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Vor ihren Augen wurde es Nacht, mit beiden Händen fuhr sie sich ans Herz und stieß einen Schrei aus, der wie ein Falkenschrei über die Schlucht klang, als sie die hohe Gestalt hinter dem Rande des Felsens verschwinden sah. Ein paar wankende Schritte tat sie, dann stand sie fest und aufrecht, immer die Hände gegen das Herz gepreßt. »Madonna!«, sagte sie, ohne etwas zu denken. Immer vor sich niedersehend, näherte sie sich jetzt rasch der Schlucht und begann die steinige Wand zwischen den Tannen hinabzuklimmen. Worte ohne Sinn murmelten ihre heftig atmenden Lippen, mit der einen Hand hielt sie das Herz fest, mit der andern half sie sich an den Steinen und Zweigen hinab. So kam sie bis an die Wurzeln der Tannen – da lag er. Er hatte die Augen geschlossen, Stirn und Haar von Blut überströmt, den Rücken wider einen Stamm gelehnt. Der Rock war zerrissen und das rechte Bein schien auch verwundet. Ob er lebe, konnte sie nicht unterscheiden. Sie lud ihn auf ihre beiden Arme, da empfand sie, daß er sich noch regte. Der Mantel, den er über den Schultern dicht gefaltet trug, schien die Gewalt des Falles gebrochen zu haben. »Gelobt sei Jesus!« sagte sie aufatmend. Es war, als wüchsen ihr Riesenkräfte, wie sie, den hülflosen Mann an ihrer Brust, die Steile wieder hinaufzuklimmen begann. Es dauerte lange, viermal legte sie ihn nieder zwischen Moos und Felsen, noch immer schlief das Leben in ihm.
Als sie endlich auf der Höhe war mit ihrer unseligen Last, brach sie selber in die Kniee und lag einen Moment in völliger Vergessenheit und Ohnmacht. Dann stand sie auf und entfernte sich nach der Richtung, in der die Hütte des Hirten lag. Als sie hinlänglich nahe war, ließ sie einen gellenden Ruf über die Weite des Tals erschallen. Das Echo antwortete zuerst, bald eine Menschenstimme. Sie rief zum zweiten Mal und wandte sich dann, ohne die Antwort abzuwarten. Als sie wieder bei dem leblosen Mann anlangte, stöhnte sie heftig auf und trug ihn dann in den Schatten des Felsens, wo sie selbst vorher gesessen und ihn erwartet hatte.
Dort fand er sich noch, als ihm das Bewußtsein schwach zurückkehrte und er die Augen zuerst wieder aufschlug. Er sah zwei Hirten neben sich, einen Alten und einen Burschen von siebzehn Jahren. Sie sprengten ihm Wasser ins Gesicht und rieben ihm die Schläfe. Sein Kopf ruhte weich, er wußte nicht, daß er auf dem Schoß des Mädchens lag.
Er schien sie überhaupt ganz vergessen zu haben. Er tat einen Atemzug, der ihn bis in die Fußspitzen erschütterte und schloß dann wieder die Augen. Endlich bat er mit stockender Stimme: »Einer von euch, brave Leute, möge hinuntergehen – rasch, nach Pistoja. Man wartet auf mich. Gottes Barmherzigkeit lohne es dem, der dem Wirt zur Fortuna sagt – wie es um mich steht. Ich heiße –« da schwanden ihm wieder Stimme und Bewußtsein.
» Ich werde gehen«, sagte das Mädchen, »ihr tragt den Herrn indessen nach Treppi und legt ihn in das Bett, das die Nina euch zeigen wird. Sie soll die Chiaruccia rufen, die Alte, und den Herrn von ihr heilen und verbinden lassen. Hebt ihn auf, du an den Schultern, Tommaso, du, Bippo, an den Beinen. Wenn ihr bergan geht, mußt du voran, Tommaso. So, hebt ihn! Sanft, sanft! Und halt – das taucht ihr in Wasser und legt es auf seine Stirn, und netzt es wieder an jeder Quelle. Habt ihr verstanden?«
Sie riß ein großes Stück von ihrem leinenen Kopftuch herunter, tauchte es ein und wand es um die blutigen Haare Filippos. Dann ward er aufgehoben, die Männer trugen ihn nach Treppi zu, und das Mädchen, nachdem es ihnen mit völlig erloschenen Blicken nachgesehen, schürzte sich hastig und stieg auf rauhen Pfaden das Gebirg hinab.
Es war gegen drei Uhr nachmittags, als sie Pistoja erreichte. Die Schenke zur Fortuna lag einige hundert Schritte vor der Stadt und zu dieser Stunde der Siesta war wenig Leben in ihr. Im Schatten des weiten Vordachs standen ausgeschirrte Wagen, die Fuhrleute schliefen auf den Polstern, in der großen Schmiede gegenüber ruhte die Arbeit und durch die dickbestaubten Bäume längs der Landstraße rührte sich kein Luftzug. Fenice trat an den Brunnen vor dem Hause, dessen Strahl, allein geschäftig, in den großen Steintrog niederrauschte, und erfrischte sich Hände und Gesicht. Dann trank sie langsam und lange, um Durst und Hunger zugleich zu stillen, und trat in die Schenke.
Der Wirt erhob sich schläfrig von der Bank in der Schenkstube und legte sich wieder hin, als er sah, daß es ein Mädchen von den Bergen war, die seine Ruhe störte.
»Was willst du?« fuhr er sie an. »Wenn du zu essen haben willst oder Wein, geh in die Küche.«
»Ihr seid der Wirt?« fragte sie ruhig.
»Wer anders als ich? Man kennt mich, sollt' ich denken, Baldassare Tizzi von der Fortuna. Was bringst du mir, schöne Tochter?«
»Eine Botschaft vom Signor Avvocato Filippo Mannini.«
»Eh, eh, ist's das? Ja, das ist freilich was anders«, und er stand eilig auf. »Kommt er nicht selber, Kind? Es sind Herren da, die ihn erwarten.«
»So bringt mich zu ihnen.«
»Ei ei, die Heimliche! darf man nicht wissen, was er den Herren sagen läßt?«
»Nein. «
»Nun nun, schon gut Kind, schon gut. Es hat jeder seine eignen Geheimnisse, dieser hübsche Trotzkopf da so gut wie der harte Schädel des alten Baldassare. Eh, eh, er kommt also nicht; das wird den Herren sehr unangenehm sein; sie scheinen wichtige Geschäfte mit ihm zu haben.«
Er schwieg und sah das Mädchen blinzelnd von der Seite an. Als sie aber nicht Miene machte, ihn weiter ins Vertrauen zu ziehn, sondern die Tür öffnete, stülpte er den Strohhut auf und ging kopfschüttelnd mit ihr.
Ein kleiner Weingarten lag hinter dem Hofe, den durchschritten sie, der Alte in fortwährenden Fragen und Ausrufungen, auf die das Mädchen keine Silbe erwiderte. Am Ende des mittelsten Laubenganges lag ein unscheinbares Gartenhaus, die Läden waren verschlossen und innen hinter der Glastür hing ein dichter Vorhang herab. Einige Schritte vor diesem Pavillon hieß der Wirt Fenice stehenbleiben und ging allein nach der Tür, die auf sein Klopfen geöffnet wurde. Fenice sah, wie der Vorhang dann zurückgeschoben wurde und ein Paar Augen nach ihr heraussahen. Dann kam der Alte wieder zu ihr und sagte, daß die Herren sie sprechen wollten.
Als Fenice in den Pavillon trat, erhob sich ein Mann, der am Tisch mit dem Rücken nach der Tür gesessen hatte, und richtete einen durchdringenden kurzen Blick auf sie. Zwei andere blieben auf den Stühlen sitzen. Auf dem Tische sah sie Weinflaschen und Gläser.
»Der Signor Avvocato kommt nicht, wie er versprochen?« – sagte der Mann, vor dem sie stand. »Wer bist du und was hast du zur Beglaubigung deiner Botschaft?«
»Eine Jungfrau aus Treppi bin ich, Fenice Cattaneo, Herr. Beglaubigung? Ich habe keine, als daß ich die Wahrheit sage.«
»Warum kommt der Signor Avvocato nicht? Wir dachten, er sei ein Ehrenmann.«
»Er ist es nicht minder, weil er einen Sturz vom Felsen getan und sich Stirn und Bein verwundet hat, daß er das Bewußtsein verloren.«
Der Frager wechselte Blicke mit den andern Männern und sagte dann wieder:
»Du sagst allerdings die Wahrheit, Fenice Cattaneo, weil du schlecht zu lügen verstehst. Wenn er das Bewußtsein verlor, wie kann er dich hieherschicken, es uns ansagen zu lassen?«
»Die Sprache kam ihm wieder auf Augenblicke. Da sagte er, daß er in der Fortuna erwartet werde; man solle es dort zu wissen tun, was ihm begegnet.«
Ein trocknes Lachen ward von einem der andern Männer hörbar. »Du siehst«, sagte der Sprecher, »auch diese Herren hier glauben nicht sonderlich an dein Märchen. Es ist freilich bequemer, den Poeten zu machen als den Ehrenmann.«
»Wenn das heißen soll, Signor, daß Signor Filippo aus Feigheit nicht hergekommen ist, so ist dies eine abscheuliche Lüge, die Euch der Himmel anrechnen möge«, sagte sie fest und sah alle drei nach der Reihe an.
»Du wirst warm, Kleine«, höhnte der Mann. »Du bist wohl die gute Freundin des Herrn Avvocato, he?«
»Nein, die Madonna weiß es!« sagte sie mit ihrer tiefsten Stimme. Die Männer flüsterten untereinander und sie hörte, wie einer sagte: »Das Nest ist noch toskanisch.« – »Ihr glaubt doch nicht im Ernst an diese Schliche?« fiel ihm der dritte ein. »Der liegt sowenig in Treppi, wie -«
»Kommt und seht ihn selbst!« unterbrach Fenice das Geflüster. »Aber Waffen dürft ihr nicht tragen, wenn ich euch führen soll.«
»Närrchen«, sagte der erste Sprecher, »meinst du, daß wir einer so schmucken Kreatur, wie du bist, ans Leben wollen?«
»Nein, aber ihm; ich weiß es.«
»Hast du sonst noch etwas dir auszubedingen, Fenice Cattaneo?«
»Ja, daß ein Wundarzt mitgehe. Ist er schon unter euch, Signori?«
Sie erhielt keine Antwort. Statt dessen steckten die drei Männer die Köpfe zusammen. »Als wir kamen, sah ich ihn zufällig vorn im Hause; hoffentlich ist er noch nicht nach der Stadt zurück«, sagte der eine und verließ dann den Pavillon. Er kam nach kurzer Zeit mit einem vierten wieder, der die Gesellschaft nicht zu kennen schien.
»Ihr erweist uns wohl die Gefälligkeit, mit uns nach Treppi hinaufzugehen?« redete ihn der Sprecher an. »Man wird Euch inzwischen unterrichtet haben, um was es sich handelt.«
Der andere verneigte sich schweigend, und alle verließen den Pavillon. Als sie an der Küche vorbeigingen, ließ sich Fenice ein Brot geben und nahm einige Bissen davon. Dann ging sie wieder der Gesellschaft voran und schlug den Weg in die Berge ein. Sie gab unterwegs nicht acht auf ihre Begleiter, die eifrig miteinander redeten, sondern eilte, soviel sie konnte, und mußte zuweilen angerufen werden, damit man sie nicht aus den Augen verlor. Dann stand sie und wartete, und sah in hoffnungslosem Brüten ins Leere hinaus, die Hand fest ans Herz gepreßt. So ward es Abend, bis sie die Höhen erreichten.