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Bald nachdem der Reichstag aus den Osterferien nach Berlin zurückgekehrt war, schrieb Fräulein von St.Pierre:

Liebste Mechtild!

Ich brauche es Dir wohl nicht erst auszusprechen, wie tief mich alles erschüttert hat, was Du mir über diese schwere Zeit schreibst, und wie sehr ich für Euch fühle, jetzt, wo Ihr es erleben müßt, daß all Eure Güte und die neidenswerte Stellung in Eurer Mitte von einer Undankbaren und Leichtfertigen herzlos vergessen und mißachtet beiseite geworfen werden. Sagen möchte ich Euch aber doch, daß hier Entrüstung herrscht und ganz allgemein für Euch Partei genommen wird. Ich will es mir nicht zum Verdienst anrechnen, denn es entsprach meiner heiligsten Überzeugung: aber bei manchen in ihrem Urteil noch Schwankenden habe ich geholfen, daß sie klare Einsicht in das wahre Wesen Deiner Schwägerin gewönnen. – Solche Frauen sind Gefahren für die Gesellschaft, mit ihrer loreleihaften Art, die Männer ins Verderben zu locken! – Wie hatte Sie doch Deinen trefflichen Schwager umgarnt! Ohne auch nur wirklich hübsch zu sein. Heut ist sie seiner müde, weil ihr ja jedes Verständnis für seine wahrhaft vornehme Persönlichkeit abgeht, und sie hat nur noch Sinn für den neuen Fang in ihrem Netze. – Nun, mit diesem Fremden habe ich kein Mitleid, er wird wohl Art von ihrer Art sein. Aber um Deinen Schwager ist es mir leid, daß er gerade da so wenig gewürdigt wurde, wo er demütigste Hingabe erwarten durfte! Und daß sie die Schamlosigkeit so weit treibt, ihm diese sogenannte Liebe sogar offen zu bekennen! Es ist empörend! Er muß nun wirklich auch äußerlich jede Gemeinschaft mit dieser Verirrten zerreißen, die innerlich doch nie zu uns allen gehört hat. Ich habe vorsichtig zu ergründen getrachtet, wie in maßgebenden Kreisen heute der Fall beurteilt wird – und ich kann Dir sagen: bei allem prinzipiellen und religiösen Abscheu gegen Scheidungen findet man doch, daß Dein Schwager zwar wahrhaft großmütig und christlich gehandelt hat, der verblendeten Frau die reuige Rückkehr in sein Heim so lange offen zu lassen, daß er nun aber nicht nur berechtigt ist, sondern seine Würde, ja die Heiligkeit der Ehe selbst es heischen, daß er diese Bande lösen lasse. – Ich glaube Dich aufs bestimmteste versichern zu können, daß ihm dadurch keinerlei Sympathien verloren gehen werden, sondern daß er im Gegenteil auf besonders wohlwollende Gesinnung rechnen kann.

Wenn ich ihn jetzt auch in Gesellschaft treffen sollte, so verbietet es doch die Natur der Sache, daß ich darüber mit ihm rede, darum teile ich Dir, liebste Mechtild, meine Eindrücke mit.

Bitte, versichere Deine verehrte Schwiegermutter meiner warmen Anteilnahme und treuen Anhänglichkeit und sage ihr, daß meine bescheidenen Kräfte ganz in Euren Diensten stehen.

Stets Deine treue Cousine
Adelaide von St.Pierre.

Dieser von Berlin nach Mechtilds Witwensitz gesandte und von dort mit vielen Ratschlägen nach Berlin in die Zelten an Theophil zurückexpedierte Brief befreite diesen von manch sorgenvoller Erwägung der letzten Wochen.

Nach Ilses plötzlicher Flucht hatte er zuerst völlig ratlos dagestanden. Daß ihm, dem immer schon feierlich Würdevollen und unter der goldenen Kuppel des Reichstages noch zu besonderer Bedeutung Emporgeschossenen, solches widerfahren könne, erschien einfach unglaublich. – Ein Zehren! der mit erdrückender Mehrheit gewählte Abgeordnete des Kreises Sandhagen! –

Über Ilse selbst machte er sich dabei keine Gedanken. Etwa, wie sie zu solchem Tun gekommen, noch, ob ihn nicht selbst auch ein Teil der Schuld träfe, weil er, der so viel Ältere und Erfahrenere, sich ja nie, ehe er sie heiratete, die Frage vorgelegt hatte, ob sie beide denn eigentlich zusammen paßten, und ob es ihm möglich sein würde, diesem so anders als er gearteten jungen Wesen etwas Verständnis entgegen zu bringen. Auch empfand er kein wehmütiges Erinnern noch irgendwelch sehnsüchtiges Zurückverlangen. – Die Phantasie gehörte nicht zu seinen Gaben – so quälten ihn denn auch nicht all jene Vorstellungen, mit denen Eifersucht sonst foltert. Für die Frau, die aus solch unerwartetem Entschluß heraus plötzlich von ihm gegangen war, hatte er ja längst nur noch ein halb gleichgültiges, halb gereiztes Gefühl des Nichtverstehens, des Fremdseins gehegt. Bis zu welchem Maße aber sie ihm fremd gewesen, bewies gerade dieser unerklärliche Schritt! So etwas tat man doch nicht! Das kam ja gar nicht vor! Drum suchte er auch gar nicht zu begreifen. Er staunte nur.

Aus dem Staunen erwuchs dann als erster klarer Gedanke der Wunsch, daß ihm durch das Gebaren dieser Närrin kein Schaden erwachse. Die Bauernschlauheit, die auch aus dem schlechtesten Handel noch Vorteil zu ziehen trachtet, mußte wohl seines Wesens stärkste Triebfeder sein – sie zuerst regte sich wieder nach dem ersten lähmenden Schrecken.

Nun, Fräulein von St. Pierres Brief bewies, daß er bisher richtig gespielt! Ein Gewinner statt eines Geschädigten würde er sein – auf sozialem Gebiet. Aber noch ein anderes gab es, auf dem es galt, sich sicher zu stellen!


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