Paul Heyse
Unheilbar
Paul Heyse

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Einige Tage später.

Es ist mir erspart worden, dem Freunde diese unangenehmen Vorfälle mitzutheilen, die ihn jedenfalls aufgeregt hätten, da er ohnehin in jüngster Zeit weniger heiter ist und oft wie abwesend neben mir hingeht. Der Arme, den ich fürchtete, wird nun nicht mehr meine Wege kreuzen. Seinen umflorten Sinn umgiebt nun schon die himmlische Klarheit. Heute früh, als die Wirthin zu mir hereintrat, erzählte sie mir, daß ein junger Pole in der Nacht gestorben sei; die Beschreibung, die sie von seiner Person machte, paßt Zug für Zug auf meinen armen Wahnwitzigen. Ein Blutsturz hat ihn hingerafft, so fanden sie ihn Morgens in seinem Bett.

Ich machte mir nun Vorwürfe, daß ich doch vielleicht zu hart zu ihm gesprochen habe. Aber ich hatte keine Waffe, als das Wort; wenn es zweischneidig war und ihn tiefer verwundete, als zur Abwehr nöthig gewesen wäre, so mag mir wohl die Bestürzung des Augenblicks zur Entschuldigung dienen und daß ich seinen Zustand mir nicht sogleich klar zu machen wußte.

 

Abends.

Müde, aufgeregt, mit mir selbst im Streit. Als ich Morrik heute wiedersah, that es mir besonders wohl, nach diesen peinlichen Tagen meinen lieben Freund wieder zu begrüßen. Er erzählte mir, ohne Gewicht darauf zu legen – denn man ist hier daran gewöhnt, ein bekanntes Gesicht plötzlich verschwinden zu sehen – von dem jüngsten Todesfall und fragte, ob ich mich der feinen melancholischen Gestalt erinnerte. Ich sagte: Nein, und gleich darauf wurde mir das Herz so schwer, als hätte ich das schlimmste Verbrechen begangen. Nun kann ich mir hundert Mal vorhalten, daß ich mit dieser Lüge ein weiteres Gespräch und vielleicht die Nothwendigkeit anderer Lügen habe abschneiden wollen: – es läßt mich nicht los, das unheimliche Gefühl, mich gegen den Freund vergangen zu haben, der ein Recht hatte auf die volle Wahrheit. Ich werde nun wieder eine schlechte Nacht haben und nicht eher ruhig sein, als bis ich ihm offen Alles eingestanden und ihn um Verzeihung gebeten habe.

 

Am anderen Tage. Ich glaube, es ist der 23. Kalter Nebel.

Ich soll hart bestraft werden. Er hat nicht ausgehn können wegen der strengeren Luft. Nun muß ich mich bis morgen gedulden, wer weiß, bis übermorgen. Ich fühle mich recht gedrückt und armselig; es ist mir schon zu sehr Bedürfniß geworden, keinen Hauch von Unwahrheit und Mißverstehen in diesem Verhältniß zu dulden.

Edgar Allan Poe mit seiner krankhaften Unzufriedenheit, seinen bitteren und trostlosen Sarkasmen sagt mir jetzt wahrhaftig zu. Es giebt Stimmungen, in denen uns Weisheit so sehr widersteht, wie einem Fiebernden eine Schüssel süßer Milch. Nur freilich ......

 

Zwei Stunden nachher.

Ist denn Ruhe und Seelenfrieden hier auf der kreisenden Erde nur ein leeres Wort? Kann sie nicht einmal der bewahren, der sie in sich selbst erobert hat? Ich fange an zu glauben, daß ich vor Stürmen und Schicksalen, die mir diese letzten Athemzüge verstören, nicht einmal in einem verschlossenen und vermauerten Thurme sicher wäre, auch wenn mir ein Rabe das Essen zum Gitterfenster hereintrüge. Und ginge es nicht anders, so würde ein Erdbeben meinen Versteck unterwühlen, die Mauern spalten und mich wieder hinaus ins Leben werfen, unter fremde Menschen, deren Neigung mich zu ängstigen anfinge, wenn ich eben damit fertig geworden wäre, mir aus ihrer Abneigung nicht das Geringste mehr zu machen.

Ein Besuch hat mich heut Morgen unterbrochen, der Letzte von allen Meranern, auf den ich gerathen hätte, daß er je bei mir eintreten würde, kein Geringerer, als der Herr Bürgermeister der Stadt. Er kam, um mich nicht durch eine feierliche Vorladung zu erschrecken, und eröffnete mir, daß ihm ein Brief für mich anvertraut sei und das Testament Dessen, der den Brief geschrieben und der mich zu seiner Erbin eingesetzt habe. Ich sah ihn rathlos an. Der Gedanke an den Vater konnte mir nicht nahe treten. Geschähe das Furchtbare, daß ich ihn noch zu beweinen hätte, so wäre mir doch der Kummer erspart, ihn zu beerben. Wer aber in aller Welt –? Ich warf einen Blick auf den Brief, den der Herr Bürgermeister mit einigem Zögern auf den Tisch legte, und sah eine ganz fremde Hand. Ich kenne die Handschrift nicht, sagte ich verwundert, während mir doch, weil die Aufschrift französisch war, eine wunderliche Furcht aufstieg. Mein Erstaunen schien ihn zu beruhigen. Er hatte wohl ein intimeres Verhältniß zwischen dem Schreiber und mir vorausgesetzt und sich auf eine peinliche Scene gefaßt gemacht. Wollen sie den Brief jetzt oder später lesen? fragte er. Ich öffnete ihn sogleich und las mit Herzklopfen, aber ohne meine Bewegung zu verrathen, wie ich wenigstens glaube. Der Brief führte eine Sprache, die ich schon einmal mit Entsetzen von mir gewiesen, kaum besänftigt von der Nähe des Todes, die der Unglückliche sich nicht verleugnen konnte. Vieles habe ich noch jetzt nicht entziffert. Die undeutliche französische Hand zittert in jedem Zuge von krankhafter Erregung. Uebrigens kein Wort von dem Vermächtniß, nur Trostlosigkeit, Anklagen gegen das Geschick, das das Netz dieser Leidenschaft zerreiße, statt es zu lösen, wirre, taumelnde Worte und Bilder, hingeschrieben, nur um einem gepreßten Herzen Luft zu machen – und ein anderes zu bedrücken.

Als ich die Blätter aus der Hand legte, wandte sich der freundliche Herr wieder zu mir und erwartete offenbar eine Erklärung, die ich ihm freilich schuldig bleiben mußte. Als ich ihm bekannte, daß mir das alles nicht minder überraschend sei, als ihm, ließ er mir eine Abschrift des Testaments, um meinen Entschluß reiflicher zu bedenken. Denn wenn ich auch majorenn wäre und den Willen meines Vaters nicht zu Rathe zu ziehen hätte – einen so ansehnlichen Besitz in der ersten Aufregung der Ueberraschung auszuschlagen, müsse er mir aufs Ernstlichste widerraten. In einigen Tagen werde er wieder anfragen.

Ich will ausgehen; es ist mir, als könnte ich mit diesen Blättern nicht länger in Einem Zimmer bleiben, als theilten sie der Luft die Fieberschwüle mit, aus der sie stammen. Auch brauche ich sie nicht zum zweiten Mal zu lesen, um ins Reine zu kommen. Ich oder die Armen von Meran, – kann noch ein Zweifel sein, wer den Anderen überleben und es nöthiger brauchen wird?

 

Nachmittags. 4 Uhr.

Es steht ein Unstern über diesem Tage; wär' er doch erst vorbei! Wer weiß, was der Abend noch bringt!

Ich bin ausgegangen in der sehr thörichten Hoffnung, doch vielleicht Morrik zu begegnen. Statt seiner fand ich die wohlbekannten fremden Gesichter im Wintergarten, über die ich sonst schon hinwegsehen gelernt habe, heute aber mich ganz von Frischem kränken sollte. Ich sah, daß man die Köpfe zusammensteckte und flüsterte, wo ich mich blicken ließ. Auf einer Bank saß die junge Läster-Chronistin, die ich längst zu grüßen aufgegeben habe, da sie den Kopf aufwirft, wenn ich mich ihr nähere. Der Platz neben ihr war der einzige leere. Als ich ihn aber kaum eingenommen hatte, stand sie brüsk auf, ging nach einer anderen Bank und bat zwei Damen, noch ein wenig zusammenzurücken. Mir stieg das Blut ins Gesicht; aber ich hielt aus. Endlich rauschte die »Lebensretterin«, die nun schon Wochen lang kein Wort an mich verschwendet, in die Laube. Aber das Herz war ihr heute zu voll, sie trat an mich heran und sagte so laut, daß es Alle hören konnten: Nun, meine Liebe, man darf Ihnen ja gratuliren, Sie haben eine so große Erbschaft gemacht von dem jungen Polen; der arme Mensch! Sie sollen ihn freilich sehr streng behandelt und immer in angemessener Entfernung gehalten haben. Kein Wunder, wenn es da rasch mit ihm zu Ende ging. Nun ist es wirklich rührend, daß er noch über den Tod hinaus Ihnen sein gebrochenes Herz zu Füßen gelegt hat.

Sie sind im Irrthum, sagte ich. Ich habe das Vermächtniß nicht angenommen, das nur durch das Versehen einer verstörten Phantasie an meine Adresse gerichtet ist. Aber wäre es auch die klare Absicht des Verstorbenen gewesen, mich zu seiner Erbin einzusetzen, mit der Güte wie mit der Bosheit fremder Menschen weiß ich gleich wenig anzufangen und pflege Beidem den Rücken zu wenden.

Somit sah ich ruhig in mein Buch. Es war so still in der Laube, daß ich das heftige und rasche Athmen der dicken Frau ohne Nerven und des kleinen Fräuleins, das mich haßt, deutlich hören konnte. Ich nahm nicht weiter Notiz von dem, was ferner noch gezischelt und getuschelt wurde. Nur den Namen Morrik unterschied ich ein paar Mal, er wurde offenbar absichtlich lauter betont. Auch das konnte mich nicht kümmern.

Aber als ich dann nach Hause ging, von der weichen Nebelluft durchschauert, sonnenlos in mir und um mich, hätte ich am liebsten mich recht herzhaft ausgeweint. Ich bin so gelähmt, daß nicht einmal die Thränen fließen wollen, Alles stockt in mir, Leben, Lust und Leid!

 

Am 25. November.

Und nun noch Das! Das aber ist das Letzte, dieser Schlag ging dem kranken Baum tief an die Wurzel, es braucht jetzt keinen Sturm mehr, ihn umzureißen, eine Kinderhand kann ihn zum Fall bringen.

Daß mir der Schmerz von der Seite kommen mußte, wo ich mich am sichersten glaubte! Daß ich gerade da, wo ich mir das Herz zu erleichtern hoffte, ein so viel schwereres von dannen trug!

Ich habe ihn endlich heute auf der Wassermauer getroffen, die Sonne war so golden wie je, ich selbst wieder aufgelebt und dachte vollends ruhig und frei zu werden durch das Gespräch, das ich schon so lange ersehnt hatte. Auch täuschte ich mich darin nicht, daß ich es ihm leicht klar machen konnte, wie Alles so gekommen; er lächelte, als ich ihm meinen Kummer sagte über jene Lüge. Er nahm meine Hand und gab sie nicht wieder frei, ehe er einen Kuß darauf gedrückt hatte, was mich seltsam berührte. Auch ihm hatte man von dem Testament des jungen Polen erzählt; er hatte keinen Augenblick daran gezweifelt, daß ich es ausschlagen würde. Und so schien Alles vortrefflich im Reinen und ich blickte dankbar nach oben, daß die schöne Sonne Alles so freundlich gelichtet und geschlichtet habe.

Wie kam es denn, daß wir doch wieder zu dem unseligen Thema zurückkehrten? Ach, ich allein hatte wohl die Schuld. Ich wollte ihn recht überzeugen, wie fern und fremd mir der arme Wahnsinnige geblieben war. Darum fing ich wieder davon an, wie mich jene Begegnung noch nachträglich mit Schauern übergieße, so oft ich ihrer gedenke, wie unverantwortlich es sei, Menschen, die so sichtbar verstört und unzurechnungsfähig seien, frei umhergehen zu lassen. Da sah er so vor sich hin und sagte: Sie irren gewaltig, liebe Marie: er war so wenig geisteskrank, wie ich, der ich hier neben Ihnen sitze und Ihnen hoffentlich noch keine Furcht mache. Und darin hat er sogar etwas vor mir voraus, daß er's schon vom Herzen hat, was mir das meinige noch schwer macht.

Ich verstehe Sie nicht, sagte ich, und verstand ihn wahrhaftig nicht.

So wird es besser sein, ich schweige davon, sagte er darauf. Wozu sollt es auch führen?

Nach einer Weile: Nein, ich sehe nicht ein, was dabei herauskommt, wenn ich schweige. Höchstens denken Sie dann etwas Schlimmeres. Und ist es denn wirklich so verabscheuungswerth, wie Sie es zu finden scheinen, wenn man zwei Schritte vom Grabe noch einmal ins Leben zurücksieht und da noch ein schönes Glück erblickt, das Einem das Leben liebens- und lebenswürdig machen könnte, wär' es nur nicht eben zu spät? Wenn man dann fast von Sinnen kommt vor Jammer, Sehnsucht und Grimm gegen das Schicksal? Wenn man das Versagte wenigstens sterbend noch einmal ans Herz drücken und das Leben an seinen Lippen aushauchen möchte? So ist es jenem armen Jungen ergangen, der nun schon schläft, und so –

Er stockte und sah mich an. Es war gerade kein Mensch unter den Pappeln; er faßte wieder meine Hand. Sie zittern – auch vor mir! sagte er. Vergessen Sie, was ich gesagt habe.

Ich war keines Wortes mächtig. Ich fühlte nur, das letzte schöne Glück war mir zerstört, das harmlose Vertrauen, der warme, heitere Verkehr, an den ich mich nur zu sehr gewöhnt hatte. Ich war wieder allein, ich mußte es sein, wenn ich mir nicht Vorwürfe machen sollte zu allem, was ich schon unverschuldet litt.

Ich will nach Hause gehen, sagte ich; es ist mir nicht wohl. Bleiben Sie hier und genießen Sie noch den Sonnenschein, der mir heute den Kopf einnimmt. Ich schreibe Ihnen heut Nachmittag ein paar Zeilen, ob mir inzwischen besser geworden.

Damit stand ich auf, gab ihm eine letzte Hand, bat ihn mit einem Blicke, daß er nichts mehr sagen möchte, und verließ ihn. Das war das Letzte!

Ich will nun sehen, ob ich meine Gedanken so weit sammeln kann, an ihn zu schreiben.

 

Abends.

Da ist der Brief. Ich lege den Entwurf zwischen diese Blätter. Mir ist jetzt leichter, da es überstanden ist, physisch leichter; aber der innere Druck auf der Seele ist noch derselbe.

 

 

»Meran, den 25. November.«

»Lieber Freund.«

»Lassen Sie mich schon heute Ihnen Lebewohl sagen für dieses Leben, und auf Wiedersehen für ein anderes, auf das wir hoffen. Es wird uns leichter werden, jetzt von einander Abschied zu nehmen, wo wir Beide den Eindruck unseres reinen, freundschaftlichen Einverständnisses bewahren, als wenn wir erkannt hätten, daß wir uns in wichtigen Dingen nicht verstehen. Das aber muß ich fürchten, da die letzten Worte, die Sie heute zu mir sprachen, noch jetzt mich so betrüben und niederschlagen, wie ich es nie vorher einem Wort meines lieben Freundes zugetraut hätte.

»Ich gäbe viel darum, wenn es zwischen uns beim Alten geblieben wäre; ich war glücklich dabei und hoffte, daß es auch Ihnen wohl thue. Wenn es aber nicht sein sollte, daß wir bis zuletzt als gute Kameraden ruhig neben einander ausharrten, so muß ich es Ihnen freilich danken, daß sie gesprochen haben. Ich hoffe nun doch, durch unseren frühen und gefaßten Abschied, wenn er Ihnen auch einen Augenblick weh thut, Ihre Stimmung zu mildern, Ihnen die Klarheit wiederzugeben, mit der wir Beide noch vor Kurzem zurück und vorwärts blickten.

»Es wird nicht ganz zu vermeiden sein, daß wir uns noch hier und da begegnen. Lassen Sie uns mit einem Gruß an einander vorübergehen, als wären wir schon drüben. Ich brauche es nicht zu sagen, daß ich Ihnen meine Freundschaft bewahren werde, hier wie dort. Aber ich bitte, daß Sie mir die Ihrige retten möchten, die einen Augenblick durch dunklere Mächte gefährdet schien.

»Leben Sie wohl, mein theurer Freund, und wenn Sie mir zeigen wollen, daß Sie diese Zeilen so verstehen, wie sie mir aus dem Herzen kommen, so antworten Sie mir nicht.

»Marie.«

 

Am letzten November.

Ich sehne mich nach Schnee und Eis, nach der stillen, grauen Winterluft meiner Heimat. Diese Sonne, die nun Tag für Tag über dem klaren Novemberhimmel hinzieht, thut mir an den Augen und am Herzen weh. Heute früh wachte ich mit einem frohen Schrecken auf; es war über Nacht ein weicher Schnee gefallen und lag noch unberührt auf den Dächern und Wegen. Jetzt ist er bis auf wenige Spuren weggeschmolzen, und die Leute gehen in leichten Mäntelchen trockenen Fußes unter den kahlen Pappeln spazieren.

Der Vater hat gestern geschrieben und meinen Entschluß wegen des Vermächtnisses gebilligt. Ich hab' es sogleich dem Bürgermeister angezeigt und heute schon im Namen der Armenverwaltung ein Dankschreiben erhalten, das ich gern entbehrt hätte. Gottlob, die Sache ist nun völlig abgethan!

Ich schreibe jetzt so selten, weil ein Tag dem andern gleicht, wie die Blätter desselben Baumes im Spätherbste. Alle sind gelb, nur fällt eins früher zu Boden, als das andere.

 

Am 1. December, Nachts.

Ein Schützenfest hat das stille Meran von früh an lebendig gemacht. Ich wurde durch die Musik geweckt, mit der die Schützen vom Sandplatze vor der Post nach dem Schießhause zogen, unter meinen Fenstern vorbei. Dann über Tag das Büchsenknallen, das mich sehr aufregte, und das Schreien und Jauchzen der Bauern, die verspätet und schon ziemlich vom Wein erhitzt an der Schießstätte eintrafen. Dann war Abends ein Feuerwerk drüben am linken Ufer der Passer und es war schön anzusehen, wie beim Schein einiger Pechpfannen, die längs der Wassermauer aufgepflanzt sind, die ganze Bevölkerung der Stadt und die Fremden auf und ab strömten und den schönen Abend genossen. Hernach machte sich ein heftiger Scirocco auf, trieb die Raketen wild übers Wasser hin, schürte die Pechflammen und scheuchte, da auch ein Regen sich dazu gesellte, die Zuschauer in ihre Häuser zurück. Ich sah Alles hinter dem geschlossenen Fenster mit an und stand so in meinen Gedanken, bis die letzten Funken zerstoben waren und eine dichte, sternlose Finsterniß das ganze Land überzogen hatte.

Wie lange ist's her, daß ich mit Niemand, außer mit meinen Wirthsleuten, ein Wort gesprochen habe? Mein Verlangen, daß sich mein Mund für immer schließen möchte, wächst von Tag zu Tag. Jetzt noch eine Stunde so heiteren, traulichen Gesprächs, wie ich es früher mit Morrik hatte, und dann gleich einschlafen und den langen Traum anspinnen ins Ewige hinüber! Aber ich muß aushalten, bis es Zeit sein wird.

 

Am 4. December.

Und wenn es Zeit sein wird, ob ich dann wohl dem Wunsch widerstehen werde, ihn noch einmal zu sehen und trotz meines Vorsatzes noch einmal Auge in Auge Abschied zu nehmen? Ich meine, es müßte ihm selber wohlthun, wie er auch über mein jähes Abbrechen denken mag. Manchmal ängstigt mich auch der Gedanke, er könnte es dennoch mißverstanden haben, glauben, es sei der Leute wegen, daß ich mich zurückgezogen habe. Ich möchte es ihm doch noch einmal sagen, daß ich es nur seinetwegen gethan, seines – und freilich auch meines Friedens wegen.

Wie es ihm jetzt gehen mag? Ob er ausgehen kann und wer ihm die lange Einsamkeit eines solchen Tages erträglich macht?

Ich dank' es ihm wahrlich, daß er meine Bitte erfüllt und nicht wieder geschrieben hat. Aber es fehlt mir sehr, daß ich nun so hinlebe, ohne einmal einen Blick hinüberthun zu können, wie er aussieht, traurig oder heiter, wie er seine Leiden trägt, was er liest, was er denkt. Auch das wollte ich ihm von der Stirne ablesen. Seine Stirn ist so durchsichtig.

Gestern bin ich seinem Bedienten begegnet; der treue Mensch grüßte mich; ich hätte ihn so gern angehalten und befragt. Doch ist es besser so.

 

Am 11.

Gang nach der Zenoburg, Morgens um Neun, der alte, liebe Weg, nicht mit dem alten Herzen. Als ich bei der Pension vorbeikam, trat er eben aus der Thür, sah mich und stand still, wie eine Bildsäule, um mich vorüberzulassen. Ich wagte nicht, zu ihm hinzusehen, aber der erste rasche Blick hatte mir gezeigt, daß er sehr ernst und noch bleicher geworden ist, fast wie in der ersten Zeit, wo er so verzweifelt herumging. Er grüßte mich nicht, hielt sich im Schatten der Thür, als fürchte er, mich zu erschrecken, und so ging ich nicht gar fern an ihm vorbei, und sah auf die Steine.

Der Berg kam mir steiler vor, als das erste Mal; ich bin auch wohl schwächer geworden – und damals war ich noch heiter.

Was ist denn geschehen, daß ich es mit aller Anstrengung und Selbstbezwingung nicht werden kann? Es ist nicht blos das Mitleiden mit ihm und die Entbehrung eines täglichen Gesprächs, das mir Bedürfniß geworden war – es ist fast wie eine Schuld, wie eine verletzte Pflicht.

Und doch – wie hätte ich anders handeln können? Darf man mit einer Lebenshoffnung im Angesicht des Todes sein Spiel treiben? – –

 

Am 16. Abends.

Ein mühsamer, aber fröhlicher Tag liegt hinter mir. Ich habe die kleine Weihnachtskiste gepackt, die ich nach Hause schicken will. Wie alle die Sächelchen beisammen lagen, die ich für Vater, Ernst und die Mutter gearbeitet, und die hübschen Holzschnitzereien, die Bilder von Meran und die kleine Saltnerfigur, die ich so getreu, als es zu machen war, für meinen Ernst herausstaffirt habe, hatte ich eine Freude wie ein rechtes Kind an meiner eigenen Bescheerung. Und dann das Einpacken, und wie es nicht voll wurde, noch hineingestopft, was mir unter die Hände kam, ein paar Granatäpfel, ein Schächtelchen mit Feigen, eins mit Kastanien und einen von den süßen Weihnachtskuchen aus lauter Rosinen und Honig – das Kistchen weiß wenigstens von Meran zu erzählen.

Dann trug es mir der Lehrbursche meines Wirthes nach der Post, und ich ging zum ersten Mal wieder nach der Wassermauer, wo Alles in alter Weise herumsaß; nur die Fußsäcke waren etwas zahlreicher geworden. Morrik kam bald nach mir, und dieses Mal wechselten wir einen Gruß, wie verabredet war, und er sah mich freundlich und still an, wohl um aus meinem Aussehen zu erfahren, ob ich mich wohl fühle. Ich war sehr erhitzt von meinen kleinen Geschäften. Zu Hause hab' ich dann wohl im Spiegel gesehen, daß es nur das Roth der Aufregung war; vielleicht auch der Freude.

Nun wir uns wieder so unbefangen begegnet sind, mein' ich, daß es mir auch in Zukunft leichter werden wird. Ich brauche nur zu denken, ich hätte nie ein Wort mit ihm gewechselt, sondern nur eine Geschichte gelesen, die mich sehr für einen Menschen eingenommen hätte, und nun schiene zufällig das Gesicht dieses Fremden wie eine Illustration, ein Titelbild zu jener Geschichte, und ich sähe es darum mit größerer Theilnahme an.

Wir haben aber nicht wieder beisammen gesessen; ich ging nur ein paar Mal auf und ab mit einer Dame, die freundlich zu mir war, sich erkundigte, warum ich so lange nicht ausgegangen sei, und mir viel von ihren Kindern erzählte, von denen man sie getrennt hat, damit sie volle Ruhe genieße. Es schoß ihr dabei feucht in die Augen. – Getrennt werden vom Liebsten, um Ruhe zu genießen – was die weisen Herren Leibärzte für thörichte Seelsorger sind!

 

Am heiligen Abend.

Was soll ich davon denken? Vor einer Stunde wird mir ein Weihnachtsbaum, aufs Schönste geschmückt mit Orangen, Granatäpfeln, Zuckerfrüchten und einer Menge Kerzen, ins Zimmer gebracht, so groß, daß ich ihn auf dem Fußboden stehen lassen mußte, da er auch so noch bis an die Decke reicht. Eine fremde Magd habe ihn gebracht, sagte meine Wirthin, für mich; mit keinem Wort habe sie verrathen wollen, woher er komme. Nun habe ich denn wohl die Lichter anzünden müssen und schreibe jetzt bei ihrem Schein, nachdem ich vorher den Kindern dabei bescheert habe, die hier zu Lande von keinem Christentum wissen. Jetzt, da ich wieder allein bin, zergrüble ich mich, wer den Baum wohl geschickt haben mag. Die freundliche Dame, der jetzt auch wohl bange sein mag nach Tannenzweigen und Weihnachtsjubel? Aber sie hätte doch wohl ein Wort geschrieben; auch kennen wir uns gar zu wenig. Noch manch andere freundliche Menschengesichter gehen täglich an mir vorüber, ich muß mich wohl anklagen, daß ich in der Aufregung der ersten Zeit den Leuten Unrecht gethan habe. Mit Einigen gewiß hätte ich herzlich verkehren können, wäre die Sehnsucht allein zu bleiben nicht so heftig, so abstoßend gewesen. Nun mag Niemand mehr das erste Wort an mich wenden. Wer aber soll darauf kommen, mir eine Weihnachtsfreude zu stiften?

Und wenn es von ihm käme, wär' es dann nicht ein Vertragsbruch? Wer nicht mehr sprechen will und darf, darf der den Andern beschenken? Es ist leichter, stumm zu geben, als stumm zu nehmen. Und wie soll man danken, wenn man sich schon Lebewohl gesagt hat?

Es macht mich immer unruhiger, als sei das Alles nicht, wie es sein sollte, als sei ein künstliches, unklares Wesen dabei, das nicht gut thue und sich noch irgendwie an uns rächen werde.

Da kommen noch so spät Briefe von meinen Theuren. Ich muß erst die Lichter auslöschen und meine kleine Lampe anzünden. Die Zweige glimmen und knistern schon hier und da. – –

Das letzte Fünkchen ist erloschen – an meinem letzten Christbaum. Draußen läuten die Glocken. Ich schreibe diese Zeilen im hellen Mondschein, der mir Gesellschaft leistet, da in der Lampe das Oel versiegt ist. In mir klingt ein Vers, den ich heute früh gelesen habe:

Und eine Hand im Schatten gleitet
Herüber aus dem Geisterland
Und kühlt die Brust, in der es streitet.

 

Am 28. December.

Welch ein Wiedersehen! Welch ein trauriges Begegnen der Augen und Hände! Hatte ich nicht Recht, daß es sich früher oder später an uns rächen würde?

Mir war ein Concert-Programm ins Haus getragen worden, ein Citherspieler wollte sich heute Nachmittag im Saale der Post hören lassen. Ich zürne jetzt nicht mehr so wie sonst einer Störung, die mich meinen Gedanken entreißt. Also ging ich hin, da ich die Cither liebe und gern einmal einen Meister darauf hören wollte. Ich kam, als das erste Stück schon begonnen hatte und nur noch drei Stühle ganz vorn unbesetzt waren, die man wohl für besonders vornehme Gäste aufgehoben hatte. Nun mußte ich mich schon darein finden, einen dieser Ehrenplätze einzunehmen, und that es auch nicht ungern, weil ich die Hände des Spielers desto besser beobachten konnte, auch der Ton nicht eben stark war. Im Saal entstand eine drückende Luft, der Ofen, die vielen Menschen, die niedrige Decke. Alles war mir beklemmend; doch gewöhnte ich mich bald daran und hörte nun mit Entzücken dem seelenvollen Spiele zu. Plötzlich öffnet sich leise die Thür und Morrik tritt in den Saal, stutzt einen Moment, da er ihn ganz gefüllt sieht, mag aber doch nicht wieder umkehren, um so weniger, da ihm einer der Herren zunächst der Thüre die leeren Plätze neben mir zeigt, und geht sachte durch die Reihen durch bis zu mir, wo er sich mit einer leichten Verbeugung niederließ.

Mir stand der Athem still; ich fürchtete immer, er möchte das Zittern, das mich befiel, an seinem Sessel empfinden, dessen Armlehne dicht an die meinige stieß. Aber er schien gefaßter, als ich, und aufmerksamer der Musik zu folgen, daß ich nach und nach meiner Bewegung wieder Meister wurde und nun in einer unbeschreiblich süßen Träumerei zuhörte, als wären die Töne ein gemeinsames, überirdisches Element, in welchem unser Beider Gedanken und Gefühle auf- und untergingen, ein in Eins aufgelöstes, harmonisch zusammenklingendes Zwiegespräch unserer Seelen, von uns abgelöst und doch uns wieder verbindend, eine Verständigung über alles, was uns an einander befremdet, getrennt und gequält hatte. Ich kann nicht sagen, wie sehr dieser halb visionäre Zustand mir wohlthat. Ich glaubte, die bestimmte Empfindung davon zu haben, daß in ihm etwas Ähnliches vorging. Wir sahen Beide auf die Cither, und es war doch, als wäre es nur ein einziger langer Blick Auge in Auge.

Auch das Klatschen und Bravorufen weckte mich kaum aus dieser innerlichen Verzückung. Zudem dauerten die Pausen zwischen den einzelnen Stücken nur wenige Minuten. Jetzt aber legte der Spieler die Cither fort und holte ein seltsames Instrument hervor, das er »die himmlische Kikiliri« nannte und mit einigen Worten erklärte, daß es in Tirol heimisch und von schlichten Bauern verfertigt sei. Es ist eine Art Holz-Harmonika aus schmalen, geglätteten Tasten von sehr hartem Holz zusammengefügt, die auf einer Strohunterlage ruhen und durch ihre verschiedene Länge, von einer bis zu zwei Spannen herabsteigend, die Stufen der Tonleiter bilden. Der Ton selbst aber, den das harte und rasche Aufschlagen mit zwei Hämmern hervorbringt, ist scharf und gellend, daß man nicht leicht die Cither mit einem Instrument ablösen könnte, zu dem sie in stärkerem Gegensatz stünde. Meine gehobene Stimmung wurde gewaltsam zerschmettert und zerrissen, jeder Ton drang mir wie eine Beleidigung, eine Mißhandlung in die Seele, und ich wäre gern aufgestanden, wenn ich nicht gefürchtet hätte, den Spieler zu kränken. Auch zitterte ich für Morrik, dessen Empfindlichkeit für jeden Lärm ich kannte. Ich wagte ihn flüchtig anzusehen. Er hatte die Augen geschlossen und den Kopf gegen die rechte Hand gestützt, als wollte er so viel als möglich sich gegen den heftigen Ueberfall verschließen. Auf einmal aber sah ich, daß sich seine Lippen vollends verfärbten, die Augen sich ohne Blick halb öffneten und das Haupt zurücksank gegen die Lehne des Sessels.

Auch Andere unter den Zuhörern bemerkten es, aber Niemand rührte sich, dem Ohnmächtigen beizuspringen. Ich glaubte an gewissen spöttischen Mundwinkeln zu sehen, daß man dieses Amt mit rechter Schadenfreude mir überließ. Diese Armseligkeit gab mir alle Fassung zurück. Ich stand auf, bat den Spieler inne zu halten, da dem Herrn unwohl geworden sei, benetzte Morrik's Stirn und Schläfe mit der Eau de Cologne, die ich immer bei mir trage, und ließ ihn den belebenden Geruch einathmen. Während dessen war ein Theil der Gesellschaft aufgestanden, aber Keiner verließ seinen Patz; es war nur, um das Schauspiel besser zu beobachten. Nur der Citherspieler trat heran und half mir, da Morrik endlich wieder zu sich kam, ihn vollends aufzurichten und die kurze Strecke bis an die Thür des Saales zu führen. Sobald wir draußen waren, wo die reine Decemberluft ihn anwehte, kehrte ihm rasch die Besinnung zurück, er sah mich fragend an, begriff aber sogleich, was vorgegangen war, und stützte sich leicht auf meinen Arm, als ich ihn die Treppe hinunter begleitete. Ich danke Ihnen, sagte er. Das war alles, was er sprach. Und so gingen wir, da sein Diener nicht unten zu finden war, noch eine Strecke weit zusammen, die Straße hinauf, die man »die kleinen Lauben« nennt, bis wir an der Kirche waren und sein Haus sehen konnten. Ist Ihnen wieder wohl? fragte ich. Er nickte mit dem Kopf und machte eine Bewegung, daß er nun allein gehen wolle. Aber ehe wir schieden, drückte er mir noch einmal die Hand, suchte einen Seufzer zu verbergen und wandte sich stillschweigend ab, um nach Hause zu gehen. Ich sah mich um, bis er die Thür erreicht hatte. Er ging weiter mit festen, langsamen Schritten, blickte aber nicht nach mir um. Und als er mir verschwunden war, ging auch ich.

Ich fühle mich so angegriffen von diesem Ereigniß, daß ich mich gleich niederlegen will. Mein Kopf schmerzt zum Zerspringen, und wenn ich die Augen schließe, rast mir vor den Ohren der harte hämmernde Ton der hölzernen Musik, die wahrscheinlich nur zum Spott den Namen der »himmlischen« führt, und alle Hitze und Dumpfheit des Saales fiebert mir durch die Glieder.

 

Am 11. Januar.

Vierzehn kranke Tage, in denen ich keine Feder angerührt, kein Buch geöffnet, keinen Ton auf meinem Clavier gespielt habe. Es war eine leichte Grippe; Fasten und Schlafen haben mich wieder herausgerettet. Nur in Einer Nacht, wo mich das Fieber mit heftigen Schreckbildern heimsuchte, war ich drauf und dran, einen Arzt kommen zu lassen, wie meine Wirthin mir beständig zuredete. Man ist sehr arzneigläubig hier im Volk. Nun bin ich froh, daß ich auf eigene Hand mich wieder so weit gebracht habe, auf meinen Füßen zu stehen.

Ich wage jetzt meinen ersten Ausgang. Es ist kalt, aber ganz windstill, und die Sonne in den Mittagsstunden so kräftig, daß ich die Fenster öffnen kann. Ich habe großes Verlangen, irgend etwas von Morrik zu erfahren. An wen aber soll ich mich wenden?

 

Nachmittags.

So hatte es mir doch richtig geahnt, und die Fieber-Visionen waren keine Lügner. Er ist krank an einem schweren Nervenfieber, liegt zu Bett seit jenem Concert, und es steht zuweilen so schlimm, daß er halbe Tage lang ohne Besinnung liegt. Ich bin gleich unter dem Thor seinem Arzt begegnet und habe mir ein Herz gefaßt, mich ohne Weiteres bei ihm zu erkundigen, da Jedermann weiß, daß ich ihn aus dem Saal der Post hinaus und über die Straße geführt habe – was sollte auch die Zurückhaltung? Und ist es nicht so unschuldig, wie es leider vielleicht unpassend ist, wenn ich meine Theilnahme an ihm offen an den Tag lege? Der Arzt war so ernst. Ich hätte ihn gern länger festgehalten und aufs Gewissen gefragt, ob er eine nahe Gefahr fürchte; aber einer seiner Patienten näherte sich ihm, so wurde unser Gespräch abgerissen.

Mit welchem Herzen saß ich dann auf der sonnigen Bank und sah in die Wellen hinab, die mit den geflößten Holzscheiten spielten und sie gewaltsam von den Steinen loswühlten, wenn sie sich ein Weilchen anzuklammern suchten! Was sind wir Besseres, wir armen Menschen, die im Strom des Schicksals hintreiben! Was sind unsere besten Augenblicke Besseres, als eine kurze Rast auf einer Klippe, von der uns die nächste Welle hinwegreißen wird!

Ruhe, Ruhe! Mein Herz schlägt mich noch todt mit seinem stürmischen Pochen!

Wie ich es aushalten soll, ihn jeden Moment mir sterbend vorzustellen und nicht seine Athemzüge zu bewachen, ist mir noch ein Rätsel. Hat es dahin kommen müssen, o mein Gott! Und ich habe mir's nie auch nur im Traum einfallen lassen, daß er vor mir die Augen schließen könnte!

 

Am 12. Januar, Abends.

Nun habe ich es erreicht und errungen, und der Friede, den ich in mir fühle, ist den Kampf werth, durch den ich erst hindurch mußte. Ich komme von ihm, ich war den ganzen Tag bei ihm und werde es auch morgen sein und alle Tage, so viele es noch sein sollen.

Wie ich die Nacht überlebt habe, weiß Gott, mit dem ich mich in lichten Pausen besprach, wenn ich in den finstern Stunden dazwischen vor Schmerz und Trostlosigkeit das Gefühl von ihm und mir völlig verloren hatte und wie im Schwindel das ganze Dasein, Zeit und Ewigkeit um mich her taumelte, nicht besser als die Wasserwirbel um ein willenloses Scheit.

Am Morgen bat ich die Wirthin, in seine Pension zu gehen und sich zu erkundigen, wie die Nacht gewesen sei. Sie berichtete, daß eine dicke Dame mit blonden Löckchen, aber schon bei Jahren, ihr geöffnet habe, in der Wohnung des Herrn Morrik selbst, der nebenan in seinem Cabinet liege und im Fieber spreche, so laut, daß man es draußen hören könne. Die Dame habe sie gefragt, von wem sie komme, und dann ein ungutes Gesicht gemacht und sie mit dem kurzen Bescheid abgefertigt: es stehe noch beim Alten.

Mir war es ein neuer Schreck; ich weiß, wie er über die berufsmäßige Menschenliebe der »Lebensretterin« denkt, und daß er ihr bisher geflissentlich ausgewichen war. Und nun sie um ihn, seine Fieberworte belauschend und in helleren Stunden ihn mit ihrer breiten Zuthulichkeit belästigend! Diese Vorstellung konnte ich nicht ertragen.

Es war noch früher Morgen, als ich selbst die Treppe in seinem Hause hinaufstieg, völlig entschlossen, keine Rücksicht gelten zu lassen, als die auf sein Wohl und seine Ruhe. Mir sank auch nur einen Augenblick der Muth, als auf mein Klopfen die harte, thönerne Stimme: Herein! rief. Als ich aber die glanzlosen, kühlen Augen strenge und abweisend auf mir ruhen fühlte, wurde ich ganz still in meinem Innern und sagte mit ruhiger Stimme, daß ich mich nur selbst erkundigen wolle, da mir der Bescheid durch meine Hausfrau nicht genügt habe. – Sie hatte noch nicht Zeit zu einer Antwort gefunden, da rief Morrik aus dem Cabinet meinen Namen. Ich will nur selber hinzugehen, sagte ich, und den Kranken fragen, wie er sich fühlt. Er scheint ja wieder zu sich gekommen zu sein.

Herr Morrik empfängt Niemand, sagte sie. Auch wäre ein solcher Besuch gegen alle Schicklichkeit, ein Grund, der Ihnen freilich weniger von Gewicht scheinen wird.

Am Sterbebett eines Freundes allerdings nicht! erwiederte ich.

Und er rief zum zweiten Mal: Marie! und ich öffnete die Tapetentür, die in sein Cabinet führte, ohne Zaudern und trat zu ihm ein.

Das Zimmerchen war trübe, das eine Fenster sah in die enge Gasse, und die Vorhänge waren halb geschlossen. Doch hatte ich Licht genug, seine blassen Züge zu sehen, auf denen, da ich eintrat, eine matte Freude aufdämmerte. Er streckte mir die heiße Hand entgegen und versuchte, den Kopf vom Kissen zu erheben. Sie kommen! sagte er leise. Sie ahnen nicht, welche Erquickung Sie mir bringen. Gehen Sie nicht wieder fort, Marie; ich kann Sie nicht mehr entbehren – es ist auch nur so kurze Zeit übrig. Die Dame drin – Sie wissen – jeder Ton, den sie spricht, thut mir weh, schon ihre bloße Nähe ist mir wie ein Alp, ich habe aber das Herz nicht, es ihr zu sagen. Ich habe es ihr anzudeuten versucht, daß ich lieber allein wäre. Sie antwortete: Kranke dürften keinen Willen haben. – Bleiben Sie! Wenn Sie hier sind, höre und sehe ich nichts, als Sie. Ich verspreche auch, ich will nichts sagen, was Sie erzürnen könnte.

Und so sprach er hastig und leise noch mehr, daß mir die Thränen nahe kamen und ich seine Hand herzlich drückte und ihm versprach, was er nur verlangte. Da verklärte sich sein Gesicht. Er schloß wieder die Augen und lag so ruhig, daß ich dachte, er schliefe. Aber wenn ich ihm die Hand entziehen wollte, sah er mich bittend und traurig wieder an, bis er nach einer halben Stunde wirklich eingeschlafen war.

Ich ging in das Wohnzimmer zurück, wo die Dame auf dem Sopha saß, ihr Strickzeug eifrig in den Händen bewegend; die armen Maschen mußten es entgelten, was ich verbrochen hatte. Ich empfand, daß keine Zeit zu verlieren war, und brachte es unbefangen nun so schonend als möglich heraus, daß der Kranke ihr für ihre Aufopferung höchst dankbar sei; aber er wolle sie nicht länger bemühen, da ich nun die Pflege übernehmen könne, mit Hülfe seines Dieners und der Leute im Hause.

Sie, meine Liebe? fragte sie gedehnt und sah mich mit ihrer vernichtendsten Miene an.

Gewiß, erwiederte ich ruhig. Ich stehe Herrn Morrik von allen hiesigen Fremden am nächsten, und es schiene mir und ihm unnatürlich, wenn ich diese Pflicht einer Fremderen überließe, die überdies so viele andere Pflichten der Nächstenliebe zu erfüllen hat.

Sie starrte mich an, als traue sie ihren Ohren nicht. Ist es möglich? sagte sie endlich. Fühlen Sie denn nicht entfernt, daß Sie durch diesen Schritt Ihren schon so schwer erschütterten Ruf vollends untergraben? Sind Sie mit ihm verwandt? Sind Sie eine alte Frau, wie ich, die über jeden Verdacht erhaben ist? Ich glaube, Sie wollen mich zum Besten haben oder sind selbst einer Wärterin bedürftig, mein liebes Kind.

Ich weiß genau, was ich thun muß und was ich verantworten kann, entgegnete ich. Wenn wir verschieden darüber denken, so thut es mir leid, aber ich kann es darum nicht ändern. Ich bleibe hier und kann Ihnen freilich nicht wehren, das Gleiche zu thun; aber meines Rufes wegen bitte ich außer Sorge zu sein; ich denke, Ihnen schon gesagt zu haben, daß ich mit der Welt abgeschlossen habe und meine Sache vor einem höheren Richter wohl zu rechtfertigen hoffe.

Sie stand auf, setzte ihren Hut auf und sagte: Sie werden mir nicht zumuthen, in der Nähe einer jungen Dame zu bleiben, deren sittliche Grundsätze von den meinigen so weit abstehen, und durch meine Gegenwart ein Verhältniß, das ich in jeder Hinsicht verwerflich finde, gewissermaßen zu legitimiren. Nur noch das bleibt mir übrig, aus des Kranken eigenem Mund zu hören, ob er damit einverstanden ist, daß ich ihn verlasse. Was der Arzt dazu sagen wird, einen Nervenkranken so beständiger Aufregung auszusetzen, ist nicht meine Sache.

Damit machte sie eine Bewegung gegen die Tapetentür; aber ich vertrat ihr gelassen den Weg und sagte: Herr Morrik schläft. Ich bitte also, ihn nicht zu stören und aus diesem Schlaf die Beruhigung zu schöpfen, daß meine Nähe ihm eher wohlthätig als aufregend ist.

Weiter wechselten wir nur noch einen förmlichen, stillschweigenden Knix, und als sich die Thür hinter der schwer Erzürnten geschlossen hatte, fiel mir ein Stein vom Herzen. Ich öffnete sogleich die Thür nach dem kleinen Altan, der in den Garten hinausführt, um den Essigäther-Duft aus dem Zimmer zu lassen, den die »Dame ohne Nerven« auch hier mitgebracht hatte. Dann aber sah ich mich um in meinem neuen Reich, wo es mir überaus wohl ward. Welch ein Gegensatz – dieses schmucke, schön tapezirte, behagliche hohe Zimmer und mein enges Stübchen mit den dürftigen Möbeln! Und dort sein Schreibtisch mit allem Luxus von Mappen, Schreibzeug, Cassetten und Etuis, seine schönen Bücher auf der hangenden Borte, die bequemen Fauteuils, vor Allem aber die Wohlthat, mit einem Schritt im Freien zu sein, auf dem sauberen, mit Marquisen verhangenen Balcon, von dem nur wenige Stufen in das Gärtchen hinabführen. So windstill, sonnig, einsam war es da; der Springbrunnen plätscherte ins Becken nieder, eine Wärterin saß mit einem hübschen Kind unten auf der sonnigen Bank und summte es in Schlaf.

Ich ertappte mich mit Schrecken darauf, daß ich über dem Frieden dieser Umgebung vergaß, wer nebenan im Fieberschlummer lag. Ich schlich wieder an die Thür und horchte. Marie! rief er ganz leise. Als ich den Kopf hineinsteckte, sagte er: Ich habe Alles gehört; Sie sind mein Schutzengel; ich danke Ihnen die ersten ruhigen Athemzüge seit vierzehn Tagen.

Schlafen Sie! sagte ich; Sie dürfen nicht sprechen. Seien Sie heiter und haben Sie nur gute Träume! Er nickte schwach und schloß wieder die Augen.

Nachmittags kam der Arzt. Diesen wenigstens muß ich ausnehmen von meiner neulichen Anklage, daß sie schlechte Seelsorger seien, die Herren Doctoren. Er lächelte, als ich ihm erzählte, weshalb ich hiergeblieben. Hatte ihm Morrik schon von mir erzählt? Ich sollt' es kaum glauben. Aber mehr noch, als durch die Ablösung der »Lebensrettern«, deren wohlthätiger Einfluß auf kranke Nerven ihm wohl auch problematisch schien, gewann ich seine Zufriedenheit, als er von Morrik's dreistündigem Schlaf hörte und den Puls gebessert fand. Im Hinausbegleiten wagte ich eine Frage wegen des Verlaufes der Krankheit. Er zuckte die Achsein. Die Gefahr ist noch nicht vorüber, sagte er. – Ich wußte es wohl!

Um sieben Uhr bin ich dann nach Hause gegangen; der Bediente wacht bei ihm die Nacht hindurch. Er schlief, als ich ging, und fühlte nicht einmal meine Hand, als ich die seinige berührte. Ich will nun auch schlafen gehen, um morgen wieder früh auf meinem Posten zu sein. Seit lange war es nicht mehr so still in mir, wie heute Abend. Nun kann nichts mehr zwischen uns treten!

 

Am 13.

Er ist in der Nacht aufgewacht und hat gleich nach mir gefragt, sich auch kaum durch die Versicherung des Dieners, daß ich gewiß am Morgen wiederkäme, besänftigen lassen. Heute früh nun fand ich ihn sehr erregt. Erst einem ernsthaften Gespräch, dem er mit Anstrengung folgte, gelang es, ihn zu überzeugen, daß es so gut und in der Ordnung sei, daß die Tag- und Nachtwache sich ja doch abwechseln müsse. Und wenn ich nun plötzlich in der Nacht sterben muß? fragte er. So schicken Sie nach mir und ich bin sogleich bei Ihnen. Darauf mußte ich ihm die Hand geben; dann schlief er wieder ein wenig. Er ißt nicht das Geringste; seine Hände sind so mager, daß es zum Erschrecken ist.

Aber ich bestärkte mich dennoch darin, daß meine Gegenwart ihn beruhigt. Der Nachmittag war wieder besser. Wir sprachen gar nichts zusammen, nur die Thür war zwischen beiden Zimmern offen, daß er den Schein meiner Lampe sehen konnte und meinen Schatten an der Wand, was er sich eigens ausgebeten hatte. Ich las lange Zeit und hörte ihn athmen und sonst keinen Laut weit und breit. Nur, wenn ich ihm die Arznei reichen mußte, ging ich zu ihm hinein. Er hat dann immer einen Scherz oder ein Liebeswort, doch ohne jede überspannte Leidenschaftlichkeit. Sie ist eine Zauberin, sagte er zum Arzt, sie macht mir selbst das Sterben zu einem Fest. Früher habe ich Sie immer bitten wollen: »Was du thun willst, thue bald.« Jetzt läge mir sehr daran, Doctor, daß Sie mich noch ein paar Tage länger hinfristeten. Von Ihren schlechten Tränken kann ich gar nicht genug haben, seit solch ein Hausgeist sie mir bringt.

 

Am 15.

Ich hatte gestern nicht das Herz, zu schreiben, wie schlimm es stand. Ist es heute schon ein Trost, daß es nicht noch schlimmer geworden? Dazu die graue Kälte, das Eis im Bassin des Gärtchens und keine Schneeflocke, die weich und feucht durch die starren Lüfte wehte und das Athmen erleichterte. Ich seufze nach Schnee, weil ich überzeugt bin, daß es nicht besser mit ihm wird, ehe nicht die Luft sich mildert.

Heute habe ich stundenlang an seinem Bett gestanden und er kannte mich nicht. Er sprach im Fieber von Menschen und Ländern, die mir alle fremd waren. Ich sah da erst wieder, wie wenig wir von einander wissen, und gleich darauf, als er meinen Namen rief, wie nah und wohlbekannt ich ihm bin, und daß wir das Beste und Tiefste von einander wissen, was überhaupt des Wissens werth ist!

 

Am 19. Januar, Morgens 5 Uhr.

Eben bin ich nach Hause gekommen, nach vierundzwanzig schlaflosen Stunden, und doch fühle ich, daß an Schlaf noch nicht zu denken ist, ehe ich mich diesen Blättern gegenüber gesammelt und ausgesprochen habe.

Ich denke mir das Gefühl eines Blinden, der den ersten Lichtstrahl wiedersieht und sein Glück zunächst als einen blendenden Schmerz empfindet, ähnlich wie meine Stimmung in diesem Augenblick.

Ich will aber versuchen, Alles der Reihe nach zu sagen. Freilich Anfang, Mitte und Ende – was bedeuten sie noch, wo das Ewige mitten in die Zeit hineintritt, wo man sterbend zu einem Leben aufwacht, das noch in der Zeit steht und doch einen ewigen Inhalt gewonnen hat?

Aber das sind Alles schwache, stammelnde Worte. Ich wollte ja erzählen.

Die Tage zwischen den letzten Seiten und diesen hier waren so traurig, ich mochte nicht davon Rechenschaft geben. Als gestern Abend der Arzt noch spät kam – ich hatte ihn eigens rufen lassen, da meine Angst mit jeder Stunde wuchs – verhehlte er seine Besorgnisse nicht. Wir müssen eine Krisis herbeizuführen suchen, sagte er, sonst ist er verloren! Morrik kannte Keinen von uns. Ein laues Bad, in das er gebracht wurde, und die kalten Uebergießungen regten ihn so heftig auf, daß ich ihn durch die Thür laute unverständliche Klagerufe ausstoßen hörte. Als man ihn wieder zu Bett gebracht hatte, kam der Arzt zu mir heraus. Ich bleibe diese Nacht bei ihm, Fräulein, sagte der treffliche Mann. Es darf nichts versehen werden mit den Eisumschlägen. Gehen Sie aber heim und ruhen; der Tag war hart genug.

Ich sagte ihm, daß ich doch keine Ruhe finden würde und mit ihm bleiben und wachen wolle. Er drang auch nicht weiter in mich, als er meinen festen Entschluß sah. Ich hatte es Morrik ja versprochen, nicht auf mich warten zu lassen, wenn es so weit sein würde.

Also setzte ich mich in den Lehnstuhl an seinem Schreibtisch und nahm ein Buch, nur um mich äußerlich an etwas zu halten; denn freilich, zum Lesen gehört außer klaren Augen auch ein klarer Sinn; und welche Schatten lagen auf dem meinen! Ich horchte beständig in das Krankenzimmer hinein, wo der Arzt an seinem Bette saß, ihm die Compressen selbst erneuerte und dann und wann mit leiser Stimme dem Bedienten einen Befehl gab. Das dumpfe, abgerissene Plaudern und Stöhnen, das der Fiebernde ausstieß, schnitt mir mehr als je ins Herz. Das ist noch seine Stimme, dacht' ich, und das vielleicht das Letzte, was er dir sagt, und du verstehst ihn nicht, und er selber versteht sich nicht mehr. Welch ein Abschied!

Ich will nicht dabei verweilen. Noch jetzt in der Erinnerung an diese furchtbaren Stunden sträubt sich mir das Haar. – –

Wir hörten vom Thurm die Stunden schlagen, zehn – eilf Uhr – Mitternacht. Nebenan wurde es stiller; ich horchte mit stockendem Athem hinein und fragte mich bange, ob das Gutes oder Schlimmes bedeute. Einmal versuchte ich aufzustehen, um nahe zu der Thür zu schleichen und zu hören, ob er noch athme. Da fühlte ich, daß ich von diesen Qualen förmlich gelähmt war und kein Glied bewegen konnte. Oder konnte ich nur den Muth nicht erschwingen, meinen Willen aufzuraffen, um der Gewißheit ins Gesicht zu sehen?

Seltsam; ich dachte mit dem Tode so vertraut zu sein, auch wenn er an meinen Freund heranträte; und nun schauderte ich in unsäglicher Angst zusammen, wie ein Kind im Dunkeln.

Ich weiß nicht, ob ich es lange in diesem Zustand ausgehalten hätte, ohne das Bewußtsein zu verlieren, zumal da ich über Tag fast keinen Bissen genossen hatte. Da öffnete sich, da es höchste Zeit war, die Thür des Cabinets, und unser trefflicher Arzt trat leise herein. Ich hoffe, er ist gerettet! sagte er. Das Wort erschütterte mich dergestalt, daß ich in einen Krampf von Weinen ausbrach.

Er setzte sich mir gegenüber und sagte: Sie weinen, Fräulein; vielleicht weil Ihnen das Wort »Rettung« wie eine bittere Ironie vorkommt, wenn von einem Kranken die Rede ist, der schon aufgegeben war, ehe er in diese Krankheit fiel. Aber diese Krankheit wird, wie wir nun hoffen dürfen, seine Retterin. Die Natur hat ein tollkühnes Spiel gewagt und es gewonnen, und es ist nicht das erste Mal, daß ich eine so wundersame Hinterlist des Organismus beobachtet habe: Aufruhr und Kampf im gesammten Nerven- und Blut-System anzuzetteln, um in dem allgemeinen Aufgebot der letzten Lebenskräfte auch einen älteren Feind aus dem Felde zu schlagen, der sich schon als Herrn und Sieger fühlte. Nun sollen Sie sehen, daß unser Freund, wenn die erste schwere Reconvalescenz ohne Störung gelingt, mit raschen Schritten auch der Genesung von seinem andern Leiden entgegengehen wird, an der man vorher mit allem Recht verzweifeln durfte. Und jetzt kann ich ihn auch ohne Furcht vor einem Nervenfieber, das man nicht zum zweiten Mal bekommt, im März getrost nach Venedig schicken, wo die feuchte Luft seiner Brust wohlthun wird. Ich spiele wahrlich nicht gern den Propheten; aber dafür wage ich mich zu verbürgen – immer vorausgesetzt, daß keine äußere Störung dazwischentritt, – daß es nicht Jahr und Tag dauern wird, bis unser Freund sich wieder so stark und kräftig fühlt, wie je.

Ein Geräusch, das aus dem Cabinet kam, rief ihn dorthin zurück. Er blieb nur wenige Minuten; inzwischen hatte ich Zeit, mich zu fassen. Darf ich es vor mir selbst gestehen, daß diese plötzliche Umwälzung all meiner Gedanken mich mehr bestürzte, als freute? Er sollte leben, und ich hatte ihn mir, in der Zuversicht, daß er mir bald nachsterben würde, mit so viel Freudigkeit zugeeignet, als verstünde sich's von selbst, daß wir uns hier nur auf kurze Zeit trennten, mit dem Wunsch: Wohl zu sterben! statt: Wohl zu leben!

Doch wirklich, es dauerte nur so lange, als der Arzt davon sprach; dann wich das selbstsüchtige Bedauern, und ich konnte mit reinem Dank und Entzücken sagen: Gottlob! Er wird leben, er soll noch seiner Kräfte, seiner Jugend, seiner Pläne und Hoffnungen froh werden! Indem kam der Doctor wieder zu mir und sagte: Sie schlafen Beide, Herr und Diener. Ich habe den guten Burschen, der sich wahrlich genug geplagt hat, noch etwas bequemer zurecht gerückt in seinem Lehnstuhl, und er ist nicht darüber aufgewacht, recht als wüßte er, wie entbehrlich er nun geworden ist, seit die Krisis vorüber ist und die Natur selbst sich zur Wärterin des Kranken gemacht hat. Soll ich Ihnen rathen, Fräulein, so strecken Sie sich dort auf das Canapee und schlafen Sie auch. Ich habe mir da noch eine Tasse Thee aufgehoben, und es macht mir durchaus nichts, bis an den Morgen hier zu bleiben und in den Büchern unseres Freundes zu naschen. Sie aber darf ich in dieser Winternacht nicht über die Straße lassen. Sie würden Alles aufs Spiel setzen, was Sie in diesem Winter bereits gewonnen haben.

Ich sah ihn groß an. Gewonnen? sagte ich. Sie müssen wissen, daß ich gar keine Illusionen über meinen Zustand habe und nur zu gut weiß, wie wenig im besten Fall noch auf dem Spiele steht, und daß, was etwa zu gewinnen wäre, höchstens ein Aufschub von Tagen und Wochen ist.

Er lächelte. Verzeihen Sie, sagte er, daß ich nicht ganz derselben Ansicht bin; allerdings sind Leute vom Fach schlechtere Propheten als Laien, wenigstens minder zuversichtliche.

Ich hatte die Mappe bei mir, in der ich jenes Blatt Papier mit der Zeichnung unseres alten Arztes verwahre; denn die Tage vorher hatte ich an Morrik's Tisch Briefe nach Hause geschrieben. Sie sollen sich überzeugen, sagt' ich, daß ich nur die Weissagung eines Ihrer Collegen wiederhole – und erzählte ihm, wie Alles gekommen, indem ich zugleich die Zeichnung aus der Mappe nahm und sie ihm hinhielt. Sie schien denn auch einigen Eindruck auf ihn zu machen. Kopfschüttelnd betrachtete er das Blatt und sagte dann: Ich bin gewohnt, selber zu prüfen, ehe ich mich ausspreche. Sie haben, wie Sie sagen, ganz ohne ärztlichen Rath und Beistand diesen Winter zugebracht, und vielleicht wohl daran gethan. Denn viel ist freilich nicht in unsere Macht gegeben. Auch bin ich fern davon, Ihnen meine Ansicht aufzudrängen. Aber es interessirt mich selbst lebhaft, zu wissen, ob Ihr Aussehen, Ihre Bewegungen, der Ton Ihrer Stimme und Ihr Puls wirklich nur eine Komödie spielen, oder ob dieses Blatt Sie und mich vielleicht zum Besten hat. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir erlaubten, hierüber ins Klare zu kommen.

Ich habe nichts dagegen, sagte ich. Nur müssen Sie mir gestatten, wie auch die Untersuchung ausfallen möge, meinem alten Arzte dennoch mehr zu glauben, als Ihnen.

Als er zehn Minuten lang meine Brust beklopft und behorcht hatte, setzte er sich ernsthaft mir gegenüber, trank in langen Zügen seinen Thee und sagte auf meine zuversichtliche Frage, ob das Blatt nicht dennoch ehrlich sei:

Darüber wage ich nichts zu sagen. Aber wenn es einst so mit Ihnen stand, liebes Fräulein, so hat unsere Meraner Luft in der That ein Wunder vollbracht. Wir haben ähnliche Fälle erlebt, wo uns hoffnungslose und völlig aufgegebene Personen zugeschickt wurden, die nun herumgehn zum Staunen ihrer selbst und ihrer Aerzte. Aber die Zeit, in der Sie diese enormen Fortschritte gemacht, ist mir denn doch etwas zu kurz, und ich möchte eher dieses Blatt anzweifeln, ja, wenn es nicht zu kühn wäre, Ihnen eine Anlage zu dieser Krankheit überhaupt absprechen und all Ihre Leiden auf eine tiefe Erschöpfung der Nerven schieben. Ihr Arzt ist ein alter Herr, wie Sie sagen. Nun, die Kunst des Percutirens ist noch jung, und Hippokrates und Galen, wenn sie davon mitreden sollten, würden sich bedenkliche Blößen geben. Sie sehen mich ungläubig an, bestes Fräulein? Uebers Jahr wollen wir uns wieder über dieses Thema unterhalten. Denn allerdings wäre es für Ihr höchst erregbares Nervensystem sehr günstig, wenn Sie den nächsten Winter wiederum hier zubrächten, mögen Sie auch im Sommer immerhin die Ihrigen besuchen.

Er hätte mir das Alles noch bestimmter versichern und mit hundert Gründen der Wissenschaft belegen können, ich fühlte zu deutlich in mir, daß es unmöglich sei. Wir stritten lebhaft mit einander, er mit einer lächelnden, sarkastischen Zuversicht, die mich förmlich aufbrachte, so daß ich alles, was ich an Invectiven gegen seinen Stand je gehört hatte, gegen ihn ins Feld führte und nur den Einen Arzt, unsern ehrlichen alten Hausfreund, von all den ehrenrührigen Anklagen ausnahm. Es war wohl seltsam, daß die Kranke sich so eifrig gegen den Arzt vertheidigte, der ihr das Leben zusprach. Aber mein Leben, wenn es mir zurückgegeben würde – wäre es denn ein Geschenk und dankenswerth? Wäre es nicht neue Knechtschaft nach diesem kurzen Freiheitstraume?

Es ließ mir auch keine Ruhe; ich schrieb noch in der Nacht und in seiner Gegenwart an meinen alten Freund, daß er mir zu Hülfe kommen und mich vor dem Leben retten möchte, das man mir wieder vorspiegeln wolle. Es war noch dunkler Morgen, als wir Beide, der Doctor und ich, das Haus verließen. Der Diener war inzwischen aufgewacht; Morrik schlief fest und erquicklich dem Leben entgegen. Der Doctor bestand darauf, daß ich eine Sänfte kommen lassen sollte. Aber ich weigerte mich entschieden. Ich brachte meinen Brief selbst in den Briefkasten und bat meinen Begleiter, einstweilen, bis die Antwort käme, mit Niemand davon zu reden, am wenigsten mit Morrik. Er versprach es lächelnd und verabschiedete sich erst an meinem Hause. Ich bin die dunkeln Treppen so mühsam hinaufgetappt, daß ich wieder recht gefühlt habe, wie bald ich sie zum letzten Mal erklimmen werde.

Die Berge drüben röthen sich noch nicht. Nebel und einzelne Schneeflocken streifen durch die Luft. Es ist jetzt warm im Zimmer, der kleine Ofen thut seine Schuldigkeit. Wenn ich doch schlafen könnte! Es war zu viel auf einmal für einen armen Invaliden, dieser lange Vorpostendienst, während eine heiße Schlacht ohne ihn gewonnen und ihm selbst noch einmal die falsche Hoffnung vorgehalten wurde auf einen Sieg, dessen Früchte er doch nicht mehr genießen möchte!


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