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Es war am Osterdienstag. Die Menschen, die das Auferstehungsfest durch einen Ausflug ins Freie, in den lustig aufblühenden Frühling hinaus gefeiert hatten, strömten in ihre Häuser und zu den Werktagsmühen, die morgen wieder beginnen sollten, zurück. Alle Landstraßen wimmelten von Fuhrwerken und Fußwanderern, die Eisenbahnen waren trotz eingelegter Extrazüge überfüllt, denn eines so lieblichen und beständigen Osterwetters konnte man sich seit vielen Jahren nicht erinnern.
Auch der abendliche Schnellzug, der auf dem Ansbacher Bahnhof in der Richtung nach Würzburg zum Abgang bereit stand, war doppelt so lang als in gewöhnlichen Zeiten. Dennoch schien er bis auf den letzten Platz gefüllt zu sein, da ein Nachzügler zweiter Klasse, der in der letzten Minute noch unterzukommen suchte, vergebens an allen Türen anklopfte, in alle Coupés hineinsah und überall nur einem mehr oder minder unwilligen oder schadenfrohen Achselzucken begegnete. Endlich faßte der Schaffner, der ihm zur Seite ging, einen raschen Entschluß, öffnete ein Coupé erster Klasse und schob den Spätling in den dämmernden Raum hinein, die Türe hastig zuschlagend, da eben der Zug sich in Bewegung setzte.
Eine einzelne Dame, die in der entgegengesetzten Ecke wie eine schwarze Eidechse in sich zusammengeschmiegt geschlummert hatte, fuhr plötzlich in die Höhe und warf einen strafenden Blick auf den unwillkommenen Störer ihrer Einsamkeit. Doch schien sie an dem blonden jungen Mann in schlichten Sonntagskleidern, der eine Mappe unterm Arm und ein abgetragenes Reisesäckchen mit einer altmodischen Stickerei in der Hand hielt, nichts Merkwürdiges zu finden. Wenigstens erwiderte sie seinen höflichen Gruß und die Entschuldigung, die er stammelte, nur mit einem stolzen, kaum merklichen Neigen des Kopfes, zog die schwarzseidene Kapuze ihres Mäntelchens wieder über die Stirn und schickte sich an, den unterbrochenen Schlaf so unbekümmert fortzusetzen, als ob statt des neuen Reisegefährten nur ein Gepäckstück mehr in den Wagen geschoben worden wäre.
Auch hütete sich der junge Mann, der sich hier nur als ein geduldeter Eindringling fühlte, durch überflüssigen Lärm an seine Gegenwart zu erinnern, ja, er hielt die ersten fünf Minuten, obwohl er stark gelaufen war, nach Möglichkeit den Atem an und verharrte standhaft in der unbequemen Stellung, in der er zuerst von seinem Eckplatz Besitz ergriffen hatte. Nur den Hut nahm er leise ab und wischte mit einem Tüchlein den Schweiß von der Stirn, diskret zu seinem Fenster hinausblickend, als könne er für sein Auftauchen in eine höhere Sphäre nur durch die bescheidenste Haltung Verzeihung erlangen. Da aber die Schläferin sich nicht rührte und die draußen vorbeisausende Landschaft wenig Reiz für ihn hatte, wagte er es endlich, seine Augen in das Innere des Coupés zu lenken, und nachdem er die breiten Kissen von rotem Plüsch und den Spiegel an der Wand hinlänglich bewundert hatte, nun auch die Gestalt der Fremden sich näher anzusehen, indem er sich mit vorsichtigen Blicken langsam von der Spitze des kleinen Schuhes, der unter dem Kleidsaume hervorsah, bis zu ihrer Schulter und zuletzt zu dem schmalen Streifen ihres Gesichts, den sie ihm zugekehrt, hinauftastete.
Eine sehr vornehme Dame mußte es sein, das war ihm sogleich außer allem Zweifel, und weit her, eine Russin, Polin oder Spanierin. Was sie nur an und um sich hatte, trug den Stempel einer aristokratischen Herkunft: ihre Toilette, das feine rotlederne Reisetäschchen, gegen das sie so rücksichtslos den schmalen Fuß stemmte, der zierliche hellbraune Handschuh, in den sie die Wange geschmiegt hatte. Dazu umgab sie ein eigentümlicher Duft, nicht nach irgendeiner aromatischen Essenz, sondern nach Juchten und Zigaretten, und auf dem Teppich des Coupés lagen auch richtig einige halbausgerauchte weiße Stümpfchen herum, die ihre Asche und etwas russischen Tabak verstreut hatten. Ein Buch war ebenfalls auf den Fußboden geglitten. Er konnte es nicht übers Herz bringen, es dort liegen zu lassen, und sah, indem er es behutsam aufhob und auf den Sitz legte, daß es ein französischer Roman war. Dies alles erfüllte ihn mit jenem heimlichen angenehmen Grauen, das junge Männer zu beschleichen pflegt, die, in bürgerlichen Kreisen aufgewachsen, unerwartet einmal in die Nähe einer Frau aus der großen Welt geraten. Zu der natürlichen Ueberlegenheit des Weibes über den Mann gesellt sich da der märchenhafte Reiz, den unbekannte, ungebundenere Sitten und die Ahnung leidenschaftlicher Freuden und Leiden in der höheren Welt auf den Sprößling der niederen ausüben. Ja, die Kluft, die zwischen den Ständen sich auftut, steigert nur diesen Zauber, da im Manne sich dann wohl eine traumhaft verwegene Neigung regt, gelegentlich einmal, auf sein Herrenrecht pochend, über diesen unausfüllbar scheinenden Abgrund sich hinwegzuschwingen.
Zu so abenteuerlicher Kühnheit freilich verstieg sich der junge Reisende nicht. Als er aber hinlänglich sicher zu sein glaubte, daß der Schlaf seiner fremden Nachbarin kein erkünstelter sei, zog er aus seiner Brusttasche sacht ein kleines, in graue Leinwand gebundenes Büchlein hervor und machte sich verstohlen daran, das feine, blasse, etwas hochmütige Profil der Schläferin mit raschen Strichen auf ein leeres Blatt zu zeichnen.
Es war kein ganz leichtes Unternehmen, obwohl ihn die sausende Bewegung des Schnellzugs über manche Anstöße leicht hinweghob. Er mußte sich auf seinem Sitz halb schwebend erhalten und jeden Strich mit entscheidender Sicherheit machen. Der Kopf aber lohnte wohl der Mühe, und wie das Halbgesicht, in die Hand gedrückt, von den Falten der Kapuze leicht umrahmt, in der dämmernden Beleuchtung des Abends sich ihm zeigte, glaubte er niemals klassischere Linien an einem lebenden Wesen erblickt zu haben. Sie schien über die erste Jugend hinaus zu sein, der Mund mit den feinen Lippen zuckte zuweilen mit einem seltsamen Ausdruck von Bitterkeit oder Ueberdruß, selbst jetzt im Traum. Wunderschön aber war die Stirn und die Bildung der Augen, und das weiche, wellige Haar noch in reichster Fülle.
So hatte er etwa zehn Minuten höchst eifrig gestrichelt und das Skizzchen fast fertig gebracht, als die Schläferin plötzlich mit ruhiger Gebärde sich aufrichtete und im besten Deutsch die Frage an ihn richtete:
Wissen sie auch, mein Herr, daß es nicht erlaubt ist, Reisende im Schlaf zu bestehlen?
Der arme Ertappte ließ in großer Bestürzung das Büchlein auf die Knie sinken und sagte über und über errötend: Verzeihung, gnädige Frau! Ich dachte nicht – ich glaubte – es ist nur ein ganz flüchtiger Umriß – nur zur Erinnerung –
Wer gibt Ihnen ein Recht, sich an mich zu erinnern und Ihrem Gedächtnis dabei so handgreiflich nachzuhelfen? erwiderte die Dame, ihn mit scharfen blauen Augen etwas kühl und spöttisch musternd. Sie hatte sich indessen ganz aufgesetzt, die Kapuze war ihr in den Nacken gefallen, er sah, wie fein die Kontur ihres Kopfes war, und fuhr trotz seiner Verlegenheit fort, sie mit Maleraugen zu studieren.
Ich muß freilich gestehen, daß ich mich wie ein rechter Straßenräuber aufgeführt habe, versetzte er, indem er sich bemühte, die Sache ins Scherzhafte zu wenden. Vielleicht aber lassen Sie Gnade vor Recht ergehen, wenn ich meinen Raub zurückerstatte, nicht, damit Sie ihn aufheben, nur um zu sehen, wie wenig das noch ist, was ich mir angeeignet habe.
Er reichte ihr das aufgeschlagene Skizzenbuch hin, und sie warf einen raschen Blick auf ihr Konterfei, dann nickte sie beifällig, aber mit einer raschen Handbewegung, die das Angebotene zurückwies.
Es ist ähnlich, sagte sie, nur idealisiert. Sie sind Porträtmaler, mein Herr?
Nein, gnädige Frau. Ich hätte die Skizze sonst wohl charakteristischer gemacht. Ich male hauptsächlich Architekturbilder. Aber gerade, weil mein Auge für schöne Proportionen und reine Linien geschärft ist – und einem das an Menschengesichtern nicht alle Tage geboten wird –
Er verwickelte sich im Nachsatz, starrte auf seine Stiefelspitzen, versuchte wieder zu lächeln und wurde noch röter.
Ohne darauf zu achten, sagte die Fremde:
In der Mappe dort haben Sie ohne Zweifel von Ihren Zeichnungen und Malereien. Darf ich sie sehen?
Mit Vergnügen. – Er reichte ihr die Mappe hin und breitete den Inhalt Blatt für Blatt vor ihr aus. Es waren lauter Aquarelle, die altertümliche Gebäude, gotische Türmchen und spitzgieblige Straßenprojekte darstellten, in einer gewandten, durchaus künstlerischen Manier und Auffassung. Die Fremde ließ eins nach dem andern an sich vorübergehen, ohne eine weitere Frage an den jungen Maler zu richten. Manches Blatt aber betrachtete sie länger und gab es wie zögernd zurück.
Die Sachen sind noch nicht ganz ausgeführt, entschuldigte er diese und jene flüchtige Studie; doch gehören sie alle in denselben Zyklus. Ich habe die Ostertage benutzt, um in Nürnberg mit einem Kunsthändler darüber Rücksprache zu nehmen. Ich möchte all diese Blätter in einem chromolithographischen Werk herausgeben. Zwar habe ich schon manche Vorgänger, doch ist Rothenburg noch immer nicht so bekannt, wie es verdient.
Freilich. Dies sind ja alles Rothenburger Ansichten. Ich dachte, Sie wüßten es, gnädige Frau, da Sie nicht fragten.
Rothenburg? Wo liegt das?
Ei, an der Tauber, nicht mehr viele Stunden von hier. Aber kennen Sie es wirklich nicht? Haben auch nie den Namen nennen hören?
Sie müssen meine geographische Ignoranz mir schon zugute halten, versetzte sie mit feinem Lächeln, da ich keine Deutsche bin. Aber ich habe viel mit Deutschen verkehrt und gestehe Ihnen, bisher noch nie den Namen Rothenburg an der – wie war es doch? – an der Taube? – gehört zu haben.
Er lachte und hatte auf einmal alle Befangenheit verloren, als ob er nun doch eingesehen hätte, wie sehr er in wichtigen Dingen dieser vornehmen Dame überlegen sei.
Verzeihen Sie, sagte er, daß ich es mit Ihnen gemacht habe, wie alle Rothenburger mit jedem Fremden, obwohl meine Wiege nicht am Ufer des Tauberflüßchens gestanden hat. Wir sind alle so in unsere Stadt vernarrt, daß wir uns nicht gut denken können, wie es in einem Menschen aussieht, der gar nichts von Rothenburg weiß. Als ich vor neun Jahren zum erstenmal hinkam, wußte ich selbst nicht viel mehr von der alten freien Reichsstadt, als daß sie auf einem hoch aus dem Flußtal aufsteigenden Plateau, ähnlich wie Jerusalem, gelegen, mit Mauern und Türmen noch ganz wie vor einem halben Jahrtausend umgürtet sei und die Ehre habe, die Urahnen meines Geschlechts zu ihren Mitbürgern gezählt zu haben. Ich erlaube mir nämlich, mich Ihnen vorzustellen: Meine Name ist Hans Doppler.
Er verneigte sich lächelnd vor ihr und sah sie dabei prüfend an, als erwarte er, dieser Name werde sie in eine freudige Aufregung versetzen, etwa wie wenn er ihr mitgeteilt hätte, daß er sich Hans Kolumbus oder Gutenberg nenne. Sie veränderte aber keine Miene.
Doppler, fuhr er etwas unsicherer fort, ist nämlich die neuere Schreibung des Namens Toppler, die im vorigen Jahrhundert in der Seitenlinie, der ich angehöre, Eingang fand. Doch ist es urkundlich gewiß, daß der Ahnherr unserer Familie kein geringerer war, als der große Rothenburger Bürgermeister Heinrich Toppler, von dem sie ohne Zweifel gehört haben werden.
Sie schüttelte, offenbar durch seine naive Zuversicht belustigt, den Kopf.
Ich bedaure, daß meine historischen Kenntnisse ebenso lückenhaft sind, wie meine geographischen. Was aber hat Ihr Ahnherr Denkwürdiges getan, daß es eine Schande ist, ihn nicht zu kennen?
Mein Gott, sagte er, jetzt über seine eigene Zumutung lachend, fürchten Sie nicht, gnädige Frau, daß ich Sie mit einem Stück der Rothenburger Chronik langweilen möchte aus purem Familienstolz. Der hat auch guten Grund, sich zu ducken, denn ich selbst, wie Sie mich da sehen, habe in dem Stammsitz meines Geschlechts nicht mehr zu regieren, hoffe dafür aber auch nicht, wie mein Ahnherr, nachdem ich den Kriegsruhm der guten Stadt gemehrt, von meinen Mitbürgern eingekerkert und dem Hunger- oder Gifttode überliefert zu werden. Ein schauerliches Ende, nicht wahr, gnädige Frau? Und ein schöner Dank für so viele stolze Taten. Und das alles auf eine bloße Verleumdung hin. Er soll die Stadt im Würfelspiel gegen einen fürstlichen Herrn verloren haben, woran kein wahres Wort ist. Doppeln heißt freilich in der älteren Sprache würfeln, und in unserm Familienwappen –
Er brach plötzlich ab, denn es schien ihm, als ob die feinen Nasenflügel der Dame zitterten, wie wenn sie ein leichtes Gähnen verbergen wollte. Etwas gekränkt wandte er sich zu seinen Aquarellen und ordnete sie wieder in die Mappe, die er noch in der Hand hielt.
Und wie sind sie dazu gekommen, fragte sie jetzt wieder, nun doch die Erbschaft des so ungerecht Hingemordeten anzutreten? Hat man an Ihnen gutmachen wollen, was man an Ihrem Urahnherrn gesündigt hat?
Sie irren, gnädige Frau, sagte er, wenn sie glauben, die Rothenburger hätten eine Ehre darein gesetzt, nun wieder einen Doppler in ihrer Mitte zu haben, und sich diese Ehre auch etwas kosten lassen. Als ich, wie gesagt, vor neun Jahren, aus bloßer Neugier die alte Feste kennen zu lernen, durch das Rödertor einwanderte, kannte mich dort kein Mensch, und selbst wenn ich meinen Namen nannte, machte man nicht viel Wesens daraus. Ja, es wurde stark bezweifelt, da ich ein geborener Nürnberger bin und nicht mehr das harte T im Namen trage, ob ich überhaupt zu ihnen gehöre. Aber die Weltgeschichte, wie der Dichter sagt, ist nun einmal das Weltgericht, was der Magistrat von Rothenburg unterließ: mich feierlich einholen zu lassen, mir die Häuser, die der große Bürgermeister besessen, wieder zum eigenen Besitz zu übergeben und mich auf Lebenszeit als einen lebendigen Stadtheiligen zu verpflegen, das tat auf andere Weise das Schicksal, oder der liebe Gott, was sie lieber wollen. Ich kam nach Rothenburg, bloß um ein paar Studien zu machen und mir ein altes, hinter der Zeit zurückgebliebenes Nest anzusehen – und fand dort mein Lebensglück und ein eigenes, warmes, neues Nest, in welches ich eben wieder zurückfliege.
Darf man wissen, wie es damit zugegangen?
Warum nicht, wenn es Sie irgend interessiert? Meine Eltern hatten mich nach München geschickt, auf die Akademie, sie waren nicht reich, aber die Mittel fehlten doch nicht, mich anständig zu unterhalten und alle Klassen durchmachen zu lassen. Ich wollte Landschafter werden, und nachdem ich mit der Schule fertig war, mich ein paar Jahre in Italien umsehen. Darüber war ich einundzwanzig Jahre geworden, und ehe ich die große Kunstreise antrat, trieb es mich, in Nürnberg mein gutes Mutterl zu besuchen – der Vater war schon eine Weile tot. Hans, sagte sie, du solltest, ehe du nach Rom pilgerst, noch eine andere Wallfahrt machen, an den Ort, wo die Wurzel unseres Stammbaumes stand, ehe er ausgerissen und aus Ostfranken hierher verpflanzt wurde. – sie war eine echte, alte Patriziersfrau, meine gute Mutter, und hielt viel auf großartige genealogische Ausdrücke. – Nun, ich hatte nichts zu versäumen; ich nahm den Wanderstecken in die Hand und schlug mich langsam nach Westen durch, habe auch fleißig unterwegs gezeichnet, da mir diese unsere deutsche Landschaft einstweilen doch mehr ans Herz gewachsen war, als die noch unbekannte im Süden. Nun werden Sie, da Sie die Mappe durchgesehen, vielleicht begreifen, daß mir das deutsche Jerusalem mächtig imponierte und daß ich nicht Augen und Hände genug hatte, mir das Merkwürdigste zu notieren. Aber es gab etwas Rothenburgisches, was mir noch weit mehr einleuchtete, als das liebe Altertum. Nämlich – ich will Ihnen keine ausführliche Liebesgeschichte zum besten geben – auf einem der allwöchentlichen Bälle, welche die sogenannte »Harmonie« veranstaltete, lernte ich die junge Tochter eines stattlichen Bürgers und ehemaligen Ratsherrn kennen. Sie war ganze drei Jahre jünger als ich und – ich darf es wohl sagen – das hübscheste Kind in der ganzen Stadt. Nach dem zweiten Walzer wußt' ich, woran ich war, das heißt mit meinem eigenen Herzen, leider noch nicht mit ihrem, oder gar mit dem Wunsch und Willen des Herrn Papa. Und so hätte es eine recht klägliche Geschichte werden können und der Urenkel des großen Toppler, gleich diesem, in der alten freien Reichsstadt angekettet verschmachten müssen, wenn nicht eben das besagte Schicksal sich ins Mittel gelegt und mich mit meinen Familienwürfeln den Glückswurf hätte tun lassen. Nach drei Tagen war ich darüber im reinen, daß das Mädchen mich gern hatte, und nach drei Wochen, daß auch der Vater über meine blutige Jugend und sonstige Anfängerschaft ein Auge zudrücken wollte, da er, Gott weiß warum, an mir – wie man wohl sagt – einen Narren gefressen hatte. Am meisten gewann mir sein Rothenburger Herz, daß ich Doppler hieß und die schönsten verfallenen Winkel der alten Festungsmauern, nicht minder auch die wunderlichen Türmchen und kuriosen Brunnen, so zierlich in Farben abzubilden verstand. So gab er mir nach einem kurzen Probejahr die Hand seines einzigen Kindes, unter der einen Bedingung freilich, daß ich sie ihm nicht aus dem Hause nähme, solange er lebte, und meine Kunst hauptsächlich auf die Verherrlichung seiner teuren Stadt verwendete. Sie begreifen, gnädige Frau, daß ich mich nicht lange dagegen sperrte. Mein Schwiegervater war nicht nur ein wohlstehender Mann, hatte Haus und Garten, Weinberge und einiges Ackerland, sondern war auch die beste Seele von der Welt und verstand nur keinen Spaß, wenn man anders altertümliche Orte ungebührlich pries und etwa Nürnberg oder Augsburg über die »Perle des Taubertals« stellte. So hat er noch über vier Jahre mit uns gelebt und immer, wenn ich ein Rothenburger Architekturbild auf einer fremden Ausstellung verkaufte, eine besondere Flasche Tauberwein aus dem Keller geholt und meine Gesundheit getrunken. Wie er dann starb, war ich selbst schon viel zu sehr eingewohnt in unserem uralten, winkligen Hause, um ans Fortgehen zu denken. Auch fehlte es nicht an Bestellungen und angefangenen Arbeiten, wenn aber der alte Herr es noch erlebt hätte, daß mein Farbendruckwerk erschienen wäre – ich glaube, er hätte vor Freuden den Verstand verloren.
Er schwieg nach dieser langen Erzählung seines kurzen Lebenslaufs und sah eine Weile, in eine stille Rührung versunken, durchs Fenster in die immer stärker sich umnachtende Gegend hinaus. Endlich fiel es ihm doch auf, daß die Fremde nicht eine Silbe zu erwidern hatte, zumal er ihre Augen aus der halbdunklen Ecke heraus fest auf sein Gesicht gerichtet fühlte.
Ich fürchte nun doch, sagte er, Sie mit dieser kleinstädtischen Geschichte gelangweilt zu haben. Aber Sie haben sie selbst aus mir herausgelockt, und wenn Sie wüßten –
Sie irren sehr, fiel sie ihm ins Wort. Wenn ich stumm blieb, geschah es nur, weil ich über ein Rätsel nachgrübelte.
Ein Rätsel? Das ich Ihnen aufgegeben hätte?
Ja, Sie, Herr Hans Doppler. Ich frage mich, wie ich den Künstler, den ich aus dieser Mappe kennen gelernt habe, mit dem seßhaften jungen Hausvater – sie haben wohl auch Kinder?
Vier, gnädige Frau; zwei Buben und zwei kleine Mädchen.
Nun also – mit dem jungen Ehemann und Hausvater zusammenreimen soll, der in sein einförmiges Rothenburger Glück sich eingenistet hat wie in ein Schneckenhaus und es höchstens einmal bis Nürnberg spazieren führt. Denn Ihre Sachen sind ganz ungewöhnlich talentvoll, das können Sie mir aufs Wort glauben. Ich habe die Arbeiten von Hildebrand und Werner und dem ganzen römischen Aquarellistenklub gesehen und versichere Sie, die Ihrigen würden Aufsehen darunter machen. So viel Freiheit, geistreiche Leichtigkeit, dabei so viel Anmut in allem Landschaftlichen und der Staffage. Und nun denken zu müssen, daß dies seltene Talent dreißig oder vierzig Jahre lang keine anderen Aufgaben zu lösen haben soll, als in endlosen Variationen die Türmchen, Erker, Torbogen und schiefen Dächer eines mittelalterlichen Nestes, das förmlich wie ein ausgegrabenes deutsches Pompeji in unsere Welt hereinsieht – aber verzeihen Sie, daß ich mir eine Kritik Ihres Lebensplanes erlaube, zu der ich gar nicht befugt bin. Da Sie jedoch wissen wollten, worüber ich nachsann – dies Problem war es. Kann eine echte, freie Künstlerseele so ganz durch ein hausbackenes Familienglück ausgefüllt werden? Es muß ja wohl möglich sein. Nur mir, die ich an absolute Freiheit meines Daseins, an eine grenzenlose Freizügigkeit gewöhnt bin, ist es unfaßbar, wie Sie, kaum dreißig Jahre alt –
Sie haben recht, unterbrach er sie, und sein offenes, blühendes Gesicht verschattete sich plötzlich. Sie sprechen da etwas aus, was ich mir anfangs oft genug selbst gesagt, aber immer wieder in einen geheimen Winkel meines Herzens zurückgedrängt habe. Finden Sie denn wirklich, daß meine Sachen auf Größeres und Höheres deuten? Mein Gott, zu einem wahrhaft großen Künstler fehlt es mir wohl am besten. Indessen – Sie kennen das Schillersche Gedicht »Pegasus im Joche«. Ein gewöhnliches Pferd, wenn es auch Rasse hätte, das sich in den Pflug spannen läßt und darin aushält, zeigt dadurch eben, daß es keine Flügel hat. Aber es taugte doch vielleicht zu etwas Besserem, als zum Ackergaul. Freilich, wenn Sie wüßten – wenn sie zum Beispiel meine Christel und die junge Brut kennten –
Ich zweifle keinen Augenblick, daß Sie eine liebe gute Frau und allerliebste Kinder haben, Herr Doppler, und nichts liegt mir ferner, als Ihnen Ihr häusliches Glück verdächtigen zu wollen. Nur daß Sie es in so jungen Jahren als ein definitives ansehen, das nie unterbrochen, nie für eine Zeitlang gegen einen höheren Zweck zurückgestellt werden dürfe – und Sie waren schon unterwegs nach dem gelobten Lande der Kunst und haben gewiß schon auf der Akademie genug davon gehört und gesehen, um eine Ahnung zu haben, welche Freuden Ihrer dort warten – und dennoch –
O, gnädige Frau! rief er und stand auf, als ob ihm plötzlich in dem engen Coupé schwül und kerkerhaft zumute würde – Sie sagen mir da nur meine eigenen Gedanken! Wie manchmal in der Nacht, wenn ich aufwache – besonders in hellen Frühlingsnächten – und höre das stille Atmen meines lieben Weibes neben mir – und in der Stube nebenan schlafen die Kinder, und der Mondschein wandelt so sacht und geisterhaft an den niedrigen Wänden hin, und die Uhr, die der alte Herr regelmäßig aufzog und die noch aus dem Dreißigjährigen Kriege stammt, tickt so schläfrig hin und her – da leidet's mich nicht im Bette, da muß ich hinausspringen und durch das kleine Fenster mit den runden Scheiben ins Tal hinuntersehen. Und wenn dann die Tauber so eilig in ihrem gewundenen Bette hinfließt, als könne sie's nicht erwarten, aus der Enge herauszukommen und sich in den Main zu stürzen und mit ihm in den Rhein und endlich ins Meer – wie mir da oft zumute wird, wie ich die Zähne zusammenbeiße und zuletzt matt und traurig in mein Bett zurückschleiche –, keiner Menschenseele hab' ich je davon gesagt! Es schien mir der schwärzeste Undank gegen das gütige Schicksal, das mich so weich gebettet hat. Aber am folgenden Tage konnt' ich dann gewöhnlich keinen Pinsel anrühren, und wenn ich in einer Zeitung das Wort Rom oder Neapel las, schoß mir das Blut zu Kopf wie einem Deserteur, der unterwegs eingeholt und mit Handschellen in seine Kasematte zurückgeschleppt wird.
Er fuhr mit der Hand durch das lockige Haar und ließ sich wieder auf den Sitz fallen. Sie hatte ihn während seiner melancholischen Standrede unverwandt scharf angesehen; jetzt erst kam ihr sein Gesicht interessant vor. Der harmlos jugendliche Ausdruck war daraus verschwunden, es wetterleuchtete in den hellen, schöngeschnittenen Augen, und seine schlanke Gestalt gewann trotz des philisterhaften schwarzen Röckchens etwas Rüstiges, fast Heldenhaftes, wie es einem Urenkel des »großen Bürgermeisters« wohl geziemte.
Ich begreife Ihre Stimmung, sagte die Fremde, indem sie aus einem silbernen Büchschen eine Zigarette nahm und sie an einem Wachskerzchen gelassen anzündete, aber um so weniger verstehe ich Ihre Handlungsweise. Ich bin freilich von Jugend auf gewöhnt, nur zu tun, was meinem Naturell, meinen innersten Bedürfnissen entspricht. Fesseln erkenne ich nicht an. Entweder sie sind schwach, so zersprenge ich sie; oder sie sind mir zu stark, so erwürgen sie mich. Lebend in ihnen steckenzubleiben, ist für mich ein unmöglicher Gedanke. Rauchen Sie? Genieren Sie sich nicht. Sie sehen, ich gehe mit dem Beispiel voran.
Er schüttelte dankend den Kopf und war ganz Auge und Ohr.
Wie gesagt, fuhr die Dame fort und blies den Rauch mit ihren schönen, geistreichen Lippen langsam vor sich hin, ich habe kein Recht, Ihren Lebensplan zu kritisieren. Aber mich zu wundern, müssen sie mir erlauben, wie ein Mann lieber klagen mag, als sich selbst aus der Not helfen, zumal wo es so leicht wäre. Fürchten Sie etwa, daß, wenn sie eine Kunstreise machten, Ihre Frau Ihnen inzwischen untreu werden könnte?
Christel? Mir untreu? – er mußte mitten in seiner Trübsinnigkeit hellauf lachen.
Pardon! sagte sie ruhig, ich vergaß, daß sie eine Deutsche ist und vollends eine Rothenburgerin. Aber um so weniger begreif' ich, warum Sie sich selbst dazu verdammen wollen, Ihr Leben lang nur die Jakobskirche und das Klimpertor, oder wie es heißt –
Klingentor, gnädige Frau!
Nun ja, all dieses bornierte Gemäuer und spießbürgerliche gotische Gerümpel nachzubilden, als ob es kein Kolosseum, keine Thermen des Caracalla, kein Theater von Taormina gäbe! Und welche Vegetation, welch vornehmes Unkraut zwischen den heiligen alten Tempeltrümmern, welche Pinien, Zypressen und Meer- und Berglinien am Horizont! Glauben Sie mir: ich selbst, wie Sie mich da sehen, obgleich ich noch keine alte Frau bin, ich wäre längst tot und begraben, wenn ich nicht eines Tages entflohen wäre aus engen, empörend geistlosen Umgebungen und mich in das Land der Schönheit und Freiheit gerettet hätte.
Madame sind nicht verheiratet?
Sie warf das glimmende Stümpfchen zum Fenster hinaus, biß einen Augenblick ihre sehr weißen und regelmäßigen kleinen Zähne aufeinander und sagte dann mit einem unbeschreiblichen gleichgültigen Ton: Mein Mann, der General, ist Gouverneur einer mittelgroßen Festung im Innern von Rußland und konnte mich natürlich nicht begleiten. Auch würde er in seinem Alter seine häuslichen Gewohnheiten schwer vermißt haben. So haben wir ausgemacht, daß wir uns alle zwei Jahre irgendwo an der Grenze ein Rendezvous geben, und jedes lebt seitdem viel zufriedener.
Ich weiß wohl, fuhr sie fort, da er sie etwas befremdet ansah, daß diese Auffassung vom Glück der Ehe den sentimentalen deutschen Vorurteilen ins Gesicht schlägt. Aber, glauben Sie mir, in manchen Stücken sind wir Barbaren Ihrer hochgesteigerten Zivilisation voraus, und was wir an politischer Freiheit entbehren, bringen wir durch unsere soziale reichlich wieder ein. Wenn Sie ein Russe wären, hätten Sie sich längst emanzipiert und das Beispiel Ihrer Tauber nachgeahmt, nur in der entgegengesetzten Himmelsrichtung. Und was wäre auch dabei verloren? Wenn Sie nach Jahr und Tag wiederkommen als ein ausgewachsener Künstler, finden Sie etwa Ihr Haus nicht mehr auf dem alten Fleck, Ihre Frau noch immer so häuslich und tugendhaft, Ihre Kinder zwar um einen halben Kopf gewachsen, aber so artig und wohlgewaschen, wie Sie sie verlassen haben?
Sie haben recht! Sie haben nur zu sehr recht! stammelte er und zauste sich beständig das Haar. O, wenn ich das früher so klar überlegt hätte!
Früher? Ein junger Mann wie Sie, der nicht einmal über die Dreißig hinaus ist? Aber ich merke schon, Sie sind allzusehr an die Rothenburger Fleischtöpfe gewöhnt. Sie haben recht, bleiben Sie im Lande und nähren Sie sich redlich. Der Vorschlag, der mir schon auf der Zunge schwebte, wäre Ihnen nicht viel klüger erschienen, als wenn ich Sie aufgefordert hätte, in eine Wildnis zu reisen und, statt auf landschaftliche Motive, auf Tiger und Krokodile Jagd zu machen.
Sie schleuderte ihm diesen scharf zugespitzten Pfeil mit so ruhiger Grazie zu, daß er in demselben Augenblick sich verwundet und angezogen fühlte.
Nein, gnädigste Frau, rief er, Sie müssen mir sagen, was für einen Vorschlag Sie im Sinne hatten. So kurze Zeit ich das Glück habe, Sie zu kennen, so kann ich Sie doch versichern, daß Ihre Erscheinung – jedes Ihrer Worte – einen tiefen, ja unauslöschlichen Eindruck auf mich gemacht hat. Es ist förmlich, als ginge eine völlige Umwandlung mit mir vor, und diese Stunde mit Ihnen –
Er verstummte wieder und wurde rot. Sie sah es, obwohl sie scheinbar an ihm vorbeiblickte, und kam ihm in seiner Verwirrung zu Hilfe.
Mein Vorschlag, sagte sie, lief gar nicht darauf hinaus, Sie zu einem anderen Menschen zu machen, nur dem, der in Ihnen steckt, aus der engen Schale herauszuhelfen. Ich reise jetzt nach Würzburg, um dort eine kranke Freundin zu besuchen. Wenn ich ihr zwei Tage lang Gesellschaft geleistet habe, kehre ich auf demselben Wege zurück und mache nicht eher halt, als in Genua, wo ich mich auf einen Dampfer begebe, um in einem Zuge nach Palermo zu fahren. Denn Sizilien kenne ich noch nicht. Nun habe ich in Goethes italienischer Reise immer mit Neid gelesen, was er über seinen Reisegefährten, den Maler Kniep, berichtet, den er engagiert hatte, um ihm unterwegs jede Stelle, die ihm gefiel, sogleich mit wenigen Linien auf ein reines Blatt zu zaubern. Ich bin kein großer Dichter und keine reiche Fürstin. So sehr aber muß ich mich nicht einschränken, daß ich mir nicht auch eine solche Reisegesellschaft gönnen dürfte. Wir haben freilich jetzt die Photographie. Aber Ihnen am wenigsten brauche ich auseinanderzusetzen, wie viel höheren Wert es hat, eine Künstlerhand zur Verfügung zu haben, als einen photographischen Apparat. Nun dacht' ich, auch Ihnen könne es nicht schaden, durch jemand in dies Paradies eingeführt zu werden, der der Sprache mächtig und in der Kunst des Reisens kein Neuling mehr wäre. Sie wären vollkommen padrone, so kurz oder lang bei mir auszuhalten, wie es Ihnen gefiele. Der erste Paragraph unseres Vertrags würde lauten: Freiheit bis zur Rücksichtslosigkeit. Und wenn Sie auf dem Rückwege vielleicht längere Zeit auf Rom und Florenz verwenden wollten, die Mittel dazu –
O, gnädige Frau! fiel er ihr lebhaft ins Wort, ich würde ja unter keinen Umständen an einen Mißbrauch Ihrer Güte und Großmut denken. Ich bin in der Lage, ganz auf eigene Hand ein Jahr im Süden leben zu können, und wenn ich in Ihrem Vorschlage einen Wink des Himmels erblicke, ist es nur, weil Ihre Anregung, die Aussicht, in Ihrer Gesellschaft all diese Weltwunder zu sehen, mir den Entschluß um so vieles erleichtert. Dafür werde ich Ihnen ewig dankbar bleiben. Es ist ja wirklich so, wie Sie sagen: meine Frau, meine lieben Kinder – im Grunde werde ich ihnen weniger fehlen, als ich selbst mir jetzt vorstelle. Christel ist so verständig, so selbständig – sie selbst, wenn ich ihr alles vorstelle – oder noch besser, wenn Sie ihr das so sagen könnten, wie Sie es mir gesagt haben –, freilich, Sie müssen nach Würzburg – ich kann Ihnen nicht zumuten, den Abstecher nach Rothenburg –, wer das Kolosseum und die Thermen des Caracalla gesehen, dem muß unser bescheidenes kleinbürgerliches Mittelalter –
Ein Pfiff der Lokomotive unterbrach ihn. Der Zug ging langsamer, Laternen tauchten am Wege auf.
Steinach! sagte der Maler und stand auf, indem er nach seinem Reisesäckchen und der Mappe griff. Hier trennen sich unsere Wege, Sie fahren weiter nach Norden, ich steige in den kleinen Lokalzug, der mich in einer halben Stunde nach Hause bringt. O, gnädige Frau, wenn Sie mir Tag und Stunde angeben wollten, wann Sie bei Ihrer Rückkehr –
Wissen Sie was? sagte sie plötzlich, indem sie nach ihrer Uhr sah. Ich habe es mir überlegt, daß es gescheiter ist, heut' in Rothenburg zu übernachten und die Reise erst morgen fortzusetzen. Ich käme viel zu spät in Würzburg an, um meine Freundin noch sehen zu dürfen. Statt dessen, da ich einmal so nahe bin, fülle ich die Lücken meiner geographischen und historischen Bildung aus und tue einen Blick in Ihr »Jerusalem an der Tauber«. Sie werden so freundlich sein, morgen ein wenig meinen Cicerone zu machen, wenn Frau Christel nichts dagegen hat –
O, meine Gnädige! rief er in freudiger Aufregung, darum hätte ich nie zu bitten gewagt! Wie glücklich machen Sie mich, und wie soll ich jemals –
Der Zug hielt, die Tür des Coupés wurde geöffnet, der junge Maler half seiner so rasch eroberten Gönnerin ehrerbietig beim Aussteigen und begleitete sie dann zu einem Wagen zweiter Klasse, in welchen sie ein paar russische Worte hineinrief. Eine kleine, unheimliche Person mit einem Federhütchen und einer Menge Schachteln, Taschen und Körbchen bepackt, arbeitete sich aus dem überfüllten Raum ins Freie und musterte den blonden Begleiter ihrer Herrin mit einem nicht allzu gewogenen Blick ihrer kleinen kalmückischen Augen. Die Dame schien ihrer Kammerjungfer die veränderte Lage der Dinge auseinanderzusetzen, ohne daß das vielbeladene Geschöpf nur eine Silbe erwiderte. Dann nahm sie den Arm ihres jungen Reisegenossen und wanderte mit ihm unter lebhaftem Gespräch den dunklen Bahnsteig auf und ab, von Italien erzählend, von Rußland, von den deutschen Städten, die sie kennen gelernt, so bequem, gescheit und mit anmutiger Bosheit gewürzt, daß ihrem Gefährten war, als ob er sein Lebtag nie besser unterhalten worden wäre und nie müde werden könnte, dieser unwiderstehlichen Scheherezade zuzuhören.
War es nicht auch wie ein Märchen, daß er diese schöne Frau, die er vor einer Stunde zum erstenmal gesehen, jetzt am Arm führte, daß sie sich entschlossen hatte, ihm in sein kleines, vom geraden Wege seitab gelegenes Nest zu folgen, und alles, was ihm noch verführerisch aus der Ferne winkte? Man kannte ihn wohl auf dem kleinen Bahnhof, hatte aber nie so respektvoll die Mütze vor ihm gezogen, wie heut', wo er in dieser vornehmen Gesellschaft erschien. Bei dem hin und her wankenden Laternenschein sah ihr weißes Gesicht noch weit fabelhafter und prinzeßlicher aus. Sie hatte eine seltsam geformte Mütze von schwarzem Samt mit einem rötlichen Pelz verbrämt aufgesetzt, und ihr kurzes Mäntelchen mit der Kapuze trug den gleichen Besatz. Dabei hatte sie die Handschuhe ausgezogen, und ein großer Saphir blitzte an ihrem kleinen Finger, auf den ihr junger Gefährte, da sie die Hand auf seinen Arm gelegt hatte, immer von Zeit zu Zeit verstohlen hinabschielte. Er hatte lange nicht eine so schlanke, lilienweiße Hand gesehen, an der jedes Glied beseelt und beredt erschien.
Als sie dann aber in den kleinen Lokalzug gestiegen waren, der außer dem Lokomotivchen von dritthalb Pferdekräften nur aus zwei leichten Wagen bestand, wurde ihm doch etwas beklommen zumute. Sie saßen alle drei allein in dem einzigen Waggon zweiter Klasse, da es eine erste nicht gab, und glitten langsam durch die leise umschleierte Mondnacht dahin. Die Zofe hatte sich in die dunkelste Ecke gedrückt und kauerte dort wie verschüttet unter dem Gebirge ihres Handgepäcks. Auf das Gesicht ihrer Herrin fiel der volle Schein der Lampe an der Decke, und der junge Maler ihr gegenüber vertiefte sich immer andächtiger in diese edelgeformten Züge, die seinem Schönheitsideal, wie es ihm in der Gipsklasse der Akademie vorgeschwebt, beinahe vollständig entsprachen. Aber je mehr der Zug sich dem Ziele näherte, desto bänger und unheimlicher wurde ihm der Gedanke, wie sich in diesen wundersamen Augen, die schon die halbe Welt gesehen, die kleinstädtische Winkelei seines alten Rothenburg spiegeln würde. Auf einmal kam ihm alles, was er dort seit Jahren gekannt und liebenswürdig gefunden, äußerst ärmlich und kümmerlich vor, und er dachte mit Schrecken daran, wie diese schlanke Nase dort morgen am Tag sich rümpfen würde, wenn ihr all die altberühmten Herrlichkeiten, auf die er so große Stücke gehalten, vorübergingen. Seine eingeschüchterte Phantasie flog auch in sein eigenes Haus, und leider ging es ihr auch hier nicht viel besser. Wie würde seine kleine Frau, die nie aus dem Städtchen hinausgekommen, gegenüber dieser Weltfahrerin sich ausnehmen, und seine Buben, die gewöhnlich mit zerzausten Lockenköpfen herumliefen, seine kleinen Mädchen, die noch so wenig Lebensart hatten!
Er bereute lebhaft, daß er sich auf dies vornehme Abenteuer eingelassen hatte, und die Märchenstimmung war plötzlich verschwunden. Zum Glück brauchte er sich nicht Gewalt anzutun; die Fremde hatte die Augen geschlossen und schien allen Ernstes zu schlafen. Die schlitzäugige Kalmückin betrachtete ihn freilich aus ihrem Versteck hervor unausgesetzt, sprach aber kein Wort.
Da hielt der Zug; die Schläferin fuhr in die Höhe, schien Mühe zu haben, sich zu besinnen, wo sie war, und fragte dann, ob ein erträgliches Hotel in Rothenburg sei. Ihr Begleiter, dem der geringschätzige Ton ihrer Worte seinen ganzen Patrizierstolz empörte, rühmte ihr mit würdiger Zurückhaltung den »Goldenen Hirsch«, dessen Omnibus am Bahnhof warte. – Ob seine Frau nicht da sei, ihn in Empfang zu nehmen? – Er habe sich das verbeten, da es so spät sei – zehn Uhr – und sie die Kinder nicht gern dem Mädchen allein überlasse. Morgen hoffe er das Vergnügen zu haben, seine Familie der gnädigen Frau vorzustellen.
Hierauf erwiderte die Russin nichts, die überhaupt nicht in der alten guten Laune war und im stillen gleich ihm diesen übereilten Seitensprung zu bereuen schien. Sie fuhren alle drei, ohne weiter ein Wort zu reden, in dem engen Hotelwagen durch das schwarze Tor und schwankten bedenklich über das holperige Pflaster in die schlafende Stadt hinein. Nur als sie auf den Markt kamen, warf die Fremde, da eben der Mond aus den Dunstwolken vortrat, einen Blick durch das Wagenfenster und äußerte ihr Wohlgefallen an dem stolzen Bau des Rathauses, der sich in dem weißen Silberschein aufs vorteilhafteste präsentierte. Das belebte auch den gesunkenen Mut ihres Begleiters. Er fing an, einiges über diesen Stolz von Rothenburg und seine Entstehung nach einem großen Brande zu erzählen. Es sei ein Gebäude im besten Renaissancestil, und zumal im Sommer, wenn der breitvortretende Altan, der an der ganzen Frontseite hinläuft, mit frischen Blumen geziert sei, könne man sich nichts Stattlicheres und Lustigeres zugleich vorstellen.
Er sprach noch, als sie schon vor dem offenen Tor des »Goldenen Hirschen« hielten. Hans Doppler sprang hinaus und half dann der Fremden, wobei er dem Wirt guten Abend sagte und ihm zuflüsterte, er möge sein bestes Zimmer bereitmachen. Nummer fünfzehn und sechzehn sind frei! erwiderte der Wirt, indem er sich mit zutraulicher Höflichkeit verneigte.
Sie haben da eine schöne Aussicht ins Taubertal, gnädige Frau, sagte der Maler; wenn der Mond noch mehr in die Höhe kommt, werden Sie an der doppelten Brücke unten und dem gotischen Kirchlein Ihre Freude haben. Ich werde mir erlauben, morgen früh bei Ihnen anzufragen, wie Sie geschlafen haben und wann Sie Ihren Rundgang durch die Stadt antreten wollen.
Sie merkte, daß er ein wenig kühl und verstimmt war. Sogleich streckte sie ihm die Hand hin, drückte die seine, während er ihre schlanken Finger ehrerbietig an seine Lippen zog, und sagte: Auf Wiedersehen also, lieber Freund! Kommen Sie nicht gar zu früh. Ich bin ein Nachtvogel, und Ihr Rothenburger Mondschein nebst der Taubernixe werden mich so bald noch nicht zur Ruhe kommen lassen.
Damit folgte sie dem Wirt ins Innere des Hauses, die Zofe, vom Kellner ein wenig ihrer Bürde entlastet, huschte hinterdrein.