Georg Heym
Der Dieb
Georg Heym

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Der Dieb

Motto: Aux sots je préfère les fous
Dont je suis, chose, hélas! certaine.
Baudelaire.

»Gott ich schwöre Dir, ich werde Deinen Willen tun. Denn Du bist der Herr, Herr, und ich bin Dein Werkzeug für und für, von nun an bis in Ewigkeit. Amen. Das heißt, ja, ja, es soll also geschehen. Ich habe Dich auf den Knien gebeten, Du weißt es, Nacht für Nacht, hier in dem Gethsemane dieser Dachstube: ist es möglich, Herr, so lasse diesen Kelch an mir vorübergehen. Aber nicht mein, sondern Dein Wille geschehe. Und nun will ich mich gürten und ausfahren, wie weiland Elia gegen die falschen Priester, oder wie Mose, der gegen den Reigen der Tänzer anschritt. Nicht eine mehr dieser Nächte, Herr, sonst bringst Du mich um meinen Verstand, und ich brauche ihn, denn Du hast ein großes Werk auf meine Schultern gelegt.«

Er fiel nieder und verbeugte sich vor dem Engel des Herrn, der hinter dem Ofen stand, da, wo der Paletot hing, dort, wo er jetzt immer zu erscheinen pflegte.

Dann stand er auf, nahm das Paket und ging.

Er wußte nicht, wie es angefangen hatte. Seit einigen Jahren hatte er sich von seinen Freunden zurückgezogen in einem Anfall plötzlichen Ekels. Er war bald vergessen worden. Seine Freunde wußten nichts mehr von seinem Leben. Sah ihn zufällig mal einer im Vorübergehen, so erkannte er ihn nicht mehr.

Er hatte seine Zeit mit allerlei Studien verbracht, um die Qualen seiner Melancholie zu heilen. Er war der Reihe nach Biologe, Astronom, Archäologe gewesen, alles hatte er wieder fallen lassen. Nichts hatte ihn befriedigt. Alles hatte ihn nur mit größerer Leere erfüllt. Und nun lebte er in einer großen Pension, vergraben in sein kleines Mansardenzimmer, einsam, von niemand gekannt, einer unter den vielen Einsamen dieser großen Stadt.

Die Abende verbrachte er damit, daß er in den Tiefen seines Lehnstuhles dem schwindenden Lichte nachsah und den Schiffen der Wolken, die sommers mit ihrem rötlichen Kiel nach Westen reisen auf der Fahrt nach neuen, geheimnisvollen Ländern. Oder im Spätsommer, wenn die Tage des Nordwestwindes beginnen mit den großen und seltsamen Gebilden am Himmel, damit, daß er den himmlischen Tieren, die der Herbst über die grünen Weiden sandte, zusah, den großen Walfischen, den riesigen Dromedaren und dem Geschwader unzähliger kleiner Fische, die über den Ozeanen des Himmels im unendlichen Blauen verschwanden.

Über alle merkwürdigen Erscheinungen machte er sich Aufzeichnungen. So sah er einmal vor einem weinroten Grunde den Teufel über einem Haufen von schwarzen Leibern, die ihn anbeteten; ein andermal sah er eine ungeheuere Fledermaus, die mit ausgespannten Flügeln an den Himmel angeschlagen zu sein schien, wie sie von den Bauern an die Türen der Scheunen genagelt wird, oder einen riesigen Dreimaster, oder Bäume auf Bergen, oder gewaltige Löwen, ungeheuere Schlangen, die um die Schultern des Himmels gelegt waren, oder einen riesigen Mönch in einer schleppenden Soutane, oder Männer mit seltsamen langen Profilen, und einmal einen feurigen Engel, der mit einer großen Fackel über die Treppen des Äthers stieg.

Manchmal war alles erfüllt mit einer seltsamen, fast unhörbaren Musik, wie das Brausen der Ozeane in der Dunkelheit endloser Grotten und unterirdischer Dome.

Die Wolken waren sein letztes Studium gewesen, die letzte Verlockung, das gefährlichste Werk des Teufels.

Eines Abends hatte er das Buch verbrannt, und wenn er nun den Sturm hörte, der abends den purpurnen Buzentaur einer Wolke über den Horizont trieb, dann schloß er die Läden, verhängte sie innen noch mit schwarzen Tüchern und versenkte sich ganz in das Dunkel und in das Schweigen.

Und damals hatten die Stimmen angefangen, von fern aus einem Winkel, wie aus Röhren herauf, gedämpft und müde wie die Klagen der Toten, die unten in den Adern der Erde herumschwimmen.

Er hatte sie in den ersten Wochen nicht verstanden, aber allmählich lernte er ihre Sprache, je mehr die Stimmen über ihn Macht gewannen. Und nachdem er einmal vier Tage gefastet und vier Nächte gewacht hatte, war ihm die erste Erscheinung zuteil geworden, und da zum ersten Male hatte er jenes Gefühl unendlicher Seligkeit und unermeßlicher Qualen empfunden.

Langsam wie Christus, der zwei Jahre in den Schrecken der Wüste ausharren mußte, war er auf seine große Fahrt vorbereitet worden. Welche Leiden, welche Schrecken, welche schlaflosen Nächte, aber auch welche Hoffnungen, welche Ekstasen, welche Visionen. Nachdem sein Leib sich ganz des Fleisches entwöhnt hatte und nachdem endlich der letzte Rest animalischer Stoffe aus seinem Blute geläutert war, erfuhr er endlich in einer Nacht von einer Stimme, die über dem Meere aufging wie ein Gedonner, seine Botschaft.

Ja, das Weib war das ursprüngliche Böse. Christi Werk war umsonst gewesen. Denn wie sollte er die Menschen erlöst haben, wenn sie immer wieder zurückfallen mußten in die Sünde aus Notwendigkeit, wie ein Stein zurückfällt, und wäre er bis über die Wolken geschleudert worden. Wahrhaftig glichen sie den armseligen Fliegen, die aus einem Honigtopfe heraus wollen, sie zappeln und krabbeln, aber sie kommen nicht weit, sie müssen immer wieder herunter unten in die Sünde, in das Süße. Und er las laut bei Markus im fünfzehnten Kapitel am 34. Vers:

»Und um die neunte Stunde rief Jesus laut und sprach: Eli, Eli, Lama Asabtani. Das ist verdolmetscht: Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?«
Vers 37: »Aber Jesus schrie laut und verschied!«
»Mein Gott, warum hast Du mich verlassen.«

Das also war das letzte Wort Christi gewesen, und damit begrub er seine ganze Herrlichkeit. Im Grauen des Todes hatte er die letzte Wahrheit erkannt. Sein Werk war umsonst gewesen, sein Einzug in Jerusalem, seine blutige Geißelung, seine Schmerzen, der Leidensweg und die langen Stunden am dunkeln Holz. Gott hatte ihn verlassen, und sein Werk war umsonst gewesen.

Und das Dunkelwerden des Himmels, das Zerreißen des Tempelvorhanges, das Heraufkommen der Toten aus den Gräbern, es war nichts gewesen als die armseligen Requisiten einer schlechten und sinnlosen Komödie.

Ja, und »er schrie laut auf und verschied.«

Und er las weiter das 17. Kapitel der Offenbarung Johannis:

  1. »Und es kam einer von den sieben Engeln, die die sieben Schalen hatten, redete mit mir, und sprach zu mir: ich will Dir zeigen das Urteil der großen Hure, die da auf vielen Wassern sitzet.
  2. Mit welcher gehuret haben die Könige auf Erden, und die da wohnen auf Erden, trunken geworden von dem Wein ihrer Hurerei.
  3. Und er brachte mich im Geist in die Wüste. Und ich sahe das Weib sitzen auf einem rosinfarbenen Tier, das war voll Namen der Lästerung und hatte sieben Häupter und zehn Hörner.
  4. Und das Weib war bekleidet mit Scharlach und Rosinfarbe; und übergoldet mit Golde und Edelgesteinen und Perlen; und hatte einen goldenen Becher in der Hand voll Greuels und Unsauberkeit ihrer Hurerei.
  5. Das Tier, das Du gesehen hast, ist gewesen und ist nicht, und wird wiederkommen aus dem Abgrund, und wird fahren in die Verdammnis, und werden sich verwundern, die auf Erden wohnen, deren Namen nicht geschrieben steht in dem Buche des Lebens vom Anfang der Welt, wenn sie sehen das Tier, daß es gewesen ist, und nicht ist, wiewohl es doch ist.«

»Das Tier, das gewesen ist, und nicht ist, wiewohl es doch ist.« Und der Tiefsinn dieser Worte machte ihn erschrecken.

Er sah vor sich den Hals des teuflischen Tieres in schrecklicher Traurigkeit, und über seinen Hörnern hängend das Gesicht des Weibes, über ihrer Stirn das Siegel des Todes, und um ihren Mund ein furchtbares und herzzerreißendes Lächeln wie den Widerschein des höllischen Abgrundes.

So mußte also alles noch einmal getan werden, denn das Tier war noch nicht bezwungen.

Das Übel mußte bei der Wurzel gepackt werden.

Adam war gut, solange er allein war, aber als Satan sich in den Traum Gottes schlich und ihn das Weib schaffen hieß, war die Stunde der Sünde schon in die Zukunft der Geschlechter gesetzt. Wann der Mann fallen mußte, ob durch das erste Weib oder erst durch ihre Töchter, war nicht bestimmt; daß er fallen mußte, war gewiß.

Und an dem Weibe war der Messias vorübergegangen. Darum hatte ihn Gott in der letzten Stunde verlassen.

Ein Symbol gab es; da versammelten sich die Weiber immer, oder sie gingen auch nur an ihm vorüber und sogen aus ihm eine neue Kraft, wie die Schlangen, die manchmal in ihre geheimnisvollen, unterirdischen Städte zurückkehren, um sich neue Gifte zu holen.

Und dieses Symbol hing da, die Straße hinunter, zwei Straßen weiter, in seinem Tempel, und alles andere, was da noch aufgehängt war, war nur da, um das Zeichen zu verstecken und den Männern das Geheimnis zu verbergen. Ja, ja, darum lachten die Frauen auch immer so, wenn sie ihre Regenschirme in der Garderobe abgaben. Gott hatte es ihm selber gesagt.

Das erstemal hatte er sie in den Stunden des Vormittags besucht, wo sie von den vielen umringt war, die alle ihre Herzen auf dem Altar der Teufelin opfern wollten. Da konnte sie auf ihn nicht so aufpassen, ihren Feind nicht gleich herauskennen. Und so konnte er sich langsam an ihre Augen gewöhnen. Jeden Tag blieb er etwas länger, jeden Tag wurde er geduldiger und kräftigte sich mehr für den letzten Kampf mit dem Drachen, gleich jenem Mithridates, der täglich größere Dosen der Gifte nahm, um sein Blut abzuhärten.

Im Anfang hatte er noch die mannigfachen Schutzmittel gegen den bösen Blick angewendet, daß er beim Betreten des Saales den Daumen der linken Hand durch Zeige- und Mittelfinger steckte oder daß er einen silbernen Phallus bei sich trug. Aber allmählich konnte er ihrer entbehren und dem Weib ohne Gefahr in die Augen schauen.

Und eines Tages hatte sie gemerkt, wen sie vor sich hatte. Über ihr Gesicht war es plötzlich gelaufen wie der weiße Schatten der Erkenntnis. Einen Augenblick hatte sie sich abgewendet, aber dann hatte sie den Kampf mit ihm aufgenommen. Durch alle die Menschen hindurch hatte sie nur ihn angesehen in seiner Ecke. Ihre Augen waren sich im Raume begegnet wie zwei Dolche, die ineinander fahren, oder wie zwei große Schlünde eines leeren Weltalls, die einander auffressen wollen. Wer wird den anderen verschlingen, welche Ewigkeit wird größer sein, die andere zu verzehren?

Wer hier siegte, hatte den letzten Sieg erfochten, er hatte keinen Feind mehr, und rings um den Sieger waren entweder die unermeßliche Helle des Lichtes und die Choräle der Sonnen oder schwarze Himmel voll trostlosem Schweigen und über Haufen von Särgen der schwarze Thron Belials und die riesigen Fahnen der Hölle.

Und so kämpfte er im vollen Saale die erste Schlacht, den ersten stummen Kampf, niemand sah ihn, niemand beachtete ihn, niemand bewunderte ihn. Von diesen erbärmlichen Narren wußte niemand, was hier getan wurde, was hier geschah und welche Schicksale der Menschheit auf diesem furchtbaren blutlosen Schlachtfelde entschieden wurden. Hätte er Zeit gehabt im Kampfe, er hätte sie alle zum Tempel hinausgetrieben, diese Wucherer und Götzendiener. Aber er durfte sich nicht fortwenden.

Die Augen begannen ihn zu schmerzen, er sah das Weib nur noch wie durch ein rotes Feuer, ihm war, als sollte er umsinken. Er mußte sich auf einen Stuhl stützen, aber er hielt aus.

Und langsam kam ihm das Gefühl, daß er siegen würde. Ihre Augen waren nicht mehr so hart, nicht mehr so groß, nicht mehr so siegesgewiß. Es ging wie ein Schatten über ihre Stirn, und er sah, wie sie müde wurde und langsam nachließ. Sie schien allmählich aus dem Vordergrunde zu verschwinden, ihre Umrisse wurden dunkel, ihr Gesicht wurde kleiner. Und es war ihm, als tauchte sie in die geheimnisvolle Landschaft hinter ihr zurück wie in den Schleier eines grünen und stillen Wassers.

Und auf einmal war sie nur die gewöhnliche Mona Lisa Gioconda, an der täglich die Horden der Engländer und Amerikaner wie eine Herde Schweine vorübergetrieben wurden.

Die erste Schlacht des himmlischen Krieges war gewonnen. Er fiel in einen Sessel.

Später im Fortgehen drehte er sich von der Tür aus noch einmal nach ihr um. Ihre Augen begegneten sich ein letztes Mal, und er fing einen Blick auf, der spöttisch sein sollte, aber nur wie eine dünne Schicht über Meeren der Wut stand. Und noch einmal zwang er sie und scheuchte sie zurück in ihre felsige Einöde. Als er durch die Tür ging, wußte er, daß sie ihm nachsah, und er hatte das Gefühl, als ob ein Meuchelmörder hinter seinem Rücken stände. Aber er stach nicht zu, er hatte den Mut verloren.

Er war draußen im Glanz der Straßen, und er mußte an sich halten, sonst hätte er getanzt und gesungen und seine Glückseligkeit in die dämmernde Hitze des Himmels geschrien.

Am Nachmittag belustigte er sich damit, aus seinem Fenster zu liegen und den Menschen unten zuzusehen. Dabei aß er eine Tüte Pflaumen und warf die Kerne nach den winzigen Köpfen der Leute. »Wenn sie wüßten«, dachte er dabei, »diese verdammten Spießbürger, wenn diese Idioten doch wüßten«, und sein struppiger Vollbart wurde von einem lauten Lachen geschüttelt.

Von da an begann er seine Feindin auch in Stunden zu besuchen, wo es leer im Louvre war, wenn die Bilder aus dem Schlafe des Tages erwachen, gegen Abend, in den geheimnisvollen Stunden, wo das Licht den Nachmittag verläßt und in dem Halbdunkel der verlassenen Säle jeder Kopf in dem Gefängnis seines Rahmens tiefer und fremder wird.

Er hatte die Gewohnheit angenommen, sie von fern zu belauschen, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, und dann erst pflegte er vorzutreten.

Niemals war sie so schön, als wenn die Feuer der untergehenden Sonne im Staube des Zimmers zitternd auf ihrer Stirn lagen und ihre dunklen Haare zu leuchten begannen wie von eigenem Licht. Dann schien sie aus dem dunklen Hintergrunde herauszuwachsen, Fleisch zu werden und sich in dem Lichte ihrer eigenen Schamlosigkeit zu sonnen. Vielleicht war das gerade die Stunde gewesen, in der die Seele jenes verworfenen Künstlers dereinst dem Teufel offen gestanden hatte, sie zu empfangen. Denn auf ihrem Gesicht lag es manchmal wie die Erinnerung an eine ferne entlegene Stunde voll geheimnisvoller Wollust.

Ja, jeder andere wäre auf sie hineingefallen, und manchmal wäre auch er schwach geworden, aber dann rief er im Geiste zu dem Herrn, und der Herr füllte sein Herz mit Haß und himmlischem Zorne.

Und dann trat er vor. Er fühlte ihr Erschrecken, er sah, wie ihr kalt wurde und wie der Widerwillen vor ihm auf ihre Stirn trat. Und dann begann wieder der Kampf. Lautlos und stumm, Tag um Tag. Manchmal glaubte er schon, sie soweit zu haben, daß sie den Kampf gar nicht mehr aufzunehmen wagte. Sie hing dann in ihrem Rahmen wie ein gewöhnliches Bild, ihre Augen waren ohne Licht, über ihr lag es wie ein tiefer Dunst von Wehmut und Reue. Dann hatte er Mitleid mit ihr, er quälte sie nicht mehr. Er betrachtete sie dann mit den Augen eines Arztes, der gekommen war, sie zu retten. Man würde einen großen Schnitt machen müssen, ohne Zweifel eine Operation auf Tod und Leben, man würde sie blenden müssen, aber wenn sie dabei draufging, vielleicht fand sie Gnade vor Gott; man mußte sie wenigstens zur Buße zwingen, denn es ist mehr Freude im Himmel über einen Sünder, der Buße tut, als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.

Aber auf einmal lachte sie wieder, und er mußte sehen, daß sie ihn nur verhöhnt hatte, daß alles nur freche Verstellung gewesen war.

Die Wärter achteten nicht mehr auf ihn.

Sie machten über den Verrückten Witze, und sonst kümmerten sie sich nicht sonderlich um ihn. Er begrüßte sie immer sehr höflich, und ab und zu bekamen sie ein gutes Trinkgeld, wenn er länger bleiben wollte, als es das Reglement zuließ. Dann ließ ihn einer der Wärter zu einer Hintertür hinaus.

Im August gab es mehrere Selbstmorde junger Leute. Die Zeitungen gaben in allen Fällen Liebeskummer als Motiv an. Offenbar hatte Gott das gelesen. Denn er nahm das zum Anlaß, energischer vorzugehen.

Der Engel, der die himmlischen Botschaften zu vermitteln pflegte, hatte ihm seit mehreren Tagen schon angedeutet, daß die Stunde der Tat nahe sei, und heute sagte er ihm, daß der 17. August von dem himmlischen Rat festgesetzt sei.

Er war einen Tag lang nicht hingegangen, um sie unruhig zu machen, um durch den Stoß, den er gegen ihre Gewohnheit führte, ihre Gedanken zu verwirren. Er befolgte eine gute Taktik, wenigstens versuchte er, sich das einzureden. In Wirklichkeit war mit einem Male über ihn die Angst hergefallen, nachdem ihm der Engel die Botschaft gebracht hatte. Er war aus seiner Wohnung fortgelaufen, um unter Menschen zu kommen, er wollte sich vor Gott verstecken. Aber Gott war hinter ihm her. Überall sah er ihn zwischen den Omnibussen, unter den Menschen. Überall wo er hinlief, auf den Schildern der Häuser, auf den Straßenbahnen, fortwährend traf er die Zahl 17, gerade die, die er so gern aus allen Zahlen herausgestrichen hätte. Er war sicher, wenn er die Augen hob, er würde eine 17 sehen, und er sah sie.

Er hörte hinter sich ein paar abgerissene Worte eines Gespräches: »Wenn der Trompeter aus dem Tore heraustritt«, »aber das wäre ja schon morgen«, » ach ja, morgen ist ja der 17.«

Damit war es entschieden. Der liebe Gott schickte seine Polizisten ihm überall nach, er würde ihm doch nicht entgehen können. Die Worte fielen ihm ein: »Und käme ich ans äußerste Meer, so wärest Du doch da.« Ja, man konnte sich vor Gottes Angesicht nirgends verstecken, es sei denn, man kröche in die feurige Kehle Satans.

Das mit der Trompete war deutlich eine Anspielung auf das jüngste Gericht und die Strafe, die seinem Ungehorsam bestimmt war. Und er kehrte um und ergab sich seinem Schicksal.

Den Nachmittag, die Nacht und den Morgen verbrachte er in Gebeten. Er lag vor Gott im Staube, er demütigte sich, er riß seine ganze Seele auseinander und ließ Gott hineinströmen wie einen Rauch, wie ein Fluidum. Um Mitternacht erlosch seine Lampe. Er betete im Dunkel weiter. Und auf den Spitzen seiner Hände, die er im Dunkel schwang, erglänzte ein schwaches blaues Licht wie ein Sankt Elmsfeuer, als führe die Kraft Gottes wie ein Strom in ihn hinein, ihn mit Entzücken zu erfüllen.

Wie ein Krieger schwoll er vor Stärke, er hätte eine ganze Stadt hypnotisieren können, er hätte die nächtlichen Horizonte vor sich auf ihre schwarzen Knie zwingen können, und den dunkeln Ozean hätte er wie einen riesigen stürmenden Mantel hinter sich hergezogen, wenn er von hier gegangen wäre.

Je mehr er sich Gott unterwarf, um so feuriger wurde sein Verlangen, sich mit den Fürsten der Hölle, den Belzebubs und riesigen Leviathanen des Abgrundes zu messen. Denn natürlich, auch sie trafen ihre Vorbereitungen.

Vielleicht lauerten sie schon zu Hunderttausenden hinter dem Bilde, vielleicht hatten sie durch die rätselhaften Berge in dem Rücken der Göttin ungeheuere Stollen heraufgebohrt, in denen sie saßen in feurigen Harnischen, über ihn herzufallen, wenn er das Bild anfassen wollte. Dann würden die Heerscharen der Hölle mit Geschrei, Gestank, Nacht und Flammen hervorbrechen, die Kohorten des Satans, die kamen, ihn, den Louvre, Paris, Frankreich, die Welt, alles zu verbrennen und zu verschlingen.

Und morgen um diese Zeit würde hier vielleicht wieder das Chaos sein, sternlose Himmel, und ein großer gesättigter Drache würde auf der Spitze seines Schwanzes über den Flammen tanzen.

Und nun war die Stunde gekommen.

Es gab keinen Weg mehr zurück.

Gott hatte gesprochen.

Er stand unten an der Tür, seine Knie zitterten so furchtbar, er war so wenig Herr seiner Nerven, daß er sich an die Mauer lehnen mußte.

Um alles noch einmal zu überdenken, um sich zu beruhigen, wollte er erst noch etwas spazieren gehen. Und so verlor er sich durch ein paar Straßen voll Menschen. Aber es gelang ihm nicht, unterzutauchen. Denn in ihrer Fülle, in ihrer Ziellosigkeit und Vergänglichkeit strahlte seine Größe und Einsamkeit immer heraus, gleich dem Feuer einer ewigen Lampe oder gleich dem Schritt eines unsichtbaren Gottes, der durch die Straßen der Städte wandert. Manche Leute sahen ihn an. Sie schienen sich über ihn zu wundern. Aber er hatte seine Augen unter einer großen Brille verborgen, um ihren Glanz nicht zu verraten. Seine Lippen bewegten sich in Gebeten. Die ausgefransten Schöße seines schwarzen Rockes flogen hinter ihm her, und sein großer Hut rutschte ihm bei jedem Schritt mehr in die Stirn. Als er einen Straßendamm kreuzte, sah ihm ein Schutzmann nach.

Unten an der Seine schon sollte die Schlacht beginnen, denn die Hölle hatte ihre Vorposten weit vorgeschoben. Ein Mann sägte Äste von einem Baume ab, einer fiel ihm gerade auf den Kopf Er sah herauf, und da sah er den ganzen Himmel mit Dämonen erfüllt, Hundert und aber Hundert reitend auf roten Wolken, Teufel mit einem großen Horn auf der Stirn, andere mit Posaunen, gewaltige Rosse bäumten sich in den Himmel, riesige Lanzen wurden geschwungen, und ein gewaltiger Schrei erfüllte den nordwestlichen Himmel weit über das Dach des Louvre hinaus. Das Blut schwand ihm aus dem Gesicht. Trotz der Hitze des Nachmittags überfiel seinen Leib eine schreckliche Kälte. Seine Adern waren wie verschrumpfte Wurzeln, und sein Gehirn drehte sich wie ein Kreisel in der Enge seines Schädels herum.

In seiner Angst begann er laut zu beten. Ein paar Kinder, die auf der Straße spielten, liefen hinter ihm her. Er versuchte, seine Selbstbeherrschung zurückzugewinnen, trat an eine Selterbude, verlangte eine Limonade. Dann setzte er ruhig und gefaßt seinen Weg fort. Die Kinder verloren sich.

Das war seine letzte Schwäche gewesen, von nun an war Gott bei ihm.

Er trat in den Louvre ein mit seinem Paket unter dem Arm. Der Portier begrüßte ihn, er gab ihm ein Trinkgeld. Oben in den Sälen war es schon leer, und nur das bedrückende Schweigen all der Bilder war in den dämmernden Sälen wie von Leuten, die über jemand gesprochen haben. Er kam heran, sie wurden plötzlich stumm. Aber die bösen Gespräche dieser niederen Teufel, dieser Schatten und Toten schienen noch in dem Raum zu schwingen und in seinen Ohren fortzuklingen.

Ein Wärter schlief auf einem Stuhl im Zwielicht. Als er Schritte hörte, erwachte er; er sah nach der Uhr, es war Zeit zu schließen.

Der Irre trat zu ihm, gab ihm ein Fünffrankenstück und sagte ihm, er sollte ihn in zwei Stunden holen und ihn hinauslassen. Der Wärter nahm das Trinkgeld und ging laut gähnend davon.

Nun war er ganz allein, ein Einsamer auf den entlegensten Vorgebirgen des Lebens, unter den Schrecken der letzten und unsichtbaren Geheimnisse. All die toten Augen der Menschen entschwundener Jahrhunderte sahen ihn hochmütig aus dem Dunkel ihrer Rahmen an, als er an ihnen vorüberging. Und hinten hörte er immer ein Rascheln und Wispern, als warteten sie nur, bis er vorbei wäre, um sich über ihn lustig zu machen. In allen Ecken schien jemand auf ihn zu warten, etwas Großes und Dunkles, und wenn er herankam, ging es davon, ihm voraus. Er hörte einen Schritt hinter sich, was war das? Er blieb stehen. Die Schritte verstummten. Er ging weiter, es war wieder da. Plötzlich merkte er, daß es nur der ferne Widerhall seiner eigenen Schritte gewesen war.

Es wurde dunkler, am Himmel schien ein Gewitter heraufzuziehen. Ein gewaltiges Brausen erfüllte draußen die Luft. Und vor einem der Fenster trieb oben ein Haufe Blätter und Staub vorbei. Fern irgendwo in den Sälen erhob sich ein Säuseln, der Wind hatte irgendwo hereingefunden, es war wie ein Wimmern, und das Blut in den Adern erstarrte ihm vor Entsetzen.

Hinter dem Eingang zu dem Zimmer der Gioconda stand ein großer Sessel. Er ließ sich auf die Hände hinunter, und so kroch er auf allen Vieren wie ein Tier durch den Vorraum, schnell durch die Tür, und verbarg sich hinter der breiten Lehne des Sessels.

Er hatte allen Mut verloren, und die Furcht schüttelte ihn hin und her mit ihrer riesigen Faust. Am liebsten wäre er umgekehrt. Aber wenn er jetzt schwach war, fielen die Teufel sicher über ihn her, in zwei Sekunden war ihm der Hals umgedreht. Er blieb hier liegen wie ein ausgeleerter Sack, und die Menschen mußten wieder Jahrtausende auf die Erlösung warten. Er versuchte, zu überlegen, er wollte sich aus den Fingern der Angst befreien. Er gab sich Mühe, sich zu beherrschen. Er versuchte, an irgend etwas Gleichgültiges zu denken. Er zählte die Fransen des Sessels, er begann zu beten, und endlich, da niemand kam, begann seine Erregung sich zu verlieren. »Dein Wille geschehe« – sagte er noch einmal leise, und dann steckte er vorsichtig seinen Kopf hinter dem Sessel hervor.

Und da hing sie.

Sie sah ihn, sie blieb ruhig, sie erschrak nicht einmal. Sie war also schon benachrichtigt, vielleicht hatte sie ihn schon hereinkriechen sehen.

In dem Dunkel des wolkenverhangenen Himmels schien ihr Gesicht dreifach zu leuchten vor Lüge und Bosheit. Woran lag es nur, daß sie so böse aussah? Es war doch kaum eine Falte in ihrem Gesicht. Doch war es schrecklicher anzusehen, als wenn es ganz von den Runzeln der Wut zerrissen gewesen wäre. Und plötzlich konnte er sie ganz ruhig betrachten. Er maß sie ab von ihrer reinen Stirn, die unter einem Heiligenschein zu leuchten schien, bis herab an ihre Hände, die von jedem Laster der Unzucht, von jedem Verrat, vom Spiel mit spitzigen Dolchen und vom Mischen weißer, unschuldiger Gifte wußten. Er untersuchte ihr Gesicht. Er wollte herausheben, wo eigentlich ihre Gemeinheit saß, aber er bekam keine Antwort. Er erhob sich hinter seinem Sessel und wartete. Ihm war, als zitterten ihre Lippen von leisen Worten gleich Schmetterlingen über einer abendlichen Wiese.

Teufel, sie war sehr schön in ihrer Verworfenheit.

War sie stumm, sprach sie? Oh, er hätte sich bessere Ohren gewünscht, um alle ihre Gemeinheiten erfahren zu können, und sie dann mit doppelter Gerechtigkeit zu verdammen.

Welche Weisheiten des Abgrundes, welche Gedanken der Hölle mochten hinter ihrer Stirn wohnen. In welche Tiefen hätte man geschaut, wenn man die silberne Pforte dieser Schläfe aufgestoßen hätte. O Gott.

Und die Stille ließ das Blut in seinem Kopfe brausen, er hörte es wie ein unterirdisches Wasser an seinen Ohren vorbeirauschen in der weiten Stille dieser Säle, in der vielleicht noch einige Worte aus jenem Munde verzitterten, wie Tropfen, die in ein silbernes Becken gefallen sind.

Ein Schatten lief über ihr Gesicht wie eine Trauer. Ihr Mund schien sich zu schließen, und sie schwieg.

Aber das Schweigen, das von ihr ausging, war wie ein ewiger Gesang, wie das Brausen ferner blauer und unermeßlicher Meere.

Der Sturm draußen war vorüber. Nur ab und zu ging noch ein verlorener Windstoß in den hohen Bäumen. Die Abendsonne warf eine feurige Fackel herein, und die tiefen lombardischen Farben des Bildnisses belebten sich in Purpur, das Gewand rauschte und flammte auf, das rote Licht ging über ihr Gesicht herauf und verfing sich in den goldigen Netzen ihres leisen Gelächters. Und langsam schien sie sich in der Dämmerung aufzulösen wie ein Duft, wie ein Hauch, die Berge hinter ihr, ihre Stirn, ihre Haare, alles wollte langsam in blauen Schatten vergehen, aber ihr Lächeln blieb schwimmend im Licht, leise wie der silberne Schall einer höllischen Harfe, ihr Lächeln wie der tiefe und goldene Abglanz der Küsse Arimans, das große Insiegel Satans, das das Feuer seiner Umarmungen für ewig in ihre Lippen gegraben hatte.

Und nun mußte sie untergehen. Ja sie mußte, es war ihm befohlen. Und schließlich durfte er Gott nicht trotzen. Denn Gott hatte ja keinen andern als ihn.

Sie mußte zerschmettert werden. Ja, Teufel, sie war sehr schön. Es half alles nichts, ihre Stunde hatte geschlagen. Und die letzte Schlacht mußte beginnen.

Er drehte sich um, kniete sich auf die Erde, holte seine Bibel hervor und las noch einmal die Worte der Apokalypse:

»Und ich sahe das Weib sitzen auf einem rosinfarbenen Tiere, das war voll Namen der Lästerung und hatte sieben Häupter und zehn Hörner.

Und das Weib war bekleidet mit Scharlach und Rosinfarbe, und übergoldet mit Golde und Edelgesteinen und Perlen, und hatte einen goldenen Becher in der Hand voll Greuels und Unsauberkeit ihrer Hurerei.«

Ja, voll Greuels ...

Seine haarige graue Mähne war über sein Gesicht gefallen, seine Brille war ihm über seine graue Nase gerutscht, und, wie er da kniete, glich er einem uralten Affen, der am Ende seiner dunklen Höhle über seinem Fraße hockt.

Und er las weiter das sechste Kapitel des Briefes an die Hebräer, am vierten Verse:

»Denn es ist unmöglich, daß die, so einmal erleuchtet sind und geschmeckt haben die himmlische Gabe, und teilhaftig geworden sind des heiligen Geistes, und geschmeckt haben das gütige Wort Gottes und die Kräfte der zukünftigen Welt, wo sie abfallen und wiederum ihn selbst, den Sohn Gottes, kreuzigen, und für Spott halten, daß sie sollten wiederum erneuet werden zur Buße.«

Ja, wenn er abfiel, wenn er, der den Himmel offen gesehen hatte, Gott den Gehorsam aufsagte, so machte er sich selbst zum Spott und kreuzigte sich selbst, sich, den wahren Messias und Boten Gottes. Und er kam unten zu liegen, in den tiefsten Abgrund und die Eingeweide der Hölle. Da gab es doch keine Wahl.

Er versteckte das Buch, stand auf, ging noch einmal durch alle Säle, alles war leer.

Er ging zurück, stellte sich noch einmal hinter seinen Sessel, sammelte noch einmal alle seine Kraft.

Würde er siegen, würde er zerrissen werden?

Aber er war ruhig, er hatte keine Furcht mehr. Mochte sie schon über ihn herfallen und ihn zerreißen. Er verbeugte sich noch einmal nach dem oberen Fenster vor Gott, er befahl ihm seine Seele, dann ging er langsam vorwärts, bei jedem Schritte laut den Beistand des Himmels herabrufend.

Er kam bis nahe an das Bild. Niemand rührte sich. Er sah sich nach allen Seiten um. Nur im Dunkel der Dämmerung eines Winkels schien es zu schwanken wie ein riesiger formloser Schatten.

Er wagte noch nicht, sie zu berühren. Aber er stand ihr dicht gegenüber und sah sie an. Er tauchte seine Augen zur letzten Schlacht in die ihren. Und sie antwortete. Die Hölle hatte die Herausforderung angenommen.

Und da standen sie sich gegenüber, der Irre und das Weib, ein zerrissener Sturm und eine ewige Stille.

Sein Gesicht war dunkel wie eine sterbende Kerze, aber über der Stirn des Weibes stand es wie die fahle Morgendämmerung einer zeitlosen Ewigkeit. Und während sich sein Gesicht fortwährend zu verändern schien, selbst in der Starre des Krampfes, wie ein wolkenschwangerer Himmel über einem stürmischen Meer, war das ihre wie ein Brunnen, darüber viele Schatten und Bilder ziehen, aber das Wasser bleibt ewig in Ruhe.

Es kam nichts. Niemand kam. Und die Zeit ging dahin. Endlich mußte etwas getan werden, sonst war es zu spät. Man mußte endlich das letzte tun, sie anfassen. Und in der nächsten Sekunde mochte das Dunkel kommen und die Erde aufstehen und der Himmel einbrechen, Nachtgeschrei, Feuer und Lärm, und der Ozean wie ein rasender Sturm über den Abend hinaufsteigen und die Lichter der Sterne verlöschen. Vielleicht hielten sie schon ihre Hand über ihn. Und er sah noch einmal verstohlen hinauf.

Dann bewegte er seine linke Hand mit gespreizten Fingern langsam gegen das Bild vor, während er die Rechte zum Kampfe geballt hielt.

Er berührte ihre Hände, nichts rührte sich. Er faßte ihren Kopf an, nichts, gar nichts.

Er berührte sie auch mit der rechten Hand, niemand rührte sich, alles blieb still, alles blieb dunkel.

Da faßte er das Bild an dem Rahmen, hob es aus den Scharnieren, legte es auf den Boden, umwickelte es mit dem Papier des Paketes, das er mitgebracht hatte, und nun sah es so aus wie das Paket selbst. Einen Augenblick lehnte er sich gegen die Wand. Dann nahm er das Bild unter den Arm und ging hinunter. Der Wächter schloß ihm auf, sie wünschten sich einen guten Abend, und er verschwand in die Nacht.

Am nächsten Morgen wußten schon alle Zeitungen vom Diebstahl der Mona Lisa Gioconda.

Man nahm sofort die Wärter ins Gebet, aber sie hüteten sich natürlich, ihre eigene Nachlässigkeit zu verraten. Sie hatten einfach nichts gesehen, sie wußten gar nichts.

Hunderte von Protokollen wurden aufgenommen, ganze Scharen armseliger Strolche wurden auf allen Landstraßen Frankreichs aufgegriffen und peinlichen Verhören unterzogen. Riesige Schwärme von Detektiven nisteten auf jedem Ozeandampfer, Hunderttausende von Polizisten liefen hinter hunderttausend verschiedenen Spuren her. Alle Mörder und Diebe hatten gute Tage, und alle Kunsthistoriker begannen, in rasendem Tempo zu verdienen. Ganz Paris geriet in einen wilden Taumel, und jeder Vorstadtbudiker mußte ein Bild der Mona Lisa über seinem Bette haben. -

Eine florentinische Frühlingsnacht. Über den runden und dunklen etrurischen Bergen unten am schwarzen Himmel zitterte ein sanftes Licht wie eine Dämmerung. Und der Mond ging über ihnen herauf

Plötzlich lagen alle Straßen, die von den Bergen herunterkamen, in seinem weißen Licht, und alle Dächer und Türme der Stadt unter ihm tauchten aus der Nacht, aufgelöst, ohne Umrisse, wie die Städte eines träumerischen Königreiches. Die silbernen Vierecke des Flusses lagen glänzend zwischen dem Dunkel der Brücken.

Er drehte sich um, da hing ein Strahl des Mondes in ihren Augen wie ein goldener Tropfen.

Sie war undeutlich zu sehen, der Schatten des Vorhanges bewegte sich über ihrem Gesicht. Nur ein Streifen vom Kinn bis zu der Stirn war frei und leuchtete im Mondlicht. Vielleicht weinte sie?

Ach wenn sie geweint hätte, nur einen einzigen Tropfen, eine einzige Träne der Reue.

Er riß den Vorhang ganz vom Fenster zurück, ehe sie auf seine Bewegungen acht geben konnte. Er hatte schon richtig vermutet, ihr fiel gar nicht ein, zu weinen. Auf diese Stirn voll Laster wagte sich kein Gedanke der Reue herauf. Sie blühte noch immer in ihrer Frechheit, die erst die Hand des Todes von ihrem Munde herunterjagen würde.

Sie hatte sich um nichts gebessert, seitdem er sie hier eingesperrt hatte, sie war nur noch böser geworden, diese Hure da. Vielleicht war der Satan jede Nacht bei ihr gewesen, während er durch die halbe Welt geflohen war, um seine Liebe zu ihr zu vergessen.

Wieviel verweinte Nächte, Teufel, Mona Lisa Gioconda, Gott.

Als er nach Florenz gekommen war, hatte er dieses kleine Haus über der Stadt gemietet. Und gleich in der ersten Nacht hatte er sie umbringen wollen. Ja, damals vor drei Jahren, da war er noch stark gewesen. Ach ja, und jetzt? Alle Leute auf der Straße lachten ihm ins Gesicht.

Er hatte schon einmal das Messer an ihren Augen gehabt, aber er hatte nicht zustoßen können. Denn eine bittere Erkenntnis hatte ihn schwach gemacht, er hatte plötzlich gewußt, daß er sie liebte. O mein Herrgott, das war das Furchtbarste, diese verzweifelten Kämpfe, die damals begonnen hatten, wochenlang. In jeder Nacht, wenn er ihre Augen nicht zu fürchten hatte, hatte die Spitze des Messers über ihrem Gesicht gestanden, aber jedesmal hatte er seinen Arm wieder sinken lassen, und dort in dem Winkel hat er dann immer gesessen, in sich gekrochen wie ein geprügelter Hund, und er hatte nicht mehr gewagt, sie anzuschauen.

Eines Tages hatte er sie hier versteckt und eingeschlossen. Und dann war er fort, wer weiß durch wieviele Städte vom Orkan seiner Liebe immer herumgejagt um Florenz, durch Spanien, Tunis, Griechenland, über die Alpen fort, immer im Kreise wie ein kleiner Komet, der sich nicht mehr aus der Sphäre einer übermächtigen Sonne herausreißen kann.

Endlich konnte er nicht mehr. Gott hatte ihn verlassen. Und nun lag er hier wie ein Wrack vom Sturm auf die Riffe geworfen.

Gott war fort. Vielleicht war Gott gestorben und war irgendwo im Himmel beerdigt. Auf seinem Stuhl saßen jetzt vielleicht ganz andere Götter.

Nur einen letzten Versuch wollte er noch machen, denn er wollte keine Geliebte, die sich heute dem und morgen dem anhängt. Wenn sie ihre Falschheit lassen wollte, wenn sie aufhören wollte zu lachen, gut, er wollte sich um diesen Preis auf der Stelle dem Teufel verschreiben und eine Ewigkeit der Hölle immer zu ihren Füßen sitzen, wie ein kleiner Dämon oder wie ein kleiner geflügelter Schmetterling ewig über den riesigen Gärten ihres Halses.

Der Mond kam ganz in die Stube.

Alle Gegenstände rückten zurück und schrumpften ein in seinem blauen Licht.

Aber das Gesicht der Mona Lisa wurde weit wie ein See.

Er ging auf sie zu und sagte: »Ich will dir verzeihen, ich will dich lieben, aber du mußt nicht mehr lachen.« Und um ihr Zeit zu lassen, ihr Gesicht zu verändern, drehte er sich um.

Auf einem Stuhle sah er seine Bibel. Er warf sie heraus aus dem Fenster und er hörte, wie sie unten aufklatschte. Dann ging er ans Fenster und streckte gegen Gott seine Zunge heraus.

Als er sich wieder zu ihr kehrte, war es noch um kein Haar besser. Er beschloß, stärkere Mittel anzuwenden, denn vor dem Eigensinn einer Frau durfte er sich nicht schwach zeigen.

Und auf einmal erkannte er, auf dem Munde eines Mannes war dieses Lachen eine Blasphemie, eine Unmöglichkeit.

Ach er verachtete sie, aber er liebte sie. Und er verachtete sich selber, daß er sie liebte, diese Hure, die es verstanden hatte, ihn, den Heiligen Gottes, in den Schlamm herunterzuziehen.

Aber nun war alles ganz egal, er liebte sie eben, und dagegen war nichts mehr zu machen.

Aber das Lachen mußte weg, dieses verfluchte Gelächter, das war ja schon nicht mehr zum Aushalten. Und er begann seine Beschwörung.

Wie ein Satan sprang er gegen das Bild vor, drei Sätze vor und drei Sätze zurück, seine Arme ruderten in der Luft, seine gekrümmten Hände standen wie ein paar Schnäbel über seinem Kopfe, und seine langen und verwüsteten Haare tanzten auf seinen dünnen Schultern. Bei jedem Sprunge knickte er etwas mit seinen Knien zusammen, und sein großer schwarzer Schatten tanzte neben ihm her an der Wand, immer drei Sätze vor und drei Sätze zurück, wie ein riesiges Känguruh.

Aber es half nichts.

»So«, dachte er endlich, »du willst nicht, na, ich werde dir schon auf die Beine helfen. Du denkst wohl, ich bin dein Idiot. Na, ich werde dir die Sache schon beibringen.«

Er zündete das Licht vor ihr an und hielt es ihr unter die Nase, um sie ein bißchen zu kitzeln. Vielleicht würde sie nun endlich einmal schreien. Und sie schien auch ihr Gesicht etwas zu verziehen, aber nur als wenn sie ihre Lippen zu einem doppelten Grinsen auseinanderzöge, das seine vergebliche Anstrengung nur noch mehr verhöhnte.

Auf einmal warf er das Licht wieder fort. »Was habe ich getan«, dachte er, und er fiel vor ihr auf die Knie, er weinte vor ihr, und das Schluchzen schüttelte seine Schultern hin und her.

Und da auf einmal hörte er sie ganz laut lachen.

Und das verträgt kein Mann.

Seine ganze Liebe war weg. Er war plötzlich wie ein Stein. Er stand auf, suchte sich das Licht wieder hervor, und die kleine Flamme mit der Hand schützend, stieg er die Treppe herunter. Der Widerschein lief über sein Gesicht, es war rot und starr.

In der Küche unten suchte er sich ein großes Messer, lang und breit, so ein richtiges zum Fleischschneiden. Und dann ging er wieder herauf. Als er in die Tür der Bodenkammer trat, hielt er die Kerze hoch in der Hand und ließ den Schein über ihr Gesicht hinlaufen.

Mit Bedacht suchte er sich eine Stelle, wo er ansetzen konnte. Die Augen waren das Böseste, sicher. Man konnte ja auch das Herz nehmen, sie gleich töten, aber das war nicht genug Rache.

Er trat an sie heran und setzte die Spitze des Messers auf den inneren Winkel des rechten Auges, stach das Messer etwas herein und begann das Auge herauszuschneiden. Er hatte dabei zu tun, denn die alte Leinwand war hart und steif. Schließlich hing es nur noch an einem Faden. Er riß es heraus und trat es mit dem Fuße aus, als es noch zitterte.

Mit dem linken Auge tat er ebenso, aber es war noch fester, es wollte nicht mit, als er es herausriß. Und als er es endlich losbekam, hing noch ein großer Fetzen der Stirn daran.

Damit war es aber noch nicht ganz getan. Jetzt kam der Mund an die Reihe. Er konnte es sich nicht versagen, ihn noch einmal zu streicheln, einmal noch leise mit dem Zeigefinger über diese Lippen zu fahren.

Dann, da wo das Lachen am bösesten saß, an dem rechten Mundwinkel, stach er herein.

Er schnitt den Mund oben und unten bis zur Mitte fort und hob den Fetzen heraus. Und dann ging er ein paar Schritte zurück und betrachtete sein Werk wie ein Künstler. Er mußte lachen, zum erstenmal seit einer Ewigkeit. Er machte sich mit dem Schneiden keine Arbeit mehr, er packte den Lappen mit der Faust an und riß ihn heraus, quer über das ganze Gesicht, während er sich vor Lachen den Bauch hielt.

Er war fürchterlich anzuschauen, dieser Kopf, aus dem plötzlich der Tod von innen herausgebrochen war wie ein Gefangener aus seinem Loche. Der Kopf mit diesen ungeheuren Augenhöhlen, wie mehrere Fenster, hinter denen das Dunkel saß. Und dieser große, leere Mund, der wirklich nicht mehr lächelte, aber sich zu dem furchtbaren Lachen des Todes auseinandergezerrt hatte, einem Lachen, unhörbar und doch laut, unsichtbar und doch da, alt und dunkel wie die Jahrtausende.

Und plötzlich konnte er, als er seine Tat übersah, das Wesen der Dinge erkennen, und er wußte, daß nichts war, kein Leben, kein Sein, keine Welt, nichts, nur ein großer schwarzer Schatten um ihn herum. Und er war ganz allein oben auf einem Felsen. Und wenn er nur einen Schritt tat, sank er herunter in den ewigen Abgrund.

Eine furchtbare Müdigkeit kam über ihn. Es war ja auch nichts mehr zu tun. In einem Winkel hockte er sich zusammen unter einer Bodenluke, wie ein schwarzes Tier in dem Viereck des blauen Mondlichtes.

Er war eingeschlafen. Und wie er da saß gegen die Wand gelehnt, den Kopf zwischen den Knien herunterhängend und die langen Arme schlapp auf der Erde, als wollten sie von ihm fortfließen, war er wie ein großer schwarzer Haufen zusammengefallener Asche, die der letzte Rest der Glut verlassen hat.

Das Licht, das er fortgeworfen hatte, war auf ein paar Lumpen gefallen, die langsam ins Glimmen kamen. Es dauerte eine Weile, dann hatte sich der Funken einen Weg bis zu einem Haufen Stroh gefressen. Ein Wind kam herein, und eine kleine rote Feuerschlange ringelte aus den trockenen Halmen.

Nach einiger Zeit wieder sahen auf der Straße einige Betrunkene, die sich verirrt hatten, wie ein großer roter Feuerdrache oben auf dem Dache saß und mit seinen riesigen Flügeln auf den brennenden Sparren herumschlug.

Die Sache nahm ihren Verlauf. Die Betrunkenen begannen zu schreien, ein paar Fenster gingen auf, ein paar Nachtmützen flatterten heraus, ein paar Haustüren öffneten sich, und drei oder vier Gestalten rannten die Straße herunter, nach der gelben Lampe des Polizeibureaus.

Die Straße wird voll Menschen, Lärm, Gezänk, Kindergeschrei, Polizisten, alles starrt herauf in das Feuer. Ein brennender Balken löst sich ab und fällt krachend herunter. Erneutes Geschrei. Man schafft ein paar Verwundete oder Tote fort.

Die Feuerwehr kommt, die Spritzen fahren in das Feuer, und ein großer gelber Dampf steigt in die Nacht, wo die Wasser in die Flammen einschlagen. Eine große Leiter dreht sich wie ein Kran in der Luft oben hinauf, wo der Kopf des alten Mannes aus der Bodenluke heraushängt.

Sie legt gegen die Mauer an, und ein paar Feuerwehrleute mit großen Helmen laufen wie ein paar Affen die Sprossen herauf.

Als sie beinahe oben sind, geht der Kopf zurück. Nun kann man sehen, wie sie durch die glühenden Dachsparren springen, hinter einem schwarzen Schatten her, der vor ihnen flüchtet, immer hin und her durch die Glut und die Balken, wie ein paar große Teufel, die eine Maus jagen. Auf einmal verschwindet die wilde Jagd nach hinten in einer rauchenden Wolke.

Als die Feuerwehrleute durch Feuer und Qualm den alten Mann hinten in seinem Winkel fanden, kauerte er auf einem Bündel Sachen. Er hielt etwas Großes vor sein Gesicht, ein Gemälde, ohne Augen und Mund, aber die Augen des alten Mannes sahen ihnen aus den hohlen Ausschnitten entgegen, groß und wild aus seiner Maske hervor, und seine lange Zunge wippte aus dem leeren Munde des Bildes heraus.

Sie wollten ihm das Bild fortnehmen, er hielt es fest. Sie wollten ihn mitsamt dem Bilde heraustragen, er stieß sie mit seinen Füßen in ihren Bauch.

Das halbe Dach krachte zusammen, und die Leute waren schon am Ersticken. Sie versuchten noch einmal, ihn herauszuziehen, aber der Alte ließ das Bild mit der einen Hand los, riß eine glühende Sparre mit großen glühenden Nägeln über seinem Kopfe heraus und schlug sie dem einen Feuerwehrmann über das Gesicht, daß er zusammenbrach.

Da fiel das Entsetzen über die beiden andern, und sie ließen die beiden liegen, den Toten und den Verwundeten, und wollten zurück, heraus, da wo Luft war. Sie sprangen hinein in den Rauch, der ihnen entgegenschlug, aber sie fanden den Weg nicht mehr, sie warfen ihre Helme fort, um besser zu sehen, sie rannten wieder zurück, an dem Alten vorbei, nach der andern Seite, sprangen über die feurigen Trümmer, wieder zurück, wieder an dem Alten vorbei, und als sie wieder an ihm vorüberflogen, hörten sie noch in ihre Verzweiflung hinein sein lautes Gelächter hinter sich her.

Die Flammen ergriffen sie. Sie schlugen mit ihren bloßen Händen darauf, immer rennend, immer schlagend, auf einmal waren sie ein paar brennende Feuersäulen, sie rannten noch einmal zurück, aber da war eine brennende Bretterwand, nach rechts, da war eine Mauer, sie konnten nicht weiter, sie schrien und schlugen mit ihren bratenden Händen gegen die Steine, nichts, nichts, das Feuer fraß ihr Haar, ihren Schädel, die Flammen zerrissen ihre Augen, sie waren blind, sie sahen nichts mehr, das Feuer fraß ihr Gesicht, das Fleisch flog in Stücken von ihren Händen, aber noch im Tode hämmerten sie die verkohlten Klumpen ihrer Fäuste gegen die Mauer.


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