jahre hinaus nicht erlahme, das schönste Korn erzielen, das ich bei meinem Nachbar sehe. Das geht. Aber ich kann die gute Milchkuh nicht haben, die er hat, wenn er sie mir nicht verkauft. Da heißt es sich bescheiden. Das habe ich nicht schnell gelernt. Das Auseinanderhalten ist mir manches Mal recht schwer gefallen und oft habe ich aus Leichtsinn oder Bequemlichkeit das Verkehrte getan und dann Lehrgeld zahlen müssen. Aber sehen Sie, damals, als ich meine Marie zum erstenmal gesehen, so wußte ich sofort: Das geht! und war keinen Augenblick im Zweifel, ob ich mich an dies oder das andere Sprüchlein halten solle. Und es ist prächtig gegangen und es hat keine Stunde gegeben, wo ich mir hätte denken können, daß es anders sein könne. Und darum, lieber Vetter, nehmen Sie mir's nicht übel, meine ich, was Sie angeht, daß es vielleicht doch auch ,…«

Als Michael Bröselmayer so weit gekommen war, tönte aus einem schmalen Weglein im Korn eine laute, helle Stimme: »Vater!« und sein zwölfjähriger Ältester schoß ihm zwischen die Beine. »Vater, Sie sollen nach Haus kommen, der Roßhändler ist da!«

»Teufelsbub, mußt gerade jetzt daherrennen,« brummte der Bauer und strich dem Jungen die Haare sanft aus der Stirn, »na, der soll mir nicht lange warten, ich habe ein Wörtlein mit ihm zu reden. Also, Herr Vetter, nichts für ungut, und wenn Sie noch da hinauf bis zur Aussicht wollen, so wird Sie der Michl führen. Aber bleiben Sie uns nicht zu lange aus. Wir essen bald und fort dürfen Sie heute nimmer. Sie müssen doch eine Nacht in Ihrem Stammhaus schlafen.«

Damit ging er und der Knabe blieb bei dem Stadtvetter zurück. Aber er war von unruhiger Art. Er sprang die Raine entlang und umlief ein ganzes Feldergeviert, bis der andere, der langsamer ging als sonst, die eine Seite entlang gekommen war. Inzwischen kletterte er noch auf einen Kirschbaum und nahm die glänzenden, hellen Früchte mit den Zähnen vom Stamm. Endlich hatte er sich ausgetollt und kam lachend und wankend zu Bröselmayer zurück.

»So, Herr Vetter,« sagte er, »jetzt gehen wir noch da hinauf, nehmen ein Stück vom Walde mit und wenn wir dann hinaustreten, werden Sie unser Nicklasdorf gar nicht mehr erkennen. Und beim Handweiser oben rasten wir, wenn es Ihnen gefällig ist.«

Sie kamen nach einer letzten, ziemlich jähen Steigung in ein dunkelndes Gehölz und erreichten schließlich eine Stelle, wo ein Stein zum Sitzen lud und eine hölzerne, grünumbuschte Wegsäule mit einer ausgeschnittenen Hand einem Sträßlein die Richtung weiter hinein ins Land wies. Dort war eine kahle, steinige Hochfläche, auf der sich nur vereinzelte magere Ackerstreifen fristeten. Die Rückschau aber öffnete das überraschende Bild des unten zwischen buntgebänderten Hügeln anmutig ruhenden Dörfleins mit der in der Abendsonne leuchtenden roten Blechhaube der Kapelle, und der Wald gab die dunklen Kulissen dazu. Bröselmayer setzte sich auf den Stein und schlang den Arm um den Nacken seines jugendlichen Führers. Und wie er all die vielen und kleinen Erlebnisse dieses Tages an sich vorüberziehen ließ, fühlte er sich fast ein anderer Mensch geworden. Da hörte er die leise, sehnsüchtige Stimme des Knaben: »Wenn ich nur schon groß wäre!«

»Warum?« fragte er.

»Weil ich so vieles vorhabe und in die Welt und in fremde Länder hinausmöchte, und ,… und ,…«

»Alles geht nicht, Michl!« mahnte der Vetter Oheim.

»Alles geht!« lachte ihn der Knabe mit hellen, strahlenden Augen an. Und indem er dabei den Kopf zurückwarf und mit der Hand übermütig ins Grüne schlug, hafteten seine Blicke auf einem kleinen, verrosteten Täfelchen, das, schier schon unkenntlich, in den unteren Teil der rissigen und gebleichten Holzfäule eingelassen war und sonst von Blatt und Busch verdeckt gehalten wurde.

»Ei, das habe ich noch gar nicht gesehen,« rief er, »hier sind Buchstaben, ein B und ein I und da heißt es ›Zukunft‹ ,… ›Wert‹ ,…«

Bröselmayer hatte sich erhoben. In der Tat, hier waren Zeichen und Worte auf ein einst weißes Blechschildchen gemalt. Er beugte sich nieder, entfernte Staub und Moos von der Tafel und begann bei sinkendem Licht die Buchstaben zu enträtseln und zu verbinden, bis eine spruchartige Inschrift zutage trat, die er mehrmals las und dann mit der Freude des Entdeckers und neuerwachtem Forschertrieb in sein Notizbüchlein eintrug, wobei er alle Schnörkel und Besonderheiten des Pinsels getreulich wiederzugeben suchte. Und so lautete der Spruch:

»Freundlich grüßt die Rückschau dich,
Ei, wie tätst du gerne weilen!
Doch die Wege dehnen sich
Und du mußt schon weiter eilen:
Auf der Zukunft dunkler Bahn
Liegen Ziel dir, Sein und Leben,
Nur der Schritt, den du getan,
Wird dir Wert und Inhalt geben.«

Und es deutete der Spruch offenbar auf den Rückblick gegen das Dörfchen und auf die vorne liegende Heide hin, die, mit Trümmern und hohem Unkraut bedeckt, wenig einladend für den Wanderer schien, aber an spärlichen Äckern vorüber in andere Gegenden führt, die neue Kornkammern sind und wo neue milde Schönheiten das Bild der Rebenhügel und Eichenwälder umschweben. Und in der Ferne, wo der Dunst des Tages gelagert hatte, zeigte sich jetzt der dunkle Streifen eines weithinziehenden Forstes, dessen Kamm in rotem Golde leuchtete. Denn dort ging eben der Tag zur Rüste, an dem Herr Bröselmayer in das Haus seiner Väter getreten war.

*

Bröselmayer hatte noch den nächsten Morgen im Stammhause verbracht und nach einigen kleinen Streifungen in die Umgebung und wiederholten Aufnahmen von Haus, Hof und Straße herzlichen Abschied von den Seinen genommen. Auf der Rückfahrt, zu der sein Wirt das Wägelchen beigestellt, hatte er in Mannersbrunn halten lassen, die Kirche zu besuchen und den gestern verabsäumten Friedhof draußen, wo er eine Anzahl schöner Grabschriften auflas. Der Vetter hatte den Satz, in dem er durch die Ankunft des Roßkamms unterbrochen worden, nicht mehr vollendet und Bröselmayer war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, um ihn daran zu erinnern. Er hatte ihm von seinem Fund, dem Spruch an der Wegsäule, erzählt und ihm die Verse vorgelesen und als der Vetter gemeint, diese Worte, die ihm übrigens noch aus seiner Kindheit in Erinnerung seien, gäben viel zu denken, sich herzlich über diese sinnige Auffassung seines Verwandten gefreut.

Nun saß er wieder zu Hause. Sein Notizbuch, einige lose Blätter und Zettel, die Stammtafel, eine Karte des Manhartsgebirges und seiner Umgebung und die ersten eiligen Durchleuchtungen seiner Aufnahmen lagen in buntem Durcheinander um ihn, der eifrig damit beschäftigt war, alle Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse der Fahrt in passende Form zu bringen und dem Archive einzuverleiben. Dabei war es ihm merkwürdig, wie verschiedene Einzelheiten nun in einer Beleuchtung erschienen, die ihm früher nicht aufgefallen war. Die Begegnung mit dem jungen Mädchen auf der Landstraße, der ganze Hausstand des Vetters, manches Wort, das dieser gesagt, besonders die Erzählung auf dem Gang durch die Fluren mit der rätselhaften Schlußwendung, begannen ihm immer mehr aufzufallen, daß er in seiner Arbeit verlangsamte und ein ums andre Mal aufstehen und sich Bewegung machen mußte. Als er sich endlich zum Weiterschreiben zwingen wollte, schlugen die Blätter des offen daliegenden Notizbuches von selber um und er las mit angehaltenem Atem:

Auf der Zukunft dunkler Bahn
Liegen Ziel dir, Sein und Leben,
Nur der Schritt, den du getan,
Wird dir Wert und Inhalt geben.

Als er nach einer Stunde wieder an seinem Schreibtische saß, war unter seine Schriften und Zettel auf einmal ein elfenbeinfarbiger Briefbogen geraten. Noch einen langen Blick auf den Spruch und dann setzte er mit rascher und bebender Hand zwei Worte auf den Bogen, die er dann betroffen und ungläubig anstarrte. Sie hießen: »Verehrtes Fräulein!« Und nach zehn Minuten, nachdem er wieder durchs Zimmer geschritten und am Fenster gestanden war, schrieb er einige Zeilen tiefer und nun schon ruhiger eine zweite Anrede: »Liebe Johanna!« Dann erhob er sich nimmer. Er schrieb und schrieb und zwei Stunden lang hörte er nicht auf und ein zweiter und ein dritter Briefbogen mußten aus der Schachtel und als kein vierter zu finden war, fuhr er auf einem zusammengefalteren Blatt Kanzleipapieres fort: und es kam der ganze Bröselmayer zutage. Alles, was um ihn herumlag, versank vor seinen nach innen gerichteten Blicken. Und es waren so seltsame Sätze in dem Briefe wie: »Ich begreife nicht, wie ich diese letzten Jahre ruhig meinem Berufe und meinen täglichen Geschäften habe nachgehen können. Alles Schöne und Gute, das ich genossen, erscheint mir jetzt wie eine Sünde.« Und: »Alle Welt glaubt, ich hätte das behaglichste Dasein, und niemand weiß, wie es um mich stand. Aber jetzt kann ich es wohl sagen, ich ging wie mit Scheuklappen durchs Leben.« Oder: »Ich habe viel gelernt in diesen Tagen. Es ist unglaublich, wieviel Weisheit man bei Leuten holen kann, deren Leben sich in gerader Linie entwickelt.« Dann: »Ich verzweifle heute daran, ob je nur ein Körnchen von einem guten Kern in mir war. Was soll nun aus mir werden?« Endlich: »Ich weiß nicht, wie ich mir den Zustand wünschen soll, in dem Du diesen Brief empfängst. Aber ich glaube beinahe, hast Du mir längst verziehen, dann bin ich Dir gleichgültig und habe auch nichts mehr zu hoffen.« Und so schrieb er und schrieb er und machte sich immer schwärzer. Aber es war doch nur Tintenschwärze, die an dem Herzgold nicht haften blieb. – – –

Anderthalb Jahre darnach hatten sich die Verhältnisse des Herrn Bröselmayer gewaltig geändert. Er war nimmer allein und aus einer Stube seiner Wohnung tönte zu wechselnden Stunden des Tages und der Nacht helles, kräftiges Kinderschreien. Im Amt begegnet er den Verheirateten unter seinen Kollegen mit verständnisvoller Selbstzufriedenheit und holt sich zuweilen Rat bei ihnen in allerlei häuslichen Dingen. Er hat sogar vor, im nächsten Sommer einen Garten zu mieten und Rosenstöcke zu pflanzen, wofür er jetzt schon der weitgehendsten Unterstützung versichert wurde. An den Nachmittagen aber sieht man ihn mit seiner schlanken, rosigen Frau, mit der er bald nach der Hochzeit den Vetter Michael in Nicklasdorf besucht hat, und mit dem Kindermädchen die Spazierwege aufsuchen. Seine genealogischen Arbeiten sind abgeschlossen. Er ist jetzt nur mehr auf die Zukunft der Bröselmayer bedacht.


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