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Wochen sind vergangen. Zum ersten Mal soll sich die junge Kraft der Augen am Licht versuchen. Der Arzt, der indeß von der Stadt aus die einfache Pflege der Kinder geleitet hatte, war an einem umwölkten Tage herüber gekommen, um selbst zugegen zu sein und die Frucht seiner Sorge mitzugenießen.
Man hatte statt der Vorhänge Laubgewinde um die Fenster gebreitet und beide Kammern mit Grün und Blumen festlich ausgeschmückt. Der Gutsherr selbst und wer im Dorfe den beiden Familien am nächsten stand, hatte sich eingefunden, Eltern und Kindern Glück zu wünschen und sich am Staunen der Geheilten zu freuen.
Marlene drückte sich in düsterer Angst in die Zweige im Winkel, als Clemens, hochroth vor Entzücken, ihr gegenübergestellt wurde und ihre Hand faßte. Er hatte sich's ausgebeten, sie zuerst sehen zu dürfen. So löste man ihnen in demselben Augenblick die Binden.
Ein Ach des höchsten, wortlosen Jubels klang von des Knaben Lippen. Er blieb starr auf demselben Fleck, ein verklärtes Lächeln um die Lippen, die hellen Augensterne hierhin und dorthin bewegend. Er hatte vergessen, daß Marlene vor ihm stehen sollte, und wußte ja noch nicht, was menschliche Gestalt sei. Sie that auch nichts, ihn an sich zu erinnern. Ohne Regung stand sie, nur leicht mit den Wimpern zuckend, welche klare, braune, todte Augen beschatteten. Noch hatte man kein Arg. Die Wunder, dachte man, die sie zuerst fremd ansehen, versteinern sie. Aber als die Freude des Knaben laut ausbrach, man ihm sagte: das ist Marlene! und er in der alten Gewohnheit mit der Hand ihre Wangen suchte und sagte: Du hast ein helles Gesicht! – da stürzten ihre Thränen hervor, sie schüttelte heftig den Kopf und sagte kaum vernehmlich: Es ist ja dunkel hier! Es ist ja Alles wie es war!
Wer schildert das Entsetzen der nächsten Stunde! Der Arzt, tief erschüttert, führte sie auf einen Stuhl zum Fenster und untersuchte ihre Augen. Nichts unterschied die Pupillen von gesunden, als die leblose, traurige Starrheit. Der Nerv ist erloschen, sagte er: Eine heftige Erschütterung durch einen plötzlichen grellen Schein muß ihn getödtet haben. – Die Küstersfrau verließen ihre Sinne; sie fiel ihrem Manne todtenblaß in den Arm. Clemens begriff noch kaum, was vorging. Seine Seele war von dem neu geschenkten Leben zu voll. Aber Marlene lag in Thränen aufgelöst und antwortete auf keine Frage des Arztes. Auch später erfuhr man nichts von ihr. Sie wisse nicht, wie es gekommen; man solle ihr vergeben, daß sie so kindisch geweint habe. Sie wolle Alles hinnehmen, wie es ihr beschieden sei. Habe sie es doch bisher nicht anders gekannt.
Als man Clemens das Unglück klar gemacht hatte, gerieth er außer sich, stürzte zu ihr und schrie unaufhörlich: Du sollst auch sehen! Ich will nichts vor dir voraus haben. Sei ruhig, es wird nicht Alles verloren sein. Ach, nun weiß ich erst, was du verloren hättest! Es ist nichts, daß man selber sieht. Aber Alles ringsum hat Augen und sieht uns an, als hätt' es uns lieb. Und es wird dich auch ansehen; gedulde dich nur und weine nicht. – Und dann fragte er nach dem Arzt und drängte sich ungestüm an ihn und bat unter Thränen, Marlenen zu helfen. Dem braven Mann standen helle Tropfen im Auge; er faßte sich mühsam, ermahnte ihn sich zu schonen, er wolle sehen, was zu thun sei, und hielt ihn mit Hoffnungen hin, um eine Aufregung zu verhüten, die ihm hätte gefährlich werden können. Den Eltern verhehlte er die trostlose Wahrheit nicht.
Aber des Knaben Schmerz schien Marlene getröstet zu haben. Sie saß still am Fenster und rief ihn leise zu sich. Es muß dich nicht so kümmern, sagte sie. Es kommt Alles von Gott. Freue dich nur, wie ich mich freue, daß du geheilt bist. Du weißt ja, ich habe nie sonderlich danach verlangt. Nun wär' ich's auch zufrieden, wenn es meine Eltern nicht so betrübte. Aber sie werden sich daran gewönnen, und du auch, und so wird es gut werden, wenn du mich nur lieb behältst, da ich nun bleibe, wie ich war.
Er ließ sich nicht beruhigen, und der Arzt drang darauf, die Kinder zu trennen. Man führte Clemens hinunter in das größere Zimmer, wo sich die Leute aus dem Dorf um ihn drängten. Sie drückten ihm der Reihe nach die Hand und sagten herzliche Worte. Ihn betäubte die Menge. Er sagte nichts als: Wißt ihr auch schon, Marlene ist blind geblieben! Und weinte dann von neuem.
Es war hohe Zeit, ihm die Binde wieder umzuthun und ihn in ein einsames, kühles Zimmer zu bringen. Da lag er, und war erschöpft von Freude, Schmerz und Weinen. Der Vater sprach mild und fromm zu ihm, was ihm doch wenig half. Auch im Schlaf weinte er viel und schien ängstlich zu träumen.
Am folgenden Tage aber forderten Freude, Wißbegier und Staunen ihr Recht an ihn, und die Trauer über Marlenen schien ihm nur nahe zu kommen, wenn er sie sah. Er hatte sie gleich in der Frühe besucht und mit der zärtlichsten Sorge gefragt, ob sich über Nacht nichts geändert und gebessert habe. – Dann aber beschäftigte ihn die bunte Welt, die sich ihm aufthat, und wenn er zu Marlenen zurückkam, war es nur, ihr ein neues Wunder zu schildern, wo er denn oft mitten im Fluß der hastigen Erzählung einhielt, durch einen Blick auf die arme kleine Freundin erinnert, wie weh ihr seine Freude thun müsse. Im Grunde that sie ihr aber nicht weh. Sie wollte nichts für sich; ihn begeistert reden zu hören, war ihr ein Fest. Aber als er seltener kam, im Wahn sie zu betrüben, und dann schweigsam war, weil ihm alles Andere verschwand gegen das, was er ihr nicht zu sagen wagte, wurde sie unruhig. Sie hatte ihn sonst am Tage nur selten entbehrt. Jetzt saß sie viel allein. Die Mutter kam wohl oft, ihr Gesellschaft zu leisten. Aber die gute Laune der sonst lebhaften Frau war fort, seit ihre liebste Hoffnung fehlgeschlagen. Sie wußte ihrem Kinde nichts zu sagen, als Trostworte, die ihre eigenen Seufzer Lügen straften, und die Marlenen nicht zu Herzen gingen. – Wie viel von dem, was sie nun litt, hatte das Mädchen voraus gefürchtet! Und doch überraschte sie das Gefühl der Entbehrung mit unbekannten Schmerzen.
Sie saß nun wieder oft in ihres Vaters Gärtchen unter den Zweigen und spann. Wenn dann Clemens zu ihr kam, glänzte es seltsam um ihre armen Augen. Er war immer freundlich zu ihr, setzte sich neben sie auf das Bänkchen und streichelte ihr Haar und Wangen wie sonst. Sie bat ihn einmal, er solle nicht so still sein. Wenn er ihr erzähle, wie die Welt sei, und was er täglich mehr von ihr lerne, so fühle sie nichts von Neid. Aber wenn er gar nicht komme, so bleibe sie gar zu einsam. Sie erinnerte ihn mit keinem Wort daran, daß er ihr an jenem Abend versprochen hatte, sie nie zu verlassen; denn sie hatte längst darauf verzichtet. Nun aber war es, als sei sie ihm doppelt lieb geworden, seit er ihr nichts mehr zu verschweigen hatte. Da floß ihm das Herz über, und er erzählte ihr stundenlang von Sonne, Mond und den Gestirnen, von allen Blumen und Bäumen, und vor allem, wie die Eltern und sie selbst aussähen. Sie bebte freudig bis ins innerste Herz, als er ihr unschuldig sagte, daß sie hübscher sei, als alle Mädchen im Dorf. Nun beschrieb er sie, daß sie schlank sei und einen feinen Kopf habe und dunkle, zarte Augenbrauen. Er habe sich nun auch gesehen, im Spiegel, aber er sei lange nicht so hübsch. Er brauch' es auch nicht, und es sei ihm gleichgültig; wenn er nur ein gescheiter Mann werde. Männer seien überhaupt nicht so schön wie Frauen. Sie verstand das Alles nicht ganz; aber so viel begriff sie, daß sie ihm gefalle, und was wollte sie mehr?
Sie kamen nicht wieder auf diese Dinge zu sprechen. Aber unerschöpflich war er, ihr von der schönen Welt zu reden. Wenn er dann nicht bei ihr war, dachte sie seinen Worten nach, und es beschlich sie fast die Eifersucht auf diese Welt, die ihn ihr raubte. Leise wuchs dies feindliche Gefühl heran und ward bald mächtiger, als ihre Freude über sein Glück. Vor Allem haßte sie die Sonne; denn sie wußte, daß diese glänzender sei, als Alles, und in ihrer unklaren Vorstellung war glänzend und schön ein und dasselbe. Nichts verstimmte sie mehr, als wenn er Abends bei ihr saß und über den Sonnenuntergang in einen Rausch von Entzücken gerieth. Mit solchen Worten hatte er nie von ihr gesprochen; und warum vergaß er sie so völlig über diesem Schauspiel, daß er es nicht sah, wenn ihr der seltsame eifersüchtige Kummer Thränen in die Augen trieb?
Noch schwerer ward ihr das Herz, als der Pfarrer, sobald es der Arzt gestattete, seinen Sohn zu unterrichten anfing. Vor der Heilung hatte Clemens den größten Theil des Tages mit Musikübungen verbracht. Religionsunterricht, Geschichte, Mathematik und ein wenig Latein war Alles, was früher nöthig und möglich schien, und man ließ Marlene an den Stunden Theil nehmen, die nicht viel über die allgemeinsten Kenntnisse hinausgingen. Jetzt wo der Knabe den entschiedensten Hang zu Naturwissenschaften an den Tag legte, ward er ernstlich beschäftigt und für eine der höheren Classen der städtischen Schulen vorbereitet.
Sein fester Wille arbeitete sich rastlos durch, und seine guten Anlagen halfen ihm, in überraschend kurzer Zeit seinen Jahren nachzukommen und das Versäumte einzubringen. Manche Stunde saß er denn auch wohl mit einem Buch in des Küsters Garten. Aber es war doch an kein Geplauder zu denken, wie sonst, und Marlene fühlte wohl, daß sie jetzt zwiefach entbehre, den Unterricht und ihren Freund.