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(1868)
Es war mitten im Sommer, aber oben im Gebirg wehte ein schneidend kalter Wind und drohte den stark niederströmenden Regen in Schnee zu verwandeln. Die Luft war so schwarz, daß man das Haus am todten See kaum auf hundert Schritte unterschied, obwohl es weiß getüncht war und der Tag sich eben erst neigte. Drinnen hatten sie Feuer angemacht, die Wirthin stand in der Küche und briet ein Gericht Fische, während sie mit einem Fuß die Wiege schaukelte, die neben den Herd gerückt war. In der Gaststube lag der Wirth auf der Ofenbank und schimpfte auf die Fliegen, die ihn nicht schlafen ließen; eine barfüßige Magd spann im Winkel und sah dazwischen durch die trüben Scheiben seufzend in das wüste Wetter hinaus; ein vierschrötiger Knecht kam brummend herein, schüttelte sich, wie ein Hund, den man ins Wasser geworfen, daß die schweren Regentropfen rings umher aus seinen Kleidern spritzten und warf einen Haufen nasser Fischernetze in die Ecke neben dem Ofen. Keines sprach ein Wort. Es war, als fürchtete Jedes, daß die Wolke von Unmuth und Verdrossenheit, die über dem Hause lag, sich in einen Hagel von Zank und Zwist entladen würde, wenn man nicht an sich hielte.
Die Hausthür ging und ein fremder Schritt tappte durch den finstern Flur. Der Wirth rührte sich nicht, nur die Magd stand auf und öffnete die Thür des Gastzimmers.
Ein Mann im Reiseanzug stand an der Schwelle und fragte, ob er hier recht sei im Wirthshaus zum todten See. Aus das kurze Ja des Mädchens trat er ein, warf sein triefendes Plaid auf den Tisch, die Reisetasche daneben und ließ sich in sichtbarer Erschöpfung auf der Bank nieder, ohne den regenschweren Hut abzunehmen oder den Stock aus den Händen zu lassen, als wolle er nach kurzer Rast wieder aufbrechen. Die Magd war vor ihm stehen geblieben und wartete, was er etwa zu befehlen hätte. Er schien es aber ganz zu vergessen, daß noch Jemand außer ihm im Zimmer war, lehnte den Kopf zurück gegen die Mauer und schloß die Augen. So schwieg wieder Alles in der dumpfen, feuchtheißen Stube, und nur das Summen der Fliegen und das gedankenlose Seufzen der Magd unterbrach dann und wann die Stille.
Endlich kam die Wirthin mit dem Essen herein; ein kleiner Bube, der den Fremden groß anstarrte, trug ihr ein Licht nach, der Wirth erhob sich schwerfällig von der Ofenbank, gähnte und trat an den Tisch heran. Er überließ es aber der Frau, ihren Gast zum Essen einzuladen, was derselbe mit einem stummen Kopfschütteln ablehnte. Fleisch, außer ein paar Hühnern und Enten, hätten sie nicht im Hause, entschuldigte sich die Wirthin. Für sie selbst sei es zu theuer, und Herrschaften kehrten nicht mehr viel bei ihnen ein, seitdem vor zwei Jahren die neue Straße drüben hinter dem Jochberg gebaut worden und die Post, die sonst hier vorbeigekommen, nun drüben fahren müsse. Bei gutem Wetter versteige sich manchmal ein Fußreisender oder ein Maler, der den todten See abzeichnen wolle, zu ihnen, aber das gebe nicht viel aus, und mit dem bischen Fischerei sei auch nicht viel zu verdienen. Wenn aber der Herr über Nacht bleiben wolle, die Betten seien gut und das Zimmer nebenan erst vor acht Tagen frisch ausgeweißt. Und sie hätten ein Fäßchen Bier im Keller und einen guten Tiroler Wein, und machten selbst einen Enzianbranntwein, der noch von Jedem gerühmt worden sei.
Auf all diese Anerbietungen erwiederte der Fremde nur, daß er über Nacht bleiben werde und um frisches Wasser bitte. Dann stand er auf, ohne von den Menschen, die um den Tisch saßen und schweigend ihre Nachtkost verzehrten, auch nur einen eines Blickes zu würdigen, obwohl der muntere zehnjährige Knabe ihm zutraulich näher gerückt war und unverwandt seine Uhrkette bestaunte, die verstohlen in dem trüben Lichtschein glänzte. Die Magd nahm einen zweiten Leuchter vom Ofensims und ging dem Gast voran in das Nebenzimmer, wo sie ihm den Wasserkrug füllte und ihn dann mit seinen schweigsamen Gedanken allein ließ.
Der Wirth murmelte einen Fluch hinter ihm drein. Wenn einmal Einer käme, sei es so ein Landstreicher, der nichts verzehre und am Ende gar mit dem Schlafgeld durchgehe und das Betttuch mitgehen heiße. – Solche Gesellen, warf die Frau ein, ließen sich erst auffahren, was Küche und Keller vermöge, und suchten die Wirthe durch gute Worte sich vertraut zu machen. Der Herr aber sei entweder krank oder habe einen Kummer, daß ihm Essen und Trinken nicht schmecke. – Indem trat der Fremde wieder ein und fragte, ob er wohl, wenn der Regen aufhöre, einen Kahn haben könne, um auf den See hinauszufahren und bei einer Kienfackel zu fischen. Er wolle es gut bezahlen. – Die Frau stieß ihren Mann heimlich an, wie um zu sagen: da siehst du's jetzt! es ist nicht richtig mit ihm. Widersprich ihm nur nicht. – Woraus der Wirth, dem der Verdienst einleuchtete, in seiner unwirschen Manier versetzte, seinethalben könne er alle beide Kähne haben; Nachts zu fischen, sei hier nicht der Brauch, aber wenn es ihm Spaß mache, möge er sehen, wie er damit zurechtkomme. Der Knecht könne ihm gleich die Kähne und Netze weisen und ihm Lichtstöcke schnitzen. Damit gab er dem Burschen, der noch an den Fischen nagte, einen Wink und öffnete dem wunderlichen Gast selbst die Thür.
Der Regen hielt noch immer an, und vor dem Hause rieselten und rauschten die Dachtraufen. Aber der Fremde schien unempfindlich gegen Alles, was von außen kam, schritt hastig ans Ufer hinab und leuchtete mit der Laterne, die ihm der Knecht nachbrachte, in die beiden Kähne hinein, als ob er sich den zuverlässigsten aussuchen wolle. Beide standen unter einem Schuppen, und allerlei Geräth zum Fischen lag unter den Querbänken. Er schickte den Knecht unter einem Vorwande ins Haus, suchte dann am Ufer ein paar schwere Steine, die er in den größeren Kahn trug, und stand einen Augenblick tiefausathmend still, auf das schwarze Wasser stierend, das, soweit der Schein seiner Laterne leuchtete, von den prickelnden Regentropfen gefurcht wurde. Der Wind schwieg einen Augenblick, die Nacht war völlig hereingebrochen, die Brandung schäumte und spritzte um den Kiel der beiden kleinen Fahrzeuge, und aus dem Hause hörte man jetzt einen eintönigen Singsang, mit dem die Wirthin ihr Wiegenkind einschläferte. Auch das klang trostlos, nach Muttersorgen, nicht nach Mutterfreuden, und erhöhte die gottverlassene Stimmung dieses dunklen Weltwinkels.
Eben wollte der Fremde wieder ins Haus zurückkehren, da hörte er auf der Straße von Süden her, die er selbst gewandert war, Peitschenknallen und das Knirschen und Kreischen von Rädern, die sich mühsam durch die tiefausgefahren schlammigen Geleise bergan arbeiteten. Gleich darauf bog ein leichtgedeckter Wagen um die Ecke und hielt vor dem Wirthshause. Nun erschienen Lichter in der Hausthür, eine weibliche Stimme fragte nach Diesem und Jenem, die Wirthin antwortete in ihrem gutmüthigsten Tone, dann stiegen zwei Frauen aus, die etwas in Tücher Gehülltes sorgfältig ins Haus trugen. Der Knecht half dem Kutscher seine Pferde ins Trockne bringen, und nach wenigen Minuten war Alles still wie zuvor.
Das war wie ein Schattenspiel an dem Fremden vorbeigehuscht, ohne seine Neugier oder gar seine Theilnahme zu reizen. Noch einmal sah er gegen die Wolkenschicht hinaus, ob sie nicht Miene mache sich zu zertheilen; dann schritt er wieder dem Hause zu, eben als in dem Zimmer der Gaststube gegenüber Lichter erglänzten und Schatten hinter den Vorhängen hin und her wankten. Er händigte dem Knecht die Laterne wieder ein, gab ihm einen Auftrag wegen Angeln und Köder, die er brauche, und kehrte in sein Zimmer zurück.
Hier zündete er das Licht an, das in einem verbogenen zinnernen Leuchter auf dem wackligen Tischchen stand. Dann öffnete er das Fenster, um die dumpfe Luft hinauszulassen, und sah eine Weile dem Spritzen und Platschen der Dachtraufe zu, in der ein alter Flaschenkork rastlos hin und her tanzte. Darüber hinaus war vor Schwärze des Wolkenhimmels Nichts zu unterscheiden, aber in der Schlucht am See heulte der Wind wie ein gefangenes Thier, und die Bäume in der Nähe des Hauses ächzten unter der Wuth der Regengüsse. Es war nicht gut sein da an dem offenen Fenster. Doch der Fremde schien der düsteren Musik des Unwetters begierig zu lauschen, und erst, als der Sturm den Regen wagerechter ihm ins Gesicht trieb, trat er ins Zimmer zurück und ging nun zwischen den nackten Wänden langsam auf und ab, die Hände auf dem Rücken, mit einem ganz ruhigen Gesicht und Augen, die Alles oder Nichts zu sehen schienen. Endlich holte er aus seiner Reisetasche Schreibzeug und eine kleine Mappe hervor, setzte sich neben die trübe Kerze und fing an Folgendes zu schreiben:
»Ich will doch nicht einschlafen, Karl, ohne dir gute Nacht zu sagen. Wie müde ich bin, hast du mir vor sechs Wochen, als wir uns leider nur so flüchtig wiedersahen, wohl angemerkt. Damals hätte ich sprechen sollen, um, wie wir es seit Jahren gewohnt waren, auch über dies Capitel der Pathologie mich mit dir zu verständigen. Ich könnte dann jetzt in aller Muße meine letzte Cigarre rauchen, statt mit dieser stumpfen Feder mich und dich zu langweilen. Aber die Lippen waren mir damals wie zusammengenäht. Auch hätten wir uns wahrscheinlich gezankt, und da Jeder am Ende bei seiner Meinung geblieben wäre, warum sollten wir uns die paar Stunden verderben? Denn ich kenne ja deine Grundsätze und weiß, wenn du hier wärest, würdest du Alles aufbieten, mich, wie man es nennt, mit dem Leben wieder auszusöhnen. Aber wahrhaftig, du hättest sehr Unrecht, zu glauben, ich sei Schuld daran, daß es zwischen mir und dem Leben zu einer Todfeindschaft gekommen ist, die Nichts heilen kann, als Scheidung. Ich lebte gerne, wenn es mich leben ließe. Ich bin nicht so feige oder so verweichlicht, daß mich einige ›Stöß' und Schleudern des wüthenden Geschicks‹ gleich außer mir brächten, bis zu dem Entschlusse, aus der Haut zu fahren, in der eigentlichsten Bedeutung des Wortes. Wer wird den unerforschlichen Mächten gleich den ganzen Bettel vor die Füße werfen, weil ihm Manches nicht gefällt und Vieles unbequem ist? Sie sind vielleicht blinder und unzurechnungsfähiger, diese ewigen Mächte, als wir glauben, und wir, als die Vernünftigeren, sollen nachgeben lernen. Aber da steckt's eben. Ich glaube nicht, daß ich noch lange die Rolle des Vernünftigeren spielen könnte, wenn es so fortginge. Die verzweifeltsten Versuche, aus dem Schiffbruch meines Seelenfriedens wenigstens die nackte Vernunft zu retten, sind fehlgeschlagen. Wie ich vorhin da in der Dachtraufe unter meinem Fenster einem alten Pfropfen zusah, der, vom Regen gepeitscht, lächerlich hülflos in der trüben Lache tanzte, überschlich mich plötzlich der Gedanke, das sei mein eigenes Gehirn, das sich aus meinem heißen Schädel weggestohlen habe, um ein Regenbad zu nehmen. Wenn man eine Viertelstunde braucht, um von einer so absurden Vorstellung wieder zurückzukommen, wirst du gestehen, daß nicht viel dazu gehört, den mürben Faden der Ideenassociation vollends durchzureiben. Und ich kann von den selbstlosen Pflichten des Menschen gegen seine Mitbrüder so erhaben denken, wie ich will: es geduldig abzuwarten, bis die scheintodte Seele im lebendigen Leibe sich einsargt, es heranschleichen zu sehen, daß man um sich selber kommt und jammervoll unter das erste beste Hausthier hinabsinkt, um Anderen mehr noch als sich selbst ein Grauen zu werden – dazu gehört der Stumpfsinn eines armen Schafes, das freilich auf den Schlächter warten muß, wenn es auch den Wurm im Gehirn fühlt und der Drehkrankheit unrettbar verfallen ist.
Aber ich vergesse, daß dies Alles dir ein wirres Gerede scheinen muß, da du von meinen letzten Erlebnissen nur so viel weißt, wie alle Welt: daß meine Adoptivschwester vor einem Jahr – gerade heute jährt es sich! – gestorben ist, ihr Vater wenige Tage darauf, die Mutter in diesem Frühjahr. Du weißt, daß diese drei Menschen meine ganze Familie waren, daß ich sie sehr geliebt habe, ja daß sie, außer dir, fast die einzigen Menschen waren, die mich überhaupt näher angingen. Sie so rasch verloren zu haben, wäre nur unter allen Umständen ein tiefer Kummer gewesen. Aber ich hätte ihn am Ende verwunden und rüstig fortgelebt, wenn ein Blitzstrahl sie mir alle in einer Stunde geraubt hätte. Es ist ja wahr: jeder Mensch ist unersetzlich, aber kein Mensch unentbehrlich. Die Wissenschaft, mein Beruf, meine Jugend hätten den Riß vernarbt. So aber klafft er noch immer, und das Bluten ist nicht zu stillen. Denn diese drei theuren Menschen lebten wohl heute noch, wenn ich nicht gewesen wäre! – – –
Ich muß weiter ausholen, um dies finstere Wort zu erklären.
Du weißt, Karl, daß ich meine eigenen Eltern kaum gekannt habe, daß ich nach dem Tode meines Vaters in dem allgemeinen Waisenhause erzogen worden wäre, wenn sich nicht jenes edle Paar des armen Chirurgensohnes erbarmt und ihn an Kindesstatt angenommen hätte. Mein Adoptivvater war schon damals einer der reichsten Kaufleute unserer Stadt. Acht Jahre hatte er in kinderloser Ehe gelebt, als er mich ins Haus nahm. Er hoffte, ich würde ihn und seine Frau und das stille Haus erheitern; aber leider dankte ich den beiden trefflichen Menschen, obwohl ich sehr an ihnen hing, ihre Liebe und Sorge anfangs nur schlecht. Ich war ein verschlossener, reizbarer, sehr unliebenswürdiger Knabe, schon früh zum Grübeln und Brüten geneigt. Zwischen tagelanger Stummheit und plötzlichen leidenschaftlichen Ausbrüchen schwankte ich widerwärtig hin und her, und heute noch denke ich mit tiefer Beschämung der wahrhaft ehrwürdigen Geduld, mit der meine Pflegeeltern mich ertrugen und mein Temperament zu mäßigen suchten, ohne es mich je nur durch einen Blick empfinden zu lassen, daß ich ihre Hoffnungen täuschte.
Das wurde plötzlich anders. Ich war etwa zwei Jahre im Haus, als der Herzenswunsch meiner Pflegeeltern in Erfüllung ging und ihnen ein Kind beschert wurde, das schönste, begabteste, holdseligste Geschöpf, das ich je gesehen. Mit einem Schlage wurde die Luft im Hause hell, ich selbst ein vernünftiger, gutwilliger Bursche, in das kleine Mädchen vernarrt wie eine Kinderfrau. Ich schleppte mich stundenlang mit ihm herum, lehrte es gehen und sprechen und konnte meine liebsten Beschäftigungen und alle meine Schulfreunde darüber vergessen. Auch gegen die Eltern war ich wie umgewandelt, und sie selbst, statt mich nun entbehrlicher zu finden, schienen ihre Güte zu verdoppeln und uns beide stets als ein leibliches Geschwisterpaar zu betrachten, das gleiche Ansprüche auf ihre Zärtlichkeit habe.
Jahre vergingen so, und mein brüderliches Gefühl für die kleine Ellen wuchs nur noch mit den Jahren um so mehr, da eine seltsame Aehnlichkeit unserer Naturen immer deutlicher zu Tage kam. Auch sie war keins von den sanften, schmiegsamen, leicht zu lenkenden Mädchen, die ihren Müttern so wenig Noth machen, wie einst ihren Männern. Sie konnte von der tollsten Lustigkeit plötzlich in die tiefste Schwermuth überspringen – so weit man bei einem Kinde von Schwermuth sprechen kann. Dann schlich sie wohl aus dem Garten, wo ihre kleinen Freundinnen tobten und lachten, mit einem ernsthaften Gesicht heimlich weg auf mein Gymnasiastenstübchen, setzte sich mir gegenüber an den Schreibtisch und fing an in dem ersten besten meiner Bücher zu lesen. Ich war schon auf der Schule mit Leib und Seele Naturforscher und hatte nie einen andern Gedanken, als Medicin zu studiren, wie mein Vater. Da zeigte ich ihr meine Sammlungen, erklärte ihr das Skelett eines großen Affen, das ich in einem Winkel zu Häupten meines Bettes stehen hatte, und sprach mit dem kleinen Ding die unkindlichsten Sachen. Dafür steckte sie mich wieder ein andermal mit ihren Kindereien an; ich kochte mit ihr für ihre Puppen, behandelte diese, wenn sie am Scharlach daniederlagen, den ich ihnen erst künstlich angepinselt hatte, oder bepflanzte ihren kleinen Garten mit allerlei Heilkräutern aus meiner Botanisirtrommel. Zärtlich waren wir nie mit einander. Ein einziges Mal hab' ich sie auf den Mund geküßt, das war, als ich, neunzehn Jahr alt, nach der Universität abreis'te. So schwer es mir ankam, aus dem Elternhause wegzugehen, so glaubte ich es doch meiner Manneswürde schuldig zu sein, mir nichts merken zu lassen, obwohl mir die Stimme versagte, als die gute Mutter mich mit Thränen umarmte. Die kleine achtjährige Ellen stand blaß und stumm dabei. Ich wandte mich mit einem Scherz zu ihr, gab ihr allerlei spaßhafte Aufträge, da ich sie zur Pflegerin meines Thierreichs in Kampher und Spiritus bestellt hatte, und schlang dann zutraulich den Arm um sie zum Lebewohl. Aber indem ich sie herzlich küßte, fühlte ich mit Schrecken, daß sie heftig zusammenzuckte, als hätte sie eine Schlange gestochen, und wie in einer plötzlichen Ohnmacht zurücktaumelnd die Augen schloß. Sie kam gleich wieder zu sich und schrieb mir schon am andern Tage einen recht kindisch lustigen Brief. Seitdem aber habe ich ihre Lippen nur einmal wieder berührt – als sie kalt und für immer geschlossen waren.
Wie es dann weiterging, die sechs Jahre, während deren ich mich auf verschiedenen Universitäten aufhielt, wie ich's fand, wenn ich in den Ferien nach Hause kam, das wäre eine lange und ziemlich eintönige Geschichte. Es kam etwas Fremdes zwischen uns Geschwister, zum Theil wohl durch meine Schuld, da mich meine wissenschaftlichen Interessen immer ausschließlicher in Beschlag nahmen. Das wunderliche Kind wurde von Jahr zu Jahr stiller gegen mich, und nur noch in ihren allerliebsten Briefen klang ein Ton unserer Kinderzeit durch; aber auch die Briefe wurden seltener. Aeußerlich entwickelte sie sich ganz wie sie versprochen hatte. Sie war schon mit vierzehn Jahren ausgewachsen, noch ein wenig schmächtig, aber eine vollkommene junge Dame. Das kleine Bild, das ich dir einmal von ihr gezeigt, glich ihr nur wenig, denn, wenn ich so sagen darf, ihr Charakter war reifer, als ihre Züge, und zeigte sich nur in ihrer Art, sich zu bewegen. Eine vornehme Stille, eine kaum verhehlte Gleichgültigkeit gegen sehr Vieles, was sonst in ihren Jahren lockend erscheint, machte sie oft förmlich unnahbar. Dann wieder, wenn sie Jemand etwas Liebes erweisen wollte, ein Lächeln, ein demüthiges, schüchternes Sichhingeben – es ist das nicht zu schildern. Wenige kannten ihren ganzen Werth, das Wahre, Unbestechliche ihrer jungen Seele, den weichen Kern in der herben Schale. Und zu diesen Wenigen gehörte nicht einmal ihr eigener Bruder.
Denn ich war viel zu sehr in meine Arbeiten vertieft, viel zu eifrig hinter den Räthseln des physischen Lebens her, um für das Geheimniß dieses jungen Herzens viel Wißbegierde übrig zu haben. Und seltsam, obwohl ich ein sinnlicher Mensch war und, wie du weißt, kein Tugendmuster, und doch Augen im Kopfe hatte, um zu sehen, daß meine bisherigen Liebschaften neben diesem wundersamen Mädchen sich ausnahmen wie Kammerzofen neben einer jungen Fürstin: es fiel mir nie auch nur im Traum ein, daß ich mich in Ellen verlieben könnte. Wenn wir getrennt waren, dachte ich kaum an sie. Wenn ich nach Hause schrieb, war es an die Mutter, die mich erst daran erinnern mußte, was ich meiner kleinen Schwester schuldig war. Das schweigsame Kind äußere sich nie darüber, aber es scheine ihr sehr weh zu thun, und einmal, da ich sie sogar zu grüßen vergessen, habe sie eine ganze Nacht durchgeweint.
Ich beeilte mich, meinen Fehler wieder gut zu machen, schrieb ihr zwischen Scherz und Ernst einen sehr zerknirschten Brief, in dem ich mich der schwärzesten Missethaten gegen mein treues Schwesterchen anklagte und ihr betheuerte, wie tausendmal sie zu gut sei für den versteinerten Egoisten, dem unter Skeletten und Präparaten sein eigenes Herz zu einem Phantom erstarre. Wie lieb und gut sie darauf erwiederte, ist nicht zu sagen. Seitdem war – oder schien doch – unser altes brüderliches Verhältniß wiederhergestellt.
Damals war sie vierzehn Jahr. Ich machte mein Doctorexamen gerade an ihrem fünfzehnten Geburtstage, und wir wechselten lustige telegraphische Glückwünsche. Dann reis'te ich ein Jahr mit dir, und du entsinnst dich wohl, daß mir die Briefe von Hause manchmal eine leise Sorge machten. Ellen, schrieb die Mutter, sei nicht recht frisch. Sie klage nicht, aber es sei nur zu sichtbar, daß sie leide, und ihr alter Hausarzt schüttle den Kopf.
Ich kannte den wackern Mann. Er war noch aus der alten Schule und wollte vom Stethoskop nichts wissen, hatte aber im Uebrigen den Ruf eines erfahrenen Diagnostikers und großer Umsicht und Sorgsamkeit. Das konnte mich indessen nicht beruhigen, zumal die Eltern, die mich für das größte medicinische Genie der Welt hielten, den Wunsch lebhaft äußerten, ich möchte, sobald ich irgend abkommen könnte, eine Consultation mit dem alten Physikus halten. Ich entschloß mich daher, wie du weißt, meine Studien in Paris abzubrechen und eilig nach Hause zu reisen, um selbst nach dem Rechten zu sehen.
Als ich ankam, trat mir Ellen so blühend und heiter entgegen, daß ich einen Augenblick fast unwillig scherzte, ob das die hohe Patientin sei, für die man hundert Meilen weit einen berühmten jungen Arzt verschrieben habe. Das arme Kind! Die Freude, daß ich ihretwegen alles Andere hintangesetzt hatte, gab ihr den täuschenden Schein der fröhlichsten Gesundheit. Bald aber sah ich, daß der alte Physikus nicht umsonst den Kopf geschüttelt hatte. Nur gegen seine Ansicht, die er mir nicht vorenthielt, als ob eine Tuberculose im Anzuge sei, lehnte ich mich entschieden auf. Ich hatte bei der sorgfältigsten Auscultation und Percussion die Lunge vollkommen gesund gefunden und dagegen gewisse Störungen und Unregelmäßigkeiten im Herzschlage zu erkennen geglaubt, die mich in meiner Ansicht, alle Krankheitserscheinungen aus dem Blut- und Nervenleben zu erklären, nur bestärkten. So erschien mir seine Behandlung, die durchaus aus Ruhe und Entziehung aller Reizmittel gerichtet war, völlig verkehrt, da ich gegen den bleichsüchtigen Zustand Eisen, Wein und kräftige Nahrung verordnen zu müssen glaubte und die Molken, mit denen der Alte meine arme Schwester hinhielt, geradezu für Gift erklärte. Die Eltern traten sofort auf meine Seite, zumal der Erfolg in den ersten Wochen, so lange ich bei ihnen war, meine Diagnose zu bestätigen schien. Ellen fühlte sich kräftiger und frischer als je, Schlaf und Eßlust kehrten zurück, und während sich der erfahrene alte Praktiker gekränkt und bekümmert zurückzog, genoß ich in meiner Vaterstadt nicht ohne Selbstgefälligkeit den ersten Ruhm, der noch auf so schwachen Füßen stand, und die Freude, den Meinigen als ein Retter aus schwerer Gefahr erschienen zu sein.
Indessen war ich von Anfang an nicht Willens gewesen, mich an diesem Orte niederzulassen; ich fühlte, daß ich noch zu viel zu lernen hatte und eine Stadt wählen mußte, die größere Hülfsmittel bot. Ich instruirte daher den zweiten Arzt des Städtchens, einen bescheidenen, nicht sehr selbständigen Mann, der gegenüber dem weitgereis'ten jungen Collegen sich unbedingt jeder eigenen Ansicht begab und versprach, sich genau auf dem vorgeschriebenen Wege zu halten und mir über den Fortgang der Kur von Zeit zu Zeit Bericht zu erstatten. Die Eltern sahen mich ungern scheiden, aber mein Glück und die Pflicht gegen meine Zukunft überwogen all ihre Herzenswünsche. Ellen selbst war die Eifrigste, mich fortzutreiben. Ich hätte schon zu viel ihretwegen versäumt, es gehe ja auch besser, und sie wisse nun Bescheid und werde von Niemand in der Welt sich bewegen lassen, etwas Anderes zu thun, als was ich gutgeheißen.
Ich sehe noch das Lächeln, mit dem sie mir nachwinkte, da sie vor verschluckten Thränen nicht sprechen konnte. Ach, Karl, es war das letzte Mal, daß ich diese treuen Augen lächeln sah! –
So reis'te ich in völliger Verblendung ab und war auch in der nächsten Zeit von der neuen Praxis, die ich in M. anfing, so völlig in Beschlag genommen, daß ich aus den Briefen der Meinigen immer nur das Beste herauslas. Zumal Ellen's häufige Berichte, die fast eine Art Tagebuch enthielten, wiegten mich in eine so triumphirende Sicherheit, daß ich, was die Mutter etwa an Sorge und Beklommenheit zwischen den Zeilen durchblicken ließ, auf übertriebene mütterliche Zärtlichkeit schob. Mein College suchte ebenfalls jedes etwa bedenkliche Symptom aus Respect vor meiner grünen Allwissenheit zu Gunsten meiner Diagnose zu deuten, und so lebte ich in immer rosigerem Nebel dahin, bis plötzlich die volle Nacht über mich hereinbrach.
Ellen's Briefe, die schon in den letzten Wochen kleinlauter geworden waren, blieben plötzlich aus. Statt dessen schrieb – etwa ein halbes Jahr nach meiner Abreise – der Arzt, daß ihm eine neue Consultation sehr erwünscht wäre. Es habe sich in den letzten Tagen Manches so verändert, daß er nicht in der alten Weise vorzugehen wage. Die Eltern baten ebenfalls inständig, daß ich kommen möchte.
Und doch konnte ich noch zögern, freilich nicht aus leichtfertigen Gründen, sondern weil bei einigen meiner Patienten gerade Tod und Leben auf dem Spiele stand. Da endlich schreckte mich ein Telegramm aus meiner Saumsal aus. Ein Blutsturz war eingetreten; wenn ich nicht augenblicklich käme, schrieb die Mutter, würde ich sie vielleicht nicht mehr am Leben finden.
Spät in der Nacht kam ich an, selbst wie ein Todkranker. Denn aus der fürchterlichen Reise war es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen gefallen, und mit demselben Scharfsinn, den ich damals aufgeboten hatte, um mich in meinem Irrthum zu befestigen, suchte ich nun alle Gegengründe hervor und ließ mich recht geflissentlich von der Ueberzeugung peinigen, daß ich, ich ganz allein, dieses theure junge Leben zu verantworten hätte. Ich schwankte jammervoll die Treppe des so wohlbekannten Hauses hinauf. Als mir oben die Mutter entgegenkam, thränenlos, aber mit ganz verwirrtem Blick, und sagte: du kommst zu spät! – war es mir fast eine Erlösung. Ich hatte mich vor den Augen meiner armen Schwester gefürchtet, wie ein Mörder vor dem brechenden Blick seines Opfers.
Und doch war es fast noch furchtbarer, in das stille Gesicht zu sehen, das heiter und ohne jeden Vorwurf in den Kissen ruhte. Auch sonst klagte Niemand mich an. Sie glaubten noch alle an mich und gaben anderen Zufällen die Schuld. Ich aber war wie zerschmettert unter der Wucht meines Grams und Jammers und der wildesten Selbstanklage. Wie mir der Vater, schwer wie ein todter Körper, in die Arme stürzte, als ich das Sterbezimmer betrat, und so fassungslos in Schluchzen ausbrach, daß die Leute unten auf der Straße stehen blieben, und dann die alten Dienstboten, die das Kind vergöttert hatten, und die Mutter, die völlig verwandelt schien – noch heute sträubt sich mir das Haar, wenn ich die fürchterliche Stunde zurückdenke. Die alte Frau rief nach Wein für mich, wir wollten auf Ellen's Gesundheit trinken. Der »sogenannte liebe Gott« werde wohl nichts dagegen haben. Aber als der Bediente ein Glas brachte, nahm es ihm der Vater vom Teller weg, warf es gegen die Wand und sagte: Entzwei und vorbei, entzwei und vorbei! – und das wohl hundert Mal, bis ihm die Stimme im Weinen erstickte. Da führte ihn die Mutter hinaus, und ich blieb mit der Todten allein.
Nichts mehr von dieser Nacht. Genug, daß ich bei der Section die volle Gewißheit erhielt, mit welch ahnungsvollem Scharfblick der alte Physikus die Gefahr vorausgesagt hatte. Ware sie noch abzuwenden gewesen? Wer kann es mit Sicherheit sagen, ob ein Brand zu löschen ist, wenn er Wind- und Nahrungsstoff nicht genau kennt? Ich aber hatte mit beiden Händen Oel in das Feuer gegossen, das dieses unschuldige Leben hinraffte!
Du kannst denken, daß ich kein Auge schloß. Als ich am Morgen mit Fieber und nagenden Schmerzen noch unverrückt neben dem kalten Bette meiner Schwester saß, ging die Thür auf, und die Mutter trat herein. Sie hatte sich wieder in ihre eigentliche Natur, die sanft und hochherzig war, zurückgefunden, nachdem der Krampf des ersten Schmerzes vorüber war. Sie fiel mir jetzt mit heißen Thränen um den Hals, und auch meine brennenden Augen fingen an überzugehen. Lieber Sohn, sagte sie, ich bringe dir da ein kleines Packet, das ich in ihrem Schreibtisch gefunden habe. Dein Name steht darauf.
Es waren ihre Tagebücher, seit ihrem zwölften Jahr bis wenige Tage vor ihrem Tode, auf jedem Blatt mein Name, auf dem letzten die Worte: »Ich werde sterben, mein Geliebter, ich fühle es. Aber ich beklage mich nicht. Ich habe dich gekannt und dich lieben dürfen – was soll mir das Leben noch bringen? Ich wünsche nichts mehr, als daß du erfährst, daß ich nur für dich und von dir gelebt habe!« – Und das ihrem Mörder!! –
Was nun folgte, so kläglich es war, der Tod des Vaters, die vergrämten Wittwentage der armen Mutter, bis das Kind auch sie sich nachzog – mich konnte es kaum noch erschüttern. Es war so finster in mir – was lag daran, ob noch ein Fünkchen auslosch? Daß sich das nie verwinden und vergessen ließe, daß jede Hoffnung hin war, noch einmal ein froher Mensch zu werden, stand von Anfang an fest in meiner Seele. Ich mochte mir hundertmal vorsagen, daß ich im besten Glauben geirrt, daß keinem von all unsern Berufsgenossen ähnliche Erfahrungen erspart bleiben und Niemand für etwas Anderes, als seinen Willen, verantwortlich sei. Lasteten diese drei Menschenleben darum weniger auf meinem Herzen, und konnte ich je hoffen, mich selber loszusprechen, auch wenn alle Geschworenen im Himmel und auf Erden mich begnadigten? Meinen Wohlthätern hatte ich ihre einzige wahre Lebensfreude entrissen und ihr Vertrauen so tödtlich betrogen! Wie sollte ich je wieder Menschen zumuthen, ihr Leben in meine Hand zu geben, da ich das mir kostbarste Leben so jämmerlich verwahrloset hatte!
Ich weiß, Karl, was du einreden wirst. Du hast mir oft gesagt, ich sei im Grunde zu weich, um ein Arzt zu sein. Jeder, der uns um Rath und Hülfe angehe, wisse, daß wir Menschen sind, keine allwissenden, allmächtigen Götter, und wage es darauf hin. Der sei der beste Arzt, der sein Gefühl am wenigsten einmische und nie durch Reue über etwas Unabänderliches sich die Thatkraft für das, was noch vor ihm liegt, lähmen lasse. Ich gestehe dir gern zu, daß dies sehr gesunde Grundsätze sind. Aber ich bin krank, Bester, und ich weiß von Krankheiten so viel, daß ich mir die Diagnose stellen muß: die meine ist unheilbar.
Ich habe, sobald die erste Betäubung nachließ, mir gesagt, daß ich's nun tragen müsse, so oder so, und wenigstens versuchen, als ein Handlanger mich nützlich zu machen, wenn ich das Meisterrecht verscherzt hätte. Ich warf mich auf die Theorie, ich sammelte, secirte, beobachtete. Vielleicht hätte ich ohne meine Erlebnisse mich auch da hineingefunden. Jetzt war ein Ekel in mir, der sich gegen all das Herumtasten an den Grenzen unserer Erkenntniß aufbäumte. Ein Feldherr, der eine Schlacht verloren hat, an der das Schicksal eines ganzen Reiches hing, wird, so lange der Krieg fortdauert, schwerlich Lust haben, im Winkel irgend einer friedlichen Bibliothek Taktik und Strategik zu studiren.
Ich dachte, die Zeit sollte mich heilen, mich wenigstens wieder lebensfähig machen, wenn mein Leben auch hinfort im Schatten bleiben müßte. Ich habe es mit einem ziellosen Herumreisen versucht und dabei nur gelernt, was ein sehr abgedroschener Gemeinplatz ist, daß aller Scenenwechsel nicht im Stande ist, aus einem Trauerspiel eine Komödie zu machen. Nur ein einziges Mal schien es, als sollte ich in das Leben, das mir allein lebenswerth schien, in meinen Beruf zurückgelockt werden. Es war auf einem Dampfer, der von Marseille nach Genua fuhr. Die Küste lag schon weit hinter uns, als der Capitän in sichtbarer Bestürzung auf das Verdeck kam und fragte, ob sich unter den Passagieren kein Arzt befinde. Eine Dame sei plötzlich erkrankt und winde sich in heftigen Krämpfen in ihrer Cabine. Ich hatte mich eben zum Schlafen niedergelegt und nahm mir vor, der Sache ihren Lauf zu lassen, da hörten wir ein so heftiges Stöhnen und Aechzen aus der Kajüte heraus, daß es mich nicht ruhen ließ. Ich bat den Capitän, mich hinunterzuführen, und wirklich gelang es mir, mit einigen zweckmäßigen Mitteln, die ich in der Schiffsapotheke fand, der Kranken Linderung zu verschaffen. Nun wollte sie mich nicht wieder fortlassen, sprach beständig in wunderlichem Gemisch von Spanisch und Französisch auf mich ein und nöthigte mich, die Nacht auf dem kleinen Sopha neben ihrer Cabine zuzubringen. Darüber schlief sie endlich ein, und auch mir fielen die Augen zu, müde vom Hinausstarren durch die runde Luke auf die mondhelle See.
Plötzlich fühlte ich etwas wie eine eiskalte Hand, die mir über die Augen fuhr. Ich starrte auf in der Meinung, der Schaum von den Rädern sei hereingespritzt. Da sah ich mit Entsetzen dicht vor mir die Gestalt der todten Ellen, ganz wie ich sie im Sarge gesehen, nur die Augen groß und todt auf mich gerichtet und den weißen Finger auf den Mund gelegt, als ob sie sagen wollte: Verrathe es nicht, daß ich mich hier eingeschlichen habe. Darauf näherte sie sich dem Lager der Fremden und hob den grünseidenen Vorhang auf, sah die Schlafende eine Weile an und nickte traurig vor sich hin, mit einem ernsthaften Blick auf mich, als wollte sie mir einen Vorwurf daraus machen, daß ich dieser Unbekannten Hülfe gebracht und sie selbst hätte sterben lassen; dann kauerte sie sich einen Augenblick wie in tiefer Erschöpfung am Fußende des Bettes nieder, nickte mir dreimal langsam ein Lebewohl zu und zerfloß dann durch die Luke wie ein dünner, weißer Nebelstreif.
Seit jener Nacht habe ich mich an kein Krankenbett mehr gesetzt.
Du weißt, Karl, ich bin kein Phantast, ich glaube nicht an Gespenster und bin so gut wie du überzeugt, daß Alles nur eine Sinnestäuschung, ein Spuk meiner eigenen überreizten Nerven war. Aber was ändert das an der Hauptsache? Litt ich darum weniger, weil meine eigenen Sinne mir Gewalt anthaten? Wer mit sich selbst zerfallen ist, wie kann der auf Frieden hoffen!
Und wer nicht mehr hoffen kann, wie soll der noch leben?
Ich bin ein überzähliger Gast an der Tafel des Lebens geworden. Darum ziehe ich es vor, mich auf Französisch aus der Gesellschaft wegzustehlen und nur dir noch einmal die Hand zu drücken. Ich habe Niemand, dem ich nothwendig wäre, nicht einmal einen Hund. Und nur ein fröhlicher und gesunder Egoist mag es ertragen, sich allein anzugehören und Niemand eine Freude zu machen. Verzeihe mir, Bester! Ich weiß, du wirst mich dann und wann vermissen, aber mich doch lieber nie wiedersehen wollen, als über kurz oder lang in einem Narrenhause, Monologe in der Zwangsjacke haltend!
Dieser Brief ist fast ein Buch geworden; da es das letzte ist, das ich schreibe, magst du ihm seine Länge nachsehen. Ich werde das Couvert mit ruhiger Hand siegeln, da ich nur thue, was ich nicht lassen kann und überdies für das Weiseste halte. Hier in dem einsamen Fischerhause werden sie glauben, ich sei ein verrückter Engländer, da ich bei Fackelschein mitten in der Nacht fischen will. Wenn aber morgen der Kahn leer auf dem See treibt, habe ich eben für meine Narrheit büßen müssen, indem ich eingeschlafen und unvermerkt über Bord geglitten bin. Dabei möge es bleiben für Alle, die mich gekannt haben.
Und nun gute Nacht! Ich gestehe, daß ich mit einer gewissen Neugier ans Einschlafen gehe und Allerlei dabei zu lernen hoffe. Schade nur, daß ich dir meine Beobachtungen nicht mittheilen kann, wie wir es so lange mit all unseren Studien gehalten haben. Auch »was uns im Schlaf für Träume kommen mögen«, bin ich begierig zu erleben, wenn ein Todter überhaupt noch etwas erlebt. – Sonst interessirt mich Nichts mehr. Mein Testament liegt seit einem halben Jahr beim Gerichte. Dich habe ich mit seiner Vollstreckung betraut. – Lebewohl, Karl! Ich danke dir für viel gute und treue Freundschaft. Und das sei das Letzte.
Dein Eberhard.«
Er überlas den Brief nicht, sondern steckte ihn in ein Couvert, siegelte und schrieb die Adresse. Dann sah er wieder in die Nacht hinaus, wo das Unwetter nach und nach vertobte. Er zündete eine Cigarre an und ging wieder auf und ab, die langbeinigen Spinnen betrachtend, die an der niedrigen Decke hinliefen. Er beobachtete eine Weile, wie sie sich dabei benahmen, wenn er ihnen eine dicke Rauchwolke aus den Rücken blies. Dann wurde ihm auch das langweilig, und er starrte gedankenlos auf die weiße Tünche seiner vier Wände.
Da wurde es plötzlich laut in der Gaststube nebenan. Er hörte durch die Thür, wie eine grobe Männerstimme, die weder dem Wirth noch dem Fischerknecht angehörte, sich über ungebührliche Zumuthungen beklagte. Die Frauenzimmer, die gleich immer so jämmerlich thäten, wenn ein Wickelkind den Schnupfen hätte, für ein paar arme Gäule hätten sie kein Herz; die nach einer Fahrt von sieben Stunden, fast immer bergauf, bei diesem Mordwetter und auf den wüstesten Wegen, von der Krippe wegzureißen und wieder fünf Stunden durch die Nacht zu peitschen, gleichviel, ob sie morgen noch einen Schnaufer thun könnten, dazu seien sie nicht zu mitleidig. Aber wenn sie ihm da gleich aufm Fleck hundert Kronenthaler hinzählten, er sei kein Schinderknecht und seine Mähren müsse er im guten Stande wieder abliefern und er wolle auch seine Ruhe haben und nicht unterwegs Arme und Beine brechen oder in einer Regenpfütze ersaufen.
Eine zaghafte weibliche Stimme, die dann und wann flehentliche Einreden versucht hatte, verstummte jetzt, da ein derber Fluch und ein Faustschlag aus den Tisch die letzten Worte begleitete. Der Wirth legte sich kurz angebunden ins Mittel, indem er dem Kutscher Recht gab und dem Knechte befahl, Bier aus dem Keller zu holen. Dann wurde das Gespräch eine Weile zwischen den Männern fortgesetzt. Der Kutscher schimpfte auf die elende Straße, auf der Pferde und Geschirr zu Schanden würden, der Wirth stimmte mit ein und fragte, warum die Herrschaft überhaupt den Weg über den todten See vorgezogen hätte. Eben hatte ihm der Kutscher berichtet, daß ein Erdrutsch die Poststraße auf vierundzwanzig Stunden unfahrbar gemacht, daß aber seine Herrschaft nicht wie die andern Passagiere habe warten, sondern lieber die halsbrechende Reise über den alten Paß fortsetzen wollen, des Kindes wegen, das beständig gewimmert habe – da ging die Thür wieder auf und die Männer schwiegen plötzlich. Eine wohlklingende Frauenstimme ließ sich vernehmen, deren seelenvoller Accent selbst diese rohen Menschen zu bezähmen schien. Wenigstens äußerte der Kutscher, als die Bitte, sofort wieder einzuspannen, wiederholt wurde, fast unterwürfig, daß es durchaus unmöglich sei, und brachte ohne alles Fluchen seine Gründe vor. Das Gewicht derselben schien auch auf die Dame Eindruck zu machen. Sie schwieg ein wenig und fragte dann, ob nicht irgend ein Bote auszutreiben sei, der gegen eine ansehnliche Vergütung den nächsten Arzt zur Stelle brächte; das Kind überlebe sonst vielleicht die Nacht nicht. Wie sie das sagte, zitterte ihr die Stimme so stark, daß es dem unfreiwilligen Horcher in der Nebenkammer durchs Herz ging. Er trat ans Fenster, um durch das Rauschen des Regens die beweglichen Worte übertoben zu lassen. Aber eben jetzt zerriß die Wolkenschicht über dem See, und in der plötzlichen Stille, während eine reingewaschene Mondsichel hervorblinkte, mußte er dem Gespräch nebenan noch weiter folgen. Der Wirth hatte den Knecht hereingerufen, ob er es übernehmen wollte, in den kleinen Marktflecken, der drei Stunden weit unten im Thale lag, hinabzusteigen und den Bezirksarzt herauszuholen. Es sollte ihm nicht auf die schlechten Wege ankommen, sagte der Bursch, wenn die gnädige Frau sich's was kosten lassen wollte, aber es hülfe nichts, denn der Hansel, der Jagdgehülfe, hätte ihm gerade heute gesagt, der Sepp müßte noch an acht Tage warten, bis er sich die Kugel aus dem Schenkel ziehen lassen könnte, weil der Doctor selbst krank läge; er hätte einen Fall gethan mit dem Pferde und der Bader hätte eine unsichere Hand, weil er bekanntlich ein Schnapstrinker wäre. – Dann wieder eine Stille. Darauf hörte man die traurig-sanfte Stimme der Dame, ob es dann nicht möglich wäre, das Kind auf einer Tragbahre hinunterzuschaffen, sie wolle selbst mit tragen helfen, nur noch ein paar zuverlässige Leute brauche sie und einen mit Windlichtern, um den Weg zu weisen. – Das gehe nicht an, sagte nun wieder der Wirth. Eine Trage hätten sie nicht, das Kindel bequem darauf zu betten, auch könnten sie nicht alle von Hause weg; übrigens wolle er doch noch mit seiner Frau sprechen.
Er stand eben mit sichtbarem Widerstreben von seiner Ofenbank auf, als die Wirthin selbst hereinstürzte und jammernd rief, die Kindsmagd lasse die gnädige Frau bitten, hinüberzukommen, an Fortreisen sei nicht zu denken, das Kind sterbe ihr unter den Händen.
Der Lauscher drin in der Kammer trat vom Fenster zurück. Wie von einer fremden Macht getrieben, that er ein paar Schritte nach der Thür, dann stand er wieder und schüttelte seufzend den Kopf. Er versuchte seinen Spaziergang die schmale Kammer auf und ab wieder zu beginnen, aber bei jedem zweiten Schritte stand er und horchte ins Haus hinüber. Seine Cigarre war ihm ausgegangen. Mechanisch trat er an das Licht, sie wieder anzuzünden, aber ehe er sich's versah, hatte er das magere Flämmchen mit seinem Athem ausgelöscht. Nun starrte er im Finstern auf die verglimmenden Funken am Dochte, und es überlief ihn plötzlich ein unheimlicher Schauer. Noch einen Augenblick, und der kleine rothe Punkt verschwand. Vielleicht hing es auch drüben nur an einem Hauch, und ein Lebensstämmchen versank in schwarze Nacht, an dem mehr gelegen war, als an diesem Pfennigstümpschen.
Möge es versinken! Was haben wir für ein Recht, uns einzumischen? Vielleicht, indem wir es neu anzufachen suchen, löschen wir es nur um so sicherer aus mit unseren täppischen Händen. Was liegt auch daran? Einem Menschen mehr oder weniger das Leben gefristet, der selber vielleicht noch einmal wünschen wird, nie geboren zu sein, dem vielleicht eine Stunde kommt, wo er ebenfalls dem einzigen Freunde gute Nacht sagt, auf Nimmerwiedererwachen! – –
Wieder horchte er und verhielt den Athem, um keinen Ton, der von drüben käme, zu verlieren. Da war es ihm plötzlich, als höre er ein klagendes Stimmchen rufen, und gleich darauf die sanfte Frauenstimme, die beruhigend zusprach, dann ein heftiges Weinen – dann eine tiefe Stille. –
Länger litt es ihn nicht in seiner finsteren Abgeschiedenheit. Er wollte nichts weiter, als sehen, wie es stehe; er kam sich wie ein Unmensch vor, daß er allein im ganzen Hause sich in einen fernen Winkel versteckte, während selbst diese rohen Menschen Theilnahme zeigten. Hastig öffnete er die Thür und tastete sich durch die öde Wirthsstube aus den Flur hinaus. Die Thür drüben war nur angelehnt, Lichtschein fiel durch die Spalte, er hörte jetzt deutlich das Kind stöhnen und die Mutter es trösten. Man sollte ihm einen Thee kochen, sagte die Wirthin, daß es in Schweiß käme. Wenn man nur einen hätte! – Die Hollerblüthen droben in der Schachtel thäten's am Ende noch, sagte der Wirth. – Dann wieder still. Nur das Murmeln und Seufzen der Magd war zu vernehmen, die in einer Ecke kniete und ein Vaterunser nach dem andern betete. – Legt ihm noch ein Federbett auf, sagte der Kutscher. Es hat sich verkältet. Schaut nur, wie es mit den Händen herumficht. Es friert. – Am Ofen rasselte der Knecht und bückte sich eben, einen großen Holzblock in die stuckernde Gluth nachzulegen. Da fühlte er eine feste Hand aus seiner Schulter, die ihn zurückhielt. Als er sich umsah, stand der Fremde hinter ihm.
Ihr thut keinen Spahn mehr hinein, befahl ihm der mit einem Tone, der an Gehorsam gewöhnt schien. Und Ihr macht, daß Ihr hinauskommt, und auch Ihr und Ihr, fuhr er, zu den übrigen müßigen Zuschauern gewendet, fort. Es ist eine Luft hier, daß ein gesunder Mensch darin ersticken möchte. Habt Ihr verstanden?
Die andern sahen sich an, nur die fremde Dame und die Wärterin des Kindes bemerkten nicht, daß etwas im Zimmer vorging. Die Mutter lag auf den Knieen vor dem Bette und hatte den Arm um ihr stöhnendes Kind geschlungen, als wollte sie es gegen einen Räuber vertheidigen. Die Wärterin stand neben ihr und starrte rathlos verzweifelnd ihrem Pflegling in die ängstlich herumflackernden Augen und auf das im Fieber brennende Mündchen, dem von Zeit zu Zeit ein schwaches Wimmern entfuhr. Sie erschrak jetzt, als ob sie den Tod leibhaftig herankommen sähe, als der Fremde an das Kopfende des Bettes trat, die Hand an die glühende Stirn und Schläfe legte, das kleine magere Aermchen ergriff und den Puls fühlte. Der Schrei des Entsetzens, den sie unwillkürlich ausstieß, weckte auch die Mutter aus ihrem trostlosen Hinstarren. Sie sah staunend an dem Fremden hinauf, und ein plötzlicher Hoffnungsschimmer durchzuckte ihr Gesicht.
Gnädige Frau, sagte der Fremde, wollen Sie einem völlig Unbekannten vertrauen, der sich zwar nicht vermißt, zu versprechen, daß er Ihr Kind retten werde, der aber ungefähr weiß, was das bischen Wissenschaft in einem solchen Falle zu thun vorschreibt?
Sie vermochte noch nicht zu antworten. Die plötzlich in der höchsten Noth herantretende Hülfe übermannte ihre Seele.
Nehmen Sie, sagte er, indem er eine Karte aus seiner Brieftasche zog; Sie werden meinen Namen nicht kennen, aber der Titel, der ihm vorgedruckt ist, sagt Ihnen wohl, daß schon Andere mir vertraut haben. Ob sie darin Recht oder Unrecht gethan, gehört nicht hierher.
Die junge Frau blieb vor dem Bette liegen, streckte aber die eine Hand, die nicht den Kopf ihres Kindes stützte, dem Fremden entgegen und sagte: Ich glaube, daß Sie mir von Gott gesendet sind, der sich meiner erbarmt hat. Ich vertraue Ihnen.
So lassen Sie sofort einen Krug mit kaltem Brunnenwasser und ein hölzernes Schaff hereinbringen. Das Uebrige werde ich selbst besorgen.
Er öffnete rasch die beiden niedrigen Fenster, nahm das schwere Federbett ab und breitete nur ein großes Plaid als Decke über das Kind; dann rief er den Knecht wieder herein, der mit den Anderen draußen aus dem Flur stand und murrend abwartete, wo diese eigenmächtige Einmischung hinauswolle. Er fragte, ob nicht in der Nähe Eis oder Schnee zu haben sei. – Es gebe wohl eins, erwiederte der Bursch brummig, aber da müsse man eine halbe Stunde durch den Wald hinaufsteigen nach einem Felsloche, wo das Eis nie wegschmelzen könne, weil Sommer und Winter kein Strahl Sonne hinkomme. Morgen früh wolle er einmal nachschauen. – Versteht mich wohl, sagte der Arzt: da lege ich zwei Kronenthaler aus den Tisch. Jetzt haben wir halb zehn. Der Mond steht am Himmel, das Wetter hat nachgelassen. Wer mir bis halb elf einen Arm voll Schnee oder Eis herunterschafft, der hat sich die zwei Kronenthaler verdient. Morgen früh kann er mir einen Gletscher vors Haus fahren, ich zahle ihm keinen Kreuzer.
Schon gut, sagte der Knecht mit einem kurzen Auflachen und schob sich zur Thür hinaus. Indem brachte die Wärterin das Wasser und eine leere hölzerne Bütte. Ohne weiter zu fragen, hob der Fremde das Kind aus dem Bette, entkleidete es rasch und gab es der Mutter zu halten, während er es über und über mit dem eiskalten Wasser abwusch. Er trocknete es dann ebenso behende, trug es wieder ins Bett und umhüllte das glühende Köpschen mit einem feuchten Tuche. Das Kind, das sich eben noch schreiend in seinem Arm gewunden hatte, schien die Wohlthat dieser Erfrischung dankbar zu empfinden. Es hörte auf mit suchenden Blicken herumzufahren, sah einmal still und wie verwundert die Mutter an und schloß dann die Augen mit einem tiefen Seufzer.
Es stirbt! schrie die Wärterin überlaut und brach in heftiges Weinen aus. Ich hab' es mir gleich gedacht, das kalte Wasser und noch dazu bei offenen Fenstern – o Madame, warum haben Sie es gelitten?
Schweigen Sie auf der Stelle, herrschte der Fremde sie an, oder Sie verlassen das Zimmer! Ich hoffe, gnädige Frau, fuhr er in milderem Tone fort, Sie erwarten keine Wunder von mir. Der Kampf, den wir zu kämpfen haben, entscheidet sich nicht in einer einzigen Nacht. Das Kind hat ein heftiges Nervenfieber, und unsere einzige Sorge muß sein, zu verhüten, daß das Gehirn mit ergriffen werde. Aber lassen Sie sich auch nicht durch jedes neue Symptom in neue Aufregung bringen. So weit ich urtheilen kann, sind keine erschwerenden Umstände vorhanden. Sehen Sie, es öffnet die Augen wieder. Die Natur fühlt, daß man ihr zu Hülfe kommt. Wie alt ist das Kind?
Einige Wochen über sieben Jahr.
Ein schönes Kind! So kräftig entwickelt! Was müssen Sie gelitten haben!
Thränen stürzten der Mutter aus den Augen. Sie drückte das Gesicht gegen die kleine heiße Hand, die auf dem dunklen Plaid ruhte, und alle Angst der letzten schweren Stunden lös'te sich wohlthätig in heftiges Weinen.
Endlich erhob sie sich und sank, mit einem dankenden Blicke, auf den Stuhl, den er ihr neben das Bett geschoben hatte. Auch er nahm einen Stuhl und setzte sich an das Fußende, die Augen mit ruhigem Ernst auf das kleine Mädchen geheftet. Sie schwiegen, und die Wärterin, die sich jetzt ihrer unbedachten Hitze schämte, ging von fünf zu fünf Minuten hin und her, den feuchten Umschlag zu erneuern. Draußen war Alles ruhig geworden, die letzten Wolken vom Himmel verweht, der Mond stahl sich schräg durchs Fenster herein und glänzte über die schmale, blasse Hand der Mutter, die das eine Händchen ihres Kindes beständig sanft streichelte. Man hörte die kleinen Bäche, die der Regen gebildet hatte, vorn am Hause vorbeirieseln und den eintönigen Tropfenfall der Dachrinnen, während hinten im Stalle der Kutscher mit den Pferden hantirte und ein Liedchen pfiff.
Plötzlich richtete sich das Kind aus seinem Kissen auf, sah den fremden Mann mit weit offenen Augen an und sagte: Ist das der Papa? Ist er nicht todt? Ich möcht' ihm ein Küßchen geben, Mama. Gelt, er hat mir was mitgebracht? – ich will auf seinen Schooß – wo ist die Sephi? – Ach, mein Kopf! Papa soll mir den Kopf halten – ich will trinken!
Damit fiel das kleine blonde Haupt wieder ins Kissen zurück, und der Schmerz drückte ihm die Augenlider zu.
Eberhard stand auf und hielt ein Glas mit frischem Wasser an das brennende Mündchen. Danke, Papa! sagte das Kind. – Danach ward es wieder ruhiger, und nur das Zucken der halbgeschlossenen dunkelrothen Lippen verrieth, daß es leide.
Ich muß Ihnen erklären, sagte die Dame und wandte sich zu dem schweigsamen Doctor, der wieder seinen Platz eingenommen, wie mein armes Kind auf diese Phantasien kommt. Ach, leider habe ich es mir vorzuwerfen, daß ich selbst den Anlaß zu dieser furchtbaren Erschütterung gegeben habe. Der Vater meines lieben Kindes war österreichischer Offizier. Wenige Monate nach unserer Hochzeit mußt' ich ihn in den italienischen Krieg ziehen sehen. Dann kam von Solferino die Nachricht, daß er mit unter den ersten Opfern des blutigen Tages geblieben sei. Seitdem war es immer mein heißester Wunsch, hinzureisen, und wenn auch kein einzelner Hügel die Stätte bezeichnet, wo mein theurer Mann von seinem kurzen Erdenlaufe ausruht, doch wenigstens einmal die Lust zu athmen, in der sein Herz zu schlagen aufhörte. Auch die Kleine verlangte danach, je mehr sie heranwuchs und es begreifen konnte, was ich ihr vom Tode ihres Vaters erzählte. Es war dann wieder Manches, was mich zurückhielt; auch die Sorge, das Kind, das immer eine leicht erregbare Phantasie und ein weiches Herz hatte, möchte zu sehr von der Reise angegriffen werden. Und nun habe ich es wirklich so schwer zu büßen, daß ich der Sehnsucht nachgegeben. Wenn Sie gesehen hätten, Herr Doctor, wie es auf jedes Wort horchte, das ich ihm von dem Berichte des alten Invaliden dort am großen Monument auf der Wahlstatt übersetzte, wie es mich ausfragte, mit brennenden Wangen und glänzenden Augen – es war weit über seine Jahre. Es fröstelte, als ich es nach Hause brachte, und gleich die Nacht klagte es über Kopfweh und schlief keine halbe Stunde. Aber vom Vater sprach es keine Silbe mehr, bis eben jetzt, wo es glaubte, ihn an seinem Bette sitzen zu sehen. Ich hätte dann vielleicht besser gethan, zu bleiben, wo ich war. Aber ich fürchtete mich vor den italienischen Aerzten und stellte mir auch die Gefahr nicht so groß und dringend vor. Im eigenen Wagen, dacht' ich – denn ich nahm, sobald wir die Eisenbahn verließen, Extrapost – würden wir's meinem armen Kinde fast so bequem machen können wie in seinem Bettchen, zumal das Wetter milde war und es selbst ängstlich nach Haus verlangte. Dann überraschte uns das Ungewitter gerade auf dem schlimmsten Stück des Weges, und wir dankten Gott, als wir das Haus erreichten. Aber was wäre hier aus uns geworden ohne Ihre Hülfe!
Sie wandte sich von dem finster Schweigenden ab, um ihre überströmenden Augen zu trocknen. Dann saßen sie wieder stumm einander gegenüber. Er fühlte sich versucht, sie zu bitten, daß sie immer fortsprechen möchte. Es war etwas in ihrer Stimme, das ihm unendlich wohl that, als lege sich eine sanfte, kühle Hand aus seine fiebernde Seele. Aber er sah, wie sie wieder allein mit dem Kinde beschäftigt war, und er selbst hatte ihr Nichts zu sagen. Er betrachtete sie nun bei dem schwachen Kerzen- und Mondlichte, und die Stirn und die Bildung der Augen, die sehr vornehm, traurig und milde blickten, erinnerten ihn lebhaft an seine Pflegemutter, die oft genug so mit zärtlicher Sorge ihn angesehen hatte. Die Gestalt war voll und schmiegsam, jede Bewegung des Kopfes auf dem schlanken Halse voll Anmuth. Das reiche dunkelblonde Haar hing ihr nachlässig in den Nacken hinab; Alles an ihr zeigte die Gewohnheiten eines reichen, durch Bildung und Geschmack geadelten Lebens, dessen Schmuck und Reiz plötzlich werthlos geworden war, gegenüber der drohenden Gefahr, in der ihr bestes Kleinod schwebte.
Die Thür wurde jetzt vorsichtig geöffnet und der Knecht schleppte eine große Bütte voll Eis herein, sich den Schweiß von der Stirne trocknend. Er zeigte triumphirend aus seine Taschenuhr, auf der noch zehn Minuten an der ausbedungenen Stunde fehlten, steckte die wohlverdiente Belohnung in seinen Lederbeutel und fragte, nun völlig dienstwillig, ob man ihn sonst noch brauchen könne. – Er möge nur schlafen gehen, erwiederte der Doctor. Dann bereitete er selbst aus einem Stück Wachsleinwand, das er aus dem Futter seiner Reisetasche riß, einen Beutel für die Eisumschläge und wies die Wärterin an, wie sie auf die Stirn zu legen seien. Nein, sagte die Dame, du legst dich jetzt nieder, Josephine, du hast sechsunddreißig Stunden kein Auge zugethan. – Hat denn etwa die gnädige Frau geschlafen? wandte die Dienerin ein. Ich brauche es nicht so sehr, wie Ew. Gnaden. Ich habe doch wenigstens gegessen. – Thu' was ich sage, erwiederte die Mutter. Ich weiß, daß es mir doch nichts hülfe, wenn ich auch zu schlafen versuchte. Morgen früh vielleicht, wenn die Nacht ruhiger gewesen ist.
Erlauben Sie mir Ihren Puls! sagte jetzt der Doctor. – Gleich darauf verließ er, ohne ein Wort zu sagen, das Zimmer. Die beiden Frauen sahen ihm verwundert nach, und die Dienerin, eine schon bejahrte, unförmlich dicke Person, mit einem runden, von Pockennarben dichtgefurchten Gesicht und gutmüthigen schwarzen Augen, benutzte die Pause, jetzt ebenso begeistert das Lob des unbekannten Helfers zu singen, wie sie vorher eifrig gegen ihn geredet hatte. Er hat so was Apartes, sagte sie, man sollt' denken, er sei selbst nicht recht gesund, aber es sieht ihm ein gutes Gemüth aus den Augen, und wie er Alles angreift, und wie er unserem Kinde das Köpferl hält, als wär' er sein Lebtag Kindsfrau gewesen, und dabei ist er noch ein so schmucker Herr und kann noch gar nicht alt sein, und manchmal wieder, wenn er so finster dasitzt, sollt' man glauben, er habe nie in seinem Leben gelacht, und dann drückt er die Augen zu, als habe er Stiche in der Brust und wolle nur nichts davon merken lassen.
Indem kam der Beredete wieder zurück, ein großes Glas Milch in der Hand, das er der Dame hinreichte, wie man einem Kinde eine Arznei bietet. Trinken Sie, gnädige Frau, sagte er, sie ist frisch gemolken und wird Ihnen gut thun. Denn Sie bedürfen durchaus einer Stärkung für ihre Aufgabe, und Besseres haben wir hier nicht bei der Hand. Es wäre gut, wenn auch die Kleine zu trinken versuchte, wär's auch nur ein wenig. Reichen Sie ihr das Glas, und reden Sie ihr zu. Sehen Sie, es geht. Wir müssen die Kräfte des Kindes auf alle Weise zu beleben suchen, damit sie jeden neuen Sturm abschlagen können. Und jetzt folgen Sie mir und legen sich dort auf das Bett. Ich bleibe wach, und die Jungfer kann auch noch ein paar Stunden den Schlaf entbehren. Wenn Mitternacht vorüber ist, weck' ich Sie wieder; dann mag die Wärterin schlafen. Nein, sagte er fast heftig, als sie Einwendungen machen wollte, Sie folgen mir jetzt, oder ich muß glauben, daß es Ihnen mit dem Vertrauen, das Sie mir zeigen, nicht Ernst ist.
Sie trat noch einmal an das Bett, wo das Kind jetzt, von dem Eisumschlage wohlthätig beruhigt, zu schlafen schien. Sie beugte sich über das zarte Gesichtchen herab und küßte die Augen, die ruhig geschlossen waren. Ich gehorche Ihnen, sagte sie dann, und ein schwaches Lächeln überhauchte ihren Mund. Sie versprechen mir, daß Sie mich wecken, sobald es wieder schlimmer wird.
Er drückte ihr die Hand und nahm ihren Platz am Bette ein, während die Dienerin ihr half, auf das zweite Bett hinten in der Ecke sich niederzulegen, nachdem ein Berg von Federkissen bei Seite geschafft war.
Nach einer Viertelstunde kam die Getreue auf den Zehen herangeschlichen, beugte sich zu dem Sitzenden hinab, haschte, ehe er es hindern konnte, eine seiner Hände, die sie hastig an die Lippen drückte, und flüsterte: Gott sei Lob und Dank, sie schläft! Ach, Herr Doctor, Sie können Wunder thun! Seit vier Nächten ist es die erste, wo die Gnädige wieder einmal die Augen schließt. Erst der Gram und die Aufregung, bis wir nach dem unglückseligen Schlachtfelde kamen, und dann unser Kind – ! Wenn ich Ew. Gnaden sagen wollte, was meine Herrschaft für ein Engelsbild ist –
Ein andermal! unterbrach er sie. Jetzt habt Ihr nichts weiter zu thun, als Euch ebenfalls aufs Ohr zu legen und nicht eher aufzustehen, als bis ich es Euch heiße. Ihr seid hier völlig überflüssig und müßt morgen wieder auf dem Platze sein. Da sind Kissen und Decken genug. Macht Euch ein Bett neben dem Ofen und gute Nacht. Keine Widerrede, hört Ihr wohl? Wollt Ihr Eure Frau aufwecken mit unnützem Wortwechsel?
Die gute Person sah ihn scheu und demüthig an, schleppte sich ein Federbett in einen Winkel, und nach wenigen Minuten war an ihren tiefen Athemzügen zu hören, daß auch sie die Beschwerden der letzten Tage friedlich ausschlief.
Bald darauf ging der Mond wieder hinter Wolken, und nur ein schwacher Glanz vom Sternenhimmel lag auf dem Stück des Sees, das der einsame Wächter am Krankenbette durchs Fenster überschauen konnte. Jetzt zuerst fühlte er Hunger und Durst und trank den Rest der Milch aus dem Glase, das noch auf dem Tische stand. Als er es wieder hinstellte, glaubte er die Dame aus ihrem Bette convulsivisch sich bewegen zu sehen und näherte sich ihr auf den Zehen. Sie fuhr sich im ängstlichen Traume mit beiden Händen über die Augen, als wolle sie Thränen wegwischen, schlief aber fort und die Hände sanken wieder müde herab. Er sah lange unverwandt in das schöne Gesicht, auf dem sich die Träume spiegelten, wie zerrinnende Wolkenschatten über einem windstillen See, Kummer – Angst – Hoffnung! Nun lächelte sie, und wie die zartgeschwungene Lippe sich leise bewegte, wurden die weißesten Zähne sichtbar. Gleich darauf verdüsterte sich die Stirn, die Brauen zogen sich flehentlich zusammen, sie erhob beide Hände, um sie fest zusammenzufalten; da sah er an ihrem Ringfinger zwei Trauringe stecken und dachte darüber nach, ob der zweite dem Vater des Kindes gehört habe, oder wer es wohl sein möchte, der jetzt ein Recht aus diese Hand hätte. Aber ein Schmerzenslaut der Kleinen ließ es ihn nicht zu Ende denken. Er legte nur noch die Decke, die halb herabgefallen war, wieder zurecht und wickelte die kleinen Füße der Fremden, die noch in den Schuhen steckten, fester hinein; dann begab er sich wieder an sein Amt, das Eis zu erneuern, das schon nach einer Viertelstunde zergangen war, und dann und wann mit ein paar Tropfen Wasser das heiße Mündchen zu kühlen.
Wie es Mitternacht wurde, erhob sich ein lebhafter Windstrom über dem See, und den jungen Arzt überschauerte ein Frösteln, da die Fenster weit offen standen. Er griff nach der ersten besten Hülle, die bei dem Reisegepäck lag, und wickelte sich hinein. Es war ein langer, weicher, mit Seide gefütterter Burnus der Fremden, dessen Capuze er sich über den Kopf zog. Ein eigener Veilchenduft umgab ihn, die Seide legte sich sanft an seine Wangen, ihm war wunderlich wohl in dieser Vermummung. Aber obwohl er oft fünf Minuten lang die Augen schloß und dann eine wirre Bilderflucht an seinem Geiste vorüberjagen sah, wandelte ihn doch keine Schlaflust an.
Plötzlich riß er die Augen weit auf, fuhr vom Stuhl in die Höhe und starrte, am ganzen Leibe zitternd, durch das Fenster auf den See. Mitten aus der dunklen Fläche kam etwas Weißes herangeschwebt, wie eine langsam wandelnde verhüllte Gestalt, die gerade auf das Haus zustrebte. Der Mond war wieder hervorgetreten und beleuchtete eine verirrte Nebelflocke, die sich von den Bergen losgerissen hatte und nun einsam über den See wallte. Als sie in den Windstrom gerieth, der aus der Schlucht scharf herüberwehte, zerflatterte sie, und die Fläche war wieder rein. Aber noch immer stand der Einzige, der dem lustigen Spuk zugesehen, und starrte aus den Fleck, wo er verschwunden war. Der Schweiß war ihm auf die Stirn getreten, der Athem flog ihm, die Augen, weit aus ihren Höhlen gequollen, schienen an die Stelle gebannt, als müsse dort jeden Augenblick die Erscheinung wieder auftauchen. Da faßte plötzlich eine kleine heiße Hand nach der eiskalten des von Entsetzen gelähmten Mannes. Bist du bei mir, Papa? rief die Kleine und richtete sich im Bette aus. Die mageren Aermchen strebten nach seinem Halse hinaus, und ehe er sich besinnen konnte, hatte das Kind sich fest an ihn angehängt und sein glühendes Gesicht an seine Schulter gedrückt. Papa, rief es, geh nicht wieder fort, die Mama weint sonst wieder, und ich muß sterben!
Im Augenblick ließ der Alp des Schreckens ihn frei. Er drückte das schlanke, kleine Wesen fest an sich, als sollte es ihm zum Schutze dienen gegen feindselige Gewalten. So hielt er es einige Zeit im Arme und fühlte, während das Kind ihn liebkoste, wie sein Blut wieder regelmäßiger zu fließen begann. Er küßte das kleine Gesicht und sagte, die feuchten Löckchen streichelnd: Wie heißest du, liebes Kind?
Es sah ihn verwundert an.
Bist du mein Papa, sagte es, und weißt nicht, daß ich dein liebes Fränzchen bin? Ach, ich weiß wohl, sie haben dich todtgeschossen, da hast du mich ganz vergessen. Hat es dir sehr weh gethan?
Ich erzähl' dir's morgen, sagte er, und legte es mit sanfter Gewalt wieder in sein Bett zurück. Jetzt müssen wir still sein, damit die Mama nicht aufwacht.
Gehorsam legte das Kind sich wieder zurecht und schloß die Augen, hielt aber die eine Hand seines treuen Wächters beständig fest und sah ihn von Zeit zu Zeit mit einem ganz wachen, seltsam staunenden Blicke an. Auch er sah beständig in das unschuldige Gesichtchen, als fürchte er sich vor Schreckbildern, die, wenn er sich umsähe, von neuem vor ihm auftauchen möchten.
So wachte er bis an den Morgen. Als die nackten Felsgipfel über dem See sich im ersten Morgenlicht rötheten, wurde es im Hause lebendig. Der Knecht schlich einmal barfuß aus dem Flur heran und steckte vorsichtig den Kopf in die Thür, auf das fast geleerte hölzerne Schaff deutend, ob neue Zufuhr von Eis nöthig sei. Auf ein stummes Kopfnicken des Arztes verschwand er wieder. Dann ließ sich die Wirthin blicken, ebenso behutsam, und deutete, da Eberhard ihr abwinkte, ihre Bereitwilligkeit zu jeder Hülfe an. Die Freigebigkeit des Fremden hatte über Nacht bei allen Insassen des Hauses nachgewirkt. Nur der Kutscher, der den Rausch von gestern Abend noch nicht vollständig ausgeschlafen hatte, polterte in seinen schweren Nagelschuhen mit lautem Murren und Fluchen über den Flur heran, daß die Dame noch halb träumend sich regte und fragte, ob es schon Zeit sei, wieder abzureisen. Noch nicht! erwiederte Eberhard. Schlafen Sie noch eine Stunde. Er ging dann hastig dem Lärmenden entgegen, um ihn vom Eindringen in das Krankenzimmer abzuhalten.
Als er nach wenigen Minuten wieder hereintrat, fand er die Mutter am Bett ihres Kindes sitzend. Warum sind Sie nun doch schon aufgestanden? fragte er vorwurfsvoll.
Schon? erwiederte sie. Sie wollen mich immer tiefer beschämen. Es ist Ihnen leider gelungen, mich zu täuschen und die ganze Nacht hier allein meine Stelle zu vertreten. Warum haben Sie nicht wenigstens mit mir getheilt?
Weil ich den Schlaf entbehren konnte, der Ihnen nur allzunöthig war. Und es war nichts zu thun, was nicht Einer allein verrichten konnte. Seien Sie gutes Muths, gnädige Frau. Wir haben alle Ursache, mit dieser Nacht zufrieden zu sein.
So wäre die Gefahr vorüber?
Ich darf Sie nicht bei diesem Glauben lassen, versetzte er. Denn Sie haben versprochen, mir zu vertrauen, und können es nur halten, wenn ich Ihnen die Wahrheit sage. Aber glauben Sie nun auch, daß Alles so gut steht, wie es in diesem Stadium der Krankheit nur irgend zu erwarten ist. Und die Hausleute sind gutartig und werden das Ihrige thun, uns beizustehen.
Ein Strahl der Freude flog über ihr blasses Gesicht. Was sagen Sie? Uns beizustehen? O mein Freund –
Sie streckte ihm die Hand entgegen, und ihre Augen schimmerten feucht.
Er beugte sich auf ihre Hand, um sie an seine Lippen zu drücken, im Grunde aber, um seine Bewegung zu verbergen. Haben Sie mir zugetraut, sagte er, daß ich Sie verlassen könnte, ehe das Kind außer Gefahr wäre? Und sparen Sie nur Ihren Dank, oder die Sorge, daß es mir irgend ein Opfer koste. Das schwerste habe ich Ihnen schon gebracht. Was nun kommt, ist nur eine Erleichterung.
Sie sah ihn fragend an. Sie haben auch Pflichten gegen Andere, sagte sie, denen ich Sie hier entziehe.
Nein, erwiederte er dumpf. Seit einem Jahre bin ich ein müßiger, unsteter Mensch. Ich habe aus einem Anlaß, der Ihnen sehr gleichgültig sein kann, mir das Wort gegeben, nie wieder praktisch thätig zu sein. Dieses Wort hab' ich gestern Nacht gebrochen, Ihnen zu Liebe. Wenn Sie mich ferner hier dulden wollen, helfen Sie mir nur über die Reue hinweg, und so können wir uns Beide nützlich sein.
Nach einer Pause, während er den Puls des Kindes gefühlt hatte: Sie schläft jetzt ein wenig, sagte er. Wenn Sie etwa einen Brief schreiben wollten, die Ihrigen zu benachrichtigen, so könnten Sie es jetzt in aller Ruhe thun. Der Kutscher, der einstweilen einspannt, würde den Brief nach der nächsten Poststation besorgen.
Ich habe Niemand, den mein Ausbleiben beunruhigen wird, sagte die Dame und erröthete leicht. Wir leben so zurückgezogen –
Niemand? wiederholte er befremdet, und seine Augen hefteten sich unwillkürlich auf die Hand mit den beiden Ringen.
Sie bemerkte es und verstand ihn augenblicklich. Dieser zweite Ring, sagte sie unbefangen, bedeutet keine zweite Ehe. Es ist der Ring meines Mannes, den er, als er den Tod herannahen fühlte, vom Finger zog und einem Kameraden übergab, um ihn mir zurückzusenden. Seitdem habe ich Alles abgelehnt, was mich zu einer Aenderung meines Schicksals verleiten wollte, und mich sogar von der Familie meines seligen Gatten entfernt, da ein naher Verwandter desselben Ansprüche aus meine Hand zu haben glaubte. Ich hab' es mir im Stillen gelobt, nur meinen Erinnerungen zu leben und meinem Kinde, und dies Gelübde ist mir heilig.
Die Wärterin erwachte jetzt, richtete sich schwerfällig aus, wurde aber alsbald munter, als sie ihre Herrin und den Arzt erblickte, und eilte, unter lebhaften Betheuerungen, daß es der Herr Doctor ihr streng verboten habe, zu wachen, nunmehr um so eifriger ihren Dienst wieder anzutreten. Waschen Sie das Kind, sagte Eberhard, wie wir es gestern Abend gethan haben, und lassen Sie es dann wieder von der frischen Milch trinken, die eben schon gemolken wird. Ich verlasse Sie jetzt auf eine halbe Stunde. Sehen Sie, da kommt auch neuer Eisvorrath. Wir wären an keinem Orte der Welt besser bedient, als hier mitten in der Wildniß, denn der Fall ist von der Art, daß er alle Apothekerhülfe überflüssig macht. Auf Wiedersehen, gnädige Frau!
Er verneigte sich leicht und verließ das Zimmer. Dann ging er ans Seeufer hinab, lös'te einen Nachen, die in der Schiffshütte angekettet lagen, und trieb das leichte Fahrzeug mit kräftigen Stößen rasch in den See hinaus.
Die Sonne hatte die schwarzen Fichtenhöhen noch nicht überstiegen, aber die ganz windstille Luft drückte schwer und schwül auf die dunkle Wasserfläche und beklemmte dem überwachten Manne die Brust. Er sah über Bord in die Tiefe hinunter, und es war ihm unheimlich, als er bemerkte, daß das Wasser dicht am Nachen krystallhell und völlig weiß erschien, und dennoch der See, obwohl heute ein reiner Himmel darüber hing, schwarz wie ein bodenloser Abgrund heraussah. Es fiel ihm wieder ein, was ihm unterwegs ein Holzknecht erzählt hatte: der See habe keinen Grund, sondern steige wie ein ungeheurer Brunnen immer tiefer und tiefer hinab, bis dicht an das Höllenfeuer, und die Teufel, wenn ihnen selbst die Hitze zu groß würde, gingen dahin, um zu baden. Er zog die Ruder ein und sah rings an den steilen Ufern hinauf, die von schwarzen Nadelwäldern starrten. Die kahlen Schroffen über den letzten Fichtenwipfeln hatten den rothen Morgenschein wieder mit einem fahlen Grau vertauscht. Denn jetzt brach die Sonne mit Gewalt hervor und versuchte, den schwarzen Kessel, der wie aus Eisen geformt schien, zu vergolden. Aber nur ein blendender weißer Glanz schwamm auf dem Spiegel des Sees. Die dichten Wälder in der Runde sogen die Lichtstrahlen aus, und nirgends entzündete sich eine freundlichere Farbe. Nur ein Wiesensteck nahe beim Wirthshaus drüben, auf dem eine rothgefleckte Kuh gras'te, und der blaue Rauch, der aus dem Schornstein wirbelte, erweckten die tröstliche Vorstellung, daß auch in dieser beklemmenden Oede Menschen wohnen könnten.
Ein Inselchen, mit wenigen Birken bepflanzt, lag drüben nah am andern Ufer; dahin trieb er den Kahn, band ihn an einen Pfahl und warf die Kleider ab, um zu baden. Wie ihm jetzt einfiel, was er Nachts zu thun entschlossen gewesen war, schauderte ihm das Herz. Es war ihm, als müsse und werde es sich jetzt noch vollziehen, jetzt, da er es nicht mehr wünschte, als habe er sich dieser Tiefe verlobt und sie werde ihr Recht aus ihn geltend machen. Einen Augenblick fühlte er sich versucht, sich wieder in die Kleider zu werfen und eilig zurückzurudern; dann schüttelte er, seiner Schwäche sich schämend, alles Grauen von sich ab und sprang in die Fluthen.
Wie Eis, das eben erst an der Sonne zergangen, umwinterte ihn das harte Bergwasser. Er mußte all seine Schwimmkunst aufbieten, um in steter heftiger Bewegung das Blut flüssig zu erhalten. Als er dann aber hinauftauchte und an eine junge Birke gelehnt, die Füße ins tiefe Moos vergraben, sich trocknete, athmete er leicht und wohlig, wie er seit Jahren nicht geathmet hatte. Er sah nach dem Hause hinüber. In dem Fenster, hinter dem das Kind lag, bewegte sich Etwas. Es war viel zu weit, um die Gestalt oder gar die Züge des Gesichts zu erkennen. Aber es that ihm wohl, zu denken, daß unter jenem Dache Menschen athmeten, denen er nöthig war, und die auf ihn hofften. –
Nicht lange darauf richtete sich in der niederen Krankenstube drüben das Kind von seinem Bette auf, sah mit suchenden Augen im Zimmer herum und sagte: Papa ist fortgegangen. Ist er wieder todt? Er soll sich wieder zu mir setzen. – Die Mutter küßte die Kleine auf die Stirn und bat sie, ruhig zu sein. Der gute Mann ist nicht dein Papa, sagte sie; du mußt ihn nicht so nennen. Es ist der Doctor, der dich wieder gesund machen wird, wenn du Alles thust, was er dir sagt. – Nicht der Papa? wiederholte die Kleine nachdenklich. Sie schien Mühe zu haben, sich von dieser Vorstellung loszumachen. Aber wie heißt er denn? fragte sie. Und er wird doch nicht fortgehen?
Da kommt er eben zurück, Herzenskind, sagte die dicke Wärterin, der die Thränen in die Augen traten, als sie ihren Liebling zum ersten Mal wieder vernünftig reden hörte. Sehen nur Ew. Gnaden, wie rasch er rudert, als könnte er's nicht erwarten, wieder bei unserem Kinde zu sein. Ach, das ist einmal ein Doctor! Und heute kommt er mir noch viel hübscher vor, als gestern. Der schöne schwarze Bart, und die weiße Haut, und nur die Augen sind so finster, daß man sich fürchten müßte, wenn er nicht so gut wäre.
Sie sahen ihn jetzt wieder ans Land springen, aber er grüßte nicht herein, ging auch an der Thür vorbei, und sie hörten ihn draußen mit der Wirthin sprechen. Bald darauf aber kam er ins Zimmer, ging sogleich zu der Kleinen und beschäftigte sich freundlich mit ihr. Seine Nähe schien einen Zauber auf das Kind auszuüben. Es schloß auf sein Zureden die Augen und athmete ruhiger. Im Zimmer war es so still, daß man das Schnalzen der springenden Fische hörte. Nach einer Weile stand er auf und sagte leise: Sie schläft, und das Fieber ist etwas schwächer. Hoffentlich haben wir ein paar ruhige Stunden, und ich sorge schon dafür, daß im Hause Alles still bleibt. Ich will mich selbst einen Augenblick niederlegen, bis die Hühnersuppe fertig ist, die ich unserer kleinen Patientin bestellt habe.
Wie soll ich Ihnen für all Ihre Sorge und Güte danken? sagte die Mutter mit einem warmen Blick.
Indem Sie nie ein Wort von Dank sagen, versetzte er, plötzlich in einen schroffen Ton fallend; dann verließ er rasch das Zimmer.
In seiner Kammer drüben lag der Brief, den er Nachts geschrieben, noch auf demselben Fleck; das große rothe Siegel brannte ihm widerwärtig in die Augen. Dennoch konnte er sich nicht entschließen, ihn zu vernichten, sondern verbarg ihn in seiner Mappe. Er streckte sich dann aufs Bett und bemühte sich zu schlafen. Aber die Gedanken umsummten ihn, wie zudringliche Mücken, und dazwischen glaubte er immer die Stimme des Kindes und der lieben Frau drüben zu hören, stützte sich dann auf, um zu horchen und versank erst nach langem Grübeln und Brüten in einen unruhigen Traumschlaf.
Um Mittag kam die Wirthin zu ihm herein und wollte, als sie ihn schlafend fand, auf den Zehen wieder hinausschleichen. Er war aber im Nu auf den Füßen, fragte, ob Alles fertig sei, und folgte ihr dann in die Küche hinaus. Wo ist die Suppe? fragte er und trat an den Herd, von dem ein einladender Duft aus vielen Töpfen und Pfannen ihm entgegenschlug.
Die plumpe Fischermagd, die in einem Tiegel etwas umrührte, ließ vor Erstaunen den Holzlöffel fallen und sah mit offenem Munde zu, wie der Fremde herantrat, von einem Topfe den Deckel abnahm und mit ernsthafter Miene den Inhalt prüfte. Dann ließ er sich einen Teller geben, schöpfte von der Hühnerbrühe hinein und nahm sorgfältig die Wurzeln heraus, die im Grunde schwammen.
Als er sich jetzt umwendete, das Süppchen hinauszutragen, sah er die schöne Frau an der Schwelle stehen. Ist das auch recht? sagte sie mit einem lieblichen Lächeln. Anstatt zu schlafen, machen Sie selbst den Koch?
Ich koche nur für die Kranken, erwiederte er. Die Gesunden überlasse ich unserer Frau Wirthin, die sich schon Ehre machen wird, ohne daß ich ihr ins Handwerk pfusche. Schläft unsere Patientin?
Sie ist eben aufgewacht. Sie hat schon wieder nach Ihnen gefragt.
Als sie jetzt in das vordere Zimmer traten, saß das Kind aufrecht und lächelte dem Doctor entgegen. Dann nahm es willig einige Löffel von der Bouillon, die er selbst ihm reichte. Es schien nicht Hunger zu haben, sondern es nur zu thun, weil es von ihm verlangt wurde. Dabei horchte es aufmerksam auf Alles, was der Doctor ihm sagte, wie er heute die Fische hätte im See tanzen sehen, und wie sie sie fangen wollten, wenn es erst aufstehen dürfe. Darüber schien das Bewußtsein wieder einzudämmern. Die blauen Augen schlossen sich halb, das Köpschen sank wieder in die Kissen zurück.
Seien Sie gutes Muths, sagte der Arzt. Wir machen kleine Schritte, aber jeder bringt uns vorwärts. Ihre Josefine soll fleißig mit den Eisumschlägen fortfahren. Indessen folgen Sie mir hinaus. Unser Mittagessen wartet.
Lassen Sie mich hier bei meinem Kinde, bat sie leise.
Nein, erwiederte er kurz. Sie sollen eine Stunde in der Luft sein. Eine zweite Patientin könnten wir hier nicht brauchen, und Ihr Puls ist sehr gereizt. Wenn wir fertig sind, lösen wir die Wärterin ab.
Er ging ohne Weiteres voran, und sie wagte nicht zu widersprechen. Draußen am Hause im warmen Schatten, dicht neben dem Fenster, hinter dem die Kleine lag, war ein Tisch für Zwei gedeckt. Die Wirthin trug eben eine Schüssel mit Fischen auf, denen gebackene Hühner folgten. Während sie nun aßen, sprachen sie kaum ein Wort. Beide waren in ihre eigenen Gedanken vertieft. Nur dann und wann nöthigte er sie, die Stücke, die sie aus ihrem Teller zerschnitten hatte, auch zum Munde zu führen. Ich nehme es übel, wenn Sie nicht essen, sagte er heiter; ich selbst habe das Menu bestimmt. Aerzte sind bekanntlich Gourmands, und ich denke, ich habe diesem Ruhm der Facultät keine Schande gemacht. Sie horchen schon wieder hinein. Ich kann Ihnen versichern, unser Fräulein hält seinen Mittagsschlaf, wie man es nur wünschen kann.
Sie sah ihn mit einem Lächeln des Dankes an, das gleich hinter vorquellenden Thränen sich verdunkelte. Verzeihen Sie es meinem schwer erschütterten Herzen, sagte sie, wenn ich mich noch nicht wieder ins Helle gewöhnen kann. Ich habe einen zu harten Sturm durchlebt, und der Boden schwankt mir noch unter den Füßen. Morgen werde ich mich schon besser aufführen.
Darauf versanken sie wieder beide in ihr Schweigen und sahen auf den See hinaus, über dem die tiefste Mittagsschwüle brütete. Eine Grille zirpte in dem Gärtchen hinterm Haus, man hörte von der Ofenbank drinnen das Schnarchen des Wirths und aus der Schiffshütte das Glucksen der Wellen an den leisegeschaukelten Kähnen, und dicht nebenan in der Krankenstube sang die Wärterin dem Kinde ein halblautes Schlaflied, womit sie es schon vor Jahren in der Wiege eingelullt hatte.
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Auf den stillen Tag folgte eine unruhige Nacht. Das Fieber wurde wieder heftiger, das Kind stöhnte viel und war nur schwer im Bette zu halten. Erst um Mitternacht wurde es ruhiger.
Der Doctor hatte sich keine zehn Schritte vom Hause entfernt. Nur gegen Abend war er ins Freie gegangen, eine Cigarre zu rauchen. Da machte er die Runde um das Haus, und jedesmal wenn er an das offene Fenster des Krankenzimmers kam, stand er einen Augenblick still und sprach ein ermuthigendes Wort zu der Mutter, die nicht von dem Bette wich. Als er Nachts neben ihr saß – die Wärterin hatten sie einstweilen schlafen geschickt – sagte er plötzlich: Es ist merkwürdig, wie das Kind Ihnen gleicht. Vorhin, als ich Sie im Helldunkel auf das Kissen herabgebeugt sah und die Kleine mit dem seltsam reifen, vergeistigten Ausdruck wie die Krankheit ihn giebt, zu Ihnen aussah, hätt' ich glauben können, zwei Schwestern zu sehen. Ueber zehn Jahre wird sie Ihr verjüngtes Ebenbild sein.
Sie mögen Recht haben, erwiederte die schöne Frau. Aber sie gleicht mir nur äußerlich. Alles Geistige hat sie vom Vater, daß ich oft staune über so große Aehnlichkeit in so zartem Alter und da sie doch ein Mädchen ist. Ihre Ehrlichkeit, ihre Selbstlosigkeit, ihr Muth – es ist mir oft, als wäre mir mein verstorbener Mann in dem Kinde wiedergeboren.
Sie nennen Eigenschaften, die ich seit unserer kurzen Bekanntschaft auch an Ihnen in hohem Maße wahrgenommen habe.
Sie schüttelte den Kopf. Wenn ich muthiger erscheine, als ich bin, so verdanke ich das nur meiner angeborenen Feigheit. Ich war völlig hoffnungslos, völlig zerbrochen von Angst und Schmerz, als Sie dazu kamen. Aber ich fürchtete mich, etwas davon zu verrathen ; ich wußte, daß ich dann vor dem Klang meiner eigenen Worte auch körperlich zusammengebrochen wäre. Mein Mann konnte Allem, auch dem Furchtbarsten, gelassen ins Gesicht sehen; und so auch das Kind; und konnte jedes Opfer bringen, ohne an sich selbst zu denken.
Und Sie? Ich dächte doch, Sie hätten sich in diesen Prüfungstagen nicht geschont.
Giebt es denn auch Opfer für eine Mutter? erwiederte sie. Aber eh' ich es geworden, mußte ich mich oft genug bei der Ehre fassen, um etwas zu leisten, was Andern erwünschter war, als mir. Das ist Alles anders bei meinem Kinde, obwohl die Jugend die Zeit des Egoismus zu sein pflegt und sein darf. Ich könnte Ihnen hundert kleine Züge erzählen, über die ich zuweilen fast erschrocken war; denn eine so frühe Reise des Herzens soll kein langes Leben ankündigen. Und wer weiß denn, ob meine Ahnung nicht noch Recht behält!
Eberhard sah auf den See hinaus und schien die letzten Worte überhört zu haben. Plötzlich sagte er: Sie haben ohne Zweifel ein Bild von Ihrem seligen Manne. Wollen Sie es mir wohl zeigen?
Sie nahm eine feine venezianische Kette ab, die sie um den Hals trug, öffnete das daran hängende Medaillon und reichte es ihm. Er betrachtete das Bild wohl fünf Minuten und gab es ihr dann schweigend zurück. Erst nach einer langen Pause sagte er: Es war eine Jugendliebe?
Nicht eigentlich was man so zu nennen pflegt. Ich war freilich sehr jung, als ich ihn kennenlernte, und vor ihm hatte noch kein Mann einen tieferen Eindruck auf mich gemacht; aber schon nach acht Wochen war die Hochzeit, ohne daß ich genau wußte, wie theuer er mir war. Seinen ganzen Werth lernte ich erst in unserer so kurzen Ehe kennen, und eine Leidenschaft wurde es erst, als ich ihn verloren hatte. Wenn Sie ihn gekannt hätten, Sie wären sein Freund gewesen; er hat nie einen Feind gehabt.
Eberhard war aufgestanden und mit leisen Schritten durch das Zimmer gegangen. Jetzt stand er am Tisch und nahm ein Buch in die Hand, das aus einem Reisetäschchen hervorsah. Vorn stand der Name »Lucilie« eingeschrieben. Es waren Lenau's Gedichte.
Lieben Sie diesen Poeten? fragte der Doctor plötzlich.
Ich weiß selbst nicht, ob er mich mehr anzieht oder abstößt. Ich kann, obwohl ich sonst einen ziemlich reinen Instinct dafür habe, gerade bei ihm nicht recht unterscheiden, was echt und was gemacht ist. Er hat viel Schmerzen gelitten. Und doch ist mir oft, als ob er geflissentlich seine Wunden offen hielte mit allerlei Reizmitteln. Warum ich das Buch mit auf die Reise genommen, weiß ich kaum. Vielleicht um mich zu trösten.
Durch diesen Dichter der Weltmüdigkeit?
Warum nicht? Er ist im Wahnsinn gestorben. So oft ich daran denke, wird mir der Kummer um meinen Mann leichter zu tragen. Welch einen schönen Tod hat er gehabt, jung, von Allen geliebt, als ein Held für sein Vaterland kämpfend! Und ich habe sein Bild unentstellt in mir, weder durch Krankheit und einen Todeskampf verzerrt, noch durch Irrsinn mir entfremdet. Nichts muß furchtbarer sein, als Jemand, den man liebt, seiner Vernunft beraubt zu sehen. Wäre es Ihnen nicht auch das Schrecklichste?
Er antwortete nicht sogleich, und dann mit einer Frage.
Sie würden also selbst Ihrem Manne den Tod gewünscht haben, wenn er in unheilbare Geisteskrankheit gefallen wäre?
Erlassen Sie mir die Antwort. Sie würde mir weh thun, wenn sie ehrlich wäre, und lügen kann ich nicht.
Um so besser, sagte er. – Sie verstand ihn nicht. Einige Minuten darauf verließ er das Zimmer.
Er kam dann eine Stunde nach Mitternacht wieder und bestand darauf, die Frau abzulösen. Sie konnte seiner herrschenden Art nicht widerstehen und bat ihn nur, die Nachtwache zwischen ihnen Dreien zu theilen, was er versprach und diesmal auch hielt. Denn am Morgen, als Frau Lucilie erwachte, saß die Wärterin am Bette des Kindes, und der Doctor lag auf einem Strohsacke drüben im Gastzimmer, um näher bei der Hand zu sein.
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Eine Woche nach diesen Ereignissen saß Eberhard wieder in seiner Kammer an dem wackelbeinigen Tisch, die Kerze brannte wie damals mit einer trüben, unsichern Flamme, aber der Mond schien so gewaltig herein, daß man bei seinem Licht allein jede Arbeit hätte verrichten können. Den Brief aus jener Sturmnacht hatte Eberhard eben wieder überflogen, und schrieb nun auf die leeren Seiten folgende Nachschrift:
»Um acht Tage älter, Karl, und um acht Jahre jünger! Wenigstens wenn ich das Gesicht in meinem Spiegel mit den greisenhaften Zügen vergleiche, die mich aus diesen Blättern angrinsen, finde ich, daß ich die unerhörtesten Rückschritte gemacht habe, bis in eine Zeit zurück, in der selbst du mich nicht gekannt hast. Es war die Zeit, in der ich nie an den Tod dachte, obwohl ich ihn täglich unter dem Secirmesssser hatte, so wenig wie ein Kinderarzt daran denkt, daß er die Masern bekommen könnte. Das hippokratische Gesicht dieses Briefes habe ich nun beim Wiederdurchlesen so kaltblütig studirt, wie das des ersten besten wildfremden Lazarethkranken, Nummer soundso. Dich wird diese Wendung freuen, wie eine glücklich überstandene Krisis. Ich, wenn ich mich ehrlich prüfe, kann diesen Ausgang nur beklagen. Es war Alles so schön fertig, der Koffer zur Abreise so reinlich gepackt, die letzten Abschiedshändedrücke gewechselt, ich hörte schon den Pfiff der Locomotive – da heißt es plötzlich, daß ich den Zug verfehlt habe, und nun sitze ich in der widerwärtigsten Lage aus dem Bahnhofe, nicht mehr hier und auch noch nicht dort, und komme mir selber lächerlich vor, daß ich nun wieder auspacken und mich zum Dableiben entschließen soll.
Wie das gekommen ist, will ich dir nur in der Kürze sagen, damit du nicht glaubst, in einem feigen letzten Moment sei es mir wieder leid geworden, und ich hätte mich entschlossen, diese Welt doch wieder für die beste Welt anzusehen. Nein, Karl, die alte Liebe zum Handwerk hat mir den Streich gespielt; ich fand, daß es dringender sei, ein junges Leben zu erhalten, als mein vorzeitig gealtertes aus der Welt zu schaffen. Das Kind, um das sich's handelte, war der Mühe werth, kann ich dir sagen. Und nun erst die Mutter!
Wenn du dächtest, es wäre so etwas wie Verliebtheit im Spiel, so würdest du sehr irren. Oder man müßte die Empfindung so nennen, die einen im Kohlenschacht verschütteten armen Teufel überkommt, wenn er wieder ans Tageslicht geschafft wird und die ersten Athemzüge unter freiem Himmel thut. Fürchte auch nicht, daß ich dir eine Schilderung dieser Frau machen möchte. Ob sie schön ist, liebenswürdig (was man so nennt), geistvoll, und wie die Rubriken alle heißen mögen – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich in ihrer Nähe mich selbst, meine Vergangenheit und Zukunft, vergesse und nichts empfinde, als daß sie da ist und ich neben ihr, und daß mir nie etwas fehlen würde, wenn es in alle Ewigkeit so bliebe. Weißt du noch, wie wir uns eines Tages darüber gewundert haben, daß derselbe heißblütige Mensch, der den »Werther« schrieb, sich zu der zahmen Regung bekennen konnte:
Mir ist es, denk ich nur an dich,
Als in den Mond zu sehn –?
Und das erlebe ich nun, zu meiner Beschämung, buchstäblich an mir selbst. Die Mondsucht, über die wir damals gewitzelt, hat mich mit einer Gewalt befallen, daß ich wollte, ich könnte in diesem klaren Nebelglanz, der mir die Seele lös't, eine Nacht hinleben, die alle künftigen Jahre meines Lebens dauerte. Damit ist es nun Nichts. In Kurzem werde ich darauf dringen müssen, daß die kleine Patientin in eine civilisirtere Gegend gebracht werde, wo man sie während der Reconvalescenz besser verpflegen kann, als mit den Hühnersuppen der Fischersfrau. Dann bin ich überflüssig und kann dem todten See Valet sagen, um wieder auf die Erde hinunterzusteigen, die mir nach diesem Erlebniß doppelt ausgestorben vorkommen wird. Habe ich nicht Recht, mich zu beklagen, daß ich den Zug verfehlt habe? Ich wäre jetzt längst ›an Ort und Stelle.‹
Warum man aber die Reise an den ›Ort seiner Bestimmung‹ nicht ebensogut vierzehn Tage später antreten kann, zumal diese, bei der es auf Wetter und Gesellschaft nicht ankommt? Dir kann ich den Grund sagen, Karl, da du mich nicht darum verachten wirst: ich habe den Muth nicht mehr. Ist das so verächtlich, daß mir vor der dunklen Tiefe wieder schaudert, in die hinabzuspringen ich sehr bereit war, seitdem ich es oben im Lichte wieder so wohnlich gefunden habe? Und wenn es mich auch in wenig Tagen wieder umtreiben wird, als den ›Unmenschen, den Unbehaus'ten,‹ der ich lange gewesen bin: den Gedanken löscht Nichts wieder in mir aus, daß es irgendwo zwischen Himmel und Erde einen Ort giebt, wo ich leben könnte, eine Zufluchtsstätte, wie die jenes sophokleischen Muttermörders, an deren Schwelle die Furien stillhalten, weil sie das Heiligthum nicht besudeln dürfen.
Ich bin nun freilich ganz klar darüber, daß ich leider ebenfalls draußen bleiben muß. Diese Frau, auch wenn ich es wagen könnte, ihr meine unholde Gesellschaft auf Lebenszeit anzubieten, würde sie sich freundlich verbitten müssen. Sie hat sich gelobt, Karl, ihrem todten Gatten treu zu bleiben. Was ist ein Gelübde? Darf es eine Fessel werden, die unser eigenes Wesen hemmt und einschnürt, wenn wir über uns selbst hinauswachsen? In sieben Jahren erneuert sich der physische Mensch. Und der geistige sollte, in neuem Fleisch und Blut, der alte bleiben müssen, nur weil er selbst in einem müden Moment an seiner Erneuerung verzweifelte? Ich selbst habe mein Gelübde, mich nie wieder an ein Krankenbett zu setzen, gebrochen, und rechne mir's eher zur Ehre, als zur Sünde an. Aber das Gelübde dieser Frau steht freilich über allem Wankelmuth irdischer Empfindungen. Sie will mir von Herzen wohl, ich glaube, daß ich keine treuere Freundin wünschen könnte, wenn ich in Noth käme. Alles könnte ich von ihr verlangen, da ich ihr Kind gerettet habe. Aber ihr ganzes Selbst gehört nur der Vergangenheit ihres Glücks und dem zukünftigen Glück dieses Kindes, und ich, dem es um Gegenwart zu thun ist – –
Ich habe es sorgsam vermieden, sie zu fragen, in welcher Stadt sie lebt, unter welchen Verhältnissen und Umgebungen. Ich will von ihr gehen, ohne das zu wissen, damit ich nie in die Versuchung komme, sie wieder aufzusuchen und das Unmögliche möglich machen zu wollen. Noch ein paar Tage die Wohlthat dieses ganz einzigen Zustandes genießen, allem kleinen Weltwesen entrückt, in dieser öden Bergwildniß gleichsam schon wie im Himmel, wo, wie es heißt, nicht gefreit und geschieden wird – dann gehe es, wie es will – wie es kann!
Eine seltsame Kur, eine ziemlich grausame bleibt es immer, daß das Schicksal, um mir zu beweisen, ich sei noch nicht reif zum Tode, mir diesen Schnitt ins Herz machen mußte, damit ich an seinem Zucken merkte, wie stark der arme Muskel noch sei, wie blutreich, und wie viel er im Leben noch aushalten könnte! –
Für heute nichts mehr. Wir sind hier oben von jeder Postverbindung abgeschnitten. Wann und wo ich daher den Brief schließen und absenden kann, wissen die Götter, wenn sie sich überhaupt um unsere Korrespondenzen kümmern. Leb wohl!«
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Er legte die Feder hin und horchte in das Krankenzimmer hinüber. Das helle Stimmchen des Kindes ließ sich vernehmen, jetzt nicht mehr mit unheimlich hastigem Fieberklang, aber doch ungewöhnlich zu dieser späten Stunde, wo es sonst zu schlafen pflegte. Er hörte dann die sanfte Stimme der Mutter, und ihre beschwichtigenden Worte schienen auf der Stelle die gewünschte Wirkung zu haben. Als Eberhard hinüberkam, lag die Kleine wieder im Schlaf.
Sie hat eben von Ihnen geträumt, sagte Frau Lucilie, mit dem lieblichsten Lächeln zu ihm aufblickend, sie erzählte mir ihren Traum; Sie hatten ihr ein weißes Lamm mit einem rothen Bande geschenkt, das ihr aus der Hand fraß. Wie sie es schon eine Weile hatte, war ihr erst eingefallen, daß sie zu danken vergessen habe. Nun sollte ich Sie rufen, damit sie es nachholen könnte; sie war ganz unglücklich, es versäumt zu haben.
Warum haben Sie mich nicht gerufen?
Ich sagte ihr, der Onkel Eberhard wolle nichts von Dank hören. Er habe auch der Mama etwas geschenkt, wofür sie ihm niemals, so wie sie gern wollte, zu danken im Stande sei. Wenn Fränzchen brav wäre und wieder einschliefe, sei es dem guten Doctor lieber, als aller Dank. Da hätten Sie sehen sollen, wie eilig das gute Kind sich wieder zum Schlafen zurechtlegte, und nun sehen Sie, es schläft wirklich schon, und die Stirn ist ganz feucht. Es gehorcht Ihnen so wie sonst keinem Menschen.
Er betrachtete das stille Gesichtchen in tiefen Gedanken.
Schade, daß ich keine Fürstin bin, fuhr die schöne Frau mit einem leichten Erröthen fort. Ich würde Ihnen dann den Vorschlag machen, sich an meinem Hofe niederzulassen und mich als mein Leibarzt überall zu begleiten. Denn ich weiß wahrhaftig nicht, wie wir uns ohne Sie jemals wieder behelfen sollen. Unser Kind wird keinen Schnupfen haben, ohne daß Sie mir fehlen werden. Und doch bin ich auch fast wieder froh, nur eine arme Frau zu sein. Die Fürstin bildete sich vielleicht ein, Ihnen mit Gold und Ehren vergelten zu können, was Sie ihr an ihrem Liebling gethan. Ich möchte das Gefühl nicht missen, daß ich für immer in Ihrer Schuld bleibe.
Sie reichte ihm die Hand, die er in seltsamer Bewegung an seine Lippen drückte. Frau Lucilie, sagte er statt aller Antwort, es ist elf Uhr. Sie werden abgelös't und ich beziehe die Wache.
Nein, erwiederte sie heiter, ich bin nicht so gehorsam, wie unser Fränzchen, oder vielmehr mein Schlaf gehorcht mir nicht so aufs Wort. Lassen Sie mich noch eine Stunde aufbleiben und, wenn Sie nicht müde sind, lesen Sie mir etwas vor. Ich habe einen Band von Goethe bei Ihnen gesehen, und da Sie ihn vor allen Dichtern verehren, wird es Ihnen nicht unlieb sein, auch mich etwas mehr mit ihm bekannt zu machen. Denn zu meiner Schande gestehe ich, als ich gestern darin blätterte, war mir Vieles neu.
Wie Sie wünschen, sagte er. Nur freilich wird Ihnen das Meiste darin ewig neu bleiben, so oft Sie es hören mögen. Mir selbst ergeht es nicht anders.
Er holte das Buch, den ersten Band der Gedichte, und las nun ohne Wahl von der ersten Seite an, mit gedämpfter Stimme, ohne besondere Kunst des Vortrages. Niemals hatte er den Zauber des ewigen Frühlings, der aus diesen Blüthen jugendlicher Leidenschaft duftet, so rein und voll empfunden. Er wagte während des Lesens nicht aufzusehen, aus Furcht, dem Auge der schönen Frau wie einer stummen Frage zu begegnen. Als er aber an des »Jägers Abendlied« kam und die letzte Strophe kaum noch zu stammeln vermochte:
Mir ist es, denk' ich nur an dich,
Als in den Mond zu sehn;
Ein stiller Friede kommt auf mich.
Weiß nicht wie mir geschehn! –
brach er plötzlich ab, ließ das Buch auf das Bett des Kindes gleiten und stand hastig auf.
Was haben Sie? fragte sie erschrocken.
Gehen Sie zu Bett, Frau Lucilie, erwiederte er abgewandt; wecken Sie die Wärterin, daß sie für diese Nacht meine Stelle vertritt, die Luft hier beklemmt mich so, daß ich ins Freie muß. Sehen Sie, es wird schon besser, da ich aufgestanden bin. Ich will noch eine Fahrt auf den See hinaus machen.
Damit ging er und ließ sie im wundersamsten Aufruhr aller Empfindungen zurück, vor einem Räthsel, für das sie sich nicht getraute das Wort zu finden.
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Andern Tags, als sie sich in der Frühe begrüßten, gelang es ihnen, den unbefangenen heiteren Ton sogleich wieder anzuschlagen. Das Kind half dazu; es hatte tief und erquicklich geschlafen; ein Bad, das Eberhard selbst bereiten half, in einem alten Waschbottich der Wirthin, that ihm sichtbar wohl und half zu neuem Schlaf. Gegen Abend brachte der Doctor von einem Spaziergange allerlei Farnkräuter, Genzianen und bunte Steine mit, die er über den Felsen gesammelt hatte. Er saß lange an Fränzchens Bett, erzählte dem Kinde von Vögeln und anderm kleinen Gethier, wie sie oben in der Wildniß haus'ten, und freute sich an den klugen Fragen, die das Kind, in seinen Kissen aufsitzend und die Schätze mit großen Augen betrachtend, an ihn richtete. Die Mutter saß mit einer Stickerei dabei, draußen aus dem Herde hörte man das Feuer knistern, an dem das Abendsüppchen gekocht wurde, und darüber wurde es Nacht. Diesmal ließ sich Eberhard seine Nachtwache nicht nehmen. Aber von einer Vorlesung war nicht wieder die Rede.
Und so auch die folgenden Nächte nicht; schon darum, weil ein so strenger Nachtdienst nun nicht mehr nöthig war, der Doctor vielmehr mit ruhigem Gewissen in seiner Kammer bleiben konnte. Auch am Tage, da das Kind schon einige Stunden außer Bett sein durfte, ließ er sich wenig mehr sehen, fuhr unter dem Vorwande des Fischens nach der Insel hinüber, von wo er oft erst in tiefer Dunkelheit zurückkehrte, oder stieg durch die Föhren in die Schlucht hinauf bis an die Eishöhle. Der Knecht, der einmal auf die Bitte der Mutter die letzten Erdbeeren des Sommers dort herum suchen gegangen war, erzählte, daß er den Doctor auf einem Stein habe sitzen sehen, wie einen Menschen, der mit offenen Augen schläft. Als er ihm »grüß' Gott« gesagt, sei er ordentlich zusammengefahren und dann mit einem bloßen Kopfnicken noch höher hinaufgestiegen. Es sei offenbar nicht ganz richtig mit ihm, er hab's ihm gleich angemerkt am ersten Abend, wie er so hintersinnig auf der Bank gesessen sei und nicht nach Essen und Trinken gefragt habe.
So blieb es mehrere Tage. Je sichtbarer die Genesung des Kindes fortschritt, je mehr schien der Arzt in die Krankheit zurückzufallen, aus der ihn die plötzlich an ihn herantretende Pflicht herausgerissen hatte. Es waren beklommene Tage, und er fühlte, daß er ihnen ein Ziel setzen müsse.
Er stieg eines Vormittags, ohne das Essen abzuwarten, da er die traurig forschenden Augen Luciliens nicht mehr ertragen konnte, die steile Schlucht hinauf, um zum letztenmal nach einem Entschlusse zu ringen. Einen Weg, den er heute zuerst entdeckte, und der über den Felsgrat hinüber nach Süden führte, verfolgte er trotz der schweren Mittagsgluth ein paar Stunden weit. Er brauchte nur so fortzuwandern, so langte er Abends in einem romanischen Dorfe an, das vom todten See durch unwegsame Eisfelder geschieden war. Dann war es geschehen, was ihm jetzt noch unmöglich schien, jeder Abschied erspart, er ein Verschollener für die, in deren Leben er nichts mehr zu schaffen hatte. Er dachte eine Zeitlang, das wäre das Beste, und traute sich die Kraft zu, es auszuführen. Als ihm dann aber jeder Rückblick auf den See durch nackte Klippenwände abgeschnitten war und die unfruchtbare Bergwildniß ihn umgab, übermannte ihn ein solches Gefühl von Gottverlassenheit, daß er nicht weiter konnte, sondern im Schatten eines kahlen Gipfels sich ins Haidekraut hinwarf. Geschäftig suchte er Alles hervor, was ihn zurücktreiben konnte, seine Papiere und Tagebücher, die er unten zurückgelassen, die Angst, die er Lucilien bereiten würde, die Pflicht, wenigstens für ihren Aufbruch und die Reise bis zur nächsten Stadt Sorge zu tragen. Heute noch sollte es geschehen, er gelobte sich's feierlich. Er wollte den Knecht hinunterschicken, um einen Wagen kommen zu lassen. In vierundzwanzig Stunden mußte Alles geschehen sein, die Trennung unwiderruflich vollbracht, hernach komme was da wolle.
Als er dies mit sich selbst ins Reine gebracht hatte, fühlte er sich leichter ums Herz und stand auf, um ohne Zögern den Rückweg anzutreten. Er nahm sich vor, heiter zu sein, und die letzten Stunden, die ihm noch gegönnt seien, mit ihr zu genießen, als würde es nun unabfehlich so fortgehen. Warum hatte er sich schon so manchen Tag verbittert mit Gedanken an das, was darüber hinauslag?
Er pflückte einen Bergstrauß von duftlosen Blumen und Moosen. Den sollte das Fränzchen morgen mit auf die Reise nehmen. Darüber legte er den größten Theil des Weges zurück und trat aus der Föhrenschlucht heraus, als die hohe Mittagsgluth schon vorüber war. Unter ihm lag der See, von keinem Lüftchen gefurcht, und spiegelte mit blanken Farben die kleine Wiese drüben am Ufer, die Fichten am schroffen Abhang, zuoberst die nackten grauen Felsgipfel. Nun sah er nach dem Fischerhause, und sein scharfer Blick unterschied deutlich jede Schindel auf dem mit Steinen beschwerten Dache, die weißgrauen Küchlein, die im Hof hinter der Henne her trippelten, die Wäsche, die zum Trocknen an der Leine hing. Von den Menschen unter diesem dürftigen Schindeldach war nichts zu erblicken; um diese Stunde pflegte Jedes in seinem Winkel zu sitzen und über irgend einer leichten Arbeit einzunicken. Umsomehr erstaunte Eberhard, als sich plötzlich die Hausthür öffnete und ein ihm ganz fremdes Gesicht in die helle Sonne hinaustrat. Ein hochgewachsener junger Mann in heller Sommerkleidung, das Gesicht unter einem breiten Strohhut so weit versteckt, daß nur ein militairisch gestutzter hellblonder Bart zum Vorschein kam. Der Fremde stand eine Weile, wie um Luft und Sonne zu prüfen, und sprach dann eifrig in die offene Hausthür hinein. Nicht lange so trat auch Lucilie heraus, ohne Hut, nur unter einem großen Sonnenschirm, der ihr zartgefärbtes Gesicht beschattete. Sie folgte dem Fremden nach der Schiffshütte, und gleich darauf sah Eberhard, wie die Beiden in einem schmalen Kahn über den regungslosen See fuhren, nach der Insel hinüber. Der Fremde führte die Ruder so kräftig, daß sie bald drüben anlandeten, worauf er ans Ufer sprang, Lucilien die Hand bot und dann mit ihr am Ufer entlang Arm in Arm zwischen den Birken und dem hohen Schilf hinwandelte, offenbar in der Absicht, das kleine Eiland zu umkreisen.
Das Herz pochte Eberhard so gewaltsam, daß er sich an einen Fichtenstamm lehnen mußte, um den Schwindel erst vorübergehen zu lassen. Wer war dieser Fremde, daß er so vertraut mit ihr thun durfte, daß sie ihm zu Gefallen that, was sie ihrem Helfer und Freund in all den Tagen abgeschlagen hatte, ihm auf den See hinaus zu folgen? daß sie ihren Arm in den seinen legte und im heitersten Geplauder, wie es schien, neben ihm hin wandelnd sogar die Sorge um ihr Kind eine Stunde lang allein der Wärterin überließ? Wer er auch sein mochte, er kam gerade zur rechten Zeit, um dem Traum ein Ende zu machen, in den die einsame Stille hier oben sie Alle eingesponnen hatte. Er brachte ohne Zweifel, als ein alter Bekannter, Lucilien Alles wieder in Erinnerung, was sie über der Gefahr ihres Kindes vergessen hatte, ihre Verhältnisse draußen in der Welt, ihre Freunde und Verehrer, Erinnerungen, die Eberhard fremd waren, die sie zur Rückkehr in ihr gewohntes Leben aufforderten, mit dem Eberhard nichts gemein hatte. Um so besser! So wird das Beschlossene nur noch befestigt, das Nothwendige erleichtert. Denn er fühlte nur zu wohl, daß es ihm unmöglich war, ihre Nähe mit einem Dritten zu theilen.
In großen Sätzen schwang er sich den steilen Pfad hinab und langte tieferschöpft mit zitternden Knieen unten bei dem Hause an. Er sah, als er um die Ecke bog, einen Reisewagen neben dem Holzschuppen stehen, und in dem Stalle, der Winters die Kuh beherbergte, schnoberten zwei Pferde an der Krippe. Ohne auf die Wirthin zu achten, die darauf zu brennen schien, ihm die Neuigkeit mitzutheilen, ging er in das Zimmer der Kleinen, die an ihrem Tischchen saß und mit einer neuen Puppe spielte. Onkel Max ist da! rief sie ihm mit freudestrahlendem Gesicht entgegen. Er hat mir eine Puppe mitgebracht, die die Augen bewegen kann, und dann hat er mit der Mama zu Mittag gegessen, und jetzt sind sie nach der Insel. Aber sie kommen gleich wieder, und Onkel Max will uns in seinem Wagen mit fortnehmen, aber die Mama hat gesagt, sie thäte Nichts, ohne daß du es erlaubt hättest.
Fränzchen, erwiederte er und nahm den Lockenkopf des Kindes in beide Hände, willst du mich wohl ein bischen lieb behalten, auch wenn ich dir keine so schöne Puppe schenken kann, sondern nur einen Alpenstrauß?
Das Kind sah ihn mit großen Augen an. Mama hat gesagt, daß ich dich nächst dem lieben Gott am liebsten haben soll, weil du mir das Leben gerettet hast. Ich hab' dich auch lieber, als alle Menschen, nur die Mama hab' ich noch lieber als dich und den lieben Gott.
Er beugte sich zu dem holden Gesicht herab und küßte die beiden ehrlichen Augen des Kindes und das blasse Mündchen. Du hast Recht, Fränzchen, sagte er mit stockender Stimme, sie verdient es auch. Und hier ist der Strauß, und sag' einen Gruß an die Mama.
Er wandte sich ab und ging nach der Thür.
Bleibst du nicht hier? rief das Kind ihm nach. Erzählst du mir nicht wieder?
Hernach! hernach! war Alles, was er vorbringen konnte. Die Wärterin, die eben wieder hereinkam, wollte ihn zurückhalten und wunderte sich über sein verstörtes Wesen. Er aber drängte sich an ihr vorbei, eilte in seine Kammer hinüber und riegelte die Thür hinter sich zu.
Als er sich allein sah, beherrschte ihn einen Augenblick der Schmerz so völlig, daß er auf einen Stuhl sank und das Schluchzen nicht unterdrücken konnte, das, ohne Thränen, wie ein Krampf ihm die Brust erschütterte. Dann raffte er sich entschlossen auf, drückte die Faust gegen sein Herz, um ihm Ruhe zu gebieten, und schickte sich an, sein weniges Gepäck in die Wandertasche zu stopfen. Nur die kleine Schreibmappe ließ er noch heraus, setzte sich dann an das Tischchen und nahm mechanisch den Brief an seinen Freund in die Hand, als ob er noch eine Nachschrift hinzuzufügen hätte. Er konnte aber die Worte nicht finden, legte den Brief neben sich und schrieb dann auf ein leeres Blatt einen kurzen Krankheitsbericht, den er zurücklassen wollte, falls es nöthig werden sollte, noch einen Arzt hinzuzuziehen. Im Schreiben empfand er eine gewisse Genugthuung darüber, wie klar er sich auszudrücken im Stande war, und wie fest seine Hand die Buchstaben hinmalte. Um den Verstand wenigstens hat es mich nicht gebracht! sagte er laut vor sich hin.
Eben war er fertig, als er einen raschen Männerschritt nebenan hörte und dann ein Klopfen an seiner Thür. Eine widrige Empfindung durchzuckte ihn. Verleugnen konnte er sich hier nicht, und doch hätte er viel darum gegeben, diese Begegnung zu vermeiden. Also öffnete er mit einem Gesicht, das sehr geeignet war, einen Besuch zurückzuschrecken. Der blondbärtige Fremde aber, der mit der heitersten Miene hereintrat, schien auf einen nicht sehr entgegenkommenden Empfang schon gefaßt und dennoch entschlossen, sich dadurch nicht irren zu lassen.
Lieber Herr Doctor, sagte er mit ungebundener Herzlichkeit, Eberhard's Hand ergreifend und lebhaft schüttelnd, Sie müssen mich entschuldigen, wenn ich Ihnen ungelegen komme. Lucilie hatte mir schon gesagt, daß man es mit Ihnen verdirbt, wenn man Ihnen ein Wort von Dank sagen will. Aber es hilft Ihnen nichts, ich lasse mich nicht einschüchtern, ich bin Soldat, und mich zu fürchten, selbst vor einem Wohlthäter, würde mir gegen die Ehre gehen. Darum sage ich Ihnen, auf die Gefahr hin, mich hernach mit Ihnen zu schießen, daß ich mich Ihnen ewig verpflichtet fühlen werde, daß Sie über mich zu jeder Zeit verfügen können, wie über Ihren ältesten Freund. Sie haben eine Wunderkur gemacht, bester Doctor, nicht nur an dem lieben kleinen Mädel, das mir wie ein eigenes Kind ans Herz gewachsen ist, sondern vor Allem an der Mutter. Ich habe sie gar nicht wiedererkannt, kann ich Ihnen sagen. Denn so lange nun ihr Mann, mein armer Bruder, in dem gemeinsamen Grabe auf dem Schlachtfelde ruht, ist ihre stille Wittwentrauer sich gleich geblieben. Was haben ihre Freunde nicht angestellt, sie wieder etwas lebensfroh zu machen! Sieben Jahre! Ich dächte, das wäre eine schöne Zeit, um mit dem allergerechtesten Kummer fertig zu werden, und unter uns gesagt, so herzlich ich an meinem Bruder hing, diese sieben Jahre sind mir etwas lang geworden. Lucilie war auch meine Flamme gewesen, aber ich war der Jüngere und ein Taugenichts von Unterlieutenant damals, und so mußte ich Viktor den Vorrang einräumen. Nun aber, scheint mir, habe ich alles Recht, meine Anciennetät geltend zu machen; meinen Sie nicht, Doctor? Und trotzdem, all die Jahre hindurch auch nicht den kleinsten Funken von Hoffnung. Ich wollte sie aus dieser Reise nach dem Schlachtfelde begleiten, am Ende gehörte ich doch auch dazu; aber nichts da! Rund abgeschlagen! Laß sie nur erst wieder zurück sein, dacht' ich. Vielleicht macht gerade dieser Besuch des Grabes einen Abschnitt. Und nun wartete ich auf ihre Rückkehr, oder doch auf einen Brief, und als vierzehn Tage, endlich drei Wochen vergangen waren, bekam ich's mit der Angst, es möchte ihr was zugestoßen sein, nahm Urlaub beim Regiment und verfolgte ihre Spuren, bis sie mich endlich hier an den todten See führten. Da finde ich nun richtig eine ganz andere Frau, nicht so abwehrend mehr, so kalt und unzugänglich. Der Dank dafür, daß das Kind ihr wiedergegeben, scheint sie mit dem Leben überhaupt wieder ausgesöhnt zu haben, und somit, wenn es so weit kommt, daß ich sie mit einem intimeren Namen, als »Schwägerin«, anreden darf – Ihnen, bester Doctor, schulde ich den Dank dafür ganz allein. Sie haben das Eis gebrochen, und sie fühlt es auch; sie spricht von Ihnen mit einer Begeisterung, daß man fast eifersüchtig werden könnte, wenn man nicht wüßte, daß ein dankbares Mutterherz gern des Guten ein wenig zu viel thut.
Auf dieses naive Geständniß folgte eine kleine Stille, während deren der junge Officier die Kammer durchschritt, an das Fenster trat und mit der Hand gegen die niedrige Decke klopfte. Und in diesem barbarischen Loch haben Sie es so lange ausgehalten? fing er mit gutmüthigem Lachen wieder an. Wahrhaftig, so ein Doctor ist noch weniger verwöhnt, als ein Soldat! Nun, wir werden jetzt alles Mögliche thun, es Ihnen bequemer zu machen. Denn daß Sie mit uns kommen, versteht sich doch von selbst. Lucilie würde sich nicht darein finden, ihren Leibarzt sobald von sich zu lassen.
Ich bedaure, erwiederte Eberhard mit der ruhigsten Stimme, daß sich Ihre Frau Schwägerin doch wohl zu viel von mir verspricht. Meine Pflicht hier ist zu Ende, die Kleine kann nicht nur ohne Gefahr reisen, sondern es ist sogar nothwendig, daß sie jetzt bessere Kost genießt, als hier oben zu beschaffen ist. Ich war eben gesonnen, einen Wagen für morgen zu bestellen, als ich den Ihrigen erblickte. Und da ich die Frauen in keinem besseren Schutz reisen lassen könnte, so müssen Sie es mir nicht als Unfreundlichkeit auslegen, wenn ich heute schon Abschied nehme.
Unmöglich! rief der junge Officier mit unverstellter Bestürzung. Ich sage Ihnen, es giebt einen Heidenlärm, wenn Sie uns so unvorbereitet verlassen wollen. Lucilie und Fränzchen und sogar die Wärterin klammern sich an Ihre Rockschöße, und ich muß den Degen ziehen, um Ihnen den Weg abzuschneiden.
Mag sein, daß man mir es noch zu erschweren sucht, was doch nicht anders sein kann, versetzte der Doctor mit ernstem Gesicht. Darum ist es das Beste, Sie schweigen ganz von meinem Entschluß, und so bald es etwas dunkler wird, gehe ich ohne Abschied davon. Hier habe ich die Krankheitsgeschichte aufgeschrieben; stecken Sie das Blatt zu sich; Sie werden es hoffentlich nicht brauchen. Denn wenn Sie bequem in kleinen Tagereisen heimkehren, wird die Fahrt in dieser schönen Jahreszeit dem Kinde eher wohlthätig sein. Und somit lassen Sie mich Ihnen Lebewohl sagen und Sie bitten, Ihrer Frau Schwägerin meine letzten herzlichen Grüße zu überbringen.
Doctor, sagte der Andere, das ist nicht Ihr letztes Wort. Ich hoffe, Sie überlegen sich's noch anders. Einstweilen will ich das Blatt zu mir nehmen und Sie allein lassen, denn ich sehe, daß ich Sie im Schreiben gestört habe. Auf Wiedersehen!
Sie verrathen mich nicht, rief Eberhard ihm nach. Der junge Officier legte den Finger auf den Mund, grüßte militairisch und eilte, eine lustige Melodie zwischen den Zähnen summend, durch das Gastzimmer hinaus.
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Kaum zehn Minuten war Eberhard allein geblieben, wie ein Gefangener, der sich zur Flucht entschlossen hat, in seinen kahlen vier Wänden hin und her schreitend, da hörte er wieder die Thür des Gastzimmers gehen und jetzt einen Schritt sich nähern, der ihm alles Blut gegen das Herz trieb. Auch das noch! sagte er vor sich hin. Da stand sie schon in der Thür und sah ihn mit einem Blick an, vor dem er in tiefer Verwirrung die Augen senken mußte.
Mein Freund, sagte sie mit bewegter Stimme, verzeihen Sie, daß ich Ihnen noch einmal gegenübertrete, obwohl Sie mir auszuweichen suchen. Sie wollen sogar fort, ohne uns noch ein Lebewohl zu sagen. Ich habe es meinem Schwager angemerkt, als er von Ihnen kam, obwohl er es erst zu leugnen suchte, und da ich längst dergleichen ahnte, überraschte es mich kaum, so sehr es mich betrübt. Ich bin Ihnen so unaussprechlich viel schuldig geworden, daß es im Grunde gleichgültig ist, ob ich es Ihnen beim Abschiede noch einmal sage oder nicht. Aber es ist ungroßmüthig von Ihnen, daß Sie mir jede Gelegenheit abschneiden wollen, auch Ihnen nur das Geringste zu sein oder zu leisten. Und ich fühle es doch so deutlich, daß ich nicht ganz unfähig wäre, Ihnen durch meine Freundschaft wohlzuthun, wenn Sie das unbeschränkte Vertrauen, das ich Ihnen von der ersten Stunde an bewiesen, nur im Geringsten erwiederten. Sie haben einen geheimen Kummer. Was gäbe ich darum, wenn ich nur den zehnten Theil der Last, die Sie bedrückt, auf meine Schultern nehmen könnte! Wie soll ich es übers Herz bringen, mich jetzt von Ihnen zu trennen, vielleicht auf Nimmerwiedersehn, und mir zu sagen: der Mann, der wie der aufopferndste Freund an dir gehandelt hat, leidet, und du weißt nicht, woran, und du hast keinen Versuch gemacht, ihm zu helfen, aus der armseligen Furcht, zudringlich und neugierig zu erscheinen! Nein, fuhr sie lebhafter fort, und ihre Wangen rötheten sich, ich weiß, daß Sie nicht selbstisch genug sind, mir dies Unerträgliche aufzubürden, blos weil es Ihrem Stolze vielleicht widerstrebt, einer Frau zu gestehen, daß Sie Schmerzen fühlen.
Er hatte sie aussprechen lassen, ohne den Blick vom Boden zu erheben, und auch jetzt, da sie schwieg, sah er sie nicht an und mußte all seine Kraft zusammennehmen, um ihr zu antworten.
Ich danke Ihnen, sagte er so gelassen er vermochte. Ich weiß, daß Sie aus wirklichem Wohlwollen und reiner Güte mich fragen. Und ich versichere Ihnen, wenn das, was mich bedrückt, von irgend einer Menschenhand mir abzunehmen wäre, ich würde nicht zu stolz sein, mich an Sie zu wenden. Ich habe Ihnen helfen können; warum sollte ich Hülfe von Ihnen ablehnen? Aber es giebt unabänderliche Dinge; über die sich zu beklagen und Freunden damit beschwerlich zu fallen, halte ich allerdings für eine thörichte Schwäche, die unter Umständen zum Frevel werden kann. Lassen Sie uns scheiden, gnädige Frau. Wenn Sie Ihr Kind wieder aufblühen sehen, werden Ihnen all die trüben Erinnerungen, die sich an den todten See knüpfen, erblassen, und mit ihnen das Bild eines Menschen, der –
Er stockte, denn er fühlte, daß seine Fassung ihn zu verlassen drohte, und trat einen Augenblick an das Fenster, sich wieder zu sammeln. Als er sich wieder zu ihr wendete, sah er, daß sie todtenbleich, mit einem so schmerzlichen Ausdruck, wie er ihn nur in der ersten Nacht an ihr gesehen, am Thürpfosten lehnte.
Mein Gott, sagte er, was haben Sie, Frau Lucilie? Warum regt Sie das so auf, daß ich Ihnen sage, Sie könnten mir nicht helfen? Wenn Sie denn durchaus das Gefühl nicht ertragen können, in meiner Schuld zu sein, wie Sie es nennen, so wissen Sie, daß wir völlig quitt sind. Was ich etwa dazu beigetragen habe, Ihnen Ihr Kind zu erhalten, haben Sie dadurch aufgewogen, daß Sie mir selbst das Leben erhalten haben.
Sie sah ihn staunend an.
Ja wohl, fuhr er fort, dort an jenem Tische, in der Nacht, wo ich Sie zuerst kennen lernte, schrieb ich einen Scheidebrief an das Leben. Da liegt er noch, und ich, wie Sie sehen, habe mich anders besonnen. Ob ich Ihnen sehr dankbar dafür sein muß, ist eine andere Frage. Nichtsein mag auch seine Schattenseiten haben. Aber nicht leben und nicht sterben können, so armselig zwischen zwei Stühlen sitzen – genug! Was können Sie dafür, daß das Leben, das Sie gerettet haben, nicht mehr der Mühe werth war? Lassen Sie uns diesen schweren Abschied nicht noch verlängern. Unsere Wege trennen sich. Sie gehen in Ihre Heimath zurück, ich – wohin mich das Schicksal gerade führt, das mich, wie ein Knabe einen Stein mit dem Fuße vor sich her stößt, meines Weges blindlings weitertreibt. Ich danke Ihnen, Frau Lucilie, für diese schönen Tage hier oben. Seit lange waren sie die einzigen, wo ich wieder zu leben glaubte. Schade, daß sie ein Ende nehmen müssen, wie alles Irdische.
Und warum müssen Sie das, fragte sie und sah ihn mit einem bangen, fast flehenden Blicke an. Warum wollen Sie uns nicht begleiten?
Weil ich – Er verstummte plötzlich. Wie seine Augen durch das Zimmer schweiften, fielen sie auf den Brief, der neben der Wandertasche auf dem Tische lag. Ein Gedanke durchzuckte ihn.
Sie wollen einen Beweis, sagte er, daß ich Ihre Freundschaft zu schätzen weiß, daß ich nicht zu stolz wäre, sogar mir helfen zu lassen, wenn es möglich wäre? Nehmen Sie diesen Brief zu sich, Frau Lucilie, aber versprechen Sie mir, ihn erst morgen zu lesen. Wollen Sie das?
Sie nickte, ohne ihn dabei anzusehen.
Es steht Alles darin, sagte er, was ich mündlich nicht zu wiederholen den Muth hätte. Wenn Sie gelesen haben, werden Sie begreifen, daß ich jetzt gehen mußte, und daß Sie mich nicht zurückhalten durften. Und nun geben Sie mir noch einmal Ihre Hand. Lassen Sie sich dafür danken, daß Sie aus der Welt sind. – Er drückte ihre Hand in heftiger Bewegung an die Lippen. – Küssen Sie Ihr Kind, wenn Sie gelesen haben, morgen, und dann – ich brauche nicht zu bitten, daß Sie freundlich, trotz alledem, an mich denken sollen. Wie könnten Sie anders, mit Ihrer Engelsseele! Ich – ich werde – nie, nie Sie vergessen.
Er stürzte aus der Kammer und durch den leeren Flur. Er hörte die Stimme Fränzchens drinnen im Wohnzimmer; das Kind plauderte mit der Wärterin und nannte seinen Namen. Das beflügelte seine Schritte. Noch hatte er so viel Besinnung, der Wirthin, die ihm draußen entgegenkam, eine Handvoll Geld zuzustecken und ihr Lebewohl zu sagen. Dann schlug er den Fahrweg ein, der ins Thal hinunterführte, und bog um die nächste Ecke, ohne nach dem Haus am See nur noch einmal zurückzublicken.
Erst als er eine Viertelstunde lang wie besinnungslos hinabgeschritten war, nur getrieben von dem dumpfen Gedanken, daß ihn die Kraft verlassen würde, sobald er sich umsähe, fiel ihm ein, daß er nicht nach Deutschland, sondern an die lombardischen Seen gewollt hatte und nun doch nach Norden wanderte. Gleichviel! sagte er für sich, ich bin doch überall in der Fremde. – Er stieg an den Wildbach hinab, der neben der Straße hinlief; da ruhte er eine Weile, wusch sich die Stirn, die fieberhaft brannte, und horchte umher. Das helle Plätschern des Wassers über den Steinen erinnerte ihn an Fränzchens Stimme, wie sie das erste Mal wieder gelacht hatte. Das übermannte ihn dergestalt, daß er in Thränen ausbrach und eine Weile seine Schmerzen frei hinströmen ließ. Ein Kärrner, der bergauf vorbeikam, riß ihn wieder aus der völlig versunkenen Stimmung heraus. Er dachte, daß der Mann in Kurzem vor dem Hause am todten See halten und Lucilie sehen würde und das Kind; und er sollte es nie wieder so gut haben! Aber er blieb sich getreu und wanderte weiter, bis er an seinen wankenden Knieen merkte, wie tief die letzten Stunden ihm ins Mark gegangen waren. Da ließ er sich, wo das Thal sich ein wenig erweiterte, bei einer Holzhütte nieder, die ehemals Arbeitern in einem Steinbruche gedient hatte, und verlor sich, das Kinn auf die Brust gesenkt, in ein halbwaches Brüten und Träumen.
Eine Stunde mochte er so gesessen haben, in einer Art Betäubung, in der er weder einen Schmerz, noch einen Wunsch fühlte, nur das Wasser rauschen hörte und die Steine und Kräuter zu seinen Füßen sah, da erweckten ihn Pferdetritte und das Knirschen von Rädern in schweren Hemmschuhen, die sich langsam auf der steilen Straße herabwälzten. Er starrte erschrocken, von einer Ahnung durchzuckt, in die Höhe und erkannte richtig den Reisewagen des jungen Officiers und auf dem Bocke neben dem Kutscher das ehrliche, runde Gesicht der Wärterin, unter einem großen Strohhute mit blauem Schleier gegen die Sonne verwahrt, die nur noch schiefe Strahlen in die Schlucht hineinwarf. Im ersten Augenblicke wollte er aufspringen und versuchen, ob er zu Fuß ihnen entgehen könne. Aber wenn sie auch auf der Steile des Weges hinter ihm zurückblieben, unten in der Ebene mußten sie ihn leicht einholen. Also stand er vorsichtig auf und schlich nach der Thür der Hütte. Sie haben mich noch nicht bemerkt, dachte er. Sie werden vorüberfahren, und dann ist auch das überstanden. Aber warum konnte sie mirs nicht ersparen?
So trat er in die Hütte, fast beschämt, daß er sich wie ein Geächteter verstecken müßte. In all diesen Tagen innerer Kämpfe war ihm nie so weh und wund gewesen, wie in diesem Momente, wo seine letzte Kraft erschöpft war und er es noch mit ansehen sollte, wie Einer, dem er es nicht gönnte, das ihm Versagte wie im Triumph an ihm vorüberführen durfte. Und doch konnte er sich nicht enthalten, vorsichtig an die Bretterwand gedrückt durch die leere Fensteröffnung zu spähen, um zum letzten Male die geliebten Gesichter wiederzusehen.
Nun waren sie so dicht herangekommen, daß er ins Innere des Wagens blicken konnte. In der Ecke drüben, in Tücher und Decken eingehüllt, lag das Kind, schlafend, wie es schien. Lucie saß neben ihm und hielt seine Hand, aber ihre Augen waren suchend auf die Straße gerichtet. Wo aber war ihr junger Begleiter geblieben? Er wird zu Fuß nachkommen, dachte Eberhard. Gottlob, sie fahren vorbei! Nun ist es geschehen!
Plötzlich hörte er, daß der Wagen hielt. Der Kutscher sprang herunter und öffnete den Wagenschlag. Lucilie stieg eilig aus und ging auf die Hütte zu. Im nächsten Augenblick stand sie mit sanft gerötheten Wangen dem tief Bestürzten gegenüber.
Es hilft Ihnen nichts, lieber Freund, sagte sie mit zitternder Stimme, Sie wollen uns entfliehen, aber wir eilen Ihnen nach, wir dringen bis in Ihr Versteck, daß wir Sie festhalten, so sehr Sie sich sträuben. Denn wir brauchen Sie, wir können Sie nicht entbehren, Sie müssen –
Um Gotteswillen rief er in höchster Verwirrung, was ist geschehen? Ist das Kind plötzlich wieder –
Unser Kind schläft, sagte die schöne Frau, mit noch leiserer Stimme. Aber wir brauchen Sie doch, lieber Freund, und diesmal – diesmal ist es die Mutter, die ihr Leben in Ihre Hände legt!
Lucilie! rief er außer sich und zog sie an den Händen, die sie ihm darbot, in die Hütte hinein – was – was darf ich denken? – Sie wollen – Sie könnten –
Ich habe Sie um Verzeihung zu bitten, erwiederte sie, über und über erglühend. Ich habe nicht bis morgen warten können, sondern gelesen, sobald Sie den Rücken gewendet hatten, Alles, was in dem Briefe stand. Daraus – daß ich auch das bekenne – hat es mich noch einen schweren Kampf gekostet. Dann fühlte ich plötzlich, daß ich nie mehr eine reine Empfindung meiner selbst haben könnte, wenn ich Sie scheiden ließe. Sie haben mir Ihr Gelübde geopfert und meinetwegen fortzuleben beschlossen. Ich kann es nur dadurch erwiedern, daß ich Ihnen Alles, was ich bin und habe, überliefere. Der, dem ich meine Treue gelobt, hat keinen andern Wunsch im Leben gehabt, als mich glücklich zu wissen. Ich weiß, wenn ich es ihm jetzt sagen könnte, wie Alles gekommen, er würde mir mein Wort zurückgeben. Als mir das im Innersten klar war, ließ es mich nicht ruhen. Ich habe meinem Schwager Alles vertraut; er ist mit schwerem Herzen zurückgeblieben. Aber diesen Händedruck soll ich Ihnen bringen. Wenn er dich glücklich macht, war sein letztes Wort, so will ich versuchen, ob ich ihn nicht hassen kann. Wollen Sie es darauf wagen, mein Freund?
Er stürzte, unfähig sich länger aufrecht zu halten, auf die Kniee, sich an ihre Hände klammernd, das Gesicht in die Falten ihres Kleides gedrückt. Kein Wort brachte er über die Lippen, nur dann und wann stammelte er ihren Namen.
Was thun Sie? flüsterte sie zu ihm hinabgebeugt. Kommen Sie, seien Sie ein Mann; Sie sollen meine Stütze sein, ich soll zu Ihnen aufblicken – hab' ich es nicht seit so viel Tagen gethan?
Er richtete sich mühsam empor. Verzeihe, sagte er, nachdem er sie lange stumm an sich gedrückt gehalten und das wortlose Gelöbniß auf ihren Lippen besiegelt hatte; es sind nur meine Kniee, die mich nicht mehr tragen wollten. Es war zu viel für einen Tag, Schmerz und Glück zu gewaltsam. Aber mein Herz ist stark, so stark, daß es wieder Freude und Hoffnung ertragen kann. Laß uns zum Wagen gehen. Ich habe ein brennendes Verlangen, unser Kind zu küssen!
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