Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
(1902)
—————
Vor etwa zehn Jahren kehrte ich eines Sommerabends von einem Spaziergang zurück, der mich durch die schattigen Anlagen auf dem hohen rechten Isarufer nach der Maximiliansbrücke geführt hatte.
Ich liebe diese Gegend der Stadt und insbesondere diese Brücke. Auf keinem anderen Punkt kommt einem die glückliche Lage Münchens an dem rauschenden Gebirgsstrom so klar zum Bewußtsein, und der Blick an den hohen Wipfeln der Uferbäume vorbei bis zu der feinen Linie der fernen blauen Berge, drunten die tosend dahinschießende helle Flut mit dem grünen Schimmer, drüben die stattliche Straße am Quai, über der die Kirchtürme aufragen, – dies Alles ist ein so imposantes und zugleich heiteres Bild, wie außer Dresden von der Brühl'schen Terrasse herab keine andere große deutsche Stadt zu bieten vermag.
Auch die seltsam geschweifte Coulisse des Maximilianeums, die den schönen Prospect auf der Höhe abschließt, möchten wir, so oft wir über ihre mageren Formen und allzu dünnen Arkaden aus gelblichen Ziegeln den Kopf geschüttelt haben, doch endlich nicht mehr missen und mit einer solideren Architektur vertauschen, da sie mit der Zeit von Epheu umwuchert zu werden verspricht und schon jetzt den Eindruck des »Gasteigs« als einer großartigen Parkanlage verstärken hilft.
Auf dieser Brücke pflege ich jedesmal, so oft ich sie betrete, ein Weilchen zu rasten und, über die steinerne Brustwehr gebeugt, in das Gestrudel und Geschäume drunten hinabzublicken. Das melancholische und zugleich tröstliche alte Lied vom ewigen Fluß der Dinge klingt herauf und regt allerlei Gedanken an, von denen die hinter mir zu Fuß und zu Wagen herüber und hinüber hastende Menge sich nichts träumen läßt, – bis das eigene Denken in den mystischen Abgrund dieser elementaren Gewalten versinkt.
So war mir wieder einmal geschehen, und die heraufstäubende Frische des Wassers hatte mich nach dem heißen Tage so tief erquickt, daß ich mich schwer losreißen konnte. Da ich es doch endlich that und mich zum Weitergehen anschickte, richtete sich in demselben Augenblick unfern von mir ein Mann in die Höhe, der in die gleiche Träumerei versunken gewesen war, und indem er sich umsah, begegneten sich unwillkürlich unsere Augen.
Ich wußte sofort, daß ich diese Augen schon gesehen hatte, obwohl mehr als ein Menschenleben inzwischen vergangen war. Es waren eben Augen, die man nicht wieder vergißt, von einer Farbe, der man kaum je wieder begegnet, unbestimmbar, wie die Farbe des Opals, wie dieser mit einem feurig irisirenden Glanz, wenn die kleinen runden Sterne sich lebhaft bewegten. In der Ruhe und wenn sie gespannt sich auf einen Gegenstand hefteten, hatten sie eine ganz besondere Leuchtkraft, obwohl ihre Farbe sich dann vertiefte, – wie in diesem Augenblick geschah, da sie sich auf mich richteten.
Herr Klaas! rief ich. Hinrich Klaas! Ist es möglich? Sie hier?
Ich kann es nicht läugnen, erwiderte er lächelnd, indem er auch meinen Namen wie aus der Tiefe seines Gedächtnisses hervorholte. Ich freue mich, Ihnen wieder zu begegnen, nach so langen – lassen Sie sehen – ja wahrhaftig, ganzen fünfunddreißig Jahren! Sie sind inzwischen noch nicht grau geworden. Aber ich; wie haben Sie nur mich wiedererkannt, trotz der Asche, die mir der Krater des Lebens auf Haar und Bart gestäubt hat?
Da Sie Ihre Augen durch keine blaue Brille schützen, können Sie wenigstens mir gegenüber in München nicht incognito herumgehen, versetzte ich lachend. Wie lange sind Sie schon hier?
Zwei Jahre.
Und trotzdem muß ich es dem Zufall danken, daß ich Ihnen nach fünfunddreißig Jahren einmal wieder die Hand drücken kann?
In sein verwittertes Gesicht stieg eine leichte Röthe.
Schelten Sie mich nicht, sagte er, indem er seinen Arm in meinen legte und langsam mit mir der Stadt zu wandelte; ich bin schon seit langer Zeit aus allem Menschenverkehr ausgeschieden, ohne mich darum des Menschenhasses zu befleißigen. Aber mit den Meisten ist's reiner Zeitverlust, und ich, jetzt über Fünfundsechzig, habe keine Zeit mehr zu verlieren, wenn ich das noch zu Stande bringen soll, wozu ich auf die Welt gekommen bin. Auch das ist vielleicht eine Selbsttäuschung. Aber wem seine Illusionen untreu werden, der sollte sich lieber gleich begraben lassen.
Ich hatte, während er das Alles in einem langsamen, etwas singenden Ton vorbrachte, mich in seinem Gesicht wieder zurechtgefunden. Nur die frischen Farben waren darin verblichen, sonst erkannte ich jeden Zug: die stark vorgewölbte Stirn, die kräftige Nase und um den zartgeschnittenen Mund das Schnurr- und Knebelbärtchen, das damals rothblond gewesen war. Auch die jetzt ergrauten Haare fielen ihm noch dicht genug auf die Schultern und gaben ihm unter dem breitkrämpigen schwarzen Hut auf den ersten Blick das herkömmliche Gepräge des Künstlers. Nur seine ehemals so breite Brust schien eingesunken, vielleicht nur, weil die lange Gestalt sich jetzt etwas vorgebeugt trug. Doch Alles in Allem machte der alte Freund auch jetzt noch den Eindruck voller Kraft und Rüstigkeit.
*
Einen Freund konnte ich ihn wohl nennen, obwohl unsere Bekanntschaft in meiner Münchener Frühzeit nicht viel über ein Jahr gedauert hatte und wir uns dann die ungeheure Zeit hindurch völlig aus den Augen gekommen waren. Denn die Übereinstimmung in künstlerischen Ansichten und Bedürfnissen hatte uns damals rasch einander zugeführt, obwohl er ein halb Dutzend Jahre älter war und so hart um sein Fortkommen ringen mußte, daß er für geselligen Verkehr keine Zeit hatte und wir uns nur sahen, wenn ich ihn in seinem Mansardenstübchen aufsuchte.
Er nannte es sein Atelier, weil er ein paar Dachziegel über seinem Kopf ausgebrochen und vom Glaser eine wohlfeile Fensterscheibe darin hatte einsetzen lassen.
Unser erstes Begegnen aber geschah in jener Schimon'schen Weinstube, deren ich öfter gedacht habe, da sich hier die Freunde und Verehrer Genelli's an einem bestimmten Abende zusammenzufinden pflegten, woran einige meiner liebsten Jugenderinnerungen hängen.
Das dunkle Kneipchen war nicht sehr besucht. Gewöhnlich befand sich außer uns keine Menschenseele in dem spärlich erleuchteten Zimmer, wo wir um einen runden Tisch herum saßen. So hatten wir uns gewöhnt, unsere ziemlich ketzerischen Kunstgespräche ohne jede Rücksicht auf etwaige Zuhörer zu führen, die an unserer ungebundenen Kritik über Personen und Richtungen, die uns nicht taugten, vielleicht ein Ärgerniß genommen hätten.
Je mehr unser verehrter Meister von dem höchst fragwürdigen Ungarwein, den er liebte, in seinen herkulischen Hals hinab fließen ließ, je schweigsamer wurde er, doch auch um so kräftiger die Naturlaute, mit denen er gegen große Münchener Collegen, die er sich im Wege stehen sah, seinem Ingrimm zuweilen Luft machte. Charles Roß und Pecht secundirten ihm, Berdellé, Schütz und Merz und der Bildhauer Brugger, ein sehr stiller, sanfter Mann, nickten beifällig mit den Köpfen, und ich wußte mir etwas damit, daß diese trefflichen Männer, die mit tapferer Ausdauer ihren Weg abseits von der breiten Straße des Erfolges fortsetzten, mich zu den Ihrigen rechneten.
An jenem Abend, wo wir ziemlich vollzählig erschienen waren, sahen wir in einer dunklen Ecke einen einsamen jungen Mann an einem Tischchen sitzen, der aus einer kurzen Pfeife einen schlechten Tabak rauchte und während der ganzen Zeit nur ein einziges halbes Fläschchen vor sich stehen hatte.
Er war nachlässig gekleidet, und man wußte nicht, wofür man ihn nehmen sollte. Nach einem Kunstjünger sah er nicht aus, trotz der langen, rothblonden Mähne, und die Anderen beachteten ihn kaum. Auch saß er Anfangs uns abgewendet und schien nur mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Je lebhafter aber das Gespräch an unserem Tische wurde, je gespannter horchte er zu uns herüber, und als Genelli gegen seine Gewohnheit aufthaute und allerlei italienische Erinnerungen zum Besten gab, sah ich, wie er sich auf seinem Stuhl gegen uns herumdrehte und kein Auge von dem Meister verwandte.
Diese Augen fielen mir schon damals auf. Sie leuchteten aus der halbdunklen Ecke wie die treuherzigen Augen eines Neufundländers, doch mit dem gelblichen Glanz eines Katzenauges.
Es war endlich Mitternacht geworden. Wir brachen auf, und draußen auf der Straße trennte ich mich bald von den Übrigen, da ich einen anderen Weg zu gehen hatte.
Ich war aber noch nicht fünfzig Schritt gegangen, als ich Jemand hinter mir her kommen hörte, der mich bescheiden bei Namen rief. Ich blieb stehen und sah mich dem unbekannten jungen Mann aus der Weinstube gegenüber, der den Hut abgezogen hatte und mich in sichtbarer Verlegenheit um Entschuldigung bat, daß er mich anzureden wage, obgleich er mir ganz fremd sei.
Er nannte mir seinen Namen und fragte, ob ich ihm erlauben möchte, mich eine Strecke zu begleiten. Als er dann neben mir her schritt, erzählte er mir, er sei ein angehender Maler, dreißig Jahre alt, ein Bauernsohn aus dem Holsteinischen. Von früh an habe er große Freude an Bildern gehabt und schon als kleiner Bub, wenn er die Kühe seines Vaters auf die Weide getrieben, stundenlang die Bilder eines alten Pfennigmagazins betrachten können, des einzigen Bilderbuchs, das unter dem Strohdach seiner Eltern zu finden gewesen. Auch kindische Versuche, etwas daraus nachzuzeichnen, habe er schon als zehnjähriger Knabe gemacht.
Dann aber sei ihm plötzlich ein großes Licht aufgegangen, das ihm eine zauberische Welt von Schönheit aufgeschlossen habe. Der Dorfschullehrer sei ein Mann von etwas höherer Bildung gewesen, durch allerlei Schicksale in dieses dürftige Amt verschlagen, nachdem er früher gedacht, es höher zu bringen. Der habe ihm, da er ihn strebsamer und nachdenklicher als die anderen Dorfschüler gefunden, vom trojanischen Krieg und den Fahrten des Ulysses erzählt und eines Tages ihm ein Buch gezeigt, das er als einen großen Schatz bewahrte: die Zeichnungen Flaxmann's zum Homer.
Das habe über fein Lebensschicksal entschieden.
Der Lehrer habe ihm auf sein flehentliches Bitten das Buch anvertraut, nur jeden Sonnabend bis zum nächsten Montag. In dieser freien Zeit habe er mit brennendem Kopf und wie in einer Art nachtwandelnden Kühnheit in einem Winkel der Scheune stundenlang gesessen und sich abgemüht, einige dieser göttlichen Gestalten nachzuzeichnen. Daß Menschenleiber, jeder Hülle entkleidet, so schön seien, sich so herrlich bewegten, als wären sie von einer höheren Gattung als er selbst und das übrige bäuerliche Geschlecht, hatte er sich nie träumen lassen und glaubte es Anfangs kaum. Ihm schienen diese zart umrissenen Figuren wie Märchenwesen. Aber es machte ihn glücklich, daß er einen Blick in dies Zauberland thun durfte.
Nach und nach, und zwar ziemlich rasch, hatte er seinen unbeholfenen Stift so weit in die Gewalt bekommen, daß der Lehrer, dem er einige seiner Versuche zeigte, ein entschiedenes Talent in ihm erkannte. Er selbst zeichnete ein wenig und konnte den gelehrigen Knaben auf das, was er noch verfehlte, aufmerksam machen. Dann sprach er auch dem Vater davon und warf so hin, in dem Jungen stecke vielleicht ein Maler. Damit kam er übel an. Der alte Bauer gerieth in heftigen Zorn, ließ sich die Blätter, die sein Hinrich bekritzelt hatte, geben, und da er darauf allerlei nackte Gestalten fand, zerriß er sie sämmtlich und schwur, den unnützen, liederlichen Burschen zu enterben, wenn er sich je wieder auf einem so schandbaren Zeitverderb betreffen ließe.
Es galt nun, sich zu fügen, und in den nächsten Jahren, da der leidenschaftliche Trieb in der Seele des Jünglings nicht zu ersticken war, nur in tiefster Heimlichkeit dann und wann sich ihm hinzugeben, so ängstlich, wie etwa ein Falschmünzer sein lichtscheues Gewerbe treibt.
Zum Glück war der alte Klaas nicht hinter den Anstifter des ganzen Unheils gekommen. Das Werk Flaxmanns lag wohlversteckt zu unterst in der Lade, in der Hinrich seine paar Hemden und Wämmser aufbewahrte.
Darüber war er zwanzig Jahre alt geworden, immer ungeduldiger in den Zügel knirschend, den sein Schicksal ihm anlegte, immer verdrossener seine Knechtsgeschäfte auf dem Hof des Vaters verrichtend. Die Vergnügungen, die andere in seinen Jahren über unerfüllte Wünsche trösten, waren für ihn nicht vorhanden. Keine der frischen und derben Dorfschönheiten, die gegen den stattlichen Burschen nicht grausam gewesen wären, machte nur den geringsten Eindruck auf sein Herz und seine Sinne. Es waren freilich keine Griechinnen mit schlanken Leibern und göttlich stolzen Gesichtern, wie Homer sie gesehen und der feine Künstler nachgebildet hatte. Mit denen wäre er wohl gern an Sonn- und Kirchweihtagen zum Tanz gegangen. Die lebten aber nur im Reich der Phantasie.
Da starb plötzlich sein Vater, der durch einen Sturz mit dem Wagen verunglückte, und wenige Monate später folgte ihm auch die Mutter. Nun hielt den Sohn nichts mehr zurück, den Weg zu seinem Glück einzuschlagen, den ihm nur das väterliche Machtwort versperrt hatte.
Er verkaufte den Hof, nahm Abschied von dem Lehrer, der ihm den Flaxmann zu ewiger Erinnerung schenkte, und wandte sich nach Hamburg, wo man ihm unter den wenigen dort ansässigen Malern einen bezeichnet hatte, der Schüler annahm.
Es war kein ganz unbegabter Künstler, doch in den pedantischen Vorurtheilen befangen, die damals – vor vierzig Jahren – selbst an größeren Akademien junge Talente noch in spanische Stiefel einzwängten. Die Neigung Hinrich's zur Antike hatte seinen vollen Beifall. Um so wichtiger schien es ihm aber, den Anfänger Jahr und Tag vor Gypsabgüssen sich abquälen zu lassen, ehe er ihm den freien Blick in die Fülle lebendiger Naturformen gestattete.
Der Bauernsohn, der auch sonst gegenüber der städtischen Cultur seine mangelhafte Bildung fühlte, ergab sich mit unbedingtem Respect in diesen Schulzwang, athmete ein wenig auf, als er endlich zum Actzeichnen zugelassen wurde, und beschäftigte sich nebenbei auf eigene Hand mit dem Entwerfen von allerlei Compositionen, bei denen sein Meister freilich nicht zu rathen wußte, da er selbst neben den Portraits, die ihm gut bezahlt wurden, nur dann und wann ein hülfloses Genrebildchen zu Stande brachte.
Hinrich Klaas aber träumte nichts Anderes als Götter, Helden und überirdisch reizende Frauen. Zu letzteren vollends fehlte es in der großen Handelsstadt damals mehr als jetzt an Modellen.
Als er auf diese Weise fünf schöne, frische Jugendjahre einer unzulänglichen Lehrzeit verbracht und den größten Theil seines kleinen Vermögens verbraucht hatte, riß ihn endlich der Rath seines alten Schullehrers aus der dumpfen Sphäre, in der er zu Grunde gegangen wäre. Der wackere Mann kam, seinen alten Schüler einmal zu besuchen, fand ihn in einem an Krankheit grenzenden tiefen Unmuth und bestand darauf, daß er den Staub Hamburgs von den Füßen schütteln und auf und davon gehen solle, irgendwo anders eine frischere Luft unter seine Flügel zu bekommen.
In Berlin, was am nächsten lag, war ihm das Getümmel der großen Stadt, das es zu künstlerischer Stimmung nicht kommen ließ, so unheimlich, daß er nach einer Woche weiter fuhr und erst in München Halt machte. Hier, wo um die Mitte des vorigen Jahrhunderts noch jenes naive künstlerische Leben und Streben herrschte, das seitdem durch den enormen Wettbewerb und das Gewimmel eines internationalen Kunstmarkts verdrängt worden ist, fand der junge holsteinische Schwärmer Alles, was er suchte und brauchte. Er hatte unter den Lehrern an der Akademie sich den einen ausersehen, dem er sich an künstlerischer Art und Gesinnung am verwandtesten fühlte, den trefflichen Strähuber, dessen Zeichnungen zu dem großen Bibelwerk auch heute noch lange nicht nach ihrem Werth geschätzt sind. Bei dem gab er sich privatim in die Lehre und erhielt zum ersten Mal einige Anleitung im Componiren. Daneben zeichnete er an den Abenden fleißig Act in der Filser'schen Actschule und lief an allen freien Stunden in die Museen, mit Vorliebe in die Glyptothek, wo er Stunden lang Cornelius' Fresken zur Ilias studierte, die ihm damals das Höchste aller Kunst bedeuteten.
Nächst diesem verehrte er unter allen lebenden Künstlern am meisten Bonaventura Genelli, von dem er nach und nach alle Compositionen zusammengebracht hatte, nach denen Stiche erschienen waren, mit Opfern, die im Verhältniß zu seinen Mitteln ansehnlich genug waren. Denn sein kleines Kapital war mehr und mehr zusammengeschmolzen; in nicht ferner Zeit würde er als ein völlig habloser Mann darauf angewiesen sein, von der Hand in den Mund zu leben. Das bekümmere ihn aber wenig, sagte er mit einem stillen Achselzucken. Er habe keine großen Bedürfnisse, und ein paar Zeichenstunden, die er gefunden, würden ihn vor dem Verhungern schützen. Daß er hier so aus dem Vollen Schönheit genieße und das Gefühl habe, auf dem Wege, der zu seinen Idealen führe, allmählich vorwärts zu kommen, sei ein solches Glück, daß man auch bei Brod und Wasser seinem Schicksal dafür danken müsse.
*
Während er mir dies Alles treuherzig erzählte, Anfangs stockend, dann aber, von seiner feurigen Begeisterung fortgerissen, in heftigem Redefluß und so laut, wie wenn er als ein überzeugter Anwalt eine Sache, die ihm heilig war, vertreten müßte, waren wir bei meinem Hause angelangt. Ich wollte mich von ihm verabschieden, mit der Aufforderung, mich einmal zu besuchen und mir von seinen Zeichnungen mitzubringen, da merkte ich, daß er noch Etwas auf dem Herzen hatte.
Er kam dann auch schüchtern damit heraus, ob ich ihm nicht den großen Gefallen thun wolle, ihn zu Genelli zu führen. Es sei sein höchster Wunsch, von dem zu erfahren, was an seinem Talente sei, und ob er hoffen dürfe, noch einmal etwas Großes zu leisten.
Ich antwortete hierauf mit einigen Gemeinplätzen: eine Bürgschaft für die Zukunft könne Niemand für einen Anderen übernehmen, sein Schicksal schaffe sich selbst der Mann, Lust und Liebe seien die Fittiche zu großen Thaten, und dergleichen weise Sprüchlein. Denn heimlich traute ich dem äußerlich unbeholfenen Bauernsohn nicht zu, daß die Grazien an seiner Wiege gestanden haben sollten, und hätte es Freund Genelli gern erspart, an unzulänglichen Schülerversuchen den Schulmeister zu machen. Zuletzt konnte ich dem inständig in mich Dringenden seine Bitte nicht abschlagen und bestimmte ihm schon für den nächsten Tag eine Stunde, wo wir den Gang zu seinem verehrten Meister antreten wollten.
Er stellte sich pünktlich ein, mit einer unförmlich angeschwollenen Mappe. Als ich einen erschreckten Blick darauf warf, wurde er dunkelroth und stotterte entschuldigend, es falle ihm natürlich nicht ein, all seine Jugendsünden vor dem großen Künstler auszukramen; doch habe er nicht gewußt, welche er davon auswählen sollte, da sie alle noch gleich unvollkommen seien.
Zu meiner freudigen Genugthuung lief die Sache glimpflich genug ab.
Wir fanden Genelli vor dem Karton, auf dem er seinen »Raub der Europa« aufgezeichnet hatte. Baron Schuck – damals noch nicht »Graf« – hatte ihm den Auftrag gegeben, das Bild in Öl für ihn auszuführen. Er empfing den jungen Holsteiner, den ich ihm vorstellte, nicht allzu freundlich, da ihm die dicke Mappe unheimlich war. Als er aber sah, wie hingerissen der schüchterne Kunstjünger mit den sonderbaren Augen vor den Carton auf der Staffelei sich hinpflanzte und Alles über seiner Bewunderung vergaß, sogar den Zweck seines Besuches, der ihm doch so sehr am Herzen lag, klärte sich seine Miene auf; er machte mit den vollen, etwas aufgeworfenen Lippen die schnalzende Bewegung, die anzeigte, daß er guter Laune war, und knüpfte dann selbst die Bänder der Riesenmappe auf, um nun Blatt für Blatt fast den ganzen Inhalt durchzumustern.
Ich sah mit hinein und begriff, daß die Betrachtung ihn fesseln mußte. Er fand hier sein verjüngtes Ebenbild, wenigstens im Wollen und Streben, das Meiste noch unreif im Technischen, dazwischen doch auch schon einige Entwürfe von kühnerem Schwunge und sich ankündender Eigenart. Er sprach Nichts über diese Studien, nur zuweilen entfuhr ihm ein beifällig brummender Laut oder er wies mit dem Finger stillschweigend auf ein besonders glückliches Bewegungsmotiv oder eine tolle Verkürzung, die noch so leidlich gelungen war.
Dann knüpfte er alle Bänder sorgfältig wieder zu, enthielt sich aber dem Schüler gegenüber, der wie ein reuiger armer Sünder mit bleichem Gesicht dastand, jeder eingehenden Beurtheilung und warf nur so hin, er möge fleißig fortfahren, er sei jedenfalls auf einem guten Wege; was noch fehle, werde ihm seine eigene Erfahrung und das Studium der großen Meister Schritt für Schritt klar machen. Wenn er wieder eine Composition zu Stande gebracht, solle er nur kommen, sie ihm zu zeigen.
*
Die Verehrung vor dem Meister war so mächtig in dem jungen Menschen, daß er kaum mit ein paar linkischen Worten seinen Dank stammeln konnte.
Desto ungestümer lös'te sich seine Zunge, als er draußen auf der Straße mit mir allein war. Er hatte sich gar nicht auf ein ausdrücklicheres Lob gefaßt gemacht, aus der kurz angebundenen Äußerung jedoch richtig herausgefühlt, daß er das Examen weit über sein Erwarten bestanden hatte. Nun verweilte er nur kurz bei seiner eigenen Angelegenheit und erging sich desto überschwänglicher in seiner Bewunderung des Cartons. Er habe sich ihn so eingeprägt, daß er ihn sogleich aus dem Kopfe nachzuzeichnen im Stande wäre.
Vor meinem Hause angelangt, konnte er mir nicht genug sagen, wie dankbar er mir sei, daß ich ihm zur Erfüllung seines höchsten Wunsches verholfen hatte. Wir verabredeten, uns öfter zu treffen; auch in mein Haus lud ich ihn aufs Herzlichste ein, doch machte er kaum einmal flüchtig Gebrauch von meiner Aufforderung, da er sich seines dürftigen Aufzugs schämte. Zuweilen holte er mich zu einem Spaziergang ab. Dann blieb er auf der Straße gegenüber meinen Fenstern stehen und kündigte seine Anwesenheit durch einen Vogelruf an, den er ganz sanft mehrmals wiederholte.
In seinem »Atelier« hatte ich ihn nur ein einziges Mal aufgesucht. Die Armseligkeit des elenden Stübchens hoch unterm Dach machte ihn verlegen, so sehr ihm für seine eigene Person alles Äußerliche seiner Existenz gleichgültig war. Indessen hatte er doch die Wände seiner Bodenkammer mit einigen Bildern nach seinem Herzen decorirt, darunter die »Nacht« von Carstens, Cornelius' »Entführung der Helena durch Paris«, auf dem Schiffe, dessen Steuer Amor führt, während die nachstürmenden Furien an seiner Fackel sich die ihren anzünden; dann auch Kaulbach's »Hunnenschlacht« und etliche Lithographien nach italienischen Meistern.
Auf einem hölzernen Bord lagen ein paar Abgüsse von Händen und Füßen, daneben die Vossische Übersetzung Homer's, das einzige Buch außer einem kleinen, abgegriffenen Exemplar von Moritz' Götterlehre, das sich in seinem Besitz befand.
Doch beschränkte sich seine Lectüre nicht auf diese beiden Bücher, vielmehr war er eifrig bemüht, die versäumte Jugendbildung nachzuholen. Ich mußte ihm Übersetzungen der griechischen Tragiker leihen, einen deutschen Virgil, verschiedene Geschichtswerke und nicht zuletzt auch unsere deutschen Klassiker, von denen er bisher nur Goethe's Hauptwerke gekannt hatte.
Über all das äußerte er sich auf unseren langen Wanderungen im englischen Garten und an den Isarufern mit einer Frische und Klarheit der Anschauung ganz aus dem eigenen Empfinden heraus, die mir seinen Umgang immer erfreulicher machten. Leider sollte dieser freundschaftliche Verkehr nicht lange dauern.
Eine kleine Erbschaft, die ihm unerwartet zufiel, brachte seinen langen, glühenden Wunsch, Italien zu sehen, zur Ausführung. Genelli hatte ihn darin bestärkt. In Rom erst würden ihm die Schuppen von den Augen fallen.
Damals fing in München Piloty soeben an, seinen mächtigen Einfluß auf die jüngere Generation auszuüben durch eine coloristische Meisterschaft, die der Genelli-Gemeinde sehr wenig imponirte, weniger noch als die historischen Stoffe, die den geschworenen Idealisten als so und so viel Theaterscenen mit der großen Kunst nichts gemein zu haben schienen. Ich selbst konnte in diese einseitige Doctrin nicht einstimmen und vertheidigte die historischen Bilder Paul Delaroche's und seines Jüngers Piloty auch gegen Freund Klaas, der nichts damit anfangen konnte. So lockerte sich gegen das Ende seines Münchener Aufenthalts unser Verhältniß ein wenig, doch trennten wir uns endlich noch mit dem Gefühl, daß wir einander doch fehlen würden, und versprachen uns, fleißig zu schreiben.
Hiezu ist es leider nicht gekommen.
Ein erster und letzter Brief des Rompilgers berichtete von seiner Ankunft in der ewigen Stadt. Die Eindrücke aber, die dort über ihn hereingestürmt, seien so überwältigend, daß er unfähig sei, sich über irgend Etwas auszusprechen. Er müsse mich bitten, eine Weile Geduld zu haben.
Diese Geduld wurde dann freilich dermaßen mißbraucht, daß ich endlich, nachdem ich ein paarmal angefragt hatte, ob der Freund noch am Leben sei, das Kreuz über ihn machte und wirklich glaubte, es sei ihm etwas Menschliches begegnet. Denn auch sein Name schlug nie mehr an mein Ohr, Arbeiten von ihm fanden nie den Weg über die Alpen, da er doch gewiß, wenn er noch lebte, Schönes geschaffen hatte.
So war mir diese Episode meiner jungen Münchener Jahre völlig im Gedächtniß erloschen, bis die Begegnung auf der Maximiliansbrücke plötzlich Alles in lebhaftester Klarheit mir wieder vergegenwärtigte.
*
Es überkam mich aber, wie ich neben ihm hinschritt, ein seltsam träumerisches, fast geisterhaftes Gefühl, so daß ich still blieb und ihn reden ließ, der nichts Ähnliches zu empfinden schien. Ihm konnte ja auch nicht wie mir zum Bewußtsein kommen, wie sehr ihn die lange Zeit, seit wir uns nicht gesehen, verwandelt hatte. Von dem schwerflüssigen, unbeholfenen Bauernsohn war nichts in ihm geblieben; in seinem ganzen Betragen, wie auch in seinem Anzug, der vom ausgesuchtesten Stoff und Schnitt war, verrieth er, daß er mit den Formen und Gewohnheiten der höheren Gesellschaft vertraut war. Vom Künstler hatte er nur den großen schwarzen Hut und das schlicht herabfallende Haar behalten.
Ja, sagte er, da ihm mein Schweigen endlich doch auffiel, Sie haben wohl Mühe, sich in dem revenant wieder zurechtzufinden. Aber glauben Sie mir, so viel Wasser inzwischen die Isar, den Tiber und die Newa hinabgeflossen ist, seit wir beim Kappler den letzten Abschiedstrunk mit einander thaten, und so gründlich all diese Gewässer mir die grobe Rinde von damals abgespült haben, im Grunde bin ich doch Derselbe geblieben, auf den der gute Genelli damals schöne Hoffnungen setzte, und darf glauben, wenn er jetzt meine Mappen inspicirte, würde er mir das Zeugniß geben, daß ich nicht aus der Art geschlagen sei.
Freilich, wenn ich ihm und den anderen Großen treu blieb, hab' ich's auf meine Art gethan. Es kommt ja immer darauf an, mit den eigenen Augen sehen zu lernen. Nun, und der Alte hatte ganz Recht, als er mir prophezeite, da unten würden mir die Schuppen von den Augen fallen.
Daß ich nun einmal in meinem künstlerischen Wesen ein unverbesserlicher Fanatiker der Linie bleiben würde, wie Sie mich genannt haben, stand in den Sternen geschrieben. Aber die volle Bedeutung der Linie lernte ich erst in Rom begreifen, als ich in die Sixtinische Kapelle und Raffael's Stanzen im Vatikan eintrat.
Alle meine deutschen Meister und Vorbilder und mein geliebter Flaxmann hatten an dem nordischen Verhängniß gelitten, daß sie die Macht und den Reiz der Natur – ich meine des Menschenleibes – nur in ihren Träumen anschauten. Wie selten ist einem Carstens, einem Genelli das Glück zu Theil geworden, leibhaftige Schönheit zu studieren, auch dann nur in der Gestalt irgend eines zu diesem Zweck entkleideten Modells, das sich in unserer frostigen deutschen Luft am geheizten Ofen nie recht frei bewegen lernte! Dagegen die großen Meister der Renaissance, bei denen blieb's nicht nur ein abstracter Begriff, was der Umriß eines Menschenleibes und seine Bewegungsreize seien, sondern sie konnten die Linie mit vollem Naturhauch beleben, wie sie ihnen tausendfach aufgegangen war, da nicht bloß bezahlte Modelle, sondern vornehm gesinnte Weiber der höhern Stände sich ihnen zu entschleiern den Muth hatten. So verrannten und verbissen sie sich nicht aus Mangel an immer neuer Anschauung in gewisse Manieren, denen, wie mir jetzt erst aufging, Cornelius und Genelli, Kaulbach und Schwind rettungslos verfallen waren.
Das Große an ihnen, das Bleibende bei allem Unzulänglichen der Formbildung und das sie mit den unsterblichen Alten gemein haben, ist aber eben ihre innige Erkenntniß, daß in aller bildenden Kunst das Eine, was noth thut und dauernden Eindruck verbürgt, doch nur die Silhouette ist, die Contur oder, wie ich's lieber nennen möchte: die Geberde.
Wenn ich nicht hoffte, Sie würden Ihren jungen ästhetischen Überzeugungen wenigstens in der Hauptsache treu geblieben sein, würde ich mich hüten, ein solches Credo auszusprechen. Wer sich heutzutage dazu bekennt, läuft Gefahr, als ein reactionärer akademischer Schwachkopf angesehen zu werden. Die junge Generation zuckt ja sogar über Raffael, als über einen längst überwundenen Standpunkt, die Achseln. Ebenso wie die moderne Welt musiktoll geworden ist, hat sie sich auch einem blindwüthigen Farbencultus ergeben; Beides stammt aus derselben Quelle: dem Trieb nach nervöser, verschwommener, sinnlicher Aufregung, in der alle festen Formen sich auflösen und nur ein hell-dunkler Gefühls- und Stimmungseindruck übrig bleibt. Ist man doch schon so weit gekommen, auch Bildwerke färben zu wollen, unter dem Vorgeben, die Griechen hätten ebenfalls die marmorne Nacktheit nicht ertragen ohne Farbenreize. Nun freilich, wo plastische Figuren sich der Architectur unterordnen sollten, mußten sie sich eine leichte Tönung gefallen lassen; aber außer Gold und Elfenbein wurde an die höchsten Offenbarungen ihrer Götterbilder gewiß nichts gewendet, was den Genuß der Linien durch Färben und Tünchen fälschen konnte, höchstens etwa in einem Dorftempelchen für die groben Augen eines profanen Haufens, wie heutzutage grob angemalte Christus- und Heiligenfiguren.
Nun, darüber läßt sich streiten. Vielleicht überschätzen wir dennoch den künstlerischen Feinsinn der Athener. Was aber die Meister der Renaissance betrifft – die verstanden sehr wohl, daß das Ewige an der Kunst die Form ist, während das Spiel des Lichts und der Farben hin und her schwankt, für den Augenblick entzücken kann, dann aber der zerstörenden Macht der Zeit anheimfällt.
Ich will nicht davon reden, daß kein solches Bild nach hundert Jahren sich noch so darstellt, wie sein Schöpfer es auf die Wand oder eine Tafel hingezaubert hat. Aber selbst das Gedächtniß der Mitlebenden weigert sich, einen bleibenden Eindruck zu empfangen. Fragen Sie den eifrigsten Bewunderer, den begabtesten Kunstforscher aufs Gewissen, ob er sich entsinnt, welche Farbe der Mantel einer Madonna trage, die er vor drei Wochen gesehen – er wird fast immer in Verlegenheit kommen. Oder entsinnen Sie sich, in welchem Ton das Gewand Gottvaters gehalten ist auf dem Bilde an der Decke der Sistina, wo er in der Wolke von Engeln heranschwebt und dem eben erwachten Adam den Finger entgegenstreckt, ihm den geistigen Funken einzuflößen? Nein, das ist Ihnen entfallen. Das Wichtigste dagegen, die Geberde, mit der sich der ungeheure Act der Menschwerdung vollzieht, die ist Ihnen unauslöschlich in die erinnernde Phantasie eingebrannt.
Und so steht's mit all jenen unvergleichlich hohen Werken. Was ist vom Abendmahl Lionardo's noch übrig, als der schwache Umriß der wundervollen Gestalten? Wie lange wird es dauern, bis die Fresken Raffael's im Vatikan und Michelangelo's Decke vollständig zu farblosen Schemen abgeblaßt sind? Aber die Geberde, mit der jede dieser Gestalten ihren eigensten Sinn ausspricht, und der göttliche Sinn ihrer Schöpfer, der sich in ihrer Gruppirung offenbart, die werden ewig bestehen und ihr eigenes Licht in der bloßen Linie ausstrahlen, wenn alles andere Farben- und Schattenspiel längst ein eintöniges Grau geworden ist. –
Er hatte sich so in Eifer geredet, daß er gar nicht merkte, wie stumm ich all diese gewagten Aussprüche hinnahm, bis ich endlich, um ihn nur zu weiteren ästhetischen Bekenntnissen zu reizen, scheinbar gleichmüthig hinwarf: Es fällt mir nicht ein, Verehrtester, eine Kunstanschauung zu bestreiten, die sich ein ganzes Leben lang in Ihnen festgesetzt hat. Ein Jeder mache, was er kann, schrieb der alte Thorwaldsen einem Schüler einmal ins Stammbuch. Nur das Argument der Vergänglichkeit, das Sie gegen die coloristische Kunst geltend machen, wird Ihnen nicht eingeräumt werden. Die Dauer der Zeit, die so oft vom Zufall abhängt, kann doch kein Maßstab für den Wert eines Kunstwerkes sein. Dann wären ja die untergegangenen Meisterwerke eines Phidias und Zeuxis geringer zu taxiren, als zierliche Tanagrafigürchen und pompejanische Wandmalereien, die heute noch ganz frisch erhalten sind. Und was die Berechtigung der coloristischen Wirkung betrifft, sollte sie auch der Macht der Zeit mehr anheimfallen als die formale, so dächte ich, gewisse Tizians –
O, unterbrach er mich lebhaft, kommen Sie mir nicht mit diesem Virtuosen und am Ende gar noch mit dem Gaukler Correggio, deren Zauberkünsten ich wahrhaftig selbst nicht widerstehe, so lange ich in ihrem Bann bin. Kaum aber habe ich den Rücken gewendet – was bleibt mir? Und dieser Tizian – wenn er nur wollte, wie reich war er! Was hatte er nicht Alles zu geben, außer seinen nur so gemüthlos hingeschriebenen Portraits! Sehen Sie, da war zum Beispiel der so jammervoll beim Brande seiner Kapelle umgekommene Petrus Martyr. Der aber mag zehnmal mit all seinen Farbenreizen verbrannt sein, er steigt, so oft ich an ihn denke, wie ein Phönix aus der Asche, da die Komposition so überaus herrlich war, die Geberde, mit der der Heilige zwischen seinen Mördern hinsinkt, groß und wahr. Und wenn die Assunta einmal das gleiche Schicksal haben sollte –, die Gestalt der hinaufschwebenden Maria in ihrer schlichten Hoheit, die sich schon im Contur ausspricht, wäre dennoch unvergeßlich, auch ohne Kupferstiche und Photographien. Wogegen das dichte Gewimmel der Jünger unter ihr, das aber nur gut gemalt ist, keinen Anspruch auf Fortleben hätte, da es nur ein compacter Haufen uninteressanter Menschenkörper ist.
*
Plötzlich stand er still und sah mich mit einem gutmüthigen Lachen von der Seite an.
Sie halten mich ja wohl für einen completten Narren, werther Freund, daß ich Ihnen gleich in der ersten halben Stunde zwischen allem Wagenlärm auf offener Straße einen Vortrag über meine künstlerischen Schrullen zum Besten gebe. Verzeihen Sie gütigst, es sitzt mir eben, seit ich wieder in dem lieben München bin, die Galle über die modernen Verrücktheiten bis zum Halse hinauf, und da ich ganz als Einsiedler lebe, habe ich keine Gelegenheit, sie anders als in ingrimmigen Monologen zu lüften, so oft ich wieder einmal an einem Schaufenster gesehen habe, wie herrlich weit es das junge Geschlecht gebracht hat, dem Michelangelo und Raffael für langweilige Akademiker gelten. Ich will's gewiß nicht wieder thun, das gelob' ich Ihnen. Und Sie haben ein Recht darauf, zunächst zu erfahren, wie ich ein so curioser Heiliger geworden bin, der still in seiner Nische steht und nur die Achseln zuckt, wenn er das blöde Volk Göttern opfern sieht, die er für falsche Götzen hält.
Ich selbst, lieber Freund, habe mir als junger Mensch wahrlich nicht träumen lassen, daß ich's mit meinem idealistischen Eigensinn noch einmal auf einen grünen Zweig bringen würde. In Rom, nachdem in den ersten Jahren, wo ich keinen Stift und keinen Pinsel anrührte, mein ererbter Zehrpfennig aufgezehrt war, habe ich noch weit nachdrücklicher gehungert, als in den Münchener Lehrjahren. Nur daß dort in meinem gelobten Lande das unfreiwillige Fasten einem nicht so an die Seele geht, die ihrerseits immer noch Nektar und Ambrosia vollauf zu naschen bekommt. Als ich aber drauf und dran war, zum Skelett abzumagern und nicht wußte, wie lange noch ein Shylock überhaupt ein Pfund Fleisch an mir finden würde, wenn ich ihn angepumpt hätte, da rettete mich kein Geringerer als Raffael selbst. Ich wollte mich einmal »satt sehen« an seiner Galatea, ging in die Farnesina und nahm mein Skizzenbuch mit. Während ich ganz andächtig, doch mit einer vor Hunger zitternden Hand, den göttlichen Leib der Nymphe nachkritzele, sieht mir plötzlich Jemand über die Schulter, bittet um Verzeihung für seine Indiscretion und stellt sich mir vor als Fürst Michael Petrowitsch Butenjeff.
Im ersten Augenblick war mir die Störung weniger schmeichelhaft als unbequem. Dieser vornehme Herr, dessen starkknochiges Gesicht den echten slavischen Bauerntypus trug, breite Backenknochen, gestülpte Nase, kleine Augen unter buschigen Brauen, dazu ein Bart, der bis auf die Mitte der Brust herabhing – daß ihn etwas Besseres als blasirte Neugier nach Italien und unter anderem auch zu Raffael's Galatea getrieben hätte, schien mir kaum glaublich. Ich wurde aber bald anderer Meinung, als ich ihn mit sehr ernster Miene mein Skizzenbuch durchblättern sah. Ich hatte mich, wie gesagt, in den ersten zwei Jahren jeder eigenen Arbeit enthalten, da ich fühlte, wie viel ich noch zu lernen hatte. Doch konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, hin und wieder ein paar Striche zu einer größeren Composition zu machen, die mir mitten unter allem Staunen und Studieren vor den großen ewigen Werken in der Phantasie spukte. Ein Bacchuszug, in mehrere Felder eingetheilt, auf denen sich kleinere Episoden dionysischen Inhalts abspielten. Das Ganze nur erst in den flüchtigsten Conturen, die nur für einen Kenner etwa Werth haben konnten.
Als solchen offenbarte sich aber zu meinem Erstaunen der elegante Bartrusse, den ich vor mir hatte.
Als er das letzte Blatt umgewendet hatte, fragte er ohne weitere Vorreden, ob ich geneigt wäre, diese Entwürfe für ihn auszuführen, zunächst in größeren Cartons; wenn diese, wie er nicht zweifle, nach Wunsch ausfielen, al fresco auf den Wänden eines Speisesaals, für die er in seinem neu erbauten Landhause nahe bei Moskau um eine passende Decoration verlegen sei. Bis zur Vollendung der Vorarbeiten wolle er mir ein Jahresgehalt aussetzen; über das weitere Honorar würden wir uns dann wohl verständigen.
Ich war gerade noch im Besitz einer Lira. Sie können daher denken; wie es mir kalt und heiß über den Rücken lief, als ich die Summe nennen hörte, über die ich nun alljährlich verfügen sollte. Mehr aber noch übermannte mich das beglückende Gefühl, jetzt endlich etwas so recht nach meinem Herzen schaffen zu können. Frescomalerei – die war und ist mir bis auf den heutigen Tag die höchste Erscheinungsform der wahren Kunst. Da fallen alle die kleinen coloristischen Mätzchen und Kniffe der Ölvirtuosen fort, auf das ehrliche Farbebekennen, ich meine das ruhige Auftragen der Localfarbe, kommt es an, die nur wie ein discretes Accompagnement von Geigen und Flöten eine ausdrucksvolle Melodie, den charakteristischen Umriß begleitet und die körperliche Geberde nirgends überschreit.
Na, Sie können denken, daß ich mich nicht lange bitten ließ, den märchenhaften Pact zu unterschreiben. In der ersten Stunde erfuhr ich auch, daß in der rauhen Hülle meines Mäcens ein feines Kunstingenium wohnte. Direct von Moskau war er nach Rom gereis't; ein paar Stiche nach Raffael hatten schon in seiner Knabenzeit einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht, so daß die bunten Heiligenbilder in den Kirchen und einige Jagdstücke, die sein Vater bewunderte, ihn gleichgültig ließen. Hier in Rom nun war er den Antiken und den Wunderwerken des Cinquecento nachgegangen, und daß er in mir jungem Burschen – allerdings nur als Künstler noch ein Anfänger – eine gleich gestimmte Seele fand, schien ihm eine Fügung des Himmels, für die er nicht dankbar genug sein könne.
Was soll ich Ihnen noch viel sagen? Ganze drei Jahre blieben wir noch in Rom, ich mit heißem Eifer an meinen Cartons arbeitend, mein guter fürstlicher Brodherr täglich Stunden lang in meinem Atelier, von jedem Fortschritt, den die Sache machte, entzückt, manchmal auch ein bischen kritisirend, was immer Hand und Fuß hatte. Auch war ich ja im Stande, die besten Modelle zu bezahlen – kurz, ich führte ein Leben wie ein Gott und zwar nur unter vier Augen, da ich weder Collegen noch gar müßigen Gaffern den Eintritt in mein studio gestattete.
Erst als ich den letzten Kreidestrich gemacht hatte, stellte ich den ganzen Kram aus. Es war ein Riesenerfolg; in den Zeitungen stand, daß ein neuer Stern am Kunsthimmel – na, Sie kennen ja den überschwänglichen Stil der italienischen Kritiker, wenn sie gut aufgelegt sind; daneben freilich hagelte es sehr geringschätzige Redensarten, das mäßigste war noch das Wort »akademisch« – mich aber rührte weder das Heiße noch das Kalte, ich fühlte, daß ich etwas Lebendiges hervorgebracht, schlecht und recht, wie ein Mann ein Kind zeugt, das ihm ähnlich ist, und zu mehr kann Niemand verpflichtet sein.
Mich wundert nur, daß von dem Spectakel damals nichts zu Ihnen gedrungen ist. Auch deutsche Zeitungen nannten meinen Namen.
Dann freilich tauchte er die langen Jahre hindurch nicht mehr auf.
Der Speisesaal in dem ländlichen Palast meines Gönners, den ich nun mit großer Lust und gutem Gelingen ausmalte, sah freilich oft genug eine große vornehme Gesellschaft. Doch einen zweiten feinen Kunstliebhaber, wie meinen Michael Petrowitsch, lernte ich nicht darunter kennen, und selten verirrte sich ein College hinaus, der von meinem Bacchuszug hatte reden hören. Der schwieg natürlich, und ich selbst fühlte nicht das Bedürfniß, mich in Zeitungen gepriesen zu sehen.
Ich hatte auch Besseres zu thun.
Nachdem der Speisesaal seine Decoration bekommen hatte, kamen einige andere Gemächer, darunter ein Gartenzimmer mit einer reizenden Veranda an die Reihe. In allen konnte ich meinem Temperament den Zügel schießen lassen. Der Fürst verheirathete sich spät mit einer liebenswürdigen Französin, die er in Paris kennen gelernt hatte. Beiläufig: ich hatte ihn auch dahin begleiten dürfen. Von da an wurde ich nun erst recht ein unentbehrliches Inventarstück des fürstlichen Haushalts, da auch die junge Fürstin Sinn für mein Talent hatte. Und weil eben ein richtiger Künstler den Beifall des großen Haufens zu seinem Glück nicht bedarf, wenn nur ein paar verstehende Menschen ihm auf die Schulter klopfen und Bravo! sagen, so verlangte ich mir nichts Besseres, als in dieser ehrenvollen Verborgenheit mein Wesen weiter zu treiben.
Ich säße auch wohl heute noch in Jablowo – wie das Gut meines Fürsten hieß – und schwelgte in Frescofarben, Schlittenpartieen und Wolfsjagden, wäre mir nicht in einer schlaflosen Nacht, da ich in meinen alten Büchern kramte, mein theurer Flaxmann in die Hände gerathen. Wie ich ihn so gedankenlos durchsehe, zum hundertsten Mal, kommt mir's plötzlich vor, als sei das Alles doch nur ein sehr blasser Abglanz der Homerischen Herrlichkeit, freilich von einem feinen Geist und einer zarten Hand aufgefangen, aber der echte und ganze Homer, in dem pulsire doch ein volleres Blut, und das zur Anschauung zu bringen, würde des Schweißes eines rechten Malergehirns werth sein.
Der Gedanke hielt mich die ganze Nacht wach. Denn sofort ging ich daran, eine der ergreifendsten Scenen, den alten Priamus im Zelt des Achill – auch Carstens hat sich ja daran versucht – zu entwerfen. Und als ich am anderen Morgen wieder auf mein Malgerüst stieg – im Treppenhaus war ein Kinderfries seiner Vollendung nahe – fühlte ich, daß ich hinfort für nichts Anderes auf der Welt vorhanden sein würde, als Ilias und Odyssee in großen Bildern wieder aufleben zu lassen. Wenn sich keine Säle dafür fänden, würde doch wohl ein Verleger für die Herausgabe der Zeichnungen zu gewinnen sein.
Mein fürstliches Paar schien sich anfangs auch dafür zu begeistern. Als sie aber merkten, daß ich dann aufhören würde, nur ihren Haus- und Hofmaler zu machen, ließen sie eine kühlere Ansicht des großen Unternehmens durchblicken. Und endlich kam es dahin, daß ich erklärte, ich würde den Rest meines Lebens für verloren halten, wenn ich gehindert würde, ihn ausschließlich dieser meiner Herzenssache zu widmen.
Nun, sie hatten am Ende von Hinrich Klaas'scher Art und Kunst einen solchen Vorrath aufgespeichert, daß sie daran genug haben konnten.
Der Fürst, der das Sprichwort: grattez le Russe et vous trouverez le Tatare glänzend zu Schanden machte, entließ mich in Gnaden, in der That wie einen alten Freund. Ich hatte während der fünfundzwanzig Jahre meines dortigen Aufenthalts wenig von meinem Gehalt verbrauchen können. Nun hatte ich so viel in der Hand, daß ich fürstlich weiterleben konnte. Und doch ließ es mein Gönner sich nicht nehmen, mir noch eine große Summe mit auf den Weg zu geben.
Dann bin ich eine Weile in Deutschland herumgefahren, hab' es in Wien, Berlin, Dresden versucht, festen Fuß zu fassen, aber nirgends hat es mir recht heimlich werden wollen, obwohl ich überall sogleich meine Arbeit fortsetzte.
Zuletzt trieb es mich nach München. Hier fand ich zwar auch eine neue Zeit und neue Menschen, die eine neue Sprache redeten. Aber auch meine alten Erinnerungen fand ich noch vor, ich konnte sogar noch die Häuser sehen, in denen Menschen, die ich verehrte, gehaust hatten – Schimon's Weinstube war freilich der Straßenverbreiterung zum Opfer gefallen. Und da ich gleich vor zwei Jahren eine häusliche Einrichtung traf, die mir ganz zusagte, und es sorgfältig vermied, mich durch neue Bekanntschaften zerstreuen zu lassen – freilich, daß ich die alte mit Ihnen nicht erneuerte, kam mir selbst unnatürlich vor. Aber was wollen Sie? Ich treibe nun einmal Alles ins Extrem, Idealismus, Farbenhaß, Menschenscheu – nun, dies letztere Laster ist wenigstens nicht unheilbar. Sie müssen mir erst einmal Absolution geben und dann – keinem anderen Menschen möchte ich so gern mein Lebenswerk zeigen, so weit es fertig ist, wie Ihnen. Wollen Sie nicht feurige Kohlen auf mein Haupt sammeln und sich bald einmal die vier Treppen zu mir hinaufbemühen?
Er nannte mir die Straße und die Nummer des Hauses, wo er wohnte. So trennten wir uns, da wir während seiner langen Erzählung den weiten Weg bis zu seiner Wohnung zurückgelegt hatten. Nur unter der Bedingung komm' ich, rief ich ihm nach, daß Sie sich auch bei mir einmal sehen lassen. Ich verspreche Ihnen, daß Sie keinen der Secessionisten und Farbenfexe, wie Sie sie nennen, die Ihnen ein Greuel sind, bei mir treffen sollen.
Er nickte lachend und schwenkte seinen großen Hut. Ganz so hatte er gethan, wenn er vor fünfunddreißig Jahren mich nach Hause begleitet hatte. Es war doch etwas daran, wenn er das Bedeutsame und Entscheidende der »Geberde« so lebhaft betonte. Von seiner ganzen Erscheinung war mir diese Wendung des Kopfes und Arms am treuesten im Gedächtniß geblieben.
*
Ich ließ nicht lange Zeit vergehen, bis ich ihn aufsuchte.
Er wohnte in einem hohen Hinterhause der Schellingstraße, im vierten Stock. Oben angelangt, las ich auf einem Schildchen an der Thür rechts den Namen Theresia Brunner. Auf der zur Linken war unter seiner Visitenkarte ein Blatt angeheftet mit der Inschrift in großen Buchstaben: »Modelle werden nicht gebraucht!« – Hier mußte Hinrich Klaas sein Atelier haben.
Auf mein Klopfen öffnete er mir erst, nachdem ich meinen Namen genannt. Er trug einen leichten, ganz hellen Sommeranzug, um den offenen Hals ein seidenes Halstuch geknüpft, die Füße in feinen, juchtenen Hausschuhen, eine Cigarrette in der Hand. Auch der große Raum, in den er mich führte, roch nach Juchten und russischem Tabak, und mancherlei elegantes Mobiliar, persische Teppiche und silberne Kästchen, dazu ein großer Samowar auf einem Tischchen in der Ecke verriethen, daß der Bauernsohn Hinrich Klaas Jahre lang Hausfreund eines russischen Fürsten gewesen war.
An die kümmerlichen deutschen Lehrjahre erinnerten nur die Stiche nach Carstens, Cornelius, Schwind und Kaulbach's »Hunnenschlacht«, die noch in denselben dürftigen Rähmchen, wie ich sie in seinem »Atelier« unterm Dache gesehen, an einer der Wände beisammen hingen.
Ja, sagte er lächelnd, da er sah, daß ich sie wie alte Bekannte begrüßte, diese Schutzgötter meiner jungen Hungerjahre haben mich überallhin begleitet. Aber nun kommen Sie, ruhen Sie von der Kletterpartie zu mir hinauf erst auf dem Divan aus. Zünden Sie sich eine Papieros an und lassen Sie sich eine Tasse Thee machen.
Ich dankte für Beides; ich sei nur gekommen, um mit den Augen zu genießen. Damit trat ich vor die Staffelei, die, gegen das Licht gekehrt, am Fenster stand, und blieb eine gute Weile stumm in das Anschauen des großen friesartigen Cartons versunken, der die Scene der Nausikaa mit ihren Dienerinnen am Strande darstellte. Aus einem Lorbeergebüsch zur Seite sah man die Gestalt des Odysseus sich herauswinden, nur erst im Entwurf, während die weiblichen Figuren schon sämmtlich fest hingezeichnet waren, einige noch nackt, andere schon mit leichten Gewändern umkleidet, Meer und Strand in sicheren Umrissen angedeutet.
Ich hatte eine große Freude, den Künstler, dessen tastende Anfänge mir noch im Gedächtniß waren, nun so voll ausgereift wiederzusehen. Denn freilich, hier war mehr als Flaxmann's und Genelli's Homer-Illustrationen, und auch Preller's schöner Odysseecyklus konnte sich im Figürlichen mit dieser Meisterschaft nicht messen.
Meine lebhafte Bewunderung that ihm sichtlich ungemein wohl. Er sprach das auch offen aus. Sie wissen, sagte er, ich höre nie ein Wort über meine Sachen, und obwohl ich ganz zufrieden bin, wenn ich mir nur selbst ein gutes Zeugniß geben kann, – man bleibt doch immer ein schwacher Sterblicher, der sich sein bischen Unsterblichkeit gern von einem unverdächtigen Zeugen assecuriren lassen möchte. Aber Sie müssen erst noch das Andere sehen, eine ganze Mappe voll. Denn das Übrige führe ich nicht in diesem Maßstabe aus, da würde ich in zwanzig Jahren nicht fertig. Nur die Nausikaa war stets mein Liebling, die soll sogar ein bischen Farbe bekommen, nur leicht angetuscht, wie's eben ein so uncoloristischer reactionärer »Fanatiker der Linie« zu machen versteht, wenn er keine nackte Wand zur Verfügung hat.
Nun holte er die Mappe, breitete Blatt nach Blatt vor mir aus, und ich hatte einen Genuß, wie er mir selten zu Theil geworden war.
Nur die Hauptscenen der Ilias waren dargestellt, etwa zehn oder zwölf. Am reichsten hatte sich seine Phantasie in der Odyssee offenbart, wo auch seine Kunst, mit wenigen großen Linien einen landschaftlichen Hintergrund aufzubauen, am Herrlichsten zu Tage kam. Und im Gegensatz gegen seine Vorgänger hatte er sich auch bemüht, den Köpfen einen verschiedenen Ausdruck und charakteristische Formen zu geben, so daß alles Conventionelle hinter dem vollen individuellen Lebensreiz verschwunden, Kraft und Anmuth aufs Schönste auseinandergehalten und doch wieder verbunden waren.
Nur in einem zeigte sich eine gewisse Gleichförmigkeit: in Wuchs und Gliederbau der weiblichen Gestalten. Sie waren alle von reizender, jugendlicher Schlankheit, trugen denselben kleinen Kopf auf Schultern, die sich eben erst gerundet hatten, und hatten im Verhältniß zu dem nirgend üppig entwickelten Oberkörper ziemlich lange Beine.
Als ich mich bescheiden darüber aussprach, nickte er mit einem eigenthümlichen Lächeln: Sie haben Recht, sagte er, das kommt zum Theil von meiner theoretischen Überzeugung, das Ideal der weiblichen Gestalt sei das Verhältniß des goldenen Schnitts, daß der Oberkörper zu den Beinen wie diese zu der ganzen Figur sich verhalten müßte. Das findet man nun unter dem meist kurzbeinigen Weibergeschlecht so selten, daß, wenn der Himmel es einem doch einmal beschert, man sich darin verbeißt und nun nichts Anderes mehr sehen und machen will. In Rußland hatte ich so 'was gefunden, eine junge Bäuerin. Was es mich für Mühe und Geld gekostet hat, sie zu bewegen, daß ich nach ihr studieren konnte, glauben Sie nicht. Erst ein Machtwort meines Fürsten hat ihren abergläubischen Widerstand gebrochen. Dann aber war meines Bleibens dort nicht länger, und meine Katja konnte ich leider nicht mitnehmen. In Deutschland habe ich lange vergebens nach einem Ersatz gesucht und mich mit dem Vorrath an Actstudien, den ich mitbrachte, Jahr und Tag behelfen müssen. In München endlich fand ich, was ich brauchte, und zwar noch weit über Katja hinaus. Wenn es Sie interessirt –
Er ging in einen kleinen Verschlag und holte eine zweite Mappe hervor. In der ließ er mich eine große Reihe von Zeichnungen nach einem jungen Modell betrachten, meist mit Rothstift in geistreichen Umrissen mit leichter Schattenangabe hingeworfen, in denen ich die Studien zu seiner Helena, Leukothea und Nausikaa wieder erkannte. Reizendere jugendliche Formen und größere Anmuth der »Geberde« konnte man nicht sehen. Und über Allem ein Hauch von keuscher Noblesse, wie man ihn bei gewerbsmäßigen Modellen kaum je anzutreffen pflegt.
O, sagte er, als ich ihm zu diesem seltenen Funde Glück wünsche, ich habe auch dafür gesorgt, daß mir das Mädel nicht verdorben wird, und daß ich's für mich allein behalte. Ich hüte sie, wie der Drache das goldene Vließ, und wenn jemals ein Räuber sich blicken ließe –
Ein Klopfen an der Thür unterbrach ihn.
Nicht herein! rief er heftig und sprang vom Divan auf, um den Riegel an der Thüre vorzuschieben. Doch ehe er dazu kommen konnte, öffnete sich die Thüre sacht, und auf der Schwelle erschien ein schlankes junges Mädchen, ein Brett mit Frühstückstellern und einem voll geschenkten Glase Wein tragend, in der ich auf den ersten Blick die Helena, Leukothea und Nausikaa meines alten Freundes erkannte.
Sie blieb erschreckend stehen, als sie die zornigen Augen des Meisters auf sich gerichtet sah. Verzeihen Sie – stammelte sie –, Sie haben doch herein gerufen – es ist ja auch die Stunde – ich will gleich wieder gehen –
Er faßte sich sofort, da er wohl sah, daß nichts mehr zu ändern war. 's ist gut, Kordelchen, murrte er, stell das Brett nur hin. Wollen Sie mit mir frühstücken, werther Freund? Nun, so troll dich wieder, Kind. Komm nicht eher, als bis ich dich rufe. Adieu!
Er schob sie mit sanfter Gewalt aus dem Atelier und riegelte hinter ihr zu. Dann versuchte er zu lachen und zündete sich eine Cigarrette an. Niemand entgeht seinem Schicksal, brummte er. Zum Glück braucht der Drache keine Furcht zu haben, daß Sie ihm den Schatz stehlen möchten. Aber nicht wahr, er ist der Mühe werth, daß man ihn unter Schloß und Riegel hält?
*
Ich konnte mit gutem Gewissen in sein enthusiastisches Rühmen dieses Menschenkindes einstimmen. Ihr Gesicht war durch einen Zug von kindlicher Unbekümmertheit noch anziehender, als es in den Zeichnungen erschien, die kleinen schwarzen Augen sahen etwas dümmlich in die Welt, vielleicht nur in dem Schrecken darüber, daß sie so ungelegen hereingekommen war; das blonde Haar, natürlich gewellt, war ziemlich wild aufgesteckt, da ja auch der Anzug – ein loser dünner Schlafrock, der die Linien der Gestalt verrieth – den Eindruck einer nachlässigen Morgentoilette machte. Aber wie sie ging, sich bewegte, mit den schlanken Armen das Brett hinstellte – es war immer in jedem Zuge ein Bild vornehmer Grazie, wie ein Fanatiker der Linie sich kein schöneres wünschen konnte.
Ja, sagte er, als er eine Weile mit der Genugthuung eines Kenners, der ein kostbares Juwel besitzt, mich seinen Schatz hatte preisen hören, Sie begreifen nun, daß mir ein solches Modell den Geschmack an allen anderen verleiden muß. An einem Abende vor zwei Jahren, da ich durch die Stadt schlenderte, sehr verstimmt, weil ich mit einer plumpen Dirne, die sich mir angeboten – damals hing der Zettel noch nicht an meiner Thür – ein paar Stunden verdorben hatte – ich war drauf und dran, mich nach Paris zu flüchten, wo man von dieser Waare eine größere Auswahl hat – auf einmal sehe ich zwei Frauenzimmer rasch vor mir hergehen, jede ein dickes Packet tragend, eine Ältere, Kleinere, die nichts Besonderes an sich hatte, neben ihr aber eine schlanke Junge, von einer Figur, einer Art zu gehen – ich kann Ihnen sagen, mir fiel sogleich die Diana aus dem Louvre ein.
Ich also gleich meinen Schritt beschleunigt, daß ich sie überholte und nun das Kind im Profil sah und eine ganze Strecke weit betrachten konnte. Ich wurde immer überzeugter, daß ich gefunden hatte, was ich suchte.
Also rede ich die Alte an, daß ich ein Fremder sei, ein Maler, und gerade so einen Kopf suchte, wie ihre Tochter hätte, und ob sie sie nicht zu mir ins Atelier bringen wollte, ich wolle sie gut bezahlen.
Das arme Weib sah mich erst sprachlos an, die Tochter war nur ganz wenig roth geworden. Beide hatten blasse, von Noth und Hunger abgezehrte Gesichter.
Nun, um es kurz zu machen: in den ersten zehn Minuten erfuhr ich ihre ganze Lebens- und Leidensgeschichte.
Die Frau hatte sich frühzeitig aus einem Dienst heraus mit einem hübschen Zimmergesellen verheirathet, der viel verdiente und sie gut hielt, bis er eines schlimmen Tages von einem stürzenden Balken erschlagen wurde.
Das einzige Kind, das Kordelchen, war eben sechs Jahre alt geworden. Seitdem waren über zehn Jahre vergangen. Wie elend die Wittwe sich durchgeschlagen, bekam ich umständlich zu hören. Meine grauen Haare hatten die gute Frau darüber beruhigt, daß ich keine schlimmen Absichten hatte, als ich sie anredete. Und so erfuhr ich auch, was es mit den Packeten, die sie trugen, für eine Bewandtniß hatte: es war das letzte Entbehrliche von ihrer Habe, was sie aufs Leihhaus bringen wollten, um wenigstens einen Theil ihrer Miethe zu bezahlen.
Während dieses ganzen Berichts hatte ich kein Auge von dem Kinde verwandt, das völlig theilnahmlos, als wenn das Alles sie nichts anginge, vor sich hin sah. Ich gab dann der Mutter, was ich an Geld gerade bei mir hatte – als »Vorausbezahlung« für die Sitzung – und bewog sie, umzukehren und ihre armseligen Siebensachen wieder nach Hause zu tragen. Eine solche Generosität kam der Alten nun doch verdächtig vor. Ein Maler habe schon einmal vor drei Jahren das Kordel sitzen lassen, ihr aber die Stunde nur mit einer Mark bezahlt. Zuletzt ergab sie sich, da ich ihr sagte, sie müsse natürlich mitkommen. Auch sie habe einen guten Kopf zum Malen, und wirklich hat sie mir dann einmal zu dem Profil der Schaffnerin Eurykleia gesessen.
Ich will Sie nicht damit langweilen, wie es nun weiter ging. Genug, nach der dritten Sitzung brachte ich's dahin, daß die Alte einwilligte, in die kleine Wohnung hier oben, der meinigen gegenüber, einzuziehen und statt der Person, die bisher meine Aufwärterin gemacht, für meine geringen häuslichen Bedürfnisse zu sorgen. Natürlich bestritt ich ihren ganzen Unterhalt, bezahlte ihre Schulden und machte überdies einen Vertrag auf fünf Jahre mit ihr, der nach meinem Tode ihr ein sorgenfreies Leben sichert.
Dafür aber verpflichtete sie sich, mir ihr Kind, so oft ich wollte, zum Modell zu überlassen, es streng zu überwachen, daß es keine Männerbekanntschaft machte, und von einer Heirath während der nächsten fünf Jahre dürfe keine Rede sein.
Die arme Frau war damit so einverstanden, daß sie die hellen Freudenthränen weinte und mir beständig als ihrem Retter und Wohlthäter Hände und Füße küssen wollte.
Das Kordelchen gab mit keiner Miene zu erkennen, ob ihr bei diesem Pact, der doch über ihre eigene Person verfügte, wohl oder weh sei. Es war auch später nicht ganz leicht, sie dahin zu bringen, daß sie sich mir ganz ohne Hülle zeigte, obwohl die Mutter eifrig zugeredet hatte: der alte Herr könne ja ganz wohl ihr Großvater sein, und die und die von ihren Bekanntinnen, die sie nannte, gingen ja selbst zu ganz jungen Malern ins Atelier.
Aber das arme Kind, so wenig Gedanken in seinem hübschen Köpfchen oder Gefühle in dem kleinen Herzen wohnten, – in dem Punkt blieb es eigensinnig. Es hat mich ein goldenes Ührchen mit einer hübschen Kette gekostet, um endlich Kordelchens Widerstand zu besiegen. Und dann bestand sie darauf, daß die Mutter nicht dabei sein sollte.
Vor mir altem Graukopf sich zu entkleiden, kam ihr endlich nicht viel bedenklicher vor, als wenn sie's vor Gottvaters Augen hätte thun sollen. Sie ist ein sonderbares Ding, es scheint bis auf die äußerliche Züchtigkeit noch Alles in ihr zu schlafen, Sinne und Gedanken, obwohl sie jetzt schon zwei Jahre bei mir aus- und eingeht und den letzten Rest von Scheu verloren hat.
Stunden lang habe ich sie im Atelier, und in den Ruhepausen meiner Arbeit geht sie hin und her, setzt oder kauert sich auf den Divan und bewegt sich so ganz unbefangen, wie Gott sie geschaffen hat, vor meinen Augen, als wäre sie ein Nymphchen oder eine Waldgöttin, die überhaupt keine Toilettensorgen je gekannt hätte.
Was für reizvolle Motive ich da an all ihren Bewegungen entdecke, welch fruchtbare Anregungen für meine Compositionen, können Sie sich vorstellen. Ich hüte mich auch wohl, sie in ihrer Harmlosigkeit zu stören, und habe sie noch mit keinem Finger angerührt. Wäre ich zwanzig Jahre jünger, stünde ich freilich nicht für mich ein. So aber kann Mama Theresia Brunner so ruhig schlafen, als wenn ihr Korderl hier im Atelier keine andere Gesellschaft fände, als dort im Winkel die Gliederpuppe.
*
Da haben Sie wirklich einen Fund gemacht, um den Viele Sie beneiden würden, sagte ich. Ich kann Ihnen nur wünschen, daß der Pact auch von der anderen Seite so gewissenhaft gehalten werde, wie von der Ihren.
Was meinen Sie? fragte er, mich erstaunt anblickend.
Nun, daß Kordelchen nicht eines schönen Tages denn doch ihr Herz entdeckt, oder irgend ein junger Mensch sich in sie verliebt und, wenn Sie sie nicht hergeben, einfach mit ihr durchbrennt. Sie selbst aber, wenn nichts dergleichen geschieht, warum haben Sie den Vertrag gerade nur auf fünf Jahre geschlossen? Wissen Sie so gewiß, daß Sie bis dahin das große Werk fertig bringen und dann kein Modell mehr brauchen werden?
Werther Freund, sagte er mit einem leichten Seufzer, Sie müssen wissen, daß keiner aus meiner Familie es über siebzig Jahre gebracht hat. Auch ich – so rüstig ich jetzt noch bin – na, hier und dort zupft das Alter denn doch auch an meinem Fleisch und Gebein. Darum sput' ich mich eben, mein künstlerisches Vermächtniß an das deutsche Volk fertig zu bringen, und halte mich von Allem fern, was mich dabei stören könnte. Einen einzigen Vetter habe ich hier, auch schon ein starker Fünfziger, der in einem lithographischen Geschäft arbeitet, und den seh' ich kaum einmal im Monat und meide auch alle Locale, wo ich Bekanntschaften machen könnte. Meine gute Hausfrau kocht für mich, das Kordelchen besorgt meine Wäsche. Außerdem kommt täglich eine alte Lehrerin, eine Verwandte ihres verstorbenen Vaters, zu ihr, um ihr eine Stunde zu geben, Lesen, Schreiben und Rechnen und ein bischen Geographie; denn ihre Schulbildung ist gründlich verwahrlos't, und ich will nicht daran Schuld sein, daß sie so unwissend später ins Leben eintrete, wie ich sie kennen gelernt. Im Übrigen aber – daß sie vorzeitig ihr Herz entdecken möchte, ist keine Gefahr. Sie thut nie einen Schritt allein aus dem Hause; auch wenn sie mit der Mutter geht, muß sie einen dichten Schleier tragen und darf Sonntags nur in die Frühmesse, wo die liederlichen jungen Herrn sich noch nicht blicken lassen. Damit sie aber auch Luft genieße und ihre Gesundheit conservire, geh' ich fast jeden Abend, wenn es dunkel geworden ist, mit ihr und der Alten spazieren, oder an schönen Sommertagen nehm' ich einen Wagen, und wir machen eine stundenlange Fahrt. Manche Prinzessin hat es nicht so gut wie sie und lebt in größerem Zwang. Nein, Verehrtester, von der Seite bin ich nicht nur sicher, sondern auch in meinem Gewissen ganz ruhig. Jetzt ist sie Achtzehn alt. In drei, vier Jahren wird sie Zweiundzwanzig, und glauben Sie nicht, daß sie vor Tausenden ihres Geschlechts sich glücklich preisen kann, wenn sie dann erst ans Heiraten denken darf, dann aber ihrem Mann einen Brautschatz zubringt, dessen Wenige ihres Standes sich jemals rühmen konnten?
Darauf war nun freilich nichts zu erwidern.
Ich nahm Abschied von dem alten Freunde, mit dem Gefühl, einen richtigen Lebenskünstler in ihm getroffen zu haben, der eben so viel Glück wie Verstand gehabt habe.
Mein Versprechen, mich bald wieder bei ihm sehen zu lassen, hielt ich getreulich; es interessirte mich, seine Arbeit fortschreiten zu sehen, und zuweilen fuhr er auch in meiner Gegenwart zu zeichnen fort, nur an dem Nausikaa-Carton; denn wenn das Kordelchen gerade bei ihm war, mußte ich vor der Thür warten, bis sie wieder in ihr Schlafröckchen geschlüpft und die Actstudie in die Mappe gewandert war.
Nur wenn er gerade ein männliches Modell hatte, ließ er mich ein. Es war ein Vergnügen, zu sehen, mit welcher Sicherheit und Feinheit er der Natur all ihre Reize abgewann, ohne an Verschönern zu denken, da es ihm nur darauf ankam, das Bild, das er in der Phantasie trug, nach den Formen der Wirklichkeit durchzuprüfen und hin und wieder zu corrigiren.
Er war immer in der glücklichsten Stimmung, gesprächig und witzig, nur ganz ohne Interesse für irgend Etwas, das außerhalb seines eigenen Lebens und Treibens lag. Auch war er richtig nicht zu bewegen, sich einmal bei mir blicken zu lassen. Nächsten Monat werde ich Sechsundsechzig. Bedenken Sie: wenn's hoch kommt, nur noch vier Jahre. Und Sie muthen mir zu, Besuche zu machen?
Einmal aber fand ich ihn doch sehr verstimmt. Er hatte sich bei einem Fall in seinem Schlafzimmer, da der Teppich unter ihm wegglitt, die Hand verstaucht, zum Glück die linke. Ein Arzt, den er hatte rufen lassen, war eben dabei, ihn zu massiren, und verbürgte sich, in acht Tagen werde die Verletzung geheilt sein. Er blieb aber trübsinnig. Das fehlte noch! murrte er. So was kann mir auch an der rechten Hand passiren, oder ich breche gar den Arm. Dann gute Nacht Arbeit und Lebenszweck und Gemüthsruhe! Wir sind elende Tröpfe, wir Herren der Schöpfung. Für diesmal bin ich ja noch mit einer bloßen Neckerei des Schicksals davon gekommen. Wenn mir aber einmal ein schlimmerer Schabernack gespielt wird –
Er ließ den Kopf auf die Brust sinken, und es dauerte lange, bis er sich entschloß, eine Cigarette anzuzünden und sich mit mir über eine Figur auf dem Karton zu unterhalten, die er schon dreimal geändert hatte und sich immer noch nicht zu Dank machen konnte.
*
Vierzehn Tage verstrichen, ehe ich wieder einmal Zeit fand zu einem Besuch in der Schellingstraße.
Als er mir auf mein Klingeln die Thür öffnete und statt der freundlichen Begrüßung, die ich gewohnt war, nur mit einem mürrischen »Guten Tag!« von ihm empfangen wurde, dachte ich nicht anders, als daß seine kranke Hand ihm noch zu schaffen mache.
Ich erschrak aber, da ich in dem hellen Atelier sein Gesicht sah. Es hatte plötzlich etwas Greisenhaftes bekommen, Haare und Bart, die sonst stets wohlgekämmt waren, hingen ihm wirr und, wie mir schien, noch grauer als bisher um seine Wangen. Wie sehen Sie aus! rief ich. Ihnen ist nicht wohl. Sollte der Unfall mit der Hand –
Er zuckte verächtlich mit den Achseln und ließ sich auf den Divan fallen.
Es handelt sich auch um so 'ne Bagatelle! knirschte er zwischen den Zähnen. An den ganzen Kerl geht's jetzt, dem soll der Boden unter den Füßen unterminirt werden, ans Leben geht's ihm – aber nein, ihr tückischen Teufel, noch sollt ihr das Spiel nicht gewinnen – ihr sollt sehen, mit wem ihr's zu thun habt – ich stehe auf meinem Schein – ich will euch zeigen –
So wüthete und wetterte er noch eine ganze Weile vor sich hin, zerbiß die eben angerauchte Cigarette und warf sie zum Fenster hinaus. Endlich schien er sich doch zu erinnern, daß er seinem alten Freunde eine Erklärung schuldig war.
Verzeihen Sie, seufzte er, indem er mühsam aufstand, ich geberde mich wie ein Verrückter; aber wenn Sie erst erfahren haben, welchen niederträchtigen Streich das Schicksal mir gespielt hat – bitte, nehmen Sie doch Platz. Da steht das Kistchen mit den Cigarren für Sie. Wie geht es Ihnen? Hoffentlich besser als mir. Aber es ist kein Wunder, wenn so was den vernünftigsten Menschen aus den Fugen bringt!
Und nun erzählte er mir, nicht sehr fließend, vielmehr seine Rede mit heftigen Verwünschungen und russischen Flüchen unterbrechend, was ihm diese grimmige Störung verursacht hatte.
Heute früh, als ihm die Alte den Kaffee gebracht, habe sie nicht wie sonst sich gleich wieder entfernt, da er es nicht liebe, sich in seiner Morgenstimmung durch triviales Geschwätz stören zu lassen, sondern sei bei ihm stehen geblieben, als ob sie was auf dem Herzen hätte. Auf sein unwirsches Begehren, lieber gleich damit herauszurücken, sei sie in Thränen ausgebrochen und habe endlich unter vielen Betheuerungen ihrer Unschuld gestanden, es habe sich für das Kordelchen ein Freier gefunden, der Ingenieur, der im dritten Stock unter ihnen als Zimmerherr bei den Schneidersleuten wohne, erst seit einem Vierteljahr.
Wie er dazu gekommen sei, das Mädel zu sehen, sei ihr unbegreiflich, da sie ja nie allein und immer dicht verschleiert ausgehe. Es müsse vom Hoffenster aus geschehen sein, da die Kammer ihres Korderl nach hinten hinausgehe, wie auch das Zimmer des Ingenieurs.
Der habe vor acht Tagen sie bei ihrem Ausgang auf der Treppe angehalten, sich ihr vorgestellt und ganz höflich gefragt, ob er sie wohl einmal besuchen und mit ihrer Tochter Bekanntschaft machen dürfe. Er habe sich aus der Ferne rasend in sie verliebt, wisse, daß sie ein wohlerzogenes Fräulein, sehr häuslich und fleißig sei, und da er nur die ehrbare Absicht, sie zu heirathen, hege – er werde binnen sechs Wochen eine feste Anstellung bekommen – und eine Geldheirath, zu der ihm seine Leute zuredeten, nicht nach seinem Geschmack sei – nun, und was ein verliebter junger Mensch seiner zukünftigen Schwiegermutter sonst noch vorschwatzt, sie sich geneigt zu machen.
Natürlich habe sie geantwortet, sie bedanke sich der Ehr', aber von der Sache könne nicht weiter die Rede sein. Ihr Korderl sei noch viel zu jung, vor drei bis vier Jahren könne sie nicht ans Heirathen denken, und er möchte so gut sein, sich die Sache aus dem Sinn zu schlagen, auch nicht etwa versuchen, mit Liebesbriefen die Ruhe ihres Kindes zu stören.
Dieser Bescheid habe den jungen Herrn ganz auseinander gebracht, so daß er ihr selber leid gethan hätt'. Aber sie wisse, was sie Herrn Klaas, ihrem Wohlthäter, schuldig sei, und der habe ja auch ihren Schein darüber, daß sie den Vertrag pünktlich halten werde.
Und nun möge sich der gnädige Herr vorstellen, wie sehr sie erschrocken war, als sie gestern Vormittag von ihrem Marktgang zurückgekehrt sei und in ihrem Wohnzimmer den Herrn Ingenieur neben dem Korderl auf dem Sopha habe sitzen sehen.
Sie hätte gedacht, »die Ohnmachten würden sie antreten«, es sei ihr schier wie ein Traum vorgekommen, denn sie habe wie gewöhnlich ihre Thür von außen zugesperrt und das Mädel bis zu ihrer Rückkehr eingeschlossen. Da sie aber den Schlüssel im Schloß stecken zu lassen pflegte, für den Fall, daß der gnädige Herr das Korderl zum Modellsitzen herüberholen möchte, so sei der schlaue Liebhaber, da er hinter ihrem Rücken das Mädel habe besuchen wollen und auf sein Klopfen nicht eingelassen wurde, ohne Weiteres hineingeschlüpft, und zwar gestern nicht zum ersten Mal.
Er sei ein sauberer Mensch, habe so was Treuherziges in den Augen, und ein Wunder sei's nicht, daß er dem armen Ding, dem nie ein Mannsbild die Cour geschnitten, den Kopf verdreht habe.
Erst habe sie sich freilich gesträubt, sie wisse ja, was ihm, ihrem Wohlthäter, versprochen worden sei; der Ingenieur aber habe ihr zugeredet, ein solcher Vertrag habe keine Gültigkeit, man könne einen Menschen nicht dingen zu einem so schändlichen Dienst, und jedenfalls breche Kauf Miethe, denn er wolle sie fürs ganze Leben, der alte Maler nur auf Zeit. Wenn sie ihn liebe, so solle sie nur ihn machen lassen, er werde die Sache schon in die Reih' bringen.
Da hätten sie sich denn verlobt und die Alte, wie sie ins Zimmer getreten sei, um ihren Segen gebeten. Dazu aber hätte sie sich nicht bewegen lassen, um keinen Preis. Den ganzen übrigen Tag hätten sie bei einander gesessen, und sie sei von den beiden Liebesleuten bestürmt und hin und her gezerrt worden, ihnen doch den Willen zu thun; denn freilich hätte ihr Kind sie gedauert, das sich offenbar bis über die Ohren in den hübschen Menschen verschamerirt hätte, und auch mit dem Ingenieur habe sie Mitleid gehabt, gar so erbärmlich habe er gethan und dazwischen wieder wie rasend, daß seine Liebste zwei Jahre lang so ein verrufenes Gewerbe hätte treiben müssen, wenn auch sonst nichts Unehrbares dabei vorgekommen sei.
Und zuletzt, als sie alle von Reden, Weinen und Zanken schachmatt gewesen, habe sie den jungen Herrn nicht anders loswerden können, als durch das Versprechen, am anderen Morgen dem gnädigen Herrn die ganze Sache mitzutheilen und zu fragen, ob er nicht vielleicht die Gnade haben wolle, das Korderl frei zu geben und den Vertrag aufzuheben.
Sie können denken, lieber Freund, wie mir bei diesem Bericht zu Muthe war, sagte der alte Maler. Ich sah mein Lebenswerk durch eine alberne Liebschaft, die sicherlich kein gutes Ende nehmen wird, bedroht. Dieser Spitzbube, der sich hinter dem Rücken der Mama bei der Tochter einschleicht, das kindische Ding, das dem Ersten Besten, der ihm schön thut, sich an den Hals wirft – und dazu soll ich still halten und mein wohlerworbenes Recht aufgeben, damit eine thörichte Heirath mehr vor sich geht und das junge Weib, wenn es ein halb Dutzend Kinder in die Welt setzt, seine schöne Gestalt ruinirt, die für den Rest meines Lebens mir ein Augentrost gewesen wäre? Wenn ich darein gewilligt hätte, wäre mir altem Thoren ganz recht geschehen. Aber Gott sei Dank, ich habe noch die Macht, mein Veto einzulegen, und wenn mich Mutter und Tochter auch für einen herzlosen Barbaren verschreien – in einiger Zeit, sobald sie zur Vernunft gekommen sind, werden sie mir noch die Hände küssen, daß ich sie vor einem so haarsträubenden dummen Streich bewahrt habe.
Das Alles habe ich der Alten gesagt. Sie ist aber so einfältig, und die Vorstellung, ihr Mädel, wie sie meint, als Frau Ingenieurin »versorgt« zu wissen, hat sich in ihrem engen Kopf bereits so festgesetzt, daß meine Gründe wenig Eindruck auf sie machten.
Ich schickte sie also fort und ging selbst hinüber, in der Meinung, mit dem Mädel leichteres Spiel zu haben, zumal wenn ich ein Paar Ohrringe, die ich ihr zu ihrem neunzehnten Geburtstage schenken wollte, schon heute für mich sprechen ließe.
Ich kriegte sie aber nicht zu sehen. Sie hatte sich in ihrer Kammer eingeriegelt und blieb auf all mein Fragen, Bitten und Drohen stumm. Sie sollte wenigstens zu mir herüberkommen, da ich mehrere Tage wegen der verstauchten Hand nicht nach ihr gezeichnet hatte, sondern nur an einer neuen Komposition gekritzelt. Auch darauf keine Silbe. Nur von der Alten hörte ich, der Liebhaber habe ihr das Wort abgenommen, mir überhaupt nicht mehr zu sitzen. Er betrachte sie als seine Braut und wolle über das Vergangene ein Auge zudrücken, wenn sie in Zukunft sich streng nach seinen Wünschen richte.
So hin ich abgezogen in der niederträchtigen Stimmung eines Menschen, der gehindert wird, von einem wohlerworbenen Rechte Gebrauch zu machen, und um die Früchte seines redlichsten Bemühens betrogen werden soll.
*
Er war, während er dies Alles, heftig mit den Händen gesticulirend, hervorstieß, ruhelos wie im Fieber hin und her geschritten. Jetzt sank er erschöpft auf einen Stuhl und trocknete sich den Schweiß von der Stirn.
So gern ich ihm etwas Tröstliches gesagt hätte, sah ich den Fall doch für verzweifelt an. Ich konnte ihm so nachfühlen, wie ihm zu Muthe sein mußte, wenn er jetzt wieder auf den Zufall angewiesen sein würde, für seine Leukothea oder Nausikaa irgend ein Modell zu finden, das ihm den Verlust dieses Mädchens nur von fern ersetzen könnte. Und doch – daß das Korderl, indem sie ihr Herz entdeckt, nun auch das Gefühl ihrer jungfräulichen Scham empfunden haben und erschrocken sein mußte über das, was sie sich selbst in ihrer dummlichen Unschuld angethan hatte, leuchtete mir so ein, daß ich an keinen möglichen Ausweg glauben konnte, auch wenn der Bräutigam die Sache minder tragisch genommen und zum Nachgeben aus praktischen Gründen sich herbeigelassen hätte.
Dieser verwünschte Hitzkopf! wüthete der Alte vor sich hin. So ein trockener, nüchterner Mathematicus, der mit der Meßkette zu hantiren pflegt und keine Ahnung davon hat, daß ein Künstler ein schönes Weib mit so frommer Seele anschauen kann, als wäre sie ein Wesen aus einer anderen Welt – und ist's ja auch, denn sie stammt aus den Regionen, wo die reinen Formen wohnen – der wird, und das ist noch die grausamste Ironie bei der Sache, nicht einmal eine Ahnung davon haben, was für eine Offenbarung göttlicher Schönheit und Grazie ihm in seiner dummen kleinen Frau zu Theil geworden ist. Überdies –
Ein Klingeln draußen an seiner Thür unterbrach ihn.
Haben Sie doch die Güte, lieber Freund, sagte er mit schwacher Stimme, nachzusehen, wer draußen ist. Mir ist die Sache in die Glieder gefahren, man ist eben kein Jüngling mehr, der von einer solchen Lebensgefahr nicht erschüttert wird. Wenn's nichts Wichtiges ist, weisen Sie die Störung nur ab.
Ich ging in den dunklen Vorraum hinaus und fragte durch die Tür, wer da sei.
Ingenieur Eduard Jasmund. Ich wünschte Herrn Klaas zu sprechen, und da ich weiß, daß er zu Hause ist –
Das war nun gewiß etwas »Wichtiges«, und so öffnete ich die Thür und ließ Herrn Eduard Jasmund eintreten. Da ist der Herr Ingenieur, lieber Freund, sagte ich, als ich mit ihm über die Schwelle des Ateliers trat. Da Sie doch wohl etwas mit ihm zu besprechen haben –
Ich ging nach meinem Hut. Ein rascher Wink des Malers bewog mich aber, zu bleiben. Er war von seinem Sitz aufgefahren und stand dem Besucher in seiner ganzen Länge aufgerichtet gegenüber, sehr imponirend, obwohl ich bemerkte, daß die Hand, mit der er sich auf die Stuhllehne stützte, leise zitterte. Dabei heftete er einen scharfen, prüfenden Blick auf die Gestalt des jungen Mannes, die in einem Radfahreranzug sich sehr vortheilhaft ausnahm – eine schlanke, aber kräftige Figur etwas über Mittelgröße, auf den breiten Schultern ein männlich schöner Kopf, bartlos, mit buschigem, schwarzem Haar, hellen Augen, die etwas aufgeregt flackerten, der energische Mund fest geschlossen.
Was wünschen Sie, Herr –
Eduard Jasmund ist mein Name, Ingenieur, bei dem neuen Kanalbau angestellt. Ich habe um Entschuldigung zu bitten, daß ich nicht in Besuchstoilette bin, ich war aber nicht darauf gefaßt, Sie heute um eine Unterredung bitten zu müssen. Die Mutter meiner Braut –
Der Maler machte eine ungeduldige Bewegung.
Daß ich mich mit Fräulein Brunner gestern verlobt habe, hat ihre Mutter Ihnen mitgetheilt, wie ich soeben von ihr erfuhr; zu meinem Bedauern auch, daß Sie das Recht in Anspruch nehmen, Einspruch dagegen zu thun. Ich wollte mir nun sofort die Freiheit nehmen, zu fragen, ob Sie im Ernst ein solches Recht zu besitzen glauben, da Sie weder der Vormund noch ein naher Verwandter Fräulein Kordula's sind. Die Wohlthaten, die Sie den beiden Frauen zwei Jahre lang erwiesen haben, berechtigen Sie allerdings, auf Dankbarkeit zu rechnen. Daß diese aber so weit gehen müsse, Ihnen das Lebensglück des jungen Mädchens zu opfern, werden Sie billigerweise selbst nicht behaupten wollen.
Der Alte antwortete nicht sogleich. Er hatte offenbar Mühe, seinen Groll und Ingrimm zu bändigen und kein heftiges Wort sich entfahren zu lassen. Seine Stimme aber, als er nun den Mund öffnete, klang heiser und kalt.
Sie werden mir wohl erlauben, Herr Ingenieur, über das, was ich für »billig« halte, mein eigenes Urtheil und das keines Anderen gelten zu lassen. Auch um Dankbarkeit und wie weit sie zu treiben wäre, handelt sich's nicht. Ich habe mit Frau Theresia Brunner einen Vertrag geschlossen, nicht um ihr eine Wohlthat zu erweisen, sondern zu meinem eigenen Vortheil. Wenn sie dabei auch den ihren fand, soll mir's lieb sein. Daß sie diesen Vertrag nun aufzulösen wünscht, kann mich nicht dazu bewegen, mein Recht an seine pünktliche Ausführung aufzugeben. In der Politik mag man Verträge schließen mit dem Hintergedanken, sie nach Belieben, wenn man ihrer überdrüssig geworden ist, zu verletzen. Im bürgerlichen Leben gilt das nicht für anständig. Und darum wollen Sie die Güte haben, jeden weiteren Versuch, mich anderen Sinnes zu machen, als hoffnungslos anzusehen.
Er wandte sich um, mit einer leichten Verbeugung, wie ein großer Herr, der einen armen Teufel entläßt.
*
Der aber machte keine Miene, als ob er sich so ohne Weiteres abfertigen lassen würde.
Ich hatte an seinen zusammengezogenen Brauen und dem Zucken seines Mundes deutlich gesehen, wie schwer er es über sich gewann, eine heftige Erwiderung zurück zu halten. Nur mit der Hand fuhr er sich nervös über die Stirn. Dann aber sagte er ganz ruhig: Ich kann nicht glauben, Herr Klaas, daß dies Ihre wahre Meinung ist. Durch Alles, was Sie für meine Braut und ihre Erziehung gethan, haben Sie gezeigt, daß Sie sich nicht bloß für ihre Schönheit interessirt haben. Es kann Ihnen nicht plötzlich ganz gleichgültig geworden sein, ob das Mädchen glücklich oder unglücklich wird. Wenn Sie die Sache ruhiger überlegen –
Der Maler wandte sich heftig um und funkelte den jungen Mann mit seinen seltsamen Augen höhnisch an.
Ich danke Ihnen, sagte er mit schneidender Kälte. Es ist sehr gütig von Ihnen, daß Sie mir ein gutes Herz zutrauen, das nur erst ein bischen zur Besinnung kommen soll. Ich kann Sie aber beruhigen, ich habe mich schon besonnen, und eben darum, weil ich das Mädchen davor bewahren möchte, unglücklich zu werden – ja wohl, unglücklich! rief er mit erhobener Stimme. Denn was haben Sie ihr zu bieten, das ihr ein glückliches Leben verbürgte? Ihre sogenannte Liebe, die vielleicht in Jahr und Tag verraucht ist, ein sorgenvolles Leben, da Sie auf Ihr Anfängergehalt angewiesen sind – die Mutter hat mich darüber informirt –, einen Haufen Kinder und endlich mit früh gealtertem Leibe die blanke Misère? Wenn ich der eigene leibliche Vater des Mädchens wäre, würden Sie mir zum Schwiegersohn nicht gut genug sein. Aber Sie speculiren auf meine Schwäche, auf mein gutes Herz, und daß ich der Narr sein würde, den Großmüthigen zu spielen und Ihnen den bisherigen Jahresgehalt weiter zu zahlen, auch wenn Sie die Bedingungen des Vertrages nicht erfüllen. Sie sollen sehen, daß ich noch nicht alt und kindisch genug bin, um eine so lächerliche Rolle zu spielen. Gedulden Sie sich noch die übrigen drei Jahre, bis der Vertrag abgelaufen ist. Ihre »Braut« wird bis dahin nicht alt und häßlich geworden sein, und das Capital, das sie sich redlich verdient hat, können Sie dann mit gutem Gewissen zur Gründung Ihres Hausstandes verwenden.
Eine tödtliche Blässe hatte das Gesicht des jungen Mannes überzogen. Die Hand, in der er den Hut hielt, bewegte sich krampfhaft; mit einer Stimme, in der eine mühsam verhaltene Empörung klang, sagte er, da der Alte kaum geendet hatte: Ich muß mir verbitten, mein Herr, daß Sie mir eigennützige Absichten unterschieben. Ich bin im Gegentheil zu Ihnen gekommen, um Ihnen zu erklären, daß mein Ehrgefühl mir verbietet, ruhig zuzusehen, daß meine Braut fernerhin um diesen Preis Wohlthaten von Ihnen annimmt. Ich hoffte, da ich Sie für einen Ehrenmann hielt, Sie würden das einsehen und gutwillig auf ein Recht verzichten, das bei der neuen Lage der Dinge Ihnen selbst ungeheuerlich erscheinen muß. Es hätte, scheint mir, kaum einer Bitte von meiner Seite bedürfen sollen. Aber auch dazu wollte ich mich verstehen, da ich einsah, daß Ihnen jedenfalls ein Opfer zugemuthet wurde. Nun ich sehe, wie sehr ich mich in meiner Voraussetzung getäuscht habe, erkläre ich Ihnen ohne Weiteres, daß es Ihnen nichts helfen wird, sich auf Ihren Vertrag zu berufen. Es ist darin über die Leistungen eines Kindes verfügt worden, das nicht wußte, was es that, nicht beurtheilen konnte, wie schmählich die eigene Mutter an ihm handelte, als sie seine Unerfahrenheit mißbrauchte. Jetzt ist das Mädchen, wenn auch nicht dem Gesetze nach, so doch nach ihrer Empfindung mündig geworden und protestirt gegen den Vertrag, der ihr eine so tiefe Entwürdigung zumuthet. Daß sie von heute an auch auf alle Vortheile des Vertrags verzichtet, ist selbstverständlich. Und somit habe ich die Ehre –
Er verneigte sich nun seinerseits und wandte sich zu gehen. Sein Gegner stand regungslos, und erst als der junge Mann schon nahe an der Thür war, sagte er scheinbar ganz gelassen: Ich bedaure, mein Herr, daß Sie es zum Äußersten kommen lassen wollen. Ich hatte vor, Ihnen einen Vermittlungsvorschlag zu machen. Davon kann nun nicht die Rede sein. Ich sehe mich genöthigt, die Sache gerichtlich zum Austrag zu bringen.
Der Andere ließ, wie von einem giftigen Insect gestochen, den Thürgriff fahren und wandte sich um. Sein Gesicht war von einer glühenden Röthe übergossen.
Das – das könnten Sie thun wollen? kam es von seinen zitternden Lippen. Das Geheimniß – den guten Namen eines armen betrogenen Mädchens – die Ehre ihrer Mutter an die große Glocke hängen, den schmachvollen Handel, zu dem nur die äußerste Noth sie getrieben, den hämischen bösen Zungen der ganzen Stadt preisgeben, am Ende gar einen Gerichtsbeschluß erwirken, daß der Vertrag in allen Punkten zu Recht bestehe und das Mädchen gezwungen werden solle, auch fernerhin – Aber nein, dahin wird's nicht kommen! Wir leben, Gott sei Dank, nicht in der Türkei, wo Seelenverkäufer mit ihrer Waare den Markt beziehen und ein abgeschlossener Menschenhandel für alle Zeiten gültig bleibt. Und wenn so etwas auch in einem christlichen Staate möglich wäre – ehe ich das zuließe, würde ich dem armen Opfer lieber selbst eine Kugel durch den Kopf jagen, als erlauben, daß meine Braut einem Manne, den ich so tief verachte –
Holla! unterbrach ihn der Alte, ihn überschreiend. Sie werden augenblicklich das Zimmer verlassen und meine Geduld nicht länger auf die Probe stellen. Sie haben schon mehr als ein Wort fallen lasten, das ich Ihnen nicht ohne die gebührende Züchtigung hingehen ließe, wenn ich mich nicht erinnerte, daß Sie ein jugendlicher Hitzkopf sind, und daß ich es meinen grauen Haaren schuldig bin, mehr Vernunft und Besonnenheit als Sie zu haben. Alles aber hat seine Grenze und darum –
Sie haben Recht, Alles hat seine Grenze, versetzte der Andere höhnisch. Ich erkläre Ihnen daher, daß ich bereit bin, Ihnen für jedes meiner ehrenrührigen Worte Genugthuung zu geben. Sie werden sich freilich hinter das Recht Ihrer grauen Haare zurück ziehen, als wäre die Partie zu ungleich, ein vorsichtiger alter Herr und ein unbesonnener junger »Hitzkopf«. Jedenfalls will ich Ihnen die Ausflucht versperren, sagen zu können, Sie hätten nicht gewußt, wo ich zu finden wäre. Hier ist meine Karte. Die Wohnung ist darauf geschrieben. Ich empfehle mich.
Er warf die Karte auf ein Tischchen, das neben der Thüre stand, und ging aus dem Zimmer.
*
Die Thür war kaum hinter ihm zugefallen, als der alte Maler mit einem dumpfen Auflachen, das aber nichts weniger als heiter klang, auf den Divan sank.
Haben Sie je einen ärgeren Tollkopf gesehen, als diesen sonderbaren Schwärmer? rief er. Als ob nun plötzlich die Welt untergehen würde, wenn das, was bis dahin nichts Böses gewesen ist, noch eine Weile so fortginge! Ich bin nicht einmal dazu gekommen, davon zu reden, daß ich aus Nothwehr handle, um mein Lebenswerk nicht ins Stocken kommen zu lassen. Es war auch so besser. Erstens hätte der Herr Mathematicus doch nicht begriffen, was der Welt daran liegen soll, ob mein Homer fertig wird oder nicht; und dann hätte es so ausgesehen, als ob ich mich herabließe, eine Gnade von ihm zu erbitten. Von diesem grünen jungen Burschen, der mit »ehrlos« und »verächtlich« so um sich wirft, als ob ein Ehrenmann sich verächtlich machte, wenn er sein gutes Recht und die Pflicht gegen seine heilige Kunst sich nicht streitig machen lassen will! Ein so verblendeter Grünschnabel! Was sagen Sie? Aber er soll seine Lection erhalten, dafür steh' ich.
Lieber Freund, versetzte ich etwas zögernd, da ich ihn für Vernunftgründe leider noch unzugänglich sah, ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß dieser Grünschnabel mir Hochachtung eingeflößt hat.
Wie? Was? Sie nehmen seine Partei?
Gewiß, und Sie selbst würden sie nehmen, wenn Sie in seinen Schuhen steckten. Daß Sie das im Augenblick nicht werden gelten lassen, begreif' ich vollkommen. Aber mit Ihrer schroffen Haltung haben Sie Alles verdorben. Freilich können Sie ja auf Ihrem Schein stehen. Wenn das Mädchen Sie aber darauf stehen läßt in alle Ewigkeit und sich ihrerseits auf ihr Naturrecht steift, das zwar ungeschrieben, aber in den Augen aller guten Menschen unantastbar ist, über ihre junge Person nur selbst zu verfügen? Nichts Anderes hat der »Tollkopf« Ihnen zu bedenken gegeben und dabei an Ihre Noblesse appellirt, und Sie haben ihn schnöde ablaufen lassen! Das wird schwer wieder ins Gleiche zu bringen sein.
Hm! machte er mit einem ruhigen Lächeln, indem er sich eine Cigarrette anzündete, auf dem »Terrain« kommt man rasch ins Gleiche, Alte und Junge.
Wie, Sie denken im Ernst daran –? rief ich. Aber das ist ja der bare Unsinn. Sie sind doch weder Reserveleutnant noch alter Herr eines Corps und haben unter der Sonne Besseres zu thun, als den conventionellen Thorheiten der Welt Ihren Respect zu bezeigen.
Predigen Sie nur weiter! erwiderte er sehr gelassen. Bei alledem werden Sie es doch auch genant finden, sich von einem fünfundzwanzigjährigen Frechling ins Gesicht sagen zu lassen, man verkrieche sich feige hinter die grauen Haare. Und zudem – was riskire ich bei der Herablassung zu gewissen conventionellen Thorheiten? Ich habe nicht umsonst bei meinem Fürsten mich im Pistolenschießen geübt und auf hundert Schritt ein Pique-Aß aus der Karte herausgeschossen. Nein, Sie brauchen nicht zu fürchten, daß ich die Augen des jungen Heißsporns – sie sind übrigens sehr schön geschnitten, wie auch die ganze Visage – oder sein verliebtes Herz aufs Korn nehmen werde. Ein paar Jahre Festung wären mir doch unbequem, da ich dort schwerlich das rechte Licht zu meinem Zeichnen finden würde und mit meinen noch übrigen paar Jährchen ökonomisch umgehen muß. Aber ihm einen Denkzettel zu geben, der ihn Jahr und Tag arbeitsunfähig macht – vielleicht besinnt er sich dann doch, daß er gut thun würde, sich nicht selbst ins Fleisch zu schneiden, sondern lieber ein billiges Compromiß anzunehmen nur bis zu seiner Heilung. Mit dem Mädel wollt' ich dann schon fertig werden, so zimperlich sie sich jetzt anstellt, und in ein bis zwei Jahren könnten die Zwei meinethalb ihren Willen haben – wenn denn doch einmal eine Unvernunftsehe mehr in dieser verrückten Welt geschlossen werden muß.
O, sagte ich kopfschüttelnd, wie ich diesen Herrn Jasmund taxire, ist an ein solches Compromiß nicht zu denken. Wenn Sie mit Engelszungen redeten – aber nein, dazu kann es ja überhaupt nicht kommen – eine so haarsträubende Tollheit – Sie müssen mich ruhig anhören, lieber Freund!
Das that er denn auch, wohl eine Viertelstunde lang. Als ich aber all meine Überredungskunst erschöpft hatte, ohne den geringsten Eindruck auf ihn zu machen, was ich an seinem stummen Blick deutlich erkannte, stand ich auf und sagte, ihm die Hand hinhaltend: Ich habe keine sofortige Zustimmung erwartet. Aber ich gehe mit der festen Überzeugung, daß Ihre gute Vernunft, die nur durch den heftigen Streit betäubt worden ist, wieder zu sich kommen und das letzte Wort behalten wird.
Ja, ja! knurrte er. Der Vernunft wird viel zugemuthet. Na, wie Sie meinen. Jedenfalls auf Wiedersehen! Seien Sie meinetwegen ganz ruhig. Ich weiß, was ich der guten Nausikaa schuldig bin. Sie hat noch nicht einmal ein Hemdchen an, und dazu will ich ihr gleich verhelfen.
Er ergriff den Kreidestift und fing an, die nackte Figur auf dem Karton mit leichten Gewandfalten zu umkleiden. Doch konnte die Ruhe, mit der er in der Arbeit fortfuhr, mich nicht täuschen. Ich fühlte, daß ich Alles aufbieten mußte, um die so übel verfahrene Geschichte in das rechte Geleise zu bringen.
*
Ich klingelte drüben an der Wohnung der beiden Frauen. Die Mutter öffnete mir selbst – sie behalf sich ja ohne Dienstmädchen – und fragte mit einem verdrossenen Ton, was ich wünsche. Ich nannte meinen Namen und sagte, daß ich mit dem Herrn Ingenieur zu sprechen hätte. Der sei nicht mehr bei ihnen, sondern eben wieder fortgegangen. Sie machte Miene, die Thür zu schließen und mich draußen stehen zu lassen. Erst als ich ihr sagte, dann wünschte ich mit ihr selbst ein Wort zu reden, ließ sie mich eintreten, offenbar in sehr feindseliger Stimmung, da sie wußte, daß ich mit dem alten Maler befreundet war und wohl voraussetzte, ich käme als Abgesandter, um dem Ingenieur eine unliebsame Botschaft zu bringen.
Drinnen in ihrem Wohnstübchen, das sehr kleinbürgerlich, aber höchst anständig möblirt war, fand ich die Tochter auf dem Sopha liegend, den Kopf gegen die Lehne gedrückt, in ein Schnupftüchlein hinein weinend. Ich hatte das arme Kind nur ein paarmal im Vorbeigehen gesehen und von ihrer jungen Anmuth einen flüchtigen Eindruck gehabt. Wie die schlanken Glieder jetzt so aufgelös't auf dem breiten, altmodischen Polster lagen, wie sie dann bei meinem Eintritt erschrocken auffuhr und in das Nebenzimmer lief, fand ich wieder Alles bestätigt, was der Maler mir von dem natürlichen Reiz ihrer »Geberde« gerühmt hatte.
Kaum aber hatte ich angefangen, der Alten zu sagen, daß ich in die ganze Geschichte eingeweiht sei, als sie sich in heftigen Klagen, nicht über den Maler, sondern über ihr störrisches Kind und den jungen Herrn, der ihm den Kopf verdreht, ergoß. Sie habe eben jetzt, da der Ingenieur ihr berichtet, er sei umsonst drüben gewesen und Herr Klaas wolle von der Heirath nichts wissen, dem Korderl den Marsch gemacht, daß sie sich mit ihm eingelassen habe. Sie hätten das beste Leben gehabt, und das wäre noch Jahre lang so fort gegangen, und sie hätten sich was ersparen können, und dann wäre immer noch Zeit genug gewesen, ans Heirathen und Kinderkriegen zu denken. Und jetzt unterstehe sich so ein fremder Hans Habenichts, sich einzumischen und das Mädel anzustiften, daß es ihrem Wohlthäter auf einmal den Gehorsam aufsagen sollte.
Das Alles im unverfälschtesten Münchener Dialekt, untermischt mit vielen Seufzern und Betheuerungen, daß sie nicht selig werden wolle, wenn sie die Hand dazu böte, außer für den Fall, daß der gnädige Herr selbst darauf einginge.
Dazu sei leider keine Aussicht, versetzte ich, und der hitzige junge Mann habe die Sache erst recht verschlimmert, da er sich Herrn Klaas gegenüber zu allerlei ehrenrührigen Redensarten habe fortreißen lassen. Man könne gar nicht wissen, wie schlimm es noch enden würde, wenn sie nicht Alles aufböte, ihren künftigen Schwiegersohn zu einer Abbitte und Zurücknahme der beleidigenden Worte zu bewegen. Es sei von einem Duell die Rede gewesen. Wie es auch ausfallen möchte, die Sache würde dadurch nur unheilbarer. Wenn der junge Herr den alten todtschösse, komme er vors Schwurgericht statt vors Standesamt, und umgekehrt würde das Korderl einen todten Bräutigam zu beweinen haben.
Die Frau erschrak heftig; von einem Duell hörte sie durch mich das erste Wort. Aber daß der Hitzkopf sich von ihr zureden ließe, daran sei nicht zu denken. Wenn ich gesehen hätte, mit welchem Gesicht er zu ihnen hereingestürzt sei, wie er das Mädel umarmt und sich verschworen hätte, kein Teufel solle sie ihm entreißen, und dann fortgerannt sei, als wolle er nur geschwind einen Revolver holen, um sich an seinem Todfeinde zu rächen, würde ich nicht glauben, daß da mit Zureden etwas auszurichten sei.
Ich gab indessen die Hoffnung nicht auf, ließ mir nur versprechen, daß auch das Korderl versuchen solle, ob sie nicht so viel Macht über den wilden Liebsten hätte, ihn zur Vernunft zu bringen, und klopfte dann eine Treppe tiefer bei Herrn Eduard Jasmund an, fand aber ein leeres Nest. Seine Zimmerfrau hatte ihn noch nicht wieder gesehen, er pflegte sich auch über Tag selten blicken zu lassen. Ich notirte mir die Adresse des Bureaus, wo er arbeitete. Aber auch dort fand ich ihn nicht. Es blieb mir nichts übrig, als meine Karte zu hinterlassen, mit der Bitte, er möge so gut sein, sich zu mir zu bemühen, da ich ihm eine wichtige Mittheilung zu machen hätte.
Dasselbe hatte ich auch seiner Wirthin auf die Seele gebunden.
Ich wartete aber den ganzen Tag vergebens auf ihn. Er ließ sich nicht bei mir blicken. Auch eine spätere Anfrage in seiner Wohnung war ohne Erfolg.
*
Zuletzt, wie es nach langem, aufgeregtem Hoffen und Harren zu gehen pflegt, daß eine gewisse, auf Nichts gegründete Überzeugung eintritt, es könne ja das Gefürchtete unmöglich eintreten, da schon so viel Zeit darüber vergangen sei, kam auch ich zu einer ruhigeren Ansicht der Dinge.
Ein Mensch von fünfundsechzig Jahren, sagte ich mir, der noch dazu eine »Mission« zu erfüllen hat, ein künstlerisches Vermächtniß der Welt hinterlassen will, an dem seine ganze Seele hängt, rennt nicht Hals über Kopf in ein solches Abenteuer hinein und thut schlimmsten Falles den absurden Sprung ins Dunkle erst, wenn er noch beim Licht seiner Vernunft alle Auswege geprüft und keinen gangbar gefunden hat. Auch handelte sich's ja um nichts Schwereres als ein paar beleidigende Worte aus dem Munde eines leidenschaftlich verliebten jungen Menschen, dessen Äußerungen man eben so wenig ernst nehmen dürfe, wie die irren Reden eines Fieberkranken.
Also ging ich ruhig zu Bett, fühlte aber am nächsten Morgen das Bedürfniß, mich selbst wieder danach umzusehen, welchen Fortgang der leidige Handel inzwischen genommen hätte.
Es schlug schon Zehn vom Thurm der Ludwigskirche, als ich mich dem Hause näherte, das ich gestern in so sorgenvoller Stimmung verlassen hatte. Heute würde mich's nicht sehr überrascht haben, wenn ich bei meinem alten Freunde seinen jungen Gegner angetroffen hätte, in bester Eintracht vor einer Flasche Bordeaux oder der Mappe mit den Zeichnungen zum Homer, als ob gestern kein einziges heftiges Wort zwischen ihnen gefallen wäre.
Meine rosige Phantasie sollte aber auf eine seltsame Art Unrecht behalten.
Denn da ich nur noch zehn Schritte von dem Hause entfernt war, wo sämmtliche Personen des kleinen Dramas wohnten, sah ich jenen Arzt aus der Thür treten, den Freund Klaas wegen seiner kranken Hand consultirt hatte.
Auch er bemerkte mich und näherte sich mir mit einer geheimnißvollen, doch nicht gerade Unheil ausdrückenden Miene. Dennoch erschrak ich.
Um Gottes willen, Herr Doctor, – Sie kommen von da oben – was ist geschehen? – Doch nicht ein Unglück?
Gottlob, nur etwas sehr Unbedeutendes, aber so räthselhaft, daß Alle, die dabei zugegen waren, sich umsonst noch immer den Kopf zerbrechen, wie es zu erklären wäre. Sie wollten wohl eben zu meinem Patienten hinauf? Wenn Sie aber erst hören möchten, was da geschehen ist – Sie kennen ihn länger als ich –, vielleicht können Sie mir auf die Spur helfen, was der Grund seines wunderlichen Betragens sein möchte.
Für einen Sonderling, fuhr er fort, während wir vor dem Hause auf und ab wandelten, habe ich ihn nicht gehalten, trotz seiner Menschenscheu und daß er für nichts als für seine Arbeit Interesse hatte. Auch hatte ich großen Respect vor seinem Geist und seiner Bildung, so weit ich sie während der paar Besuche, die ich ihm machte, kennen lernte. Nun können Sie sich vorstellen, wie erstaunt ich war, als ich gestern gegen Abend zu ihm gerufen wurde und er mir erklärte, er werde sich am nächsten Morgen in aller Frühe duelliren mit einem Ingenieur, der ihn beleidigt habe, und ersuche mich, ihn um halb sechs Uhr in einem geschlossenen Landauer abzuholen, da er es vorziehe, nicht mit der Eisenbahn den Ort des Rendezvous, das Wäldchen hinter Pasing, zu erreichen.
Ich hatte ihn beim Schreiben von Briefen getroffen, auch schien er durchaus nicht geneigt, mir weitere Aufklärungen zu geben, also fand ich es schicklich, nachdem ich ihm zugesagt, um was er mich bat, mich zurückzuziehen, so erstaunlich und fast unbegreiflich mir die Sache vorkam. Wie konnte sich das zugetragen haben, daß bei seiner völligen Vereinsamung irgend Jemand ihn hatte beleidigen können, so schwer, daß die Sache nur mit den Waffen ausgetragen werden konnte?
Indessen fand ich mich natürlich heute früh pünktlich bei ihm ein. Zwei junge Herren erschienen bald nach mir, den einen, einen jungen Mann von etwa dreißig Jahren, stellte er mir als »eine Art Neffen« vor, den Sohn eines entfernten Vetters, Commis in einem großen Bankhause, Leutnant bei der Reserve; den Anderen, der ihm selbst erst seinen Namen sagen oder wiederholen mußte, als einen Freund des »Neffen«, ohne weitere Angabe seines bürgerlichen Berufs.
Er selbst ließ nicht die geringste Spur einer Aufregung erkennen, sagte nur ein Wort des Dankes, daß wir pünktlich erschienen waren, und übergab einem der beiden Zeugen ein elegantes Kästchen mit Pistolen. Dann verfügten wir uns zu dem Wagen hinunter und stiegen ein.
An dem verabredeten Ort, einer Waldblöße, die schon früher zu ähnlichen Rencontres gedient hatte, mußten wir noch eine Weile warten. Der Gegner mit seinen Zeugen hatte die Eisenbahn benutzt. Ich weiß nicht, ob Sie von der seltsamen Affaire etwas wissen. Nun, wenn das der Fall ist, brauche ich Ihnen auch den Herrn Ingenieur nicht vorzustellen, kann nur sagen, daß auch er sich ganz correct benahm, übrigens in einem schwarzen Gehrock und grauer Hose wie zu einer Einladung, einen weichen schwarzen Filzhut etwas schief aufgesetzt. Ein auffallend hübscher Mensch. Seine beiden Zeugen von etwas geringerer Sorte, Techniker, deren Namen mir natürlich genannt wurden. Die Zeugen des Herrn Klaas hatten ja gestern schon mit ihm zu verhandeln gehabt, leider ohne Ergebniß. An eine Zurücknahme der Beleidigungen – den Wortlaut kannte ich nicht – war nicht zu denken gewesen, Herr Klaas, als der Beleidigte, hatte auf Pistolen bestanden bis zur Kampfunfähigkeit eines der beiden Gegner – fünfzig Schritt Barriere wurden abgesteckt, ein neuer Sühneversuch, nur pro forma, scheiterte an dem ruhigen Achselzucken des alten Herrn und dem höhnischen Auflachen des jungen, und so mußte das Verderben seinen Gang gehen.
Es war nicht das erstemal, daß ich als Arzt bei einem Duell zu functioniren hatte. Aber niemals war's den Gegnern so blutiger Ernst gewesen wie hier. Ein tödtlicher Haß blitzte aus den Augen des jungen Mannes, und ein kaltes Rachebedürfniß schien den Alten zu beseelen, als er jetzt – er hatte den ersten Schuß – die Waffe erhob und lange, so lange, daß mir das Herz zum Halse hinauf klopfte, auf den ruhig drüben hingepflanzten Gegner zielte.
Der Schuß versagte. Mit einem stillen Kopfschütteln reichte er die Pistole einem der Secundanten und sagte nur: Haben Sie die Güte, etwas sorgfältiger zu laden.
Dann stand er schon wieder hoch aufgerichtet, und dann krachte auch von drüben der Schuß, und im selben Augenblick sah ich, daß an der linken Seite seines Kopfes unter dem grauen Haar des Alten das Blut herunter lief. Ich wollte hinzu springen, er aber wehrte mit der linken Hand heftig ab und sagte: Ein paar Tropfen Blut – eine Bagatelle – halten Sie mich nicht auf –
Damit erhob er wieder die Pistole, die ihm rasch gereicht worden war, und zielte von neuem, so kaltblütig und lange, wie wenn er nach der Scheibe zu schießen hätte. Der junge Mann drüben schien dadurch in der That etwas nervös zu werden. Er hatte den Hut abgeworfen, als würde ihm schwül darunter, jetzt zog er auch Rock und Weste aus und knüpfte die Cravatte ab, daß das Hemd über der schön gewölbten weißen Brust offenstand. Dann verschränkte er die Arme hinter dem Rücken und stand, die Augen fest auf den Gegner gerichtet, regungslos da, als wollte er sagen: das Ziel ist gar nicht zu fehlen, laß also das lange Zaudern und Zielen und drücke los!
Und nun denken Sie, während wir athemlos gespannt dastehen und jeden Augenblick die Katastrophe erwarten, sehen wir, wie der alte Herr auf einmal sich in Bewegung setzt, ganz langsam und immer noch zielend, als ob er dem Gegner erst recht nahe kommen wolle, ehe er abschösse. Die Zeugen springen herzu und rufen, er dürfe nicht avanciren, er müsse zurück und Distance halten; er aber schüttelt nur den Kopf, läßt die Hand mit der Pistole sinken und setzt seinen Weg fort auf den Ingenieur zu, der ebenfalls die Augen erstaunt aufreißt, sich aber nicht zu rühren wagt. Der alte Herr, wie er dann dicht bei ihm ist, nickt ein paarmal und murmelt etwas vor sich hin, geht dann um ihn herum, dabei immer die Augen fest auf ihn gerichtet, und wie er endlich wieder dicht vor ihm steht, hebt er die Pistole und schießt, ohne lange zu zielen, nach einem Spatzen, der eben über sie hinflog, daß der mit zerflatternden Federn ins Gras hinuntertaumelt. Darauf tritt er ganz nahe an den Gegner heran, streckt ihm die Hand hin und sagt: Sie sollen gewonnen haben. Schlagen Sie ein! Das Weitere werden Sie hören.
Dann, nachdem der Ingenieur, der seinen Ohren nicht traute, etwas unsicher seinen Händedruck erwidert hatte, nimmt er den Hut ab, macht eine grüßende Bewegung gegen uns Andere und sagt: Ich danke Ihnen verbindlichst, meine Herren! Bemühen Sie sich nicht weiter um mich. Guten Morgen!
Damit entfernte er sich, drückte sein Taschentuch gegen das linke Ohr, das immer noch reichlich blutete, und verschwand unter den Bäumen, in der Richtung, wo er den Wagen hatte halten lassen. Uns Anderen blieb nichts übrig, als per Bahn in die Stadt zurückzukehren, während wir uns den Kopf zerbrachen über das sonderbarste Duell, das wohl jemals wie eine schlechte Komödie, die keinen vernünftigen Schluß hat, zu Ende gegangen ist.
Wir gingen ein paar Schritte schweigend neben einander her. Auch ich versuchte umsonst, das Wort des Räthsels zu finden.
*
Ich muß mich jetzt von Ihnen verabschieden, sagte der Doctor. Wenn Sie Herrn Klaas sprechen wollen, müssen Sie sich beeilen. Es schien mir, als hätte er die Absicht zu verreisen. Ich bin froh, ihn noch angetroffen zu haben, um ihn zu verbinden, denn so unbedeutend die Verwundung ist – das linke Ohrläppchen ist ihm abgeschossen worden, ohne den Hals zu verletzen –, immerhin darf die Wunde nicht vernachlässigt werden. Von der nöthigen Vorsicht aber, daß er sich ruhig halten und meinen antiseptischen Verband morgen erneuern lassen sollte, wollte er nichts hören. Er drang mir sofort das Honorar auf – zu meiner geringen Dienstleistung in gar keinem Verhältniß. Eine so unbegreifliche Geschichte! Nun, von so einem Künstler, der den russischen Grandseigneur spielt, kann einen nichts verwundern.
Wir schüttelten uns die Hände, und ich stieg nachdenklich die vier Treppen hinauf.
Ich war darauf gefaßt, daß er mich nicht einlassen würde. Er wußte ja, wie ich über die Sache dachte, und mußte sich doch ein wenig schämen, daß er in seinen Jahren sich nun doch gegen all meine Vernunftgründe verstockt hatte.
Statt dessen öffnete er mir auf mein erstes Klingeln und streckte mir ganz heiter die Hand entgegen. In seinem Äußeren war nichts Besonderes zu bemerken, er war in einem eleganten Reiseanzug, das linke Ohr bepflastert, doch mit dem grauen Haar sorgfältig zugedeckt.
Schön, daß Sie kommen. Ich brauche Ihnen nun das Abschiedsbillet nicht zu schicken, das ich Ihnen schon geschrieben habe. Sie hätten auch den Grund, weßhalb ich verreisen will, daraus nicht erfahren. Man stellt sich nicht gern Schwarz auf Weiß ein Zeugniß darüber aus, daß man ein Esel war. Mündlich wird einem das leichter, einem alten Freunde gegenüber.
Verleumden Sie sich nicht selbst, sagte ich. Ich habe unten auf der Straße von Ihrem Doctor erfahren, daß Sie durchaus keine Dummheit begangen, sondern sich so großmüthig benommen haben, wie ich's Ihnen von Anfang an zugetraut hatte.
Er lachte kurz auf.
Großmüthig? Wo denken Sie hin! Nein, was ich gethan habe, geschah nicht aus Großmuth und freiem Willen, ich wurde dazu gezwungen, c'était plus fort que moi. Ich war bei meinem ersten Schuß fest entschlossen, dem jungen Mädchenräuber das Handwerk zu legen, ihm den Denkzettel zu geben, der ihn für eine gute Weile unschädlich gemacht hätte. Wie ich dann seine Kugel dicht an meinem Kopfe vorbeipfeifen hörte – ein paar Millimeter näher, und es wäre damit aus gewesen, daß ich meine Nausikaa zu Stande gebracht hätte – zum Glück drehte ich gerade den Kopf unwillkürlich ein wenig nach rechts, so daß ich nur das ganz unnütze decorative Anhängsel an meinem Ohr bloßstellte –, na, Niemand wird dadurch besänftigt, wenn man ihn auch nur um sein Ohrläppchen verkürzt – und so gelobte ich mir in meinem Ärger, da ich das Blut rieseln fühlte: das sollst du mir bezahlen. Natürlich nicht mit dem Leben, doch auch nicht bloß mit derselben Kleinigkeit. Auf seinen rechten Arm zielte ich, den wollte ich zur Ader lassen. Und nun denken Sie, was mir passirt. Der verwünschte »Fanatismus der Linie«, dem ich in meinem langen Leben so viel der reinsten Genüsse verdankt habe, jetzt auf meine alten Tage spielt er mir einen tückischen Posten. Wie ich den Burschen mir gegenüber scharf aufs Korn nehme, seh' ich, daß er seine Oberkleider abgeworfen hat und nun mit halb entblößter Brust dasteht. Daß er gut gewachsen ist, hatt' ich schon gestern bei seinem Besuche bemerkt, damals aber ließ der Ärger über seine Dreistigkeit kein richtiges ästhetisches Gefühl aufkommen. Draußen aber, in der hellgrauen Morgenluft – das Hemd hatte sich über die rechte Schulter – gerade die, auf die ich zielte – zurückgeschoben, ich sah den reinen Contur, wie er sich von dem nach oben gerichteten hübschen Kopf den Hals hinunter nach der Achsel zog, die prachtvoll gewölbte Brust, die ganze stolz herausfordernde Haltung wie eines jungen Halbgotts, schlank in den Hüften und die Beine so glücklich in Proportion zum Oberkörper – und darauf sollt' ich schießen? dies herrliche Gewächs beschädigen? ein so selten gelungenes Menschenbild zum Krüppel machen? Im Augenblick war mein Zorn und Haß gegen den unverschämten Gesellen, der mein verbrieftes Recht mit Füßen trat, verflogen. Ich hatte nur den einen Wunsch: diese Linien mir genauer von allen Seiten anzusehen, am liebsten hätt' ich ihm proponiert, mit mir in mein Atelier zu gehen und mir nur ein paar Stunden lang Modell zu stehen. Aber so sehr mich meine alte Leidenschaft verblendete – daß ich mit einem Vorschlag dieser Art bei dem hochmüthigen jungen Herrn übel ankommen würde, stand mir doch klar vor Augen. Na, und da blieb mir nichts Anderes übrig, als ihm den ganzen Bettel vor die Füße zu werfen und mich wie ein Narr von ihm auslachen zu lassen. Hinterher habe ich mir einen Esel um den anderen an den Kopf geworfen. Und doch, wenn ich wieder in den Fall käme, – ich würde mich nicht klüger aus der Affaire ziehen.
Ich haschte nach seiner Hand und drückte sie lebhaft. Wenn jemals ein Mensch einen unklugen Streich begangen hat, der ihm Ehre macht, so haben Sie das heute gethan.
Ja wohl! brauste er auf, so in abstracto, wenn man eine Ballade darauf dichtet. Aber das dicke Ende kommt nach. Ich bin nun aufs Trockene gesetzt und werde wie ein Fisch im Sande noch ein Weilchen schnappen und mich nach meinem Element zurückzuschnellen suchen, und dann doch erbärmlich verenden. Sie meinen, ich fände wohl noch einen Ersatz für mein Modell? Ja, wenn ich der Mann dazu wäre, mit Surrogaten vorlieb zu nehmen, vom Pferd auf den Esel hinunter zu steigen! Immerhin werde ich's versuchen. Vielleicht finde ich in Paris so ein halbes oder dreiviertel Korderl. Vorläufig kann ich noch nichts beschließen, ich bin zu tief heruntergekommen, will auf eine Woche ins Gebirge. Den Frauenzimmern drüben habe ich erklärt, ihre Apanage würde ich ihnen weiter bezahlen, nur unter der Bedingung, daß ich sie nicht mehr in ihrer Wohnung fände, wenn ich nach acht Tagen zurückkäme. Ich muß vergessen, daß so was, wie das Mädel, überhaupt auf der Welt ist. Den jetzt ungültig gewordenen Vertrag habe ich zerrissen und die Stücke der Mutter zum Verbrennen gegeben. Für die Ausstattung des Mädels, wenn die verrückte Heirath denn doch zu Stande kommen soll, würde ich sorgen, habe ihr einen Check gegeben auf mein Bankguthaben, den sie aber vor dem Herrn Schwiegersohn verleugnen soll. Der Narr wäre im Stande, sich auf die Hinterbeine zu stellen und zu erklären, von einem Seelenverkäufer meines Schlages nehme er nichts an. So wäre denn Alles in bester Ordnung, und ich könnte als ein alter Tagedieb, der sich von den Geschäften zurück gezogen, anfangen, durch die Welt zu flaniren. Da höre ich eben die Droschke vorfahren, die mich zum Bahnhof bringen soll. Zum Glück habe ich gestern Abend schon, in der Ungewißheit, ob ich heute nicht vor den Folgen meines Blutvergießens flüchten müßte, meine Papiere geordnet und meinen Koffer gepackt. Sie könnten mir einen Gefallen thun, werther Freund, wenn Sie mir helfen wollten, ihn hinunterzutragen. Von den Frauen drüben habe ich schon Abschied genommen.
Ehe er unten in die Droschke stieg, die der kleine Sohn der Schneiderseheleute geholt hatte, sah er noch einmal zu den Fenstern des vierten Stockes hinauf. Als er hinter dem Kopf der Alten das helle Gesichtchen ihrer Tochter erblickte, Beide nickend und grüßend, wandte er sich ab und machte sich, ohne den Gruß zu erwidern, mit seinem Gepäck zu schaffen. Doch konnte er sich mir nicht so rasch entziehen, daß ich nicht gesehen hatte, wie seine seltsam schillernden Augen hinter einem feuchten Flor ihre Farbe völlig verloren hatten.
*
Was ist noch weiter zu sagen?
Nach Jahr und Tag las ich in der Zeitung, daß der Lithograph Johannes Klaas im Namen der Hinterbliebenen den Tod seines Vetters, des Historienmalers Hinrich Klaas, anzeigte. Der Tod sei nach kurzem Leiden in Paris erfolgt, wo er auch beerdigt worden sei.
Was aus dem Korderl, seiner Mutter und dem Herrn Ingenieur geworden, hatte ich nicht erfahren können, nur daß sie geheirathet hatten und nach einer kleinen fränkischen Stadt verzogen waren, in deren Nähe die Kanalarbeiten vorgenommen wurden.
Es drängte mich aber doch, über den nun dahingeschiedenen Freund etwas Näheres zu erfahren, und so suchte ich Herrn Johannes Klaas auf und stellte mich ihm als Freund seines verewigten Vetters vor. Daß ich von ihm während seines letzten Jahres nicht das geringste Lebenszeichen erhalten hatte, war mir freilich leid gewesen. Doch von dem »Sonderling« konnte ich auch darauf gefaßt sein.
Auch dem Vetter war es nicht besser gegangen. Erst nach dem Tode hatte ihn das Gericht in Paris davon verständigt, daß der alte Maler ihn und Frau Kordula Jasmund zu gleichen Theilen zu Erben eingesetzt, seinen künstlerischen Nachlaß an ausgeführten Zeichnungen und Studien in sechs großen Mappen dagegen dem Fürsten Michael Petrowitsch Butenjeff in Moskau vermacht hatte, mit der Bitte, womöglich die Herausgabe des Homer-Werks zu betreiben.
Eine leise Hoffnung, daß das künstlerische Vermächtniß dieses letzten Idealisten der Welt nicht werde vorenthalten werden, wäre also noch vorhanden. In den neun Jahren freilich seit dem Tode des alten Freundes ist nicht ein Wort mehr darüber in die Öffentlichkeit gedrungen.
—————