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(1899.)
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Es war noch nicht spät am Tage. Aber der graue Octoberhimmel, unter dem sich ein regenschweres Gewölk träge hinwälzte, ließ nur noch einen schwachen Tagesschein in die Straßen der kleinen märkischen Provinzstadt fallen, die heute noch öder und ausgestorbener schien als sonst. Denn der scharfe Herbstwind hielt Alle zu Hause, die sonst in der Dämmerstunde sich gern ein wenig Bewegung machten.
Auch durch die Fenster eines stattlichen Hauses am Markt fiel von dem bleifarbenen Zwielicht nur ein so fahler Schimmer, daß es schien, als sollte schon um fünf Uhr die Nacht hereinbrechen. Die alte Dame, die an dem altmodischen Schreibsecretär gesessen hatte, verzichtete endlich darauf, ihr Rechengeschäft fortzusetzen, da vor ihren noch immer scharfen Augen die Zahlen in dem großen Buch ineinanderflossen. Sie schob Buch und Papiere zurück, stand auf und trat an das Fenster, den unfreundlichen Himmel mit einem strengen Kopfschütteln betrachtend.
Eine ungewöhnlich hohe Gestalt, von starken, doch nicht zur Fülle neigenden Gliedern, vielmehr Alles an ihr straff und fest, auf den breiten Schultern ein mächtiger Kopf, der immer geradeaus gerichtet war. Die Züge des Gesichts aber waren außerordentlich edel und bei aller Schärfe des Alters von großer Feinheit, kaum an den Schläfen und Augenwinkeln leichte Falten, und nur eine tiefere zwischen den dichten schwarzen Brauen, die dem übrigens reglosen Antlitz einen beständig gebieterischen Ausdruck gab. Nur die fahle Farbe der Wangen deutete auf eine Schwäche dieser sonst so stark genaturten Frau, der selbst die silberweißen Haare in ihrer leicht gewellten Fülle nur einen neuen jugendlichen Reiz zu verleihen schienen.
Sie war ganz schwarz gekleidet, in ein bequemes Hausgewand von feiner Wolle; um den Kopf hatte sie ein schmales Spitzentuch von derselben Farbe geknüpft, dessen Enden unter ihrem kräftigen Kinn in eine Schleife geschlungen waren. So stand sie eine Weile und sah auf den Markt hinunter, wo einzelne Arbeiter vorübergingen, die, da es ein Sonnabend war, schon Feierabend gemacht hatten. Eine Dame, die sie kannte, grüßte zu ihr herauf. Sie erwiederte den Gruß mit einem kurzen Kopfnicken und trat dann rasch von dem Fenster zurück.
Dann streckte sie erst die beiden Arme mit geballten Fäusten ein paarmal von sich weg, wie um sich eines Ueberschusses von gebundener Kraft zu entladen, und begann darauf im Zimmer auf und ab zu schreiten, die Hände in die Taschen einer schwarzseidenen Schürze vergrabend. Dabei kam ein leises Pfeifen von ihren Lippen. Das hörte aber bald auf, und nun schritt die Frau stumm und langsam über den weichen Teppich hin, den Blick nach innen gekehrt.
Was an den Wänden hing und im Zimmer herumstand, war nun auch so tief in Halbnacht gehüllt, daß nur die Messinggriffe einer alten Kommode durch das Dunkel blinkten und selbst die blanken Goldstreifen und Orden auf der Uniform des Mannes, dessen Oelbild über dem Sopha hing, kaum noch zu unterscheiden waren.
Die Frau aber setzte ihre Wanderung ruhelos fort, mit so schwerem Tritt, daß die Tassen von altem Meißner Porzellan, die in der offenen Servante standen, jedesmal leise klirrten, wenn die Herumwandelnde in ihre Nähe kam.
Plötzlich blieb sie stehen. Der Ton einer Klingel draußen im Flur hatte sie aufhorchen machen. Gleich darauf wurde die Thür aufgerissen, und die schlanke Figur eines jungen Offiziers erschien auf der Schwelle.
Guten Abend, Mutterchen! sagte er, trotz der zur Schau getragenen Munterkeit, mit einem eigenthümlich beklommenen Ton. Verzeih, ich konnte heut nicht pünktlich zur Kaffeestunde kommen – eine Dienstsache – ich hoffe, du hast deine Tasse darum nicht kalt werden lassen – aber es ist ja schon ganz dunkel geworden, während ich glaubte, ich hätte mich nur eine halbe Stunde verspätet.
Er war rasch eingetreten, hatte die Mutter lebhaft umarmt und auf die Wange geküßt.
Ich erwartete dich nicht mehr, sagte sie ruhig. Ich weiß ja, im Dienst ist man nicht Herr seiner Zeit. Und da du heut Abend ins Casino gehst, war ich schon gefaßt darauf, dich heut überhaupt nicht mehr zu sehen. Aber ich will der Regine klingeln, daß sie uns die Lampe bringt.
Nein, Mutterchen, sagte er, sie am Arm festhaltend, thu das nicht. Es ist so viel gemüthlicher hier im Zwielicht – wir brauchen ja kein Licht zu dem, was ich dir zu sagen habe – denn allerdings – ins Casino geh' ich heut nicht, ich habe den Kopf so voll – auch das Herz – da ist einem nur wohl bei seinem lieben alten Mutterchen!
Sie machte sich freundlich aber entschieden von ihm los. Was hast du nur, mein Junge? Du bist so aufgeregt, und deine Stirne brennt. Doch nichts Unangenehmes mit deinem Oberst?
Er umfaßte sie wieder und nöthigte sie mit sanfter Gewalt, ihre Wanderung durch das Zimmer wieder aufzunehmen.
Verdruß mit dem Alten? lachte er. Da müßte ich schon was ganz Großes ausgefressen haben, bis er vergißt, daß ich der Sohn seines Freundes und Kriegskameraden bin. Nein, Mutterchen, einstweilen bin ich noch sehr im Thee bei ihm, aber freilich, es könnte sich über kurz oder lang ereignen –
Was redest du für wunderliche Sachen! Hast du irgend was auf dem Herzen, so komm heraus damit. Du weißt, deine alte Mutter, die du zuweilen für eine tyrannische Zuchtmeisterin angesehen hast, hat dennoch mehr Nachsicht mit deinen Thorheiten, als irgend ein anderer Mensch.
Er antwortete nicht sogleich. Er ließ die Mutter los und trat an den Schreibsecretär.
Ich habe dich in deiner Arbeit gestört, nicht wahr? Aber wenn du jetzt lieber damit fertig werden möchtest – ich würde dich verlassen und in ein paar Stunden wiederkommen.
Nein, du bleibst. Ich war eben fertig, als die Dunkelheit hereinbrach. Nur die Abrechnung unsers Verwalters ist noch einzutragen, das hat bis morgen Zeit.
Hast du gut abgeschlossen? Die Ernte soll ja in unsrer Gegend vorzüglich gewesen sein.
Ich sehe, Kind, du möchtest mir ausweichen. Was kümmert dich auf einmal eine Geldsache? Nein, setz dich zu mir aufs Sopha. Ich will es nun gleich wissen, was du mir zu beichten hast.
Er folgte ihr nicht zu dem Sitz an der Wand. Mit gesenktem Kopf, als ob er die Muster des Teppichs zählen wolle, ging er jetzt allein eine Weile durch das Zimmer hin und her, nach einem Wort suchend, das ihm zum Eingang geschickt schiene. Zuletzt blieb er an dem Tisch vorm Sopha stehen und sagte mit etwas unsicherer Stimme:
Siehst du, Mutterchen, du sagst, du wollest Nachsicht haben mit meinen Thorheiten. Das habe ich ja auch so oft erfahren, seit ich aus dem Cadettencorps gekommen bin und wieder unter der mütterlichen Obhut lebe. Aber wenn nun das, was dir eine Thorheit scheinen möchte, von der du mich bald zu heilen gedächtest – wenn das für mich eine sehr ernste Sache ist, die ernsteste, die mir in meinem jungen Leben bisher noch am Herzen gelegen hat, und die ich nicht aufgeben werde, auch wenn du sie zehnmal eine Thorheit schelten möchtest?
Nun höre aber auf, in Räthseln zu sprechen. Mir wird ganz bange. So feierlich – das bin ich nicht an dir gewöhnt. Bist du am Ende gar – verliebt?
Mehr als das, Mutterchen. Aber erschrick nicht! Früher oder später muß doch Jeder einmal daran glauben. Ich habe mich – gestern Abend – verlobt!
Es blieb einen Augenblick ganz still zwischen den Beiden. Unwillkürlich hatte der Sohn sich abgewendet, damit die Mutter nicht sehen sollte, daß ihm die Glut ins Gesicht geschossen war, obwohl die Dunkelheit im Zimmer nur noch das Weiße in den Augen erkennen ließ. Die alte Frau auf dem Sopha aber dachte nicht daran, einen forschenden Blick auf ihren Sohn zu richten. Sie sah still vor sich hin, nur bemüht, ihrer Bewegung Herr zu werden. Sie hatte das ja lang genug kommen sehen, daß sie diesen geliebten Sohn hergeben müsse an eine Andere, deren Liebe ihm noch über die seiner Mutter ging. Nun war es nicht sowohl das Erschrecken über das Eintreffen des Erwarteten, als die Trauer über den bevorstehenden Verlust, die sie doch als eine sündhafte Regung der Selbstsucht in sich niederzukämpfen suchte.
Warum wagst du mir nun nicht ins Gesicht zu sehen, du dummes Kind? sagte sie endlich und zwang sich zu einem scherzhaften Ton. Ist es denn ein todeswürdiges Verbrechen, daß du mit deinen dreiundzwanzig Jahren auch endlich dein Herz entdeckt hast? Daß es für ewige Zeiten deiner alten Mutter gehören würde, hab' ich mir doch nie eingebildet, und wenn du fürchtest, in meinem Herzen möchte kein Platz mehr sein für Eine, die meinen lieben Sohn glücklich macht, so irrst du sehr. Es ist wahr, mein altes Herz ist keins von den großen. Außer deinem Vater und dir hat es nicht viele Menschen beherbergt und ist deßhalb oft als kalt und enge verleumdet worden. Nun, Kind, daß es nicht warm genug sei, hast du gewiß nicht empfunden, und so eng ist es nicht, daß nicht noch eine liebe Tochter darin wohl aufgehoben sein würde. Und nun obendrein eine solche Tochter! die sich schon längst mir ins Herz gestohlen hat, und der ich meinen einzigen Sohn, wenn ich ihn doch einmal hergeben soll, lieber gönne als tausend Andern. Nein, Wilhelm, das ist keine Thorheit, die du zu bereuen hättest, sondern trotz deiner Jugend das Gescheiteste, was du noch je dir hast einfallen lassen. Komm an mein Herz und laß mich deinen Kopf zwischen meine Hände nehmen, wie in deiner Knabenzeit, wenn du eine gute Censur nach Hause gebracht hattest. Gott segne dich und sie, mein geliebter Sohn, und lasse mich noch ein paar Jahre lang euer Glück mit erleben!
Sie war in großer Bewegung aufgestanden und die Arme ausbreitend zu ihm getreten. Aber mit einer scheuen Geberde trat er zurück.
Du bist so gut, Mutterchen, du hast, so lang ich lebe, keinen andern Gedanken gehabt als mein Glück. Und eben darum – wenn ich's auf einem andern Wege suche, als der dir der richtige scheint – es ist mir so furchtbar schmerzlich, dich betrüben zu müssen – aber bitte, setz dich ruhig wieder hin – ich habe dir eine so lange Geschichte zu erzählen –
Sie war wie versteinert am Tische stehn geblieben. Erst nach einem langen Schweigen kam es dumpf von ihren Lippen:
Also nicht – die Franziska?
Nein, Mutterchen. Verzeih mir, ich hab' es ja lange gemerkt, daß dir die Franziska des Bürgermeisters als die passendste Frau für mich erschienen ist. Ich bin ja auch nicht blind. Sie ist wirklich hübsch und liebenswürdig und gut erzogen und gebildet mehr, als ich brauchte. Und dann die angesehene Familie, die erste hier am Ort, und wenn wir auch nicht auf das Geld zu sehen brauchen, auch gewiß eine stattliche Mitgift. Wenn man bloß mit dem Verstande rechnet – gewiß, eine bessere Partie könnte ich nicht leicht finden. Aber das ist's eben, Mutterchen, wenn das Herz mit dem Verstande einmal durchgegangen ist – Was thust du? Warum klingelst du der Regine?
Ich will Licht im Zimmer haben, erwiederte die Mutter. Ich will erfahren, ob du bei dem, was du mir zu sagen hast, mir in die Augen sehen kannst.
Die alte Dienerin trat ein, die brennende Lampe tragend, die sie auf den Tisch stellte. Sie kannte ihre Herrschaft, seitdem der Sohn, dem sie als Amme gedient hatte, auf der Welt war. Mit ihrem klugen Bauernverstand errieth sie sogleich an der schwülen Stille zwischen Mutter und Sohn, die einander abgewandt durchs Zimmer gingen, daß sich etwas Peinliches zugetragen hatte. Doch ohne ein Wort zu sagen, schlich sie auf ihren Filzschuhen wieder hinaus.
*
Die Mutter hatte sich wieder in die Sophaecke gesetzt, die Arme über der Brust gekreuzt, die Augen starr auf die helle Lampenglocke gerichtet. Wie der Sohn jetzt wieder herantrat, einen scheuen, traurigen Blick auf ihr weißes Antlitz werfend, konnte man die große Aehnlichkeit zwischen den Beiden erkennen. Nur daß der Sohn, dessen schöngeschnittene Züge etwas weicher und doch frischer waren, fast um einen Kopf unter der Höhe der Mutter zurückblieb und einen schlankeren Wuchs und raschere Geberden hatte. Seltsam aber war, daß sogar das Fältchen zwischen den Brauen schon angedeutet war und sichtbar wurde, wenn er sich in Eifer redete.
Ich bitte dich nur um Eins, Mutter, sagte er mit herzlicher Wärme, daß du mich nicht für einen leichtfertigen Menschen hältst, der sich kopfüber in eine Liebschaft verstrickt hat und jetzt nicht mehr zurück kann. Das Mädchen, das ich gewählt habe, hat mich lange genug von sich fern gehalten, und es ist mir nicht leicht geworden, ihr Vertrauen zu gewinnen, daß sie mich nicht mehr im Verdacht gehabt hat, sie sei mir gerade gut genug, eine flüchtige Liaison mit ihr anzuknüpfen. Als ich sie dann näher kennen lernte, that mir's erst furchtbar leid, daß ein solches Mädchen kein besseres Leben hatte, sein Brod sich so mühsam verdienen mußte, in einer Stellung, wo sie jeder üblen Nachrede ausgesetzt ist. Und dann nach und nach – nein, ich will dir's nicht verhehlen, daß ich gleich das erste Mal, wo ich sie zu sehen bekam, von ihrer Schönheit betroffen wurde, daß ich Tag und Nacht an sie denken mußte. Aber ich suchte mich mit aller Gewalt dagegen zu wehren, daß ich mich nicht ernstlich in sie verliebte. Ich kenne ja deine Ansichten über sogenannte Jugendsünden; wie oft hast du mir mit Stolz erzählt, daß du die erste und einzige Liebe meines guten Papa's gewesen bist. Und daß es hier aufs Heirathen hinausgehn könne – nein, das schien mir selbst Anfangs undenkbar!
Aber freilich, Niemand entgeht seinem Schicksal. Nur von Zeit zu Zeit hatte ich dem Verlangen, sie zu sehn und ein paar Worte mit ihr zu wechseln, nachgegeben. Sie war nämlich Verkäuferin in einem Handschuhladen – Was hast du, Mutterchen? Ist das eine Stellung, die ein tugendhaftes Mädchen entehrt?
Sie schüttelte heftig den Kopf. Nichts, nichts! murmelte sie. Nur weiter! weiter!
Ich habe, fuhr er mit einem verlegenen Lächeln fort, allerdings ein bischen viel Geld für Handschuhe ausgegeben. Aber du kannst glauben, Mutter, viel Anderes, als was zum Geschäft gehörte, kam nicht über unsere Lippen. Sie hatte eine Art, Alles, was nach Courmachen aussah, von vornherein abzuschneiden, daß selbst die dreistesten unter meinen Kameraden versicherten, sie kämen mit dem Mädel, das sich so kostbar zu machen verstehe, nicht weiter. Natürlich trug das dazu bei, mich immermehr an sie zu fesseln. Es wäre aber am Ende doch bei diesem Langen und Bangen geblieben, wenn ich nicht eines Abends dazugekommen wäre, wie ein Unverschämter, der etwas zu viel im Schädel hatte, auf offner Straße sich zudringlich gegen sie benahm und sich mit Gewalt ihres Arms bemächtigen wollte. Ich trat dazwischen, schob den Flegel – den Sohn eines hiesigen reichen Gasthofbesitzers – ein bischen unsanft auf die Seite, und da das Fräulein von dem Schrecken an allen Gliedern bebte und einer Ohnmacht nahe war, bestand ich darauf, sie nach ihrer Wohnung zu begleiten.
Die liegt draußen in der Vorstadt, in einem ganz anständigen Hause, wo sie mit ihrer Mutter das zweite Stockwerk bewohnt. Im Erdgeschoß hat ein Klempner sein Geschäft und seine Wohnung in der Beletage. Meinen Arm hatte sie nicht annehmen wollen. Aber als wir an ihrem Hause angelangt waren, lud sie mich mit einer reizenden Schüchternheit ein, zu ihrer Mutter mit hinauf zu kommen, damit auch die mir für meinen Ritterdienst danken könne.
Und nicht einmal die Bekanntschaft mit dieser Frau hat dir die Augen geöffnet, in welche Gesellschaft du dich hast hineinlocken lassen?
Er starrte die Mutter mit weit aufgerissenen Augen an. Weißt du denn – stammelte er.
Von deinem ersten Wort an habe ich gewußt, wer Die war, der du ins Netz gegangen. Nein, mein armes Kind, obwohl deine Mutter nicht viel aus ihrem einsamen Zimmer herauskommt, ein wenig weiß sie doch in der Stadt Bescheid, wo wir nun schon über Jahr und Tag wohnen, und wär's auch nur durch das Marktgeklatsch, das mir die Regine zuträgt. In deinem Fall aber bin ich aus zuverlässigern Quellen orientiert, was es mit diesem »schönsten Mädchen der Stadt« und ihrer ehrenwerthen Mama auf sich hat.
Er richtete sich hoch auf. Ich weiß nicht, Mutter, was man dir berichtet hat. Daß Eine, die mit Recht für das schönste Mädchen der Stadt gilt, für Neid und Verleumdung nicht zu sorgen braucht, versteht sich von selbst. Deine Quellen aber mögen so rein sein, wie sie wollen, über den Charakter dieser beiden Frauen gestehe ich Niemand ein Urtheil zu, der nicht längere Zeit mit ihnen verkehrt und mit eigenen Augen sie geprüft hat.
Diesen Vorzug, mein Sohn, habe ich nun freilich nicht gehabt, sagte die Mutter mit bitterem Hohn. Aber für mein Urtheil habe ich dennoch ein unverdächtiges Zeugniß. Es ist noch nicht länger als sechs Wochen her, da bin ich einmal mit der Frau unseres Sanitätsraths diesem Fräulein auf der Straße begegnet. Sie fiel mir natürlich auf. Sie trägt ja den Kopf wie eine Prinzessin, und als ein paar junge Herren sie grüßten, erwiederte sie den Gruß mit einem kaum merklichen gnädigen Nicken. Ueberdies sagt man wohl nicht zu viel, daß kein Mädchen in der Stadt sich an Schönheit mit ihr messen kann. Und doch – in ihrem Blick und Wesen war etwas, was mir nicht gefiel. Die Sanitätsräthin nannte mir ihren Namen und zuckte die Achseln. Es sei kein Wunder, daß das Fräulein das Köpschen hoch trage, da sie das ganze Offiziercorps zu ihren Kunden habe, übrigens wisse man nichts Bestimmtes ihr nachzusagen, als daß sie, wenn sich einmal die Gelegenheit ergebe, eine Lustbarkeit mitzumachen, etwa bei einem Tanzvergnügen im Winter, die Maske der strengen Züchtigkeit abwerfe und sich ausgelassener betrage als jede Andere. Dabei sei sie klug genug, Keinen zu bevorzugen, so daß hernach, wenn sie wieder ihr Alltagsgesicht aufsetze, keine üble Nachrede an ihr hängen bleibe. Vielleicht sei sie nicht schlimmer als unzählige junge Mädchen, die sich in niedrigen Verhältnissen befänden und doch nicht einsähen, warum sie nicht über ihre Sphäre hinaufstreben und nach einer Heirath über ihrem Stande streben sollten. Freilich, mit dieser Mutter, dieser ganz unmöglichen Frau –
Was kann man dieser Frau nachsagen? braus'te der Sohn auf. Sie war Choristin am Opernhaus in Berlin, das ist freilich keine vornehme künstlerische Stellung, und gewiß, ihre Colleginnen stehen nicht im Ruf der strengsten Tugend. Sie aber hat sich nie etwas zu Schulden kommen lassen und auch hernach, als sie den Opernregisseur geheirathet hat, eine ganz ehrbare Ehe geführt. Soll das nun auf die Tochter ein ungünstiges Licht werfen, daß ihre Mutter keine Diva gewesen ist, sondern mit ihrer kleinen Stimme sich arm aber ehrlich durchs Leben geholfen hat?
Die Mutter antwortete nicht sogleich, sondern sah nachdenklich vor sich hin. Du hast diese Nachrichten natürlich von ihr selbst? sagte sie endlich. Ich begreife, daß du der Frau Glauben schenkst, in deren Tochter du verliebt bist. Aber nicht Alle sind in deinem Fall, und es ist nicht ohne Grund, daß die Frauen hier in der Stadt, nicht bloß die Honoratiorinnen, auch die aus dem mittleren Bürgerstand, die sich sonst gegen fremde Elemente nicht streng verschließen, dieser Madame Eunicke ihre Visiten nicht erwiedert und sich nicht entschlossen haben, sie zu ihren Kaffeekränzchen zuzulassen.
Der Sohn lachte höhnisch auf.
Und von dem Urtheil solcher kleinstädtischen Biederweiber machst du das deine abhängig?
Ich weiß nicht, ob du auch die Sanitätsräthin dazu rechnest, erwiederte die Mutter. Jedenfalls doch wohl nicht deren Berliner Gewährsmänner, die aussagten, der Lebenslauf dieser ehemaligen Sängerin sei nicht so völlig glatt und reinlich gewesen, wie sie selbst es darzustellen wünsche. Und freilich, wenn man die vornehme Haltung ihrer Tochter betrachtet, erscheint es sehr plausibel, daß das Gerücht von ihrer mehr als bürgerlichen Herkunft begründet sei. Ich wundre mich nur, lieber Sohn, daß du unter deinen Kameraden der Einzige gewesen sein solltest, der nicht davon gehört hätte.
Das Gesicht des jungen Offiziers war über und über erglüht. Er runzelte die Brauen, daß das Fältchen dazwischen sich vertiefte.
Wohl habe ich davon gehört, sagte er dumpf. Natürlich, es giebt keinen Klatsch in der Stadt, der nicht auch im Casino wiedergekäut würde. Habe ich's darum glauben müssen? Und selbst wenn es die Wahrheit wäre, kann die Tochter dafür? Oder wird sie darum geringer an Reiz und Werth, weil sie ein Kind der Liebe ist und ihr Vater kein subalterner Theatermensch, sondern ein Fürst, der mit dem königlichen Hause verwandt ist?
Wieder eine Pause. Dann sagte die Mutter: Es fällt mir nicht ein, Kind, über diese Frage mit dir zu streiten. Du weißt, ich bin weder prüde noch pedantisch, obwohl es mir freilich ein wichtiges Interesse der Gesellschaft scheint, illegitime Verhältnisse nicht als berechtigt anzusehen. Ausnahmen statuiere ich. Ich will dir sogar so weit entgegenkommen, daß ich annehme, diese deine Choristin habe ein gewisses Recht, auf mildernde Umstände zu plaidieren. Sie war jung und hübsch und arm – und ein Fürst ist in den Augen solcher Geschöpfe immer ein Halbgott, dem man nichts versagen dürfe. Wenn sie später ihrem Gatten eine gute Frau gewesen ist, so hat Niemand als dieser selbst sie wegen ihrer Jugendsünde schief anzusehen gehabt. Aber die Welt denkt nicht so christlich erbarmungsvoll, daß sie einer Frau viel vergeben möchte, weil sie viel geliebt hat. Und deine Standesgenossen vor Allen – hast du dir nur einen Augenblick einbilden können, das Offiziercorps werde nichts dagegen einzuwenden haben, daß du die Tochter einer Frau, die eine Vergangenheit hat, zumal sie selbst nicht so völlig unbescholten ist, zu deiner Gattin machen möchtest?
Die Glut in seinem Gesicht war einer tiefen Blässe gewichen. Es war so still im Zimmer, daß man den Regenwind hörte, der an den Fenstern vorbeistrich. Immer noch stand er unbeweglich am Tische, die Lampe zwischen sich und der alten Frau, die die letzten Worte mit so ehernem Nachdruck gesprochen hatte, als ob sich Nichts darauf erwiedern ließe.
Auch ward es ihm sichtbar schwer, das, was nun kommen mußte, über die Zunge zu bringen.
Das ist ja eben das Schwere, Mutterchen, sagte er endlich, daß ich das Alles weiß und doch thun muß, was ich nicht lassen kann. Ich habe mir keinen Augenblick eine Illusion darüber gemacht, daß ich zu wählen habe zwischen meiner Carrière und dem Glück meines Herzens. Handelte sich's nur um mich, wer weiß, ob ich nicht doch noch verzichtete, vor Allem deinetwegen – ich weiß ja, welchen Kummer es dir machen wird. Aber da ich es nun auch ihr schuldig bin, da ich weiß, daß sie mich über Alles liebt und, wenn ich sie verlasse, an Gott und der Menschheit verzweifeln wird und nie mehr glücklich werden kann –
Die große Gestalt erhob sich vom Sopha, wie von einem Schlage getroffen. – So willst du den Degen, den du im Dienst des Vaterlands und deines Königs zu tragen die Ehre hattest, wegwerfen, um an der Schürze eines Weibes, Allen die dich kennen zum Hohn, ein elendes Müßiggängerleben zu führen? Heute zum ersten Mal bin ich glücklich, daß dein Vater so früh von uns hat scheiden müssen. Zu erleben, daß sein einziger Sohn eines solchen Gedankens fähig ist, hätte ihm das Herz gebrochen.
Mutter! rief er und wollte ihre Hand fassen. Sie trat aber mit einer heftigen Bewegung von ihm weg und sagte: Es ist besser, du gehst auf dein Zimmer. Ich will annehmen, daß du krank bist und im Fieber gesprochen hast. Wenn du die Nacht über mit dir zu Rath gegangen bist und dich auf deine Pflicht besonnen hast, wollen wir weiter sprechen.
Er rührte sich nicht. Nur seine Stimme klang erschüttert. Ich wußte es, sagte er, wie zu sich selbst, auch bei dir würde ich kein Verständniß finden für das, was mir Pflicht erscheint. Du bist jeder Zoll eine Soldatenfrau, Mutter, du kannst nicht fassen, daß es für den Sohn, den du geboren, irgend einen Grund geben könne, seinem Beruf, auch wenn er ihn ohne sonderliche Begeisterung ergriffen, untreu zu werden. Aber so ehrenvoll dieser Beruf ist – es giebt noch andere Ehrenpflichten, die ein redlicher Mensch zu erfüllen hat, und von denen kein Ehrenrath eines Offiziercorps zu dispensieren vermag. Gewiß, Mutter, wenn ich das Mädchen, das ich liebe, zu meiner Maitresse gemacht hätte, würde man mich nicht unwürdig finden, den Rock des Königs noch ferner zu tragen. Daß ich beschlossen habe, sie zu heirathen, verstößt gegen den Sitten-Codex meines Standes. Nun, ich habe in diesem Zweifelsfalle keinen anderen Berather, als mein Gewissen, und das sagt mir, daß ich ein Schuft wäre, wenn ich ein Mädchen, dem ich meine Liebe und Treue zugeschworen, im Stich ließe, bloß weil die Sünde der Mutter in unserer heuchlerischen Welt an der Tochter gerochen werden soll!
Während dieser leidenschaftlichen Rede war die Mutter ans Fenster getreten und hatte ihrem Sohn den Rücken gewandt. Ihre innere Erregung war so groß, daß die Scheibe klirrte, an die sie ihre Stirn gedrückt hatte. Ohne sich umzuwenden, sagte sie jetzt, die Worte sich langsam abringend:
Und – wenn du nun, da du ja mündig bist – nicht weiter danach fragst, ob dir die Mutter zu dieser Ehe ihren Segen giebt – wie hast du dir deine Zukunft vorgestellt?
Im Nu war er bei ihr und legte den Arm zärtlich um ihre Schulter. Wie kannst du so sprechen, Mutter! Brächtest du's wirklich übers Herz, deinem Sohn feindselig fern zu bleiben, auch wenn du dich überzeugt hättest, daß es ihm Ehre und Gewissen vorgeschrieben, zu handeln, wie er nun einmal handeln mußte? Hast du nicht diese dreiundzwanzig Jahre, seit ich auf der Welt bin, nur für mich gelebt, und jetzt soll das Band zwischen uns zerreißen, weil ich dir den Herzenswunsch nicht erfüllen kann, in der militärischen Laufbahn eine Etappe nach der andern zurückzulegen? Denke doch, wie wenig Lohn der arme Papa für seine aufopfernde Pflichterfüllung erhalten hat! Kannst du das seinem Sohne wünschen, der nicht einmal Aussicht hat, wie er, in einem großen, glorreichen Kriege mitzukämpfen? Und wenn ich nun, statt im öden Friedensdienst alt und grau zu werden, mich auf unser Gut zurückziehe, das Land bebaue, was mir stets als der liebste Beruf erschien, meine geliebte Mutter neben mir und eine Frau, die sie ebenso lieben und ehren lernen wird, wie ihr Sohn – glaubst du wirklich, Mutterchen, zu diesem Zukunftsplan würde der Papa nicht seinen Segen geben, wenn er hören könnte, was ich dir eben ans Herz geredet habe?
Noch immer hatte sie sich nicht zu ihm umgewendet. Er ließ traurig den Arm sinken und sagte: Hab' ich dich so tief gekränkt, meine einzige Freundin? Aber ich kenne dich. Ich weiß, nicht was ich thun will, schmerzt dich am meisten, sondern daß ich dir's so spät anvertraue – nachdem es schon nicht mehr zu ändern ist – statt dich erst zu fragen, ob du damit einverstanden wärst. Ich habe ja sonst nie etwas Wichtigeres gethan, ohne vorher deine Meinung zu hören, und wenn du mir abriethest, hab' ich's unterlassen. Und nun dies, was über mein ganzes Leben entscheidet – und doch steht es nun unwiderruflich fest – ich begreife, daß du mir das schwer verzeihen kannst. Aber wenn ich dir erzähle, wie es so gekommen ist – ich bitte dich, liebste Mutter, verurtheile mich nicht ungehört – sieh, ich bin lange in schwerem Kampf mit mir selbst gewesen, da ich voraussah, jedenfalls würdest du nicht freudig zustimmen. Mir ahnte ja auch, du hättest mir schon eine Braut ausgesucht. Nun kam das so über mich – mit jedem Tage mehr fühlte ich, daß diese meine erste Liebe meine letzte und einzige sein würde. Denn an den paar Abenden, wo ich in ihrer Wohnung – immer in Gegenwart der Mutter – bei ihr war – nicht mehr als vier Sonnabende, während du glaubtest, ich sei im Casino – wie mir da ihr Charakter, ihr Gemüth, die Liebe zu ihrer Mama, die eine etwas schwachsinnige und ungebildete Frau ist, wie das ganze herrliche Mädchen sich mir da zeigte, – du selbst, Mutterchen, hättest begriffen, daß sie sich mir ins Herz stehlen mußte, auch wenn sie weniger reizend wäre. Und doch – ich konnte mich immer noch nicht entschließen, ihr mein Gefühl zu gestehn, obwohl sie mit ihrem weiblichen Scharfblick nicht mehr darüber in Zweifel sein konnte. Und so hätte sich's noch wer weiß wie lang hingezogen, bis heut vor acht Tagen. Als ich zu ihr kam, fand ich nur die Mama. Toni sei nicht ganz wohl, nicht eigentlich krank, aber tief verstimmt. Sie lasse mich grüßen und mich bitten, meine Besuche bei ihr einzustellen. Sie wüßten, daß darüber gesprochen würde, ein armes Mädchen habe keinen anderen Schatz, als seinen guten Ruf. Die Nachbarn hätten gemerkt, daß ich ihr Blumen geschickt, das müsse nun aufhören und überhaupt Alles aus sein.
Ich war sehr bestürzt, aber zugleich wußte ich, was zu thun nun meine Schuldigkeit war. Ohne der Mama nur mit einer Silbe zu antworten, öffnete ich die Thür zu dem Zimmerchen meiner Geliebten. Da saß das arme Wesen im Dunkeln auf ihrem Schlafdivan, in bitteren Thränen, und fuhr in die Höhe, streckte beide Hände gegen mich aus, um mich fern zu halten, und als ich fragte, ob sie denn glauben könne, ich würde es ertragen, sie nicht mehr zu sehen, sank sie laut aufschluchzend auf das Sopha zurück.
Ich brauche wohl nicht weiter zu erzählen, was nun folgte. Als ich ein paar Stunden später die Frauen verließ, war ich ein glücklicher Bräutigam – nein, noch kein ganz glücklicher. Ich hatte versprechen müssen, mich nicht eher wieder bei meiner Braut blicken zu lassen, als bis ich mit dir gesprochen hätte.
Das wollte ich nun gleich am anderen Morgen thun. Aber theils der gerade jetzt ziemlich strenge Dienst, theils daß ich wußte, wie schwer du dich darein finden würdest – o Mutter, und doch, wenn du sie erst kennen wirst! Alles wird dir begreiflich sein und daß es nothwendig so hat kommen müssen, daß es eine Fügung des Himmels war –
Den Himmel laß aus dem Spiel! unterbrach sie ihn schroff. Es ist frevelhaft, ihn für all unsre Schwächen und Thorheiten verantwortlich zu machen. Begreifen kann ich nun freilich, wie Alles so weit gekommen ist. Aber daß es nun nach deinem Sinn so weitergehen müsse, scheint mir noch nicht durch eine himmlische Fügung verordnet zu sein. Ich brauche dir nicht zu betheuern, daß ich deinem wahren Glück nie im Wege stehen werde. Aber darüber muß ich erst ins Klare kommen. Wenn es sich herausstellen sollte, daß ein paar schöne Augen dich bethört haben – es sind schon andere Verlobungen wieder aufgelös't worden. Jedenfalls verbiete ich dir, jetzt schon irgend Jemand wissen zu lassen, daß der Sohn des Oberst von Sacken sich mit einer Ladenmamsell verlobt hat.
Er hatte Mühe, so ehrfurchtsvoll er sonst der Mutter begegnete, ein heftiges Wort zurückzuhalten.
Ich habe dafür gesorgt, sagte er kalt, daß meine Braut nicht mehr in ihrer dienstbaren Stellung geblieben ist, obwohl bekanntlich ehrliche Arbeit Niemand zur Unehre gereicht. Daß du mit dir zu Rathe gehst, eh du deinen Entschluß fassest, versteht sich. Ich möchte dich aber bitten, liebe Mutter, es nicht zu lange damit anstehn zu lassen. Für uns Beide ist die Ungewißheit peinlich, und im Grunde hat das Zögern ja auch keinen Zweck. Das Wort, das ich diesem Mädchen gegeben habe, ist mir ganz so heilig, wie wenn sie eine Baronesse wäre und nicht eine »Ladenmamsell«.
Er verneigte sich vor der Mutter förmlich, wie wenn sie ihm plötzlich eine Fremde geworden wäre, und ging rasch hinaus.
*
Sie war kaum allein, so sank sie auf den Stuhl vor dem Schreibsecretär und stützte den grauen Kopf auf beide Arme.
In ihrem langen Leben war manches Weh über Frau Hildegard von Sacken gekommen, das sie mit starker Seele zu ertragen gewußt hatte. Was ihr in dieser Stunde geschehen war, hatte sie ins innerste Mark getroffen und so gewaltsam erschüttert, daß sie eine Weile wie betäubt dasaß, unfähig irgend einen klaren Gedanken zu fassen.
Sie hatte sich sehr richtig bezeichnet, als sie ihrem Sohne sagte, sie habe ein enges Herz, wenige Menschen hätten Platz darin. Nach dem Tode ihres Mannes, den sie leidenschaftlich geliebt, hatte die Liebe zu ihrem Kinde dies herrische Herz völlig ausgefüllt. Alle ihre Gedanken, Wünsche, Sorgen und Freuden hatten sich an dies eine Haupt geknüpft, und kein Opfer wäre ihr zu schwer erschienen, um alles Unheil von ihm fern zu halten. Doch auch alles Glück sollte ihm aus ihrer Hand kommen. Mit immer reger Eifersucht wachte sie darüber, daß das Herz des Knaben vor allen anderen Menschen ihr zu eigen blieb, mißgönnte ihm fast seine flüchtigen Knabenfreundschaften im Kadettencorps und sorgte, als er von Lichterfelde nach Berlin gekommen und ins Regiment eingetreten war, für eine freundliche, auch nicht ungesellige Häuslichkeit, in der ihr Liebling sich wohler fühlen sollte, als unter Kameraden, die ihn zu leichtsinnigen Jugendstreichen verführen konnten.
Als dies dann auf die Länge nicht mehr durchzuführen war, da der Mündiggewordene anfing, sich nach etwas mehr Freiheit zu sehnen, hatte sie durch ihren Einfluß an der maßgebenden Stelle es durchzusetzen gewußt, daß der junge Leutnant zu dem Regiment in jener Provinzstadt versetzt worden war, wo das Mutterauge ihn besser überwachen konnte als in dem großen Babel der Reichshauptstadt. Sie hatte ihm diese Veränderung, die er in seiner Arglosigkeit nicht entfernt als ihr Werk ansah, dadurch lieb zu machen gesucht, daß er in der kleinen Garnison einen ihm sehr befreundeten Kameraden aus der Kadettenzeit wiederfinden sollte, einen gewissen Wimpffen, der ein paar Jahre älter als ihr Wilhelm war und nahe vorm Oberleutnant stand. Auf der Schule hatte er den zarten jungen Menschen, der viel geliebt, aber auch viel gehänselt wurde, freundschaftlich bevormundet und ihm gewisse Ueberzartheiten, die dem Muttersöhnchen anhafteten, auszutreiben gesucht. Nun sollte er auch in der kleinen Stadt seinen Mentor machen.
Was aber hatte all diese pädagogische Bemühung genützt, da der so sorgsam Behütete plötzlich über alle Stränge geschlagen und sich unterstanden hatte, in der wichtigsten Lebensfrage nur nach eigenem Gelüst zu entscheiden! Der Ton, in dem er gesprochen, als er sich von der Mutter verabschiedete, war nie vorher von seinen Lippen gekommen. Etwas Starres und Stählernes klang darin, das sich durch keine mütterliche Liebe oder Strenge biegen oder brechen ließ. Nicht Rath zu erbitten, war er zur Mutter gekommen; seinen Willen hatte er ihr mitzutheilen gehabt, an dem Nichts mehr zu rühren und zu rütteln war, auch wenn alle Vernunft, aller Schmerz und Kummer der Frau, der er bisher sein Leben willig überlassen hatte, sich dagegen empörte. Hatte sie darum ihn so lange ängstlich überwacht, ihm alle jugendlichen Thorheiten des Herzens fern gehalten, daß nun auf einmal dies Herz in einer so wahnwitzigen Leidenschaft sich an einem unwürdigen Gegenstand entflammen und alle Schranken einer geregelten ehrenvollen Zukunft niederwerfen sollte?
Sie kannte ihn zu gut, um sich die geringste Hoffnung zu machen, daß er noch Vernunft annehmen und das unselige Verhältniß lösen würde, weil sie es wünschte. Das hatte er ja auch vom Vater, daß ihm sein einmal gegebenes Wort heilig war. Und doch – sich darein ergeben, daß er diese mindestens sehr unebenbürtige Person heimführte – sein schönes junges Leben auf dem freudlosen Gut mit einer Frau hinbrächte, die doch wahrscheinlich eine Komödie gespielt hatte, um ihn einzufangen, mit einer Schwiegermutter dieser Sorte, über die er selbst sich nicht täuschte, – sie hätte geglaubt, ihren heiligsten Mutterpflichten untreu zu werden, wenn sie sich in dies Alles wie in ein unabänderliches Schicksal ohne Kampf gefügt hätte. Sie wußte, daß ein paar schwarze Augen in einem reizenden Gesicht größere Macht haben über ein Jünglingsherz, als die liebevollsten Mutteraugen, die durch Nachtwachen und Thränen über ein theures Kind trübe geworden sind. Aber gleichwohl, so leichten Kaufs sollte ihr dieser einzige Schatz ihres Lebens nicht vom Herzen gerissen werden. Das war sie dem gütigen Gotte schuldig, der ihn ihrer Sorge anvertraut hatte.
Als die alte Regine eintrat, um zu fragen, ob sie den Thee bringen solle, fand sie die Herrin noch auf demselben Fleck vor dem Secretär. Wie spät ist's denn? fragte sie, wie aus einem Traum aufwachend.
Es geht auf Acht. Wilhelmchen is ja schon vor zwei Stunden gegangen. Was er nur gehabt hat? Er hat ganz blaß und wie verdattert ausgesehn, und an mir is er vorbei, ohne mir nur adjö zu sagen. Frau Obersten werden ihn doch nicht gezankt haben? Jesus, was kann so'n guter Sohn, so 'ne Seele von einem Menschen pexirt haben, daß die Frau Mutter ihm ein so böses Gesicht macht? Wenn er auch Schulden gemacht hätte, na ja, im Casino soll's flott hergehn, und Frau Obersten haben's ja auch dazu. Nee, ich war ganz wie versteinert, wie er so an mir vorbeigerannt ist. Was is es denn nur gewesen?
Bringe den Thee und dann komm nur wieder herein, wenn ich klingle. Ich habe zu arbeiten und will nicht gestört werden.
Die treue Alte trollte sich mit einem tiefen Seufzer. In den dreiundzwanzig Jahren, seit sie im Hause war, war sie von ihrer Herrin durch ein großes Vertrauen verwöhnt worden, zumal wenn es ihr »Wilhelmchen« betraf. Was war geschehen, daß sie nun mit ihrer Theilnahme so unsanft zurückgewiesen wurde?
*
Sie schlief diese Nacht schlechter als sonst. Die Mutter aber, nachdem sie noch lange aufgesessen und ihren Thee hatte kalt werden lassen, erhob sich endlich mit ganz ruhigem Gemüth und fand denn auch bald den Schlaf.
Sie hatte einen Entschluß gefaßt, der all ihre Sorgen auf Einen Schlag zerstreute, und zweifelte keinen Augenblick, daß es auf diese Art gelingen werde, ihr den Sohn zu erhalten. Daß es ihm einen Schmerz machen würde, sagte sie sich wohl auch. Aber da es zu seinem Besten war, konnte sie's ihm nicht ersparen.
So schlief sie ruhig bis an den Morgen. Als sie sich angekleidet hatte, wobei ihr Niemand helfen durfte, und nach ihrem Frühstück klingelte, erzählte ihr die Regine – immer noch mit einem gekränkten Gesicht –, der Herr Leutnant sei gestern später als sonst nach Hause gekommen, »aus dem Casino«. Die Mutter wußte es besser, wo er den Abend zugebracht hatte. Dann verlangte sie Hut und Mantel zum Ausgehn. Es sei erst Neun! wagte die Dienerin zu bemerken. Die gnädige Frau war, so lange sie denken konnte, nie so früh hinausgekommen. Auch wehe eine scharfe Morgenluft. Bring nur die Sachen! war die trockene Antwort. Dann verließ die schweigsame Frau, fest eingehüllt in einen schwarzseidenen pelzgefütterten Mantel, das Gesicht verschleiert, ihre Wohnung.
Draußen lag eine grelle Morgensonne auf den Dächern und schmolz eilig die dünnen Schneeflocken weg, die von dem Nachtsturm noch zurückgeblieben waren. Die Straßen waren menschenleer, die Kirche fing erst eine Stunde später an, selbst die Kinder, die sonst am Sonntagmorgen auf dem Marktplatz sich tummelten, hielt die rauhe Luft in den Häusern. Hie und da begegnete ihr Jemand, der sie kannte. Die Frau Oberst, obwohl sie sich nur selten in der Stadt blicken ließ, war durch ihre mächtige Gestalt und die vornehme Haltung eine zu auffallende Erscheinung, um die kleinstädtische Neugier nicht zu beschäftigen. Sie schien es heute aber nicht zu bemerken, wenn Jemand den Hut vor ihr zog oder eine Frau ihr ein Compliment machte. Starr vor sich hin blickend, schritt sie über das schlüpfrige Pflaster und trat endlich in einen Laden, der ausnahmsweise noch nicht geschlossen war. Sie kaufte aber nichts, bat nur um das Adreßbuch und entfernte sich, nachdem sie das Gesuchte darin gefunden hatte, mit einem kurzen Gruß und Dank.
Dann ging sie weiter, den Mantel fest um sich ziehend, da sie ein Frösteln verspürte, dessen Ursache nicht bloß in der rauhen Herbstluft lag. Zuweilen warf sie einen spähenden Blick um sich her, ob auch Niemand ihrer näheren Bekanntschaft sie hier gehen sähe. Dann aber kam sie in die äußeren Stadttheile, wo nur kleine Leute wohnten, da wurde sie ruhiger.
Und endlich sah sie das Haus, wie ihr Sohn es beschrieben hatte, im Erdgeschoß der Laden des Klempners, dessen Schaufenster heute geschlossen war, darüber seine Wohnung, zwischen den Doppelfenstern kleine Geranien- und Cactustöpfe, im zweiten Stock drei Fenster, deren Scheiben, wie ihr scharfes Auge sogleich erkannte, seit langem nicht geputzt worden waren.
Eine Magd des Hausherrn, die ihr unten begegnete, wies sie auf die Frage, ob hier Frau Eunicke wohne, die schmale Treppe hinauf, die unter ihrem schweren Tritt knarrte. Auch mußte sie auf dem ersten Absatz einen Augenblick stillhalten, ihr Herzklopfen zu beschwichtigen. Dann stieg sie langsam vollends hinauf.
Es war nicht allzu hell auf dem oberen Treppenflur. Eine kleine dicke Frau stand dort vor der offenen Thür ihrer Wohnung, mit dem Ausbürsten eines Frauenrockes beschäftigt. Als sie die große Gestalt der Frau Hildegard auftauchen sah und die Frage hörte, ob Fräulein Antonie zu Hause sei, ließ sie die Arme sinken, und ein Ausruf des Erstaunens kam von ihren Lippen.
Herr du meine Güte! rief sie, nein, die Ueberraschung! Die gnädige Frau Baronin, die uns die Ehre giebt! Und ich hier in meinem Morgenschlumper, nicht einmal die Haare ordentlich gemacht! Aber wer hätte sich auch träumen lassen – in aller Herrgottsfrühe, noch vor der Kirche – gnädige Frau müssen schon entschuldigen –
Während sie dies hervorsprudelte, hatte die Oberstin Zeit gehabt, sich die Frau anzusehen, die sich unterstehen wollte, die Schwiegermutter ihres Sohnes zu werden. Auch in dem Helldunkel des Flurs konnte man allerdings erkennen, daß dieser kleine Puppenkopf mit den unordentlich aufgesteckten blonden Haaren vor Zeiten jenseits der Lampen wohl eine verführerische Erscheinung gewesen sein mochte, so zierlich war das Näschen über dem Rococo-Mündchen, und so schmachtend blickten noch heute die wasserblauen Aeugelchen. Auch ihre Figur war bei aller Fülle noch zierlich in ihren Bewegungen, und die Stimme klang wie ein etwas eingerosteter Sopran, aber mit allerlei einschmeichelnden Accenten. Gleichwohl wirkte das Ganze so wenig anziehend, daß ein Menschenkenner auch ohne die persönliche Stimmung der Mutter diese Frau richtig taxiert haben würde.
Ich bitte mich zu Fräulein Antonie zu führen, falls sie zu Hause ist! sagte jetzt Frau Hildegard in barschem Ton, ohne davon Notiz zu nehmen, daß sie doch unzweifelhaft die Mutter vor sich hatte. Es ist zwar nicht die gewöhnliche Besuchstunde, aber ein dringendes Geschäft führt mich her.
Eine große Ehre, wie gesagt, fiel die Frau sogleich wieder ein. Ich erlaube mir übrigens mich vorzustellen, Frau Amanda Eunicke, Wittwe des königlichen Opernregisseurs Eunicke und Mutter dieser meiner einzigen Tochter, der die Frau Baronin die Ehre erweisen will –
Ich bin keine Baronin, fiel ihr die Oberstin scharf ins Wort. Sie nannte ihren Namen.
Ist ja nicht nöthig, gnädige Frau sind mir ja längst vom Sehen bekannt, und dann – Ihr Herr Sohn, der Herr Leutnant – aber ich lasse die gnädige Frau immer noch hier draußen stehen – ich bitte tausendmal um Entschuldigung, aber es ist in unserer Wohnung noch nicht zusammengeräumt – wir haben kein Dienstmädchen – und da es gestern Abend so spät geworden ist, bis wir zu Bette kommen konnten – meine Toni ist sonst gewohnt, früh aufzustehen – sie mußte ja schon um acht Uhr im Geschäft sein – bis vor acht Tagen, da hat der Herr Leutnant – (sie besann sich, daß sie vielleicht etwas sagen wollte, was der Mutter noch nicht bekannt war) – nun, wenn die gnädige Frau ein Auge zudrücken wollen – bitte nur hier herein – da rechts ist die Küche, geradeaus unsre gute Stube, und zu beiden Seiten hat Jedes von uns sein Zimmer – klein, aber behaglich – Toni, was sagst du? Das hättest du dir nicht träumen lassen, wer dir hier die Ehre erweisen will –
*
Mit diesen Worten hatte sie die Thür des mittleren Zimmers aufgerissen und war zurückgetreten, dem Besuch den Vortritt zu lassen. Was Frau Hildegard's scharfes Auge drinnen mit dem ersten Blick wahrnahm, sah nicht gerade einladend aus.
Man sah es dem Zimmer an, daß hier die Trümmer eines früher behaglicheren Haushalts zusammengestellt waren, alte Plüschmöbel, verblichene Teppiche, über dem Sopha ein ovaler Spiegel in einem Goldrahmen, der vielfache Beschädigungen aufwies. An der Wand werthlose Kupferstiche und eine Menge Photographieen, auf dem Tisch, dessen bunte Decke ebenfalls fleckig und verschossen war, ein paar Albums und eine Schale mit Visitenkarten. Auf dem Sopha aber, wie eine Schlange in sich zusammengeschmiegt, die schlanken Glieder in einen Schlafrock von zweifelhafter Sauberkeit gehüllt, die reichen schwarzen Haare aufgelös't und die Stirnlöckchen in schwarzen Wickeln, lag das junge Fräulein, das in dieser Verfassung ihrem Ruf, das schönste Mädchen der Stadt zu sein, nicht sonderlich entsprach.
Sie war in einen Leihbibliotheksroman vertieft, den sie mit der linken Hand hielt, während sie mit der rechten aus einer eleganten Schachtel, die neben ihr stand, ein Confect nahm, um es zum Munde zu führen.
Als die Mutter die Thür öffnete und die Oberstin auf der Schwelle erschien, schoß ihr eine dunkle Röthe ins Gesicht. Mit einem bösen Blick und dem heftigen Ausruf: Aber Mama, wie kannst du nur –! fuhr sie blitzschnell in die Höhe, warf ihr Buch hinter das Sopha, und die Confectschachtel ergreifend, schoß sie an der fremden Dame vorbei in das Nebenzimmer. Nur einen Augenblick, gnädige Frau! rief sie zwischen Thür und Angel zurück. Ich bin in einem so gräulichen Zustand, Mama wird Ihnen erklären – gleich bin ich zu Ihren Diensten.
Sie zog die Thüre hinter sich zu. Jetzt erst trat die Oberstin ein.
Das arme Ding! sagte die Mutter. Gnädige Frau müssen nicht denken, daß sie sich immer so gehen läßt! Sie ist sonst die Sauberkeit und Ordnung selbst, immer adrett und à quatre épingles, aber wie gesagt, gestern ist's ein bischen spät geworden, und doch hat sie sich noch die Haare waschen wollen, wie jeden Sonnabend, na, und dann hat sie sich heut morgen verschlafen, und eben erst ist sie aus den Federn gekrochen, und weil's Sonntag ist und sie schon gestern das Buch angefangen hatte – lief nur weiter, Herzchen! sagt' ich, ich bürste dir indessen das Kleid aus, daß du's anziehn kannst, wenn du in die Kirche gehst, denn darauf hält sie, mein gutes, frommes Kind, jetzt noch mehr als früher. Denn, sagt sie, ich muß es jetzt für dich mit thun, Mama, sagt sie. Ich nämlich, müssen gnädige Frau wissen, leide schon seit drei Jahren an der Gicht, und darum, wenn die Kirche mir auch sehr abgeht, ich kann's nicht mehr riskieren, auf dem kalten Steinboden – aber die gnädige Frau stehen noch immer, und ich dumme Person, anstatt zu schwatzen –
Sie schob den Tisch ein wenig vom Sopha weg, ihrem Besuch den Zugang bequemer zu machen. Zugleich schickte sie sich an, ihr den Pelzmantel abzunehmen, aber eine entschiedene Geberde wies sie zurück. Eben wollte sie, mehr und mehr durch Frau Hildegard's schweigsame Haltung aufgeregt, die Frage thun, ob sie der gnädigen Frau nicht mit einer Erfrischung aufwarten könne – sie hatte allerlei parfümierte Liqueure im Vorrath, denen sie selbst nur allzu eifrig zusprach –, als sich die Thür öffnete und die Tochter wieder eintrat.
Es war erstaunlich, wie sie sich in den wenigen Minuten verwandelt hatte. Sie war in ein lichtgraues wollenes Kleid geschlüpft, das die schlanke Fülle ihrer Gestalt eng umschloß. Das reiche dunkelbraune Haar hatte sie in einen schweren Knoten zusammengefaßt und das Kraushaar um ihre weiße Stirn zierlich geordnet. Sie war wirklich sehr reizend, auch die alte Dame, die nicht gut von ihr dachte, mußte sich's gestehn, daß ein unerfahrenes Leutnantsherz an der stillen Glut dieser goldbraunen Augen wohl Feuer fangen konnte, zumal wenn sie, wie jetzt, die Lider schüchtern aufschlug, so daß die schwarzen Wimpern leise zitterten.
Sie war sichtlich bemüht, den Eindruck einer ungezügelten Natur, den ihr erstes Auffahren gegen die eigene Mutter gemacht hatte, zu verwischen.
Ich muß nochmals sehr um Entschuldigung bitten, gnädige Frau, sagte sie mit einer sanften, melodischen Stimme – Mama wird Ihnen erklärt haben – ich bedaure unendlich, daß ich die gnädige Frau habe warten lassen – aber darf ich nicht bitten –
Sie deutete auf das Sopha. Die alte Dame aber setzte sich auf einen der verschossenen Plüschsessel und lüftete ein wenig ihren Mantel oben am Halse. Bitte, setzen Sie sich, mein Fräulein, sagte sie kurz. Was ich Ihnen zu sagen habe, wird allerdings bald geschehen sein – nein, lassen Sie mir den Mantel, es ist nicht gerade warm bei Ihnen –
Ich werde sogleich Feuer machen, wenn die gnädige Frau nur einen Augenblick –
Bemühen Sie sich nicht! Wie gesagt, ich werde Sie nicht lange belästigen. Vorzustellen brauche ich mich wohl nicht. Mein Sohn hat Ihnen wohl von mir gesprochen. Von Ihnen sagte er mir gestern Nachmittag das erste Wort und wird Ihnen dann hinterbracht haben, wie ich diese Mittheilung aufgenommen habe.
Sie machte eine Pause und sah dabei scharf in das Gesicht des Mädchens, das sich, mit dem Rücken gegen das Fenster, ihr gegenübergesetzt hatte, so daß ihre Züge im Schatten waren.
Nach einem kurzen Schweigen, in dem sie ihre Worte zu suchen schien, erwiederte sie leise und beklommen: Wilhelm hat mir allerdings gesagt, daß seine Frau Mutter ihm zürne, weil er ihr nicht früher sein Geständniß gemacht hat.
Den Namen ihres Sohnes mit so gewohnter Vertraulichkeit von diesem fremden Mädchen aussprechen zu hören, gab der Mutter einen Stich ins Herz.
Der Leutnant von Sacken hätte allerdings die Pflicht gehabt, ehe er sich mit Fräulein Eunicke verlobte, die Erlaubniß seiner Mutter einzuholen. Da dies aber einmal versäumt ist, handelt es sich nicht mehr um einen nachträglichen, sehr überflüssigen Unwillen, sondern darum, wie dieser thörichte Streich noch gut zu machen ist. Zu diesem Zwecke bin ich hier und hoffe, Sie, mein Fräulein, werden mir dabei keine Schwierigkeiten machen.
Trotz der Abkehr vom Licht sah die Sprecherin, daß im Gesicht des Mädchens eine dunkle Röthe aufstieg.
Verzeihen Sie, gnädige Frau, sagte sie, den Kopf stolz aufrichtend, ich habe Sie wohl nicht richtig verstanden. Meine Person mag Ihnen so wenig anziehend erscheinen, daß Sie es eine Thorheit nennen, wenn ein junger Mann mich mit anderen Augen ansieht und mich zu seiner Frau zu machen wünscht. Aber wie es auch damit sei, es ist nun einmal eine Thatsache, daß Ihr Herr Sohn diese Thorheit begangen hat, und da ich weiß, daß ich im Stande bin, ihn so glücklich zu machen, wie er es verdient, begreife ich nicht, daß Sie im Ernst daran denken können, was Gott zusammengefügt hat, zu scheiden.
Die Mutter runzelte die Stirn, die Falte zwischen ihren Brauen vertiefte sich drohend.
Ich bitte den Namen Gottes nicht zu mißbrauchen, sagte sie. Einstweilen hat nur jugendlicher Leichtsinn ein Band geschlossen, das mit einigem guten Willen leicht zu lösen ist.
Herr Leutnant von Sacken ist majorenn und hat mir sein Wort verpfändet, das zu halten er ehrenhaft genug sein wird, erwiederte das Mädchen ruhig. Sie bemühen sich also ganz umsonst, gnädige Frau, und es ist mir sehr schmerzlich, daß Sie nicht, wie ich gehofft hatte, gekommen sind, die Braut Ihres Sohnes kennen zu lernen, die Alles gethan haben würde, Ihnen eine gute, liebevolle Tochter zu werden, sondern in der feindseligen Absicht –
Ich bitte – unterbrach sie die Mutter, mich hat durchaus kein Haß gegen Sie hiehergeführt. Ich kann es Ihnen nicht verdenken, daß Sie sich nicht besonnen haben, der Werbung meines Sohnes Gehör zu geben. Er gilt ja – nicht bloß in den vielleicht bestochenen Augen seiner Mutter – für einen liebenswürdigen jungen Menschen, und auch, daß er sich in Sie verliebt hat, rechne ich ihm nicht zur Sünde an. Nur – lieben und heirathen ist zweierlei. Und darum wundre ich mich – denn aus Ihrer Art, sich zu äußern, ersehe ich, daß Sie einen klaren Verstand haben und sehr wohl wissen, was Sie thun – sagen Sie mir aufrichtig, mein Fräulein, da Sie doch auch alt genug sind, die Welt zu kennen – wie alt sind Sie eigentlich?
Seit wenigen Wochen zwanzig.
Nun, so haben Sie doch Zeit und Gelegenheit genug gehabt, zu erfahren, daß es in der Welt nicht immer so hergeht, wie unser Herz sich wünscht. Sie müssen sich doch gesagt haben, daß, wie Ihre Verhältnisse nun einmal sind, keine Aussicht ist, daß mein Sohn die Erlaubniß erlange, sich mit Ihnen zu vermählen, daß er, auch wenn er die Einwilligung seiner Mutter entbehrlich fände, nicht Offizier bleiben kann ohne die Zustimmung seiner Vorgesetzten, die er in diesem Falle nie erlangen wird.
Ein etwas scharfes Lächeln umspielte den Mund des schönen Mädchens.
Gewiß, darüber war ich nicht im Zweifel. So ungerecht ein solches Vorurtheil auch ist, man ist machtlos dagegen. Weil ich in der Wahl meiner guten Mutter nicht vorsichtiger gewesen bin und ganz zufrieden damit war, das Kind einer ehemaligen Choristin und eines Opernregisseurs zu sein, deßhalb werde ich nicht würdig befunden, in den Kreis der Offiziersdamen aufgenommen zu werden. Ich gehöre eben zu den Parias. Und weil ich das wußte, habe ich auch den Herrn Leutnant von Sacken angefleht, jeden Verkehr mit mir einzustellen. Ich fühlte nur zu tief, wie sehr er meiner Ruhe gefährlich war. Erst als er mir erklärte, er habe den militärischen Beruf nur nach dem Willen seines Vaters ergriffen, er werde es als eine Befreiung begrüßen, wenn er den Dienst quittieren und hinfort mit mir auf dem Lande leben könne – erst da gab ich ihm mein Jawort. Hat er Ihnen hiervon nichts gesagt, gnädige Frau?
Die Mutter blieb ihr die Antwort schuldig. Erst nach einigem Besinnen sagte sie:
Und wovon glauben Sie daß er mit Ihnen auf dem Lande leben werde?
Das Mädchen stieß ein kurzes Lachen hervor.
Nun – wovon man eben auf dem Lande lebt: vom Ertrage der Landwirthschaft.
Ein finsterer Blick der Mutter schlug diese heitere Regung nieder.
Sie haben sehr Recht, mein Fräulein, vorausgesetzt, daß man ein Gutsbesitzer ist, oder so viel besitzt, um eine Pacht zu bezahlen. Ich muß Ihnen aber bemerken, daß Beides auf meinen Sohn nicht zutrifft. Wenn er Sie heirathet und damit seine Carrière aufgiebt, befindet er sich vis-à-vis du rien. Ist Ihre Liebe zu ihm so heiß, daß Sie auch mit einer Hütte und seinem Herzen vorlieb nehmen möchten? Denn ich – das erkläre ich Ihnen offen – ich ziehe meine Hand für immer von ihm ab, wenn er diese thörichte Verlobung nicht aufhebt, und da ich noch nicht sechzig bin und mich einer vortrefflichen Gesundheit erfreue, kann es noch zwanzig Jahre dauern, bis mein verlorener Sohn in den Genuß des Pflichttheils von seinem mütterlichen Erbe gelangt.
Es war eine Weile still zwischen der Alten und der Jungen. Im Nebenzimmer hörten sie die Mama hin und her gehen, Schrank und Kommode öffnen, offenbar um eine möglichst vortheilhafte Toilette zu machen.
Gnädige Frau, sagte das Mädchen endlich, es betrübt mich aufrichtig, daß ich Ihnen so sehr antipathisch bin, daß Sie den Gedanken, mich als die Frau Ihres Sohnes zu denken, unerträglich finden. Allerdings hoffe ich immer noch, Ihren Widerwillen mit der Zeit zu überwinden. Aber wenn ich auch nicht so glücklich sein sollte, – Ihr Sohn liebt mich nun einmal und hat mir sein Wort gegeben, nicht von mir zu lassen, und da auch ich ihn liebe, sehe ich nicht ein, wie elende äußere Rücksichten –
Frau Hildegard stand auf. Wenn es wahr ist, daß Sie ihn lieben, so beweisen Sie es jetzt. Ich kenne meinen Sohn und weiß, daß er vielerlei Interessen hat, dazu ein lebhaftes Freundschaftsbedürfniß. Auf all das müßte er verzichten, wenn er aus seinem bisherigen Kreise herausträte und in einer subalternen Stellung ein kärgliches Brod suchte. Er ist verwöhnt durch eine Erziehung, wie ich sie ihm bei meinen reichen Mitteln gewähren konnte. Mehr noch als für sich selbst wird ihm die Enge eines kümmerlichen Lebenszuschnitts für Diejenige peinlich sein, der er die Hände unter die Füße legen möchte. Soll er es ertragen, daß seine Frau wieder Handschuhe verkauft, um zu den Kosten des Haushalts etwas beizutragen, während er im Tagelohn als Schreiber bei einem Advocaten arbeitet? Er wird unglücklich werden und Sie unglücklich machen. Wenn es also mehr als eine Redensart ist, daß Sie ihn lieben und nur sein Glück wollen –
Sie vergessen, gnädige Frau, daß er ein Mann von Ehre ist. Keine Zukunftssorge wird ihn dahin bringen, mir sein Wort zu brechen.
Gewiß. Aber wenn Sie selbst ihn nun dieses Wortes entbinden wollten –?
Sie muthen mir zu –
Mein liebes Fräulein, ich kenne Sie noch wenig, so viel aber glaube ich zu wissen, daß Sie von Beiden die Verständigere, vielleicht auch die Kühlere sind. Sie müssen daher nachgeben, zu seinem Besten. Ich will Ihnen glauben, daß es Ihnen ein großer Schmerz sein wird – aber Sie müssen ihn auf sich nehmen. Freilich – wenn Sie hier am Ort bleiben, kann ich nicht hoffen, daß die Geschichte zu einem raschen Ende kommt. Darum müssen Sie mit Ihrer Mama die Stadt verlassen, und Niemand darf erfahren, wohin Sie sich wenden. Wenn er dann Ihren Abschiedsbrief erhält, in dem Sie ihm sein Wort zurückgeben – nun ja, er wird außer sich gerathen, toben und wüthen, und ich werde eine Weile seine Liebe vermissen. Das Alles heilt aber die Zeit. Auch bei Ihnen. Sie werden einen Andern finden, bei Ihrem Aeußeren kann es daran nicht fehlen, und was ich dazu beitragen kann – so viel ich weiß, sind Sie ohne Vermögen, und selbst ein so schönes Mädchen wie Sie – die Männer sind alle geldsüchtig und müssen's vielleicht auch sein, um eine Familie gründen zu können. Ich habe darum beschlossen, Ihnen eine Summe mit auf den Weg zu geben, die Ihnen zur Mitgift dienen könnte, ich dachte so an dreißigtausend, oder wenn Ihnen das zu wenig scheint – Sie werden ja auch vom Umzug Kosten haben – warum regt Sie mein Anerbieten so heftig auf? Ich versichere Sie –
Das Fräulein war aufgestanden. Den Kopf stolz in den Nacken werfend, sah sie der alten Dame mit einem seltsam kalten, herausfordernden Blick grade ins Gesicht. Jede Spur der früheren Unterwürfigkeit war verschwunden.
Ich sehe aus Ihrem Anerbieten, gnädige Frau, wie sehr Sie mich geringschätzen. Ich würde mir selbst so verächtlich vorkommen, wie Ihnen, wenn ich mir meine Liebe abkaufen ließe. Sie werden mich entschuldigen, wenn ich es unter meiner Würde halte, hiernach unsere Unterhaltung fortzusetzen. Ich habe die Ehre –
Sie verneigte sich mit einer vornehmen Geberde wie eine beleidigte Prinzessin und ging rasch nach der Thür ihres Zimmers.
In diesem Augenblick trat ihre Mutter aus dem ihrigen herein. Sie hatte, so gut sie es vermochte, sich in Staat geworfen, offenbar in der Meinung, in der gnädigen Frau Oberstin jetzt die künftige Schwiegermutter ihrer Tochter begrüßen zu können. Sie trug ein Kleid aus schwarzem Moirée, das vor zwanzig Jahren ihr Festkleid gewesen war, darüber eine altmodische goldene Kette, den blonden Kopf mit vielen Löckchen frisiert, auf den Wangen zwei naive Grübchen, da sie ihr zierlichstes Lächeln für den großen Moment in Bereitschaft hielt. Aber der kleine süßliche Mund verzog sich zu einer erstaunten Grimasse, als sie ihre Tochter mit gerunzelter Stirn in ihr Zimmer eilen und die Thür lebhaft hinter sich zuschlagen sah.
Aber Kind, rief sie, was fällt dir ein? Was ist denn geschehen? Können Sie mir erklären, gnädige Frau –
Was ich zu sagen hatte, habe ich dem Fräulein bereits gesagt, schnitt ihr die alte Dame das Wort ab. Lassen Sie sich's von Ihrer Tochter berichten; vielleicht fällt Ihre Antwort anders aus, worüber ich dann eine Mittheilung erwarte. Adieu!
Sie wandte sich mit einem kurzen Nicken ab und ging, ihren Mantel wieder fest um sich ziehend, aus der Thür.
*
Erst als sie sich draußen auf der Treppe allein sah, blieb sie tief aufathmend stehen. Ein unsäglich bitteres Gefühl völliger Hoffnungslosigkeit überkam sie. Sie hatte so fest auf das Gelingen ihres Plans gerechnet. Sollte sie das Mädchen, das sich ihres Sohnes bemächtigt hatte, doch unterschätzt haben? Oder war's nur eine geschickte Komödiantin, die ihr Spiel erst recht zu gewinnen hoffte, wenn sie sich nur auf das Recht des Herzens steifte und jeden eigennützigen Gedanken mit Entrüstung von sich wies?
Wie dem auch sein mochte, für jetzt war die Andere die Siegerin geblieben.
In einer dumpfen Betäubung, als ob nun nichts mehr zu retten wäre, schritt die unglückliche Mutter endlich die Treppe hinab und trat aus dem Hause. Der Himmel hatte sich inzwischen getrübt, es fielen schon wieder einzelne leichte Flocken, und ein grauer Nebel schwebte um die Dächer der kleinen Vorstadthäuser. Frau Hildegard aber achtete auf Nichts, was um sie her vorging. Sie zog nicht einmal den Schleier über ihr Gesicht, sondern stapfte mit ihren schweren Schritten, düster vor sich hin starrend, die Straße entlang. Auch als hinter ihr ein Hufschlag über das unebene Pflaster heranklapperte, hörte sie es kaum. Bis der Reiter dicht neben ihr anhielt und sein Ruf: Guten Morgen, gnädige Frau! sie aus ihrem Brüten aufschreckte.
Sie sind es, Wimpffen? sagte sie aufblickend. Wo kommen Sie her?
Ich? Nun, trotz des lieblichen Schmutzwetters habe ich etwas Luft schöpfen und meinem Gaul ein wenig Bewegung machen wollen. Aber Sie, meine Gnädigste – die bekannten ältesten Leute werden sich nicht entsinnen, Ihnen zu so früher Stunde auf der Straße begegnet zu sein, und noch dazu – aus diesem Hause kommend!
Die Frau war stehen geblieben. Aus diesem Hause? wiederholte sie. Was wissen Sie von diesem Hause, daß es Ihnen wunderbar erscheint, wenn ich darin etwas zu thun hatte?
Der junge Offizier schien einen Augenblick verlegen, was er antworten sollte. Er war nicht gerade ein schöner Mensch, aber die muntere, verwegene Miene in dem hageren Gesicht und das fröhliche Blitzen der kleinen grauen Augen machten doch einen gewinnenden Eindruck. Ein langer blonder Schnauzbart hing ihm über die dünnen Lippen herab, hinter denen sehr weiße, kräftige Zähne schimmerten.
Verzeihen Sie, gnädige Frau, sagte er mit etwas gezwungenem Lachen, ich bin nicht von der Polizei und würde mir nicht gestatten, an Ihren Spaziergängen irgend welche Kritik zu üben. Wenn ich nicht wüßte, daß Sie in der Wahl Ihres Umgangs sehr exclusiv sind, so daß Sie zu Frau Amanda Eunicke niemals nähere Beziehungen anknüpfen könnten – na, und ihr Fräulein Tochter – aber freilich, da sie seit einer Woche nicht mehr im Laden zu finden ist, hat vielleicht eine Handschuhbestellung – aber ich bitte nochmals zerknirscht um Verzeihung, daß ich mir auch nur zu muthmaßen gestatte – wie geht es Freund Wilhelm, gnädige Frau? Er hat sich seit einiger Zeit rar gemacht und fehlte auch gestern Abend beim Kriegsspiel im Casino.
Die Oberstin sah nachdenklich vor sich hin und antwortete nicht sogleich. Dieser muntere Freund erschien ihr wie ein Bote des Himmels, sie aus ihrer rathlosen Niedergeschlagenheit zu erlösen. So eingeweiht zeigte er sich in die Verhältnisse »dieses Hauses« – wenn noch eine Hoffnung war, ihren Sohn aus den Händen der verführerischen Sirene zu befreien, so war er der rechte Mann dazu.
Sie wußte, daß er ein leichtsinniges Leben führte, wegen ruchbar gewordener Weibergeschichten in streng denkenden Familien keinen Zutritt hatte. Zum Mentor ihres tugendhaften Sohnes aber hatte sie ihn gerade darum gewählt, da Einer, der die Abgründe kannte, einen unerfahrenen jungen Menschen sicherer behüten konnte. Sie hatte ihn schon in Berlin und dann, da sie ihn in der kleinen Garnison wiederfand, in einem feierlichen Gespräch verpflichtet, ihren einzigen Jungen vor den Gefahren und Fallstricken der Jugend zu bewahren. Das hatte er mit einem eigentümlich ironischen Lächeln angehört, dann aber der besorgten Mutter sein heiliges Versprechen gegeben, nach ihrem Wunsch zu handeln. Es wird keine schwere Arbeit sein, hatte er lächelnd hinzugefügt. Sie wissen wohl nicht, gnädige Frau, daß wir diesen Musterknaben schon auf der Kadettenschule wegen seiner jüngferlichen Haltung gehänselt haben. Wir nannten ihn die »Nonne«. Ich aber, obwohl ich zum Klosterbruder kein Talent habe, war von Anfang an in diese Nonne verliebt, und da ich weiß, daß er mir seine Freundschaft entziehen würde, wenn er ahnte, daß ich nicht frei bin von allerlei Menschlichkeiten, habe ich mich wohl gehütet, mit meinen wilden Streichen vor ihm zu renommieren.
An dies Alles dachte die Frau, als sie jetzt zu dem flotten Kameraden ihres frommen Sohnes aufblickte. Sofort reifte in ihr ein neuer Entschluß.
Lieber Wimpffen, sagte sie, wenn es Ihnen möglich wäre, mich heute Nachmittag auf eine halbe Stunde zu besuchen – ich möchte Ihren Rath, Ihre Hülfe erbitten in einer Sache, die mich sehr nahe angeht, weil es sich um die Zukunft unseres Wilhelm handelt. Sie sagen ihm natürlich Nichts davon. Und wenn Sie heute verhindert sein sollten –
Aber durchaus nicht, gnädige Frau. Es wird mir ein besonderes Vergnügen machen – zumal wenn ich dabei erfahre, was den wunderlichen Jungen angewandelt hat. Meine Ehre als Schutzengel ist dabei engagiert, da ich seit einigen Wochen ihn nur noch im Dienst zu sehen bekommen habe, und auch da ließ er von seiner alten Vertraulichkeit Nichts bemerken. Ich werde also, wenn es Ihnen recht ist, so gegen Vier anzutreten die Ehre haben. Jetzt müssen Sie mich entschuldigen, gnädige Frau, wenn ich Sie nicht weiter begleiten kann. Ich muß mich sputen, um zur Kirchenparade noch rechtzeitig einzutreffen.
Er legte, sich leicht verneigend, die Hand an die Mütze und setzte seine braune Fuchsstute in Trab. Die Frau sah ihm mit einem ruhigeren Gesichte nach und schritt langsam weiter. Nun traf sie auch schon Leute, die auf dem Kirchgang begriffen waren. Aber ihre Stimmung war nicht danach, jetzt eine Predigt über einen beliebigen Text anzuhören, wenn es nicht die Parabel vom verlorenen Sohn war, dessen Rettung in einem beständigen Streit von Furcht und Hoffnung allein ihr Herz erfüllte.
*
Als sie nach Hause kam, hörte sie von der Regine, der Herr Leutnant sei bald nach ihr ebenfalls ausgegangen und bis jetzt noch nicht zurückgekehrt. Er war sonst gewohnt, das Haus nicht zu verlassen, ohne die Mutter zu begrüßen, außer wenn ihn der Dienst in gar zu früher Stunde nach der Kaserne rief.
Am Sonntag pflegte er regelmäßig mit ihr zusammen zu frühstücken. Das hatte er heute unterlassen, worüber seine alte Wärterin sich schwere Gedanken machte. Der Mutter schien es nicht aufgefallen zu sein. Das steigerte nur noch die ängstliche Sorge der getreuen Seele, ihr Wilhelmchen müsse es arg mit der gestrengen Mama verschüttet haben.
Als er sich aber zur Essensstunde mit ganz heiterem Gesicht einfand und auch die Mutter ihn in gewohnter ernster Freundlichkeit begrüßte, schien ja das Gewitter vorübergezogen zu sein, ohne Schaden gestiftet zu haben. Mutter und Sohn, obwohl Beide zerstreut an einander vorbeiblickten, unterhielten sich über allerhand gleichgültige Dinge. Der weniger Beklommene war offenbar der Sohn. Und das aus gutem Grunde.
Er war am Morgen, als die Mutter ihren frühen Ausgang machte, ihr in gemessener Entfernung gefolgt, um das Ziel, dem sie zustrebte, zu erkunden. Nachdem sie dann das Haus seiner Verlobten verlassen hatte, war er selbst hinaufgestürmt, um zu erfahren, wie dies erste verhängnißvolle Begegnen von Statten gegangen sei.
Das schöne Mädchen trug noch ganz die sittliche Entrüstung zur Schau, in der sie das entwürdigende Anerbieten zurückgewiesen hatte. Die Mutter schien sehr anders darüber zu denken. Sie sah eine Menge Widerwärtigkeiten voraus, wenn die Heirath zu Stande kam, und der Gedanke, durch ein schönes rundes Kapital sich all diese Scherereien abkaufen zu lassen, leuchtete ihrer praktischen Denkart natürlich ein. Ihre Tochter freilich hatte sich bei der ersten Andeutung in diesem Sinne so empört ausgesprochen, daß sie nun mäuschenstill schwieg, als der Herr Bräutigam das geliebte Mädchen leidenschaftlich an seine Brust zog und ihr tausend holde Dinge sagte, weil sie seiner Mutter mit dem ganzen Stolz ihrer liebenden Seele begegnet war. Aufs Neue versicherte er, Nichts in der Welt werde im Stande sein, ihn in seinem Entschlusse wankend zu machen, zumal auch diese neueste Erfahrung ihn überzeugt habe, welch ein hochherziges Weib er in ihr besitzen und wie leicht er an ihrer Seite, wenn die Mutter nicht umzustimmen wäre, ein Leben voll Arbeit und Entbehrung ertragen würde.
Von diesem Besuch indessen nahm er die Hoffnung mit hinweg, daß die Mutter nun auch von dem Charakter seiner Geliebten die beste Meinung gewonnen habe, wie denn auch ihr sonstiges Betragen und ihre vornehme Schönheit ihr habe beweisen müssen, daß von einer Mefalliance hier nicht die Rede sei, auch wenn die Welt und das Offiziercorps sie dafür ansähen.
So hütete er sich wohl, die günstigere Stimmung, die sich offenbar vorbereitete, durch voreilige Fragen oder neue Bitten zu stören, zündete sich, nachdem er die Mutter zur gesegneten Mahlzeit auf die Stirne geküßt, seine beste Cigarre an und ging fröhlichen Muths auf sein Zimmer.
Die Mutter saß noch eine Weile am Tisch, tief traurig, da sie an der heiteren Miene ihres Sohnes erkannte, wie fest er überzeugt war, Alles werde sich noch seinen Wünschen fügen. Es war der erste Schmerz, den sie ihrem Liebling machen mußte. Würde er je einsehn, daß es zu seinem Besten gewesen? – –
Als dann pünktlich zur bestimmten Stunde Wimpffen erschien, fand er Frau Hildegard in ihrem Zimmer auf- und abgehend, während der Kaffeetisch von der Regine eben gedeckt worden war. Die hohe alte Dame streckte dem jungen Offizier beide Hände entgegen.
Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind. Sie sind der Einzige, zu dem ich meine Zuflucht nehmen kann. Aber erst setzen Sie sich und nehmen eine Tasse Kaffee.
Sie setzte sich zu ihm und schenkte ihm ein und belud seinen Teller mit großen Stücken von dem Kuchen, den er, wie sie wußte, gern aß. Wollen Sie nicht auch rauchen? sagte sie dann. Sie haben doch wohl Ihre Cigarretten bei sich. Genieren Sie sich nicht.
Er verleugnete sein Cigarrettenetui, heimlich sehr verwundert, daß sie ihn zum Rauchen aufforderte. So viel Freiheiten sie ihrem Sohn und dessen Freunden einräumte, aus ihrem Zimmer war die Cigarre verbannt.
Sie stand dann wieder auf, und eine fieberhafte Unruhe trieb sie umher. Lieber Hans, sagte sie endlich, ich darf Sie wohl so nennen, Sie sind mir ja wie mein älterer Sohn, da Sie so treu an meinem jüngeren hängen. Nun seh' ich es als eine Art Bruderpflicht an, daß Sie mir ihn retten helfen. Er ist jenem Mädchen ins Netz gegangen, von dem Sie mich heute Morgen herauskommen sahen. Sie selbst scheinen Nichts von dieser unglückseligen Liaison geahnt zu haben, und ich vollends – ich fiel aus den Wolken, als er mir gestern Abend das erste Wort davon sagte, und daß er fest entschlossen sei, sie zu heirathen. Sie sehen mich erschrocken an. Auch Ihnen wird es auf den ersten Blick klar sein, daß das unmöglich ist. Diese Mutter mit dieser Vergangenheit, diese Tochter, die er sich aus einem Handschuhladen holen will, auch wenn man ihr nichts Bestimmtes nachsagen könnte, jedenfalls hat sie seit langer Zeit zur Schau gestanden – es ist undenkbar, daß das Offiziercorps zu dieser Heirath seine Zustimmung giebt. Oder sind Sie anderer Meinung?
Er sah ernst vor sich hin und kaute an einer Spitze seines blonden Schnurrbarts.
Ich bin über Ihre Mittheilung so bestürzt, liebe Frau Mama, Sie selbst können es nicht viel schwerer nehmen. Wenn er wirklich die Tollheit begeht, natürlich muß er seinen Abschied nehmen, und dann – was sollte dann – Nein, nein, es ist ja auch sonst ganz unmöglich!
Ich wußte, daß Sie mir beistimmen würden, fuhr die Mutter fort. Sie haben Recht, »auch sonst« ist es unmöglich. Er hat sich ausgedacht, auf meinem Gut mit ihr zu leben. Natürlich würde die Mutter sich von ihrer Tochter nicht trennen wollen. Können Sie sich denken, daß ich es nur drei Tage in dieser Gesellschaft aushalten würde? Nicht wegen der Vergangenheit, aber eine solche Frau, so ungebildet, kriechend höflich, wie eine alte Gelegenheitsmacherin – sie mag ja gutherzig sein, das sind sie Alle! Und wenn auch die Tochter mehr vom Vater haben mag, gewisse fürstliche Allüren wenigstens im Aeußeren – immerhin ist sie das Kind dieser Frau, die als Schwiegermutter meines Wilhelm zu sehen mich geradezu zum Wahnsinn bringen würde.
Sie ging wieder ein paarmal durchs Zimmer und blieb dann am Tische stehn, den Blick zu dem Bilde ihres Mannes über dem Sopha erhoben.
Glauben Sie mir, lieber Hans, ich habe schwer mit mir gerungen, mich ernstlich geprüft, ob ich nicht etwa egoistisch genug wäre, meinen Wunsch und Willen auf Kosten seines Glücks durchsetzen zu wollen. Aber Gott ist mein Zeuge, meine eigne tiefe Abneigung gegen diese Frauen würde ich standhaft unterdrücken, wenn ich glauben könnte, das Mädchen wäre die rechte Frau für ihn. Ich würde ihm das Gut überlassen und hier in der Stille mein Leben fortführen und nur zu ihm gehen, wenn es etwas zu taufen gäbe. Von der trostlosen Oede und dem Kummer meines Lebens sollte kein Wort über meine Lippen kommen. Aber eine innere Stimme, die mich nie betrogen hat, warnte mich, als ich bei diesem Mädchen war, gegen ihre verführerischen Künste auf der Hut zu sein. Nicht bloß, daß ich sie, da sie auf meinen Besuch nicht gefaßt war, in einer sehr nachlässigen Toilette traf, ein schmutziges Leihbibliotheksbuch lesend und Süßigkeiten naschend, die ihr wohl der »Bräutigam« geschenkt hatte; da gab sie sich wenigstens wie sie war. Hernach aber spielte sie eine Rolle, sehr talentvoll, muß ich ihr zugeben, und auch ihr »Abgang« war effectvoll. Sie verließ das Zimmer, als ich ihr in der delicatesten Form, nur damit sie eine Mitgift hätte, eine ansehnliche Summe geboten hatte, wenn sie ihrem Verlobten sein Wort zurückgäbe und mit ihrer Mutter in eine andere Stadt übersiedelte. Wenn sie nicht darauf einginge, hätte mein Sohn nicht das Geringste von mir zu erwarten. Ich gestehe, einen Augenblick machte es selbst auf mich Eindruck, daß sie so empört abbrach. Wenn es ihr mit ihrer Liebe wirklich so ernst ist, daß sie selbst die Armuth an seiner Seite einem Kapital ohne ihn vorzieht –
Meine gnädige Frau Mutter, unterbrach er sie, indem er sich aus dem bequemen Sessel langsam erhob, lassen Sie um Gotteswillen Ihre innere Stimme durch Nichts zum Schweigen bringen, am wenigsten durch eine Theaterphrase von dem Glück der Armuth an der Seite eines Leutnants a. D. Ich will dem Fräulein wahrhaftig nichts Uebles nachsagen, ich kenne sie ja auch nur oberflächlich, doch immerhin genug, um zu wissen, was in ihrem schönen Köpschen vorging, als Sie ihr jenes Anerbieten machten. Sie weiß ohne Zweifel, daß Sie Ihren Wilhelm vergöttern, was Ihnen ja auch von ihm reichlich vergolten wird. Nun, daß eine so zärtliche Mutter mit der Enterbung es nicht ernst meinen könne, nur so einen Schreckschuß damit abfeuern möchte, das sagte sich dies kluge Mädchen sofort, und wenn sie eine noch so große Summe jetzt gleich ausschlägt, ist sie sicher, über kurz oder lang mit ihrem Liebsten das Ganze zu erhalten. Diese ideale Komödie also darf uns nicht täuschen. Und selbst, wenn Fräulein Toni ein weißer Rabe wäre, ein Engel an Uneigennützigkeit – nein, für die Frau unseres Wilhelm ist sie mir tausendmal nicht gut genug. O, meine theure Frau Mama, ich kann Ihnen die Bemerkung nicht ersparen, daß es besser gewesen wäre, Sie hätten Ihre »Nonne« nicht in ihren klösterlichen Neigungen bestärkt. Es ist ja wahr, wir »Wilde« sind nicht bessere Menschen, aber klügere. In ein solches Netz lassen wir uns nicht hineinlocken – was zum Teufel! Gleich heirathen! Seine ganze Zukunft einem solchen hübschen Ding vor die Füße legen! Nein, gnädigste Frau Mama, da muß ein Riegel vorgeschoben werden – es koste was es wolle!
O mein theurer Freund, rief die Mutter und legte ihm beide Hände auf die Schultern, Sie geben mir das Leben wieder. Glauben Sie mir, ich wäre daran zu Grunde gegangen, mein alter Kopf hätte es nicht ausgehalten, noch weniger mein altes Herz, das es nicht fassen kann, dies mein einziges Kind in sein Verderben rennen zu sehn. Wenn Sie das verhüten können – aber wie denken Sie sich das? – bei seiner eigensinnigen Verliebtheit, seinem unerschütterlichen Ehrgefühl –? Wenn Sie glauben, mit seinen Sohnespflichten Eindruck auf ihn zu machen –
Fragen Sie mich nicht weiter, verehrte Frau, erwiederte der junge Mann mit einem sehr ernsten Gesicht. Ich würde auch bitten, späterhin nicht zu forschen, wie es mir gelungen sei, ihn von dieser Tollheit zu kurieren. Militärische Geheimnisse, wissen Sie, Dienstsachen – kurz, es muß unter uns Pfarrerstöchtern bleiben. Aber daß ich Ihnen den Knaben aus der Schlinge ziehe, darauf dürfen Sie sich verlassen. Ist er jetzt zu Hause?
Ich habe ihn nicht fortgehen hören. Seinen Besuch bei dem Fräulein wird er wohl erst Abends machen. Ein empörender Gedanke, ein Sacken, der Sohn des Ehrenmannes dort an der Wand, muß die Dunkelheit abwarten, um sich zu seiner Braut zu schleichen!
*
Als Wimpffen bei dem Freunde eintrat, dessen Zimmer nach hinten hinaus lagen, mit einem Blick über kleine Höfe und Gärten, ruhte Wilhelm, in Träume seines Liebesglücks versunken, auf dem Sopha und sprang auf, indem plötzlich ein Schatten über sein Gesicht fiel.
Guten Tag, Hans, sagte er. Du warst bei meiner Mutter, Regine hat es mir gesagt – sie hält natürlich zu mir, und obwohl sie sonst für dich geschwärmt hat – wenn du dich in eine Verschwörung mit meiner Mama gegen mich einlässest –
Darüber bin ich ganz ruhig, versetzte Wimpffen lachend. Wenn sie wüßte, weßhalb wir uns verschwören mußten – wie ich die gute alte Seele kenne, nähme sie in diesem Falle Partei gegen ihr Wilhelmchen. Aber gieb mir Feuer. Ich verständige mich rascher mit dir, wenn ich meine Cigarrette rauche.
Lieber Hans, sagte der Andere mit einem bitteren Lächeln, ich glaube den Inhalt deiner diplomatischen Mission genau zu kennen und möchte dir die Mühe ersparen, deinen Athem an eine Sache zu verschwenden, die unabänderlich feststeht. Ich weiß Alles, was sich dagegen sagen läßt, daß ich dies Mädchen heirathe. Aber eh ich ihr mein Wort breche, muß Elsaß-Lothringen wieder französisch werden oder der Rhein von Köln nach Frankfurt bergan fließen.
Wimpffen dampfte eine Weile stumm. Er hatte sich rittlings auf den Stuhl gesetzt, der vor dem Schreibtisch stand. Jetzt nahm er eine Cabinetsphotographie in die Hand, die in einem blanken Rähmchen neben der Mappe stand, betrachtete sie eine Weile und sagte dann:
Hm! hm! Schade, schade! Ein so reizendes Mädel. Weiß Gott, ich gönnte dem guten Kinde alles Gute. Warum hat sie sich nur gerade in den Kopf gesetzt, Frau von Sacken zu werden?
Als ob sie dieser hohen Ehre nicht würdiger wäre, als manches geborene und sogar hochgeborene Gänschen! sagte der Andere. Oder wagst du etwa zu behaupten, daß auf ihrem Ruf – sprich dich ganz offen aus. Ich muß dir aber von vornherein bemerken: mit bloßem Klatsch darfst du mir nicht kommen. Den veracht' ich! Der hängt sich an die Unschuldigsten, wenn sie durch ihre sonstigen Eigenschaften den Neid herausfordern. Uebrigens – so vorsichtig bin ich doch auch gewesen trotz meiner »blinden Liebe«, daß ich herumgehorcht habe, ob man irgend etwas Nachtheiliges gegen Toni aufbringen könne. Nichts, als allenfalls, daß sie kokett und vergnügungssüchtig sei. Teufel auch! mit solchen Augen herumzugehen, ohne für eitel verschrieen zu werden, – das bringe mal Eine zu Stande. Und daß sie im vorigen Winter auf ein paar Bälle gegangen ist – oder hast du etwas erfahren, was sie der Liebe eines Ehrenmannes unwürdig machte?
Behüte, mein Sohn! Warum soll ein Ehrenmann ein Mädel, dessen Ruf fleckenlos ist, nicht seiner Liebe werth halten? Auch mir ist kein Gerücht zu Ohren gekommen, das für einen jungen Mann, der den Rock Sr. Majestät des Königs trägt, eine Liaison mit dieser schönen Hexe ehrenrührig machte. Aber heirathen, theures Kind, gleich heirathen, den Dienst darum quittieren, seine zärtliche Mutter tödtlich betrüben – eh man das thut, sieht man sich doch das Vorleben seiner zukünftigen Frau Gemahlin ein bischen genauer an!
Ihr Vorleben? lachte Wilhelm auf. Das Vorleben eines fünfzehnjährigen Kindes? Denn seitdem hat sie ja Berlin verlassen und hier gelebt, wo man ihr nichts Schlimmeres nachsagen konnte, als daß sie Handschuhe verkaufte, um sich nicht von ihrer Mutter, die in so bescheidenen Verhältnissen lebte, füttern zu lassen. Oder weißt du aus ihrer Berliner Zeit irgend etwas von ihr, das gravierender wäre, als etwa eine Backfisch-Schwärmerei für ihren Klavierlehrer?
Wimpffen warf die Cigarrette weg, die ihm ausgegangen war. Er saß eine Zeitlang, ernst vor sich hin blickend. Was er sagen sollte, wollte ihm schwer über die Zunge.
Lieber Sohn, sagte er endlich, bist du überzeugt, daß ich dein wahrer Freund bin? Daß ich's gut mit dir meine?
Ich habe nie daran gezweifelt, seit du damals Massow eine Lection gegeben hast um meinetwillen.
Nun denn – thu mir den Gefallen, jetzt nicht weiter zu fragen, sondern einfach zu glauben, daß ich einen guten Grund habe, wenn ich sage, es ist unmöglich für dich, dies Mädchen zu heirathen.
Wilhelm trat dicht vor ihn hin. Du wirst begreifen, Hans, sagte er mit bebender Stimme, daß mir in diesem Falle das Wort eines Freundes nicht genügt, da ich ihr mein Wort gegeben habe. Du mußt schon die Güte haben, dich näher zu erklären.
Wimpffen schwieg und kaute an seinem Schnurrbart. Vous l'avez voulu, Georges Dandin! brummte er endlich. Es thut mir leid, daß du mich dazu zwingst, auch in meinem Interesse. Wenn du es nicht wärst – kein Mensch auf der Welt hätte es von mir zu hören bekommen. Das hatte ich mir gelobt. Dergleichen behält man für sich, wenn man ein honetter Mensch ist. Aber da ich weiß, daß auch du es nicht weiter herumbringen wirst –
Nun also: es war in dem Winter, ehe du herkamst. Die Väter und Mütter der Stadt hatten uns zu dem Bürgerball eingeladen, im Saal der Ressource – ein mäßiges Vergnügen, kannst du denken. Denn obwohl du in deiner Eigenschaft als »Nonne« dich um die Provinzschönen so wenig bekümmert hast, wie um die eleganten Berlinerinnen, – daß die Flora der hiesigen Honoratiorentöchter wenig Reize hat, wirst du nicht bestreiten. Indessen, man nahm vorlieb. Was unsern Tänzerinnen an Grazie und Chic gebrach, ersetzten sie durch das unblasierte Vergnügen, das unsere Liebenswürdigkeit ihnen machte, und Einige auch durch einen gesunden Mutterwitz. So ging der Abend ganz munter hin, und hernach beim Souper – drei Mark das trockene Couvert, das wir als Gäste nicht zu bezahlen hatten – brachte Haugwitz, unser Tischredner, unter großem Beifall den Dank für den angenehmen Abend aus und knüpfte daran die Einladung zu einer Schlittenpartie am nächsten Sonntag, die mit einem Tänzchen im Schützenhaus beschlossen werden sollte. Als einige besorgte Mütter – da nur die Töchter dabei sein sollten – bedenkliche Mienen machten, erklärte der Redner mit großem Nachdruck, er verpfände im Namen des gesammten Offiziercorps sein Ehrenwort, daß die Grenzen der Sitte und des Anstandes streng eingehalten werden sollten, wofür auch die anerkannt moralische Haltung des Regiments Bürgschaft leiste.
Ohne Beleidigung war die Einladung nicht abzulehnen, wenn auch die Brüder und Vettern der jungen Damen böse Miene zum guten Spiel machten. Die Mädel waren um so dankbarer, und auch die Herren Mütter rechneten wohl im Stillen darauf, im Schützenhause würde sich auch der bekannte kleine blinde Schütz einfinden und Einen oder den Andern von uns unheilbar ins schwarze Herz treffen.
Ich hatte zur Tischnachbarin keine Geringere als – Fräulein Toni Eunicke. Sie »gehörte« zwar eigentlich nicht »dazu«, aber einige ihrer Verehrer vom Civil, zumal ein Assessor vom Kreisgericht, hatten darauf bestanden, daß sie zu dem Bürgerball eingeladen werden mußte. Ohne die »unmögliche« Mama natürlich.
Daß ich bis über die Ohren in sie verschossen war, wirst du mir nicht weiter übelnehmen. Sie aber, obwohl sie viel über meine Scherze lachte und auch sonst zeigte, daß ich ihr nicht zuwider war, benahm sich sehr reserviert, ja ein wenig herablassend, wie es einem Kinde der Liebe aus halbfürstlichem Blut einem bürgerlichen Leutnant gegenüber zukam. Das arme Ding! Es kam so selten aus seiner Dunkelheit hervor. Und doch überstrahlte das Licht ihrer Schönheit, das sie sonst unter den Scheffel stellen mußte, all die besser situierten Philistertöchter im ganzen Saal.
Natürlich beeilte ich mich, sie zu meiner Schlittendame zu werben, und sie nahm die Einladung mit so unverhohlener Freude und Dankbarkeit an, daß ich ordentlich gerührt wurde. Ich versprach mir ein riesiges Vergnügen davon, so viele Stunden den Ritter dieses reizenden Geschöpfs machen zu dürfen, und mein Wort darauf, lieber Sohn, nicht von fern dachte ich diese Vertraulichkeit zu mißbrauchen. Auch ich nahm es mit dem Gelübde, das Haugwitz in unser aller Namen abgelegt hatte, völlig ernst.
Na, die Geschichte verlief denn nun auch in schönster Ordnung. Famose Bahn, die elegantesten Schlitten und besten Gäule, die aufzutreiben waren, brillantes, ganz windstilles Wetter, nur Ein Grad unter Null, erst eine weite Rundfahrt der zwölf oder vierzehn Schlitten durch den verschneiten Gemeindewald und dann Ankunft im Schützenhause, wo für Decoration des Saals, Musik und eine opulente Tafel bestens gesorgt war. Man tanzte bis zur Besinnungslosigkeit, schnitt die Cour, riß die blödsinnigsten Witze, über die unsre unverwöhnten Mädel sich vor Lachen ausschütteten, und bei Tische wurde die Stimmung dank der eminenten Sectbowle dermaßen belebt, daß unser Festordner Haugwitz, seiner Bürgschaft eingedenk, da er sah, daß einige der holden Kinder nichts dagegen gehabt hätten, wenn man schon jetzt zur Ausübung des Schlittenrechts geschritten wäre – na, wie gesagt, der Spaß drohte etwas zu ungebunden auszuarten, und so hob Haugwitz die Tafel auf – obwohl es noch nicht Zwölf geschlagen hatte – und commandierte Antreten zur Rückfahrt.
Fräulein Toni hatte sich auch hier als eine der zehn klugen Jungfrauen bewährt und mich durch ihre stolzen Blicke in Schranken gehalten, wenn meine Zunge zu taumeln anfing. Nur im Tanzen hatte ich gespürt, wie viel Feuer, wie viel verhaltene Lebenslust unter der Asche glimmte, und da sie endlich sehr erschöpft und durstig geworden war, hatte sie ihr Glas so oft geleert, als ich es füllte. Dabei kein Wort, das sie bei nüchterner Besinnung nicht hätte verantworten können. Nur ihre dunklen Augen schwammen in einem seltsamen feuchten Glanz, sie drückte sie von Zeit zu Zeit wie halb träumend zu und öffnete schmachtend den Mund, als ob die rasch athmende Brust nach irgend einer Erleichterung verlangte.
Aber verzeih, ich will dir das Bild nicht weiter ausmalen.
Genug, sie lehnte sich ein wenig schwankend auf meinen Arm und bat, da wir aufgestanden waren, ihr ein Glas Wasser zu bringen, das sie auf einen Zug leerte, ohne daß es in ihrem Zustand eine merkliche Aenderung machte. Darüber war einige Zeit vergangen, und nachdem ich sie endlich in ihren Mantel gewickelt und um ihr Pelzmützchen, daß ihr entzückend stand, einen dicken Shawl geschlungen hatte, sahen wir, als wir zu unserm Schlitten kamen, daß alle Andern schon fortgesaus't und wir die Letzten waren.
Ich hob sie rasch auf das weiche Polster, stieg zu ihr ein und ließ das Pferd austraben. Die Stunde vom Schützenhause bis zur Stadt konnten wir in dem Tempo, das wir einschlugen, in der halben Zeit zurücklegen, wozu ich auch fest entschlossen war. Denn so verführerisch es war, das Tête-à-Tête mit dem reizenden Mädel unter dem sternklaren Himmel möglichst zu verlängern, die tiefe Blässe auf ihrem Gesicht und ein leidender Zug um den Mund, den ich schon bei Tische wahrgenommen, ließ mich wünschen, sie so rasch als möglich bei ihrer Mama wieder abzuliefern, und schlug alle verliebten Regungen nieder.
Ich zog es denn auch vor, sie mit Conversation zu verschonen, fragte nur zu Anfang einmal, wie sie sich jetzt befinde, und als sie ein leises: »Besser!« gehaucht hatte, sah ich nur auf den Gaul und die blanke Straße, über die der Strahl der Schlittenlaternen hinglitt. Endlich aber, als ich sie durch die frische Schneeluft hinlänglich ermuntert glaubte, wandte ich mich mit einem Scherz zu ihr hin und erschrak. Sie lag steif ausgestreckt, den Kopf nach hinten gesunken, an meiner Seite, hatte die Augen geschlossen, die Lippen aber, die ganz fahl waren, weit geöffnet, und als ich meine Worte lauter wiederholte, sah ich, daß sie nichts mehr hörte von Allem, was um sie her vorging.
Sie war ohnmächtig geworden. Schon bei Tische hatte sie mich gebeten, ihr nicht mehr einzuschenken, ihr Herz vertrage es nicht. Ich hatte mit einem frevelhaften Witz geantwortet und sah nun, was ich angerichtet hatte.
Was war zu thun? Das arme Kind in diesem Zustande ihrer Mama zurückzubringen – unmöglich! Ich selbst aber wußte zu wenig Bescheid mit solchen Sachen, um sie aus der Erstarrung wieder aufzurichten, hatte ja auch keine Hülfsmittel dazu, nachdem mein Versuch, ihr Stirn und Schläfen mit Schnee zu reiben, nichts geholfen hatte.
Zum Glück sah ich, als ich in heller Verzweiflung um mich her schaute und ein paarmal laut um Hülfe rief, kaum tausend Schritt entfernt ein Licht schimmern, an dem ich mich sofort orientierte. Die Schneidemühle da neben der Chaussee – wenn ich sie nur erst dort hätte – so war sie geborgen. Also wieder eingestiegen und vorwärts im Galopp.
Die Leute in dem Hause dort waren aus dem Schlaf aufgeklingelt worden, als die Schlittencavalcade vorbeisaus'te. Ich hatte nicht lange zu klopfen, so öffnete uns die Frau des Müllers selbst die Thür. Sie begriff sofort, um was sich's handelte, half mir die leblose Gestalt aus dem Schlitten heben, ins Haus und die Treppe hinauftragen – der Müller, der sich langsamer herausgemacht hatte, leuchtete dazu mit einer Laterne, und so brachten wir das arme Mädel in die gute Stube des oberen Stocks, wo ein breites Sopha stand, das auch sonst schon als Schlafstätte gedient zu haben schien. Wenigstens war es rasch dazu eingerichtet, Decken wurden herbeigeschleppt und die Ohnmächtige bequem darunter gebettet. Eine Magd ward angewiesen, sofort für heißes Wasser zu sorgen. Dann aber bat mich die gute Frau, sie allein mit ihr zu lassen, weil es nöthig sei, das erstarrte Fräulein zu entkleiden, um sie leichter athmen zu lassen.
Ich gehorchte natürlich und wartete unten in der Gesellschaft des Müllers, die ich mir lieber verbeten hätte, auf die fernere Entwicklung der fatalen Geschichte.
Es dauerte aber lange, bis die barmherzige Samariterin wieder erschien. Das Fräulein sei bald wieder zu sich gekommen, aber eine Art Fieberfrost, vielleicht auch nur ein Nervenkrampf habe sie geschüttelt, dagegen habe die Frau ihr Tropfen gegeben, die auch bald gewirkt hätten. Nun liege sie zwar noch sehr blaß und matt, aber doch ohne Schmerzen und Beschwerden auf ihrem Lager, versichere, daß sie in Kurzem erholt und fähig sein würde, aufzustehen, daran aber sei nicht zu denken, daß sie noch in der Nacht die Fahrt fortsetzen könne, obwohl sie es dringend verlange, um ihre Mama nicht zu ängstigen. Wenn der Herr Leutnant vielleicht selbst mit ihr sprechen und es ihr ausreden möchte.
Ich ließ mich natürlich nicht lange bitten und stürmte die Treppe hinauf. Da lag sie mit aufgelös'tem Haar schön wie ein Engel auf ihren Kissen, und das Blut stieg ihr in die bleichen Wangen, als sie mich eintreten sah. Ich trat an ihr Lager und ergriff ihre beiden Hände, die sie mir entgegenstreckte. Sie waren kalt und feucht, in ihren Augen aber brannte eine süße, schwärmerische Glut. Sie hielt sie fest auf mich gerichtet, während ich ihr auseinandersetzte, daß es ein Selbstmord wäre, wenn sie vor morgen Mittag aufstände. Sie müsse sich erst völlig von dem bösen Anfall erholen, ich wolle allein nach der Stadt fahren und die Mama beruhigen, daß ihre Tochter hier gut aufgehoben sei. Und dann bat ich sie tausendmal um Verzeihung, daß ich ihr das Glas so oft gefüllt hatte, trotz ihres Abwehrens, und da mir das Herz von Zärtlichkeit und Mitleid überwallte, streichelte ich ihr die Wange wie einem kranken Kinde und gab ihr die zärtlichsten Namen. Eh ich aber Abschied nehme, sagte ich ganz nah an ihrem Ohr, müssen Sie mir doch mein Schlittenrecht gewähren. Oder fühlen Sie sich nicht dazu aufgelegt? Statt aller Antwort schlang sie beide Arme leidenschaftlich um meinen Hals und zog meinen Kopf an ihr Gesicht heran. Unsere Lippen begegneten sich in einem langen Kuß – einem sehr langen, sehr ausführlichen Kuß – einem Kuß in des Worts verwegenster Bedeutung und als ich eine halbe Stunde später das Zimmer verließ, war mir zugleich so wohl und weh zu Muthe, wie einem bis dahin anständigen Menschen, der einen kostbaren Ring gefunden hat und es nicht übers Herz bringen konnte, ihn liegen zu lassen, statt ihn in die Tasche zu stecken.
*
Wimpffen schwieg. Er zog das silberne Etui aus der Tasche und nahm eine Cigarrette heraus. Während er sie anzündete und die ersten Züge that, schielte er zu dem Freunde hinüber, der die lange Erzählung mit angehört hatte, ohne einen Laut von sich zu geben, auf seiner Chaiselongue ausgestreckt, den Kopf in die rückwärts verschränkten Arme gedrückt, die Augen unverwandt auf die Zimmerdecke gerichtet.
Da er zu schweigen fortfuhr, erhob sich der Andere.
Die Sache ist verjährt, sagte er. Ich brauche nicht zu versichern, daß ich keiner Menschenseele ein Wort davon gesagt habe. Nachdem ich der Alten meinen Rapport abgestattet hatte, habe ich noch Haugwitz aufgesucht und ihm erzählt, wie ich meine Partnerin krank in der Schneidemühle hätte zurücklassen müssen. Da auch Anderen ihre seltsame Blässe und Aufgeregtheit bei Tische aufgefallen war, kam kein Verdacht auf. Das Fräulein war ja auch am dritten Tage wieder in ihrem Geschäft zu finden und verrieth mit keiner Miene, daß etwas Besonderes vorgefallen war, auch nicht, wenn ihr Der oder Jener von den Kameraden sein Bedauern über ihr plötzliches Erkranken aussprach. Ja, das Mädel hat Charakter. Sie stürbe eher, als sich bemitleiden zu lassen.
Und ich – wahrhaftig, ich war so verliebt, daß ich sie vom Fleck weg geheirathet hätte. Aber bei meinen Verhältnissen – ein armer aber ehrlicher Waisenknabe, wie ich bin, – und Mama Amanda hätte die Caution ja nicht aufbringen können.
Also einen Strich darunter und die ganze Sache als ein Wintermärchen angesehen, das in der Wirklichkeit nicht weiterspielen durfte. Freilich, wenn dennoch der Teufel sich ins Spiel gemischt hätte – aber nein, das geschah nicht. Daß ich dann für mein Vergehen eingestanden wäre, kannst du mir zutrauen.
Und nun, liebster Sohn, nun habe ich's Alles vom Herzen heruntergebeichtet. Was es mich gekostet hat, dir diesen Schmerz machen zu müssen – denken zu müssen, daß ich jemals zwischen dir und irgend einem Herzenswunsch von dir stehen könnte – denn wahrhaftig, wenn das nicht vorgefallen wäre, ich würde es dir keinen Augenblick verdacht haben, um dieses Mädchen die Epauletten abzulegen. So aber – du wirst selbst zugeben müssen – ein von Sacken und eine solche Heirath –
Aber so sprich doch endlich ein Wort! Bin ich durch diese dumme Geschichte, die ich tausendmal bereut habe, obwohl kein billiger Mensch sie für eine Todsünde halten wird, in deinen Augen so degradiert, daß du mich keines Wortes mehr werth hältst?
Lieber Freund, kam es langsam aus dem Munde des regungslos Daliegenden, du bist sehr im Irrthum. Ich denke nicht schlechter von dir, seit du mir das erzählt hast, vielmehr bewundere ich dich, nein, wirklich! Nur sehe ich, daß du deinen Beruf verfehlt hast.
Wimpffen sah ihn groß an.
Ja, lieber Freund, du hättest nicht Soldat werden sollen, sondern Dichter, Romanschreiber. Ich kenne ja dein gutes Herz, ich weiß, daß du die größte Verehrung für meine Mutter hast und ihr keine Bitte abschlagen kannst. Da es nun kein anderes Mittel gab, ihren Sohn von dieser verhaßten Heirath abzubringen, hast du diese schöne Novelle erfunden, so aus dem Stegreif, und doch mit einer Menge hübscher Details ausgeschmückt. Das macht deinem Talent alle Ehre, aber du mußt nun schon verzeihen, daß ich trotzdem das Ganze für eine geistreiche Flunkerei halte, an der ich nur das zu tadeln habe, daß du ein unschuldiges Mädchen dadurch böslich verleumdet hast.
Wimpffen runzelte die Stirn. Ein scharfes Wort saß ihm auf der Zunge. Er unterdrückte es aber und sagte mit ruhigem Ernst: Du bist krank, mein Sohn, am Liebestyphus. Wenn Einer aus dem Fieber spricht, legt man seine Worte nicht auf die Goldwage, sonst – Es ist schon schlimm genug, daß du mich dahin gebracht hast, dir ein Geheimniß preiszugeben, das ewig zwischen mir und jenem Mädchen hätte bleiben sollen. Daß ich zum Dank für meine Freundschaft von dir beschuldigt werde, jenen traurigen Vorfall, der sie in deinen Augen herabsetzen muß, erlogen zu haben, eine solche Niedertracht mir zuzutrauen – aber wie gesagt, du bist nicht zurechnungsfähig. Statt die Sache damit beendet sein zu lassen, seh' ich voraus, daß du nun das arme Kind ins Verhör nehmen wirst, und wenn sie, was ich ihr nicht verdenken könnte, Alles ableugnet, bliebe deine Beleidigung freilich auf mir sitzen. Nun, dann weißt du ja, wo ich zu finden bin. Es wäre nicht das erste Mal, daß zwei alte Freunde durch eine Weiberlüge auseinandergekommen sind. Adieu!
Er nahm seine Mütze und ging. Auf der Treppe blieb er einen Augenblick stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sacrebleu! murmelte er in den Bart, warum war ich ein solcher Esel! Hätt' ich geschwiegen, so würde das vielleicht trotz der beiden Mütter ein glückliches Paar gegeben haben. Aber nein, wer weiß, welcher Zufall uns den fatalen Streich gespielt hätte, die faule Sache dennoch ans Licht zu bringen. Dann hätte er in der That Grund gehabt, mich des Verraths der Freundschaft anzuklagen. »Immer grad dör!« sagt Klas Avenstaken. Wer weiß auch so genau, ob ich wirklich der Erste war!
*
Indessen saßen in dem Hause der Vorstadt Mutter und Tochter bei einer kleinen Lampe schweigsam einander gegenüber, Frau Amanda mit dem Ausbessern eines alten Kleidungsstücks beschäftigt, die Tochter ein Buch aufgeschlagen auf dem Tische vor sich, über dessen Seiten hinweg ihr Blick ins Leere starrte.
Seit dem Morgenbesuch der alten Dame war eine Verstimmung zwischen ihnen zurückgeblieben. Die Braut hatte der Mutter das Anerbieten der Frau Hildegard mitgetheilt, und als die praktische Frau ihr lebhaft zugeredet hatte, es nicht von der Hand zu weisen, ein Sperling in der Hand sei besser als eine Taube auf dem Dache, und mancher zärtliche Anbeter hätte sich über Nacht anders besonnen, war das schöne Mädchen in eine heftige Anklage der Mutter ausgebrochen, die sie nie verstanden und das, was ihr das Heiligste sei, von Anfang an nur als eine gemeine Speculation betrachtet habe.
Aus ihrem Schlafzimmer, in das sie sich schmollend zurückgezogen, war sie nur Mittags herausgekommen, um an dem sehr einfachen Mahl theilzunehmen. Dann wieder, als die Dunkelheit einbrach, da sie Beide nur Eine Lampe hatten.
Nun saß sie in ihre Gedanken verloren, die nicht heiter waren. Sie hatte sich nicht darüber getäuscht, daß es einen Kampf kosten würde, der stolzen alten Dame die Einwilligung zur Heirath abzugewinnen. Auf das, was sie heut früh erfahren hatte, war sie nicht gefaßt gewesen. Auch die Versicherungen ihres Verlobten, als er bald darauf kam, um sich berichten zu lassen, was der Besuch der Mutter für ein Ergebniß gehabt, waren nicht im Stande gewesen, ihre bangen Sorgen zu zerstreuen.
Sie erwartete ihn Abends noch einmal, doch erst um einige Stunden später. Dennoch war es kein freudiges Erschrecken, als sie an der Art, wie jetzt draußen die Klingel gezogen wurde, erkannte, daß er es war, der seinen Besuch verfrüht hatte.
Sie stürzte hinaus, ihm zu öffnen. So dunkel es im Flur war, fiel es ihr doch sogleich auf, daß eine Veränderung mit ihm vorgegangen war. Was hast du? raunte sie ihm zu, als er sie nicht so leidenschaftlich wie sonst in die Arme schloß.
Nichts, nichts! erwiederte er und küßte sie flüchtig auf die Stirn. Komm hinein! Ich habe mit dir zu reden, aber allein mit dir.
Er begrüßte die Mama förmlich, die auf einen Wink der Tochter das Zimmer verließ. Der junge Offizier hatte sich auf das Sopha niedergelassen und strich sich mit der Hand über die feuchte Stirn. Toni sah, daß sein Haar nicht so sorgfältig frisiert war wie sonst, und daß seine Augen von ihr weg durch das Zimmer irrten.
Sag es nur gleich! flehte sie mit erstickter Stimme, es ist etwas vorgefallen, was uns trennen wird, diese entsetzliche Frau, die mich haßt, nur weil ich dich liebe, hat es durchgesetzt, – o Wilhelm, es ist mein Tod!
Er zog sie neben sich auf das Sopha.
Beruhige dich, Herz! sagte er, aber mit unsicherer Stimme. Noch ist Nichts verloren, aber du mußt volles Zutrauen zu mir haben, mir die volle Wahrheit sagen. Nein, die Mutter soll uns nicht trennen. Ich lebe ja mein eigenes Leben. Wenn ich deiner gewiß sein kann –
Er stockte und hob ihren Kopf in die Höhe, den sie an seine Schulter gedrückt hatte. Nie war sie ihm schöner erschienen, als wie sie jetzt, die Augen in Thränen schwimmend, wie ein Kind, das eine Strafe fürchtet, zu ihm aufblickte.
Sage mir Eins, meine Geliebte, fuhr er, sich gewaltsam bezwingend, fort, kennst du meinen Freund, Hans Wimpffen?
Eine tödtliche Blässe entfärbte bei diesem Namen ihr schönes Gesicht. Das – das also! Auf Alles hätte sie eine Antwort gefunden, dies Eine, auf das sie nicht gefaßt war, machte ihr das Blut in den Adern erstarren. Nur mechanisch brachte sie über die Lippen, indem sie sich sacht aus seinem Arme loswand: Dein Freund – Hans Wimpffen?
Ja, stammelte er, indem er in tiefer Qual auf ihrem Gesicht zu lesen suchte, mein bester Freund, mein Schulkamerad – ich meine nicht, ob du ihn gesehen hast wie all die Anderen von meinen Kameraden, die dir den Hof gemacht haben, – nein, ich will wissen, ob nie Etwas zwischen euch vorgefallen ist, woran du – ungern zurückdenkst.
Sie schnellte von ihrem Sitz in die Höhe und wehrte heftig den Arm ab, mit dem er sie halten wollte.
Es ist aus! rief sie. Oh, es ist Alles aus. Geh! verlaß mich, vergiß, daß du mich je geliebt hast – ich hab' es ja gewußt, es konnte nicht dauern – das – das würde ewig zwischen uns stehen! O mein Gott, jetzt auf der Stelle zu sterben, wenn doch die Erde sich unter mir aufthäte – aber Gott ist taub! Er hört nicht den Jammer eines armen Geschöpfs, das von allen Menschen mit Füßen getreten wird!
Sie war, sich von ihm losmachend, niedergesunken, ihr Kopf lag auf dem Stuhl, auf dem sie vorhin gesessen hatte, mit beiden Händen suchte sie vergebens die heftigen Thränen zurückzuhalten, die ihr aus den Augen brachen.
Im nächsten Augenblick hörte sie seine Stimme dicht an ihrem Ohr. Er hatte sich zu ihr hinabgebeugt, um sie aufzurichten. Als es ihm nicht gelang, kniete er neben sie hin auf den Teppich.
Mein armes Kind! flüsterte er. Ich klage dich ja nicht an. Auch er hat es nicht gethan. Du warst ja im Fieber, deiner Sinne nicht mächtig. Ich wollte nur wissen, woran ich bin, vor Allem mit ihm. Denn mit dir – da du jetzt nicht einen Augenblick daran gedacht hast, mir die Wahrheit zu verbergen – mit dir kann ich ja nur das tiefste Mitleid fühlen. Nein, meine Geliebte, richte dich auf, glaube an meine Liebe und Treue, und so verzweifelt unser Schicksal scheint, wenn wir nur an einander nicht zweifeln, so wird noch Alles gut werden.
Sie hörte plötzlich zu schluchzen auf und erhob sich vom Boden. Nichts wird gut werden! sagte sie dumpf. All deine Liebe und Treue kann das nicht überwinden. O der Elende! sich meinen irrsinnigen Zustand, in den er selbst mich versetzt hatte, zu Nutze zu machen und, nachdem ich meine Schwäche so schwer gebüßt, jetzt, wo ich's einmal so gut wie Andere zu haben hoffte, jetzt mich durch einen schmählichen Verrath – Aber nein, auch wenn er geschwiegen hätte, du kannst mir glauben, hundert Mal lag es mir selbst auf der Zunge. Ich verachtete mich, daß ich nicht die Kraft fand, dir's zu gestehn, ich habe lange mit mir gekämpft, ob ich deine Werbung überhaupt annehmen sollte, dann wurdest du mir von Tag zu Tage lieber, zuletzt konnt' ich nicht widerstehen. Aber nun ist's vielleicht besser so. Du wirst von mir gehen, und wie ich das überwinden soll, fass' ich noch nicht. Aber wenn ich deine Frau geworden wäre – auch das magst du nun hören: daß du den Abschied nehmen und mit mir auf dem Lande leben wolltest, das bestärkte mich in meinem Verschweigen. Wenn ich Den nicht mehr sehen mußte, der mich ins Unglück gebracht hatte, konnte ich hoffen, das Entsetzliche mit der Zeit selbst zu vergessen, nur wie an ein schauerliches Märchen dann und wann daran zurückzudenken. Und doch – ich hätte dich betrogen und deine Güte und Liebe wie eine unverdiente Gnade hinnehmen müssen. So bin ich deinem – Freunde Dank schuldig, daß er es jetzt zur Entscheidung gebracht hat. Und nun laß dich beschwören – verlaß mich gleich! Ich habe so heftige Schmerzen hier an meinem Herzen, ich ertrüge es nicht länger, dein geliebtes Gesicht zu sehen und zu wissen, daß ich es nicht wiedersehen werde!
Er war, während sie sprach, heftig im Zimmer auf- und abgegangen. Jetzt blieb er vor ihr stehen und sagte, den Arm um ihren Hals legend: Ja, meine Geliebte, ich verlasse dich jetzt, doch nur um das aus dem Wege zu räumen, was zwischen uns steht. Ich habe dir Treue gelobt. Ich wäre ein feiger Schuft, wenn ich dir mein Wort nicht hielte, weil ein Räuber dich überfallen und deine arglose Jugend mißbraucht hat. Du wirst mich morgen wohl nicht wiedersehen. Aber wenn Alles geht, wie ich hoffe, kehre ich als ein freier Mensch, der all seine Schulden bezahlt hat, zu dir zurück. Bis dahin denke mit ruhigem Herzen an deinen treuesten Freund!
Er zog sie an sich und küßte ihr Stirn und Augen und zuletzt mit einem langen Kusse den Mund. Grüß die Mama! sagte er, schon an der Thür. Da stürzte sie ihm nach und hielt ihn noch einmal mit beiden Armen zurück.
Du willst dich mit ihm schlagen! rief sie außer sich. Leugne es nicht! Nein, nein, du darfst nicht, du sollst nicht – du bist es mir schuldig! Dein Leben gehört mir!
Närrchen! sagte er mit einem stillen Lächeln, indem er sie auf das dichte Haar küßte, was stellst du dir für Gespenster vor! Ist er nicht mein Freund,? Giebt es nicht ganz sichere Mittel, einem Freunde das Schwatzen zu verbieten? Denn freilich muß ich dafür sorgen, daß ihm nicht Anderen gegenüber der Wein einmal die Zunge lös't und er dem Ruf meiner Frau einen Makel anheftet. Sei ganz ruhig! Ich liebe dich, und Niemand soll Macht haben, dich mir vom Herzen zu reißen.
So lös'te er sich aus ihrer Umarmung und verließ das Haus.
*
Er kehrte aber nicht in seine Wohnung zurück, sondern ging ins Casino. Dort war um diese Zeit noch keiner seiner Kameraden anzutreffen. Er fragte auch nach Niemand, ließ sich im Lesezimmer an dem Tische nieder, wo er Papier und Schreibgeräth fand, und warf die folgenden Worte rasch auf ein Blatt:
»Sie hat mir, ohne ihre eigene Schwachheit zu beschönigen, deine Aussage bestätigt. Wenn ich daher auch die Beschuldigung der Verleumdung revocieren muß, bleibt doch die andere bestehen, daß du wie ein Schurke an ihr gehandelt hast. Ich werfe dir deine Freundschaft vor die Füße und sehe den Folgen entgegen.
Wilhelm.«Er siegelte das Billet und übergab es einem Kellner, dem er, indem er ihm einen Thaler reichte, die sofortige Besorgung auf die Seele band.
Dann verließ er das Local und ging ein paar Stunden lang durch die dunklen Straßen, rastlos, mit fiebernder Stirn, ohne in der Gedankenflucht, die durch sein Hirn jagte, irgend einen Ruhepunkt zu finden. Als die Kniee ihm endlich den Dienst versagten, trat er in eine kleine Weinstube, wo nur ein paar Gäste ihren Sonntagstrunk zu sich nahmen. Er ließ sich etwas zu essen und eine Flasche Wein geben, bei der er stumpfsinnig, eine Cigarre nach der anderen rauchend, so lange sitzen blieb, bis die Kellnerin ihm bescheiden zu verstehen gab, es sei Mitternacht und außer ihm Niemand mehr im Local zurückgeblieben. Da raffte er sich, wie aus einem Traum geweckt, auf und ging langsam nach Hause.
Die Regine wachte noch und trug ihm das Licht in sein Zimmer. Sie hatte die Frage auf der Zunge, was ihn heute, am Sonntagabend, den er regelmäßig bei der Mutter zuzubringen pflegte, seiner Gewohnheit untreu gemacht habe. Sie sah aber ihren jungen Herrn mit so verstörtem Gesicht, wie geistesabwesend, sein Zimmer betreten und gleich den Brief vom Tische nehmen, der dort auf ihn gewartet hatte, daß sie kein Wort zu sagen wagte und, nachdem sie ihm die Lampe angezündet hatte, mit stillem Seufzen und Kopfschütteln hinausschlich.
In dem Briefe stand:
»Ich hätte es denken können, lieber Sohn, und in der Voraussicht, wie Alles kommen würde, den Mund halten sollen. Vielleicht war meine Auffassung von Freundespflichten ein sentimentaler Unsinn. Gleichviel, nun ist Nichts mehr zu ändern, und du wirst morgen früh weiter von mir hören.
Hans.«Als die Regine am andern Morgen ihrer Herrin das Frühstück brachte, wunderte sie sich über die ruhige, fast heitere Miene, mit der die Mutter sich erkundigte, wann der Sohn gestern Abend nach Hause gekommen sei. Auch daß es erst nach Mitternacht gewesen, schien ihr eben so wenig aufzufallen, wie daß er ihr am Sonntagabend nicht wie sonst Gesellschaft geleistet hatte. Sie gönnte ihm ein langes letztes Beisammensein mit dem Mädchen, von dem er ja für immer sich trennen sollte. Denn daß Wimpffen ihn dazu gebracht haben würde, bezweifelte sie keinen Augenblick.
Nun ließ er sich freilich nicht wie sonst schon früh bei ihr sehen, um ihr »guten Morgen!« zu sagen. Aber Regine hinterbrachte ihr, »Wilhelmchen« habe Besuch gehabt von ein paar Kameraden, sie hätten lange und lebhaft mit einander geplaudert, dann seien die Herren gegangen, und auch »unser Leutnant« habe sein Zimmer verlassen, um frische Luft zu schöpfen. Er habe es wohl nöthig gehabt, da er ein wenig blaß ausgesehen habe, was nach der späten Schlafensstunde kein Wunder sei.
Alles bestärkte die Mutter in ihrem festen Glauben, daß die Gefahr abgewendet, der Sohn ihr erhalten sei. Und er selbst, als er sich Mittags bei ihr einfand, machte sie darin nicht irre. Er war still und offenbar zerstreut, aber voll zarter Aufmerksamkeit für sie, während sie zusammen bei Tische saßen. So auch am Abend. Sie sprachen nur von gleichgültigen Dingen. Doch war in all ihren Reden ein Unterton von warmer Hingebung Eines zum Andern. Als er ihr endlich »gute Nacht!« sagte, hielt sie seine Hand fest und sah ihm liebevoll ins Auge. Mein guter Sohn, sagte sie, ich muß es dir doch aussprechen, wie deine stille, männliche Ergebung in deine Pflicht und dein Schicksal mich rührt. Du weißt, ich war immer stolz auf dich. Heute bin ich es mehr als je, weil ich weiß, wie hart dich's ankommt zu thun, was ich von Anfang an als das Wünschenswertheste für dich angesehen habe. Wenn ich dir habe wehthun müssen, verzeih es mir. Es geschah nur aus derselben Liebe, die mich sonst angetrieben hat, dir nichts zu versagen, was dich glücklich machen konnte.
Mutterchen, sagte er und heftete den Blick trübsinnig zu Boden, ich danke dir für all deine Liebe. Ich weiß, du hast keinen andern Gedanken gehabt, so lange ich auf der Welt bin, als das Glück deines Sohnes. Du kannst Nichts dafür, daß wir über das, was zu meinem Glück dienen möchte, verschiedener Meinung sind. Hoffen wir, daß wir uns auch diesmal zuletzt wieder versöhnen. Und wie es auch kommen möge, zürne mir nicht! Es ist mir Schweres auferlegt, Gott helfe mir, ich kann nicht anders.
Er umfing die Mutter und küßte sie mit einer ungewohnten Rührung. Dann ging er auf sein Zimmer.
In dieser Nacht fand die Frau lange nicht den Schlaf, der ihr sonst immer treu blieb. Doch keine Sorge hielt sie wach. Sie war fest überzeugt, daß ihr Liebling, wenn es ihn auch hart angefaßt hatte, bald wieder der Alte sein würde. Zugleich gab sie sich lange dem Siegesgefühl hin, das sie beglückte, dem stolzen Bewußtsein, die Stärkere geblieben zu sein, sie mit ihren grauen Haaren gegenüber der schwarzlockigen Fremden, die ihr den einzigen Besitz, der ihr das verwittwete Leben noch theuer machte, hatte entreißen wollen. Sie hatte dieses Mädchen mit der Leidenschaft ihrer mütterlichen Eifersucht gehaßt. Jetzt fühlte sie fast ein Mitleid mit der Ueberwundenen, deren ganzes Verbrechen gewesen war, ihren Liebling geliebt zu haben. Sie sann darüber nach, wie sie es anstellen könnte, ihr den Verlust trotz ihrer Weigerung zu vergüten. Bei der Mutter, das wußte sie, würde sie ein leichteres Spiel haben. Wieder könnte vielleicht Wimpffen den Vermittler machen. Auch diese nachträgliche Großmuth schmeichelte ihr, und mit einem befriedigten Aufathmen, wie wenn ihr der letzte Stein von der Brust gefallen wäre, schlief sie endlich ein.
*
Am andern Morgen, schon in aller Frühe, wurde sie durch eine ungewöhnliche Unruhe im Haus und auf der Straße geweckt. Ihr war, als hätte sie einen Wagen unten anfahren hören, auf der Treppe kamen Leute herauf, sie hörte es deutlich, obwohl die Stimmen gedämpft klangen. Dann wurde die Klingel an ihrer Wohnung gezogen, ebenfalls behutsam, die Thüre ging draußen auf, was hatte das Alles zu bedeuten?
Noch immer ahnungslos stand sie rasch auf und warf sich in ihre Kleider. Als sie sich aber der Schwelle ihres Zimmers näherte, wurde die Thür aufgerissen, und die Regine stürzte herein, mit wirrem Haar und völlig entgeistertem Gesicht.
Bleiben Sie hier, Frau Obersten, schrie sie, Sie dürfen nicht hin – o du grundgütiger Gott, so was Schauerliches – Wilhelmchen, unser liebes Wilhelmchen –!
Sie war auf den Boden vor der Mutter hingesunken und klammerte sich an die Falten ihres Kleides, ihre Jammerrufe immer von Neuem ausstoßend. Die alte Frau war bei dem Namen ihres Sohnes zusammengefahren und hielt sich mit äußerster Anstrengung aufrecht. Laß mich! herrschte sie die Jammernde an. Geh aus dem Wege! Was ist – mit Wilhelm?
In diesem Augenblick trat der Regimentsarzt ein, ein ernster Mann in mittleren Jahren. Sein erster Blick belehrte ihn, daß er zu spät kam.
O meine verehrte Frau Oberstin, stammelte er, warum hat man es mir nicht überlassen – diese furchtbare Nachricht so ohne Vorbereitung – folgen Sie mir wenigstens jetzt – sammeln Sie erst Ihre Kräfte – nein, ich darf Sie nicht zu ihm lassen, stützen Sie sich auf mich – sehen Sie, Sie wanken, ich beschwöre Sie, lassen Sie sich dort erst zu dem Sopha führen –
Er trat an sie heran und wollte sie stützen. Sie schüttelte seinen dargebotenen Arm energisch ab, richtete sich hoch auf und schleuderte ihm einen gebieterischen Blick zu. Niemand komme mir zu nah! rief sie. Ich bin kein Kind, ich bin eine Mutter, eine Mutter kennt ihre Pflicht und findet ihren Weg. Zurück!
Und die stöhnende Alte mit dem Fuße fortstoßend, schritt sie über die Schwelle und ging hochaufgerichtet den Corridor entlang, der zu dem Zimmer ihres Sohnes führte. Ein paar von den Hausbewohnern, die sich mit theilnehmender Neugier eingedrängt hatten, erschraken, da sie die gespenstische Miene sahen, mit der die alte Dame an ihnen vorbeischritt, als ob sie Nichts um sich her wahrnähme. So trat sie bei ihrem Sohne ein.
Er ruhte, mit seinem Mantel bis an die Schultern zugedeckt, auf seinem Bette, das Gesicht entfärbt, aber still und friedlich, die halbgeöffneten Lippen umspielte sogar ein schwermüthiges Lächeln. Durch das geöffnete Fenster drang eine milddurchsonnte Luft herein, und in den Höfen und Gärten unten erklangen Stimmen des morgendlichen Lebens.
Neben dem Lager hatte eine Dame gekniet, die im Hause wohnte und gute Freundschaft mit der Mutter gehalten hatte. Als sie diese selbst jetzt eintreten sah, erhob sie sich laut aufweinend und wollte auf sie zu eilen, sie zu umarmen. Die Mutter aber blieb noch an der Schwelle stehen, hob den Finger und legte ihn dann an den Mund. Still! flüsterte sie. Er schläft. Stören Sie ihn nicht. Er hat viel Aufregendes durchgemacht. Die Ruhe ist ihm zu gönnen. Gehn Sie hinaus! Nur seine Mutter soll bei ihm wachen. Wenn er aufwacht, soll er keine fremden Gesichter sehen.
Sie setzte sich auf den Stuhl neben dem Bette und sah ihrem stillen Liebling unverwandt ins Gesicht. Draußen im Corridor hörte man unterdrücktes Weinen und wispernde Stimmen. Der Arzt hielt Wache, daß Niemand diese Todtenfeier störte.
Dann aber erklang draußen ein kräftiger Schritt, der Oberst des Regiments trat ein, ein hoher, graubärtiger Herr mit einem martialischen Gesicht. Als er den jungen Todten erblickte, dem er wie all seine Offiziere sehr geneigt gewesen war, und die regungslose Gestalt der Frau seines alten Freundes, übermannte ihn die Erschütterung so sehr, daß er eine Weile still in sich hinein weinte. Dann nahm er sich zusammen, trat auf die Mutter zu und sagte, seine Worte mühsam herausbringend:
Eine furchtbare Heimsuchung, meine theure gnädigste Frau! Ich habe es nicht glauben wollen, als mir die Meldung gemacht wurde. Und noch jetzt – ich kann es nicht fassen, ich glaube den eigenen Augen nicht. Dieser herrliche junge Mensch, ein so zärtlicher Sohn und so hoffnungsvoller Offizier, und Niemand kann sich denken, wie es dahin kommen konnte. Sein eigener intimster Freund – daß er in der tiefsten Verzweiflung ist, wer kann es anders von ihm erwarten, er hat ja einen edlen, ritterlichen Charakter. Zweimal hat er ja auch in die Luft geschossen – erst als die Kugel seines Gegners dicht an seinem Ohr vorbeisaus'te – es ist ja menschlich, daß ihm da das Blut überwallte – wer läßt sich gern wehrlos über den Haufen schießen – aber wie er nun, ohne lange zu zielen, losdrückte – o meine gnädige Frau, meine arme Freundin, wenn Ihr theurer Gemahl das hätte erleben müssen –
Die Rührung überwältigte ihn wieder. Er zog sein Tuch aus der Tasche, schneuzte sich heftig und drückte es vor die Augen.
Da hörte er auf einmal die Frau ganz ruhig sagen: Ja, wissen Sie denn nicht, hochwürdiger Herr, warum die arme Nonne aus dem Kloster entsprungen ist? Es war ein so gutes frommes Kind, aber mein Gott, wer kann es ihr verdenken? Die Ordensregel war gar zu streng. Ich selbst hatte keine Ahnung, ich hätte ja sonst eine mildere Observanz zugelassen, aber weil ich sonst eine gute Hand hatte, die Jugend im Zaum zu halten – nun ist das Unglück einmal geschehen. Ich werde mich nie wieder auf dergleichen einlassen, zur Oberin bin ich doch für immer verdorben – nun, wie es Gottes Wille ist! Amen!
Der alte Kriegsmann starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Es lief ihm kalt über den Rücken, als er sie diese wunderlichen Worte mit ganz sanfter Stimme langsam aussprechen hörte. Er warf dem Arzt, der leise zu ihm eingetreten war, einen bangen Blick zu und wandte sich dann wieder an die Frau.
Ich weiß nicht, meine gnädigste Frau, wovon Sie reden. Kennen Sie mich denn nicht?
Sie sah mit einem mitleidigen Kopfschütteln zu ihm auf.
Wie sollte ich Sie nicht kennen, Hochwürden? sagte sie. Habe ich Sie doch erst vergangenen Sonntag predigen hören. Vorgestern hatt' ich eine Abhaltung. Nun, darum bin ich keine schlechtere Christin geworden, ich kenne noch alle zehn Gebote, auch das: Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß es dir wohl gehe und du lange lebest auf Erden. Mein Wilhelm hat das auch immer befolgt, und darum wird er ja auch den Lohn der Seligkeit ernten. Wenn Sie das junge Paar zusammengeben, Herr Hauptpastor, sagen Sie ihm, daß die Mutter ihn und seine schöne Braut gesegnet habe. Mein Sohn hat gut gewählt, ich muß das jetzt zugeben. Bei der Hochzeit werde ich freilich nicht zugegen sein können; ich habe kein hochzeitliches Kleid. Denn so schwarz, wie Sie mich hier sehen, darf die Mutter des Bräutigams ja nicht kommen, und ich habe, seit ich Wittwe geworden bin – Aber das ist ja gleichgültig, am Segen liegt Alles. Und jetzt empfehle ich mich den Herren, ich habe hier ja Nichts mehr zu thun und muß für die Aussteuer sorgen.
Sie stand ruhig auf, verneigte sich würdevoll und schritt langsam aus dem Zimmer, ohne sich nach dem Todten noch einmal umzusehen. Gehen Sie ihr nach, Doctor, flüsterte der Oberst in tiefer Bewegung, sonst geschieht noch ein Unglück. Sie wäre im Stande –
Der Arzt zuckte die Achseln. Meine Kunst ist hier machtlos, und es ist auch keine Gefahr. Die gütige Natur sorgt dafür, daß bei einem übermäßigen Schmerz die Empfindung erlahmt. Noch gnädiger wäre es freilich, eine so verarmte Mutter könnte an gebrochenem Herzen sterben. Leider aber ist diese sanfteste aller Todesarten nur auf der Bühne und in Romanen zu finden.
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Buchdruckerei von Gustav Schade (Otto Francke) in Berlin N.
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