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Worin Nathan Marius Duporc von der Geheimpolizei die Notbremse zieht.
Jaapje Eekhorn hatte sich nicht geirrt. Hinter dem Tischchen, an dem sein famoser Freund Charles Jean Tullipe mit bewundernswerter Tüchtigkeit der verlebten Dame mit den glitzernden Steinen den Hof machte, sass Marius Duporc, der seinen ersten Vornamen gern vernachlässigte, weil »Nathan« schlecht zu dem Familiennamen »du porc« stimmte, und kostete die appetitlichen Leckerbissen der Hors-d'oeuvre-Platte. Wenn Dienstreisen in der Regel recht viel Schererei brachten, so begann doch wenigstens diesmal der Abend ausserordentlich erfreulich; denn ganz unerwartet war er auf die Spur eines längst Gesuchten gekommen, der immer wieder der Polizei zu entwischen wusste und mit raffiniertester Kaltblütigkeit Hotels und internationale D-Züge unsicher machte. Der elegante junge Mann, den er aus dem Wohnschiff hatte kommen sehen, war – tausend gegen eins – der berüchtigte Jan Tulp, der kürzlich erst in einem erstklassigen Hotel abgestiegen war, sich dort mit einem Nachschlüssel in eines der Zimmer eingeschlichen hatte und dann über den Balkon verschwunden war, und zwar mit einer ansehnlichen Menge französischer Banknoten, deren Nummern bedauerlicherweise unbekannt waren. Damals trug er einen schwarzen Spitzbart, einen forschen Schnurrbart und ein Schönheitspflästerchen auf der linken Wange und zog das rechte Bein ein wenig nach, weil er, wie er dem Oberkellner erzählte, im Kriege einen Hüftschuss erhalten hatte. Von alledem war in dem hellerleuchteten Speisewagen des Zuges nichts mehr zu sehen. War er es – und der Kriminalkommissar zweifelte nicht daran –, so hatte er eine ganz erstaunliche Metamorphose durchgemacht; und wäre es nicht zufällig bekannt geworden, dass ein verdächtiges Individuum an Bord des Wohnschiffes Unterschlupf gefunden hätte, so würde kein Detektiv der Welt in dem gepflegten jungen Manne mit den Gamaschen und dem elastischen Schritt den bewussten Bewohner jenes Hotels erkannt haben. Nun war aber Nathan Marius Duporc, während er hinter und neben ihm am Bahnschalter stand, aufgefallen, dass der Reisende eine Pfeife rauchte, die auffallende Aehnlichkeit mit jener anderen hatte, die er im Schein der Petroleumlampe auf dem Wohnschiff gesehen hatte, einer Pfeife mit sogenannten »Gesundheitspatronen«, in denen sich das Nikotin festsetzen sollte – Einlagen, wie er eine auch im Aschbecher des Hotels in dem so plötzlich verlassenen Zimmer gefunden hatte. Und sehr auffallend war es auch, dass der Reisende, der fliessend Französisch sprach, sein Billett 1. Klasse nur bis Antwerpen genommen hatte, dass er aber der Dame, mit der er Bekanntschaft geschlossen hatte, bereits zum zweiten Male erzählte, er fahre als Gesandtschaftssekretär nach Paris.
»Geben Sie mir eine halbe Flasche Weisswein«, sagte Herr Duporc zu dem herumgehenden Kellner.
»Monsieur désire?« fragte der Oberkellner, der nun wirklich ein Franzose war.
»Ich möchte eine halbe Flasche Weisswein«, wiederholte der Kriminalkommissar.
»Je ne vous comprends pas,« sagte der Kellner, »vous désirez ...?«
»Das ist doch wirklich unerhört ...« brummte der Rothaarige, wies mit dem fettigen Zeigefinger auf die Weinkarte und murmelte dazu: »Eine halbe Flasche Haut Sauternes ...«
»Der Herr wünscht eine halbe Flasche von dieser Sorte«, sprach die Dame mit den Edelsteinen hilfreich.
»Drollig, wie diese Type sich aufregt,« lachte Charles Jean, der ganz sicher annahm, dass er sich vor seinem Hintermann nicht besonders vorzusehen brauchte; »vermutlich ein Deutscher ...«
Der Kriminalkommissar holte ein Notizbuch aus der Tasche und begann, noch kauend, zu lesen. Dann schimpfte er tüchtig auf den Zug, der im Speisewagen herrschte, setzte sich auf einen anderen Stuhl hinter den französischen Reisenden und versuchte nun, Rücken an Rücken, bei dem Dröhnen und Lärmen des Wagens die Unterhaltung zu belauschen, die dieser mit der schmuckbehängten Dame führte. Auf diese Weise entging ihm nichts. Und wenn er sich ein wenig zurücklehnte, konnte er sogar den Handkoffer von Charles Jean Tullipe von unten her sehen. Daran klebte ein Stück Heringspapier. Das stimmte vortrefflich zu den Resten, die er in dem schmutzigen Geschirr auf dem unsauberen Tisch des Wohnschiffs hatte stehen sehen. Nachdem der Kellner die halbe Flasche Haut Sauternes gebracht hatte, goss Duporc sich ein Glas ein und fing gleich laut zu schimpfen an, weil das nicht zu trinken wäre.
»Das ist ja ... das ist skandalös!« rief er so laut, dass die beiden holländischen Herren am gegenüberstehenden Tische – der Bankier Artur Rondeel und sein Sekretär Jan Kikker – sich indirekt einzumischen begannen.
»Es geht doch nichts über gute Manieren«, bemerkte der Sekretär. »Dass sich dieser Mensch nicht schämt!«
»Wie meinen Sie?« fragte Nathan Marius, während er sich wütend den Schnurrbart wischte.
»Sie dürfen doch nicht vergessen, dass der Speisewagen nicht für Sie allein da ist ...« bemerkte Jan Kikker scharf.
»Verstehe nicht«, schnauzte der unglückliche »Deutsche«.
»Um so besser,« antwortete der Sekretär vergnügt, »Kaffer bleibt Kaffer!«
Und dabei stiess er mit dem Direktor der Internationalen Bank, der aus lauter Freude darüber, dass er seinen Geschäften für kurze Zeit entronnen war, Sekt spendiert hatte, mit dem schäumenden Glase an.
Der »Deutsche« sagte kein Wort mehr, lenkte aber auch fernerhin die Aufmerksamkeit durch die Dreistigkeit auf sich, mit der er sich den Teller vollpackte, ohne auf die anderen Reisenden Rücksicht zu nehmen.
*
Indessen gingen die Gespräche ununterbrochen überall weiter, und Herr Nathan Marius Duporc wusste seinen Nutzen daraus zu ziehen. Er erfuhr, dass die Dame sich auf dem Wege nach Brüssel befand, um ihren Bruder zu besuchen, der sie im Auto abholen würde, – er hörte ferner, dass sie sich über einen Rebus, den der galante junge Mann auf das Menü gezeichnet hatte, halb tot lachen wollte, – – er vernahm weiter, wie der jüngere der beiden Holländer sagte, er wolle nun ins Coupé zurückgehen, um Joopie Bok in der Ueberwachung der Koffer abzulösen, damit der nicht womöglich die Wertpapiere im Stich liesse, – und er fing endlich noch auf, wie der Herr mit dem Napoleonskopf vergnügt zurückflüsterte: »Und wenn schon! Sie sind ja versichert! Après nous le déluge ...«
Kurz vor dem Haag wurde der Speisewagen beinahe leer. Alle bezahlten. Der untersetzte Herr, der auf dem Zentralbahnhof von seiner Tochter so rührenden Abschied genommen hatte, unterhielt sich eifrigst mit dem Dicken, der nachgegessen hatte, nachdem er von dem jungen Mann abgelöst worden war; der elegante Franzose ging mit der Dame ins Coupé und vergass, während er sich höflich um sie bemühte, seinen Handkoffer mit dem verräterischen Heringspapier mitzunehmen.
Vorsichtig griff der Kriminalkommissar in das Gepäcknetz; aber in dem Augenblick, da er das verdächtige Stück bereits in der Hand hielt, kam der Eigentümer eilig zurück.
»C'est à moi«, sagte er und streckte die Hand nach dem Koffer aus.
»Wie meinen Sie?« fragte Duporc.
»Das ist mein Gepäck!« brüllte Charles Jean ihn auf Deutsch an und fiel einen Augenblick aus seiner Franzosen-Rolle.
»Entschuldigen Sie, bitte«, sagte der »Deutsche« diesmal sehr höflich; er war ausserordentlich zufrieden, weil er an bestimmten Kehllauten zu erkennen vermochte, dass er einen waschechten Holländer vor sich hatte.
Lächelnd stieg er im Haag aus und gab im Telegraphenbureau dicht neben der Gepäckstelle ein dringendes Telegramm an den Chef der Kriminalpolizei in Amsterdam auf:
»Unverzüglich nach Roosendaal drahten oder telephonieren, dass bei Ankunft von Zug 15 heute abend 9.56 Polizei anwesend sein muss, um Jan Tulp, den ich in diesem Zuge verfolge, festzunehmen. Ich werde, wenn der Genannte aussteigt, mit einem weissen Taschentuch in der Hand neben ihm gehen, andernfalls vor der Coupétüre mit dem weissen Taschentuche in der Hand Wache halten. Die Verhaftung muss durch Zivilbeamte erfolgen. Es muss auf Widerstand gerechnet werden, da er höchstwahrscheinlich bewaffnet ist. Sollte dieses Telegramm Sie unerwarteterweise zu spät erreichen, so fahre ich mit dem Mann weiter, voraussichtlich bis Brüssel. Siebenstern.«
An dem Codewort »Siebenstern« musste die Kriminalpolizei ohne weiteres den Absender erkennen. Es war nun 8 Uhr 13 Minuten. Mit beinahe absoluter Sicherheit war anzunehmen, dass alles klappen würde. Während Duporc das herausgegebene Kleingeld rasch zu sich steckte, wurde er durch den kräftigen Ellbogen des jungen Mannes beiseite gedrängt, der mit dem Herrn im Napoleonsbart Sekt getrunken hatte. Mit seinem Siegelring klopfte der gegen das schon wieder geschlossene Schalterfenster, rief noch rasch durch den Spalt: »Telegramm nach Dordrecht«, warf das Geld hin und rannte, obwohl noch ein paar Minuten bis zum Abgang des Zuges blieben, rasch über den Bahnsteig zum Schlafwagen zurück. So ruhig, als hätte er noch stundenlang Zeit, bummelte Nathan Marius Duporc an den Wagen entlang, während die Türen schon geschlossen wurden. Das Wild war noch da! Und wie?
In einem Nichtraucherabteil 1. Klasse sass der berüchtigte Hoteldieb scharmant lächelnd bei der aufgetakelten Dame, die jetzt in der ringgeschmückten, kleinen, fleischigen Hand einen Spiegel hatte. Sie lachte laut, während sie sich ein Spitzentüchlein vor den Mund hielt.
»Sie hier?« fragte plötzlich eine bekannte Stimme. Es war der Kollege Willems von der Haager Geheimpolizei, mit dem er kürzlich zusammen unterwegs gewesen war, um einen durchgebrannten Kassenboten zu fassen!
»Jawohl, mein Lieber,« sagte Duporc, »ich habe was an der Angel.«
»Kann ich behilflich sein?«
»Jawohl, gewiss, indem Sie hier nicht allzu lange mit mir reden! Rufen Sie für alle Fälle Roosendaal an! Ich habe nach Amsterdam gedrahtet; aber man kann nie wissen. Sagen Sie, ich käme mit dem Pariser Zuge. Zwei handfeste Kerls in Zivil, und bewaffnet. Ich halte ein Taschentuch in der Hand. Dieser elegante Jüngling, den Sie da gerade vor sich sehen, – aber, bitte, nicht so auffallend hingucken – ist Jan Tulp ...«
»Nicht möglich!«
»Gut – dann nicht! Aber Roosendaal müssen Sie trotzdem anklingeln.«
»Aber nicht doch! Die Dame ist die Witwe des reichen Fabrikbesitzers Menzel Polack. Ich kenne sie.«
»Einsteigen!« rief jetzt der Zugführer.
»Also Sie rufen Roosendaal an?«
»Sie blamieren sich, bester Duporc; aber wie Sie wollen!«
Und der Zug setzte sich langsam in Bewegung.
Ruhig begab sich Nathan Marius wieder in den Speisewagen, um nicht noch einmal die Aufmerksamkeit des gerissenen Kerls in dem Abteil 1. Klasse auf sich zu lenken. In Rotterdam konnte er ihn wieder kontrollieren, das war früh genug. Vorläufig war der Knabe bei den Ringen und Steinen der Witwe Menzel Polack vortrefflich aufgehoben.
Der untersetzte Herr mit dem Napoleonskopf hatte schon die zweite Flasche Sekt vor sich zu stehen. Der Dicke ihm gegenüber goss die Gläser so voll, dass der Wein beim Schaukeln des Wagens überlief. Sie rauchten grosse Zigarren, ohne dass der französische Kellner dies rügte. »Bestochen also. Ja, ja, mit einem Trinkgeld lässt sich heutzutage alles erreichen!«
Und während die beiden so schrecklich pafften, sass an dem Tisch, an dem vorher Frau Menzel Polack mit Charles Jean Tullipe diniert hatte, ein blasser Herr mit steil aufwärts gekämmten Haaren beim Billigsten, was auf der Karte stand: einer Tasse Kaffee mit Zucker und Milch à discrétion, und kaute an einem grauschwarzen Glimmstengel.
»Ein Geschäftsreisender«, dachte der Kriminalkommissar, der als Fachmann alles sofort zu klassifizieren gewöhnt war, aber – und das Irren war nur menschlich! – die äussere Erscheinung eines Skribenten von der eines Commis voyageur nicht zu unterscheiden vermochte. Weil Nathan Marius Duporc für das Menü, das auf dem Tischchen lag und auf das Charles Jean Tullipe den Rebus für die Witwe Menzel Polack gezeichnet hatte, einiges Interesse verspürte, setzte er sich dem finster vor sich hinstarrenden Schriftsteller Hans Thyssen, Mitglied des Literaturwissenschaftlichen Vereins, gegenüber.
»Mahlzeit«, sagte er höflich.
»Danke«, knurrte es aus Kopf und Magen des Schriftstellers, der an den zu Haus genossenen Brötchen mit Leber und Räucheraal seinen Hunger nur halb gestillt hatte und ihn nun mit einer Zigarre zu vertreiben versuchte und sich darüber ärgerte, dass der Rothaarige mit den Sommersprossen gerade ihm gegenüber Platz nahm, während doch so viele andere Tische frei waren.
»Gewiss ein Geschäftsreisender«, dachte er nun seinerseits, irrte sich also ebenfalls in seiner Eintaxierung der Menschen und reihte seinerseits den Kommissar in eine Klasse mit Schriftstellern und Geschäftsreisenden ein.
Der »Deutsche« besah sich die Rückseite des Menüs, bestellte sich nichts Substantielleres, sondern auch nur eine Tasse Kaffee und hatte obendrein die unglaubliche Dreistigkeit, das Menü in die Tasche zu stecken.
»Armer Kerl,« dachte Hans Thyssen; »so sicher, wie zweimal zwei vier ist, geht es ihm ebenso schlecht wie mir. Er hat sich das Menü angesehen – genau wie ich; er bestellt sich aus Verzweiflung eine Tasse Kaffee, genau wie ich; er zündet sich eine billige Zigarre an, genau wie ich. Aber er ist noch schlimmer daran als ich: er steckt sich das Menü in die Tasche, um zu Hause damit zu renommieren, wie köstlich er im Speisewagen gegessen habe. Zweifellos ein Reisender in Spielwaren oder Haarwasser«, mutmasste er.
»Ohne Frage ein Reisender in Farbstoffen,« dachte der Kriminalkommissar, »einer, der viel von den schädlichen Dämpfen der Fabrik schlucken muss und infolgedessen immer Durst hat.«
Sie tranken beide schweigend ihren Kaffee und begannen dann beide ebenso schweigend, sich Notizen zu machen.
Mittlerweile wurden an dem anderen Tisch der Bankier und der Direktor der All-Risk-Versicherungsgesellschaft, die auch beim Kaffee – freilich mit Likören! – angelangt waren, ein wenig laut.
»Verrückter Hering!« brüllte der Bankier und wurde blaurot bis in den Nacken, weil der von dem Dicken erzählte Witz gar zu komisch gewesen war.
Dann erhob sich Joopie Bok einen Augenblick und erkannte Hans Thyssen, der an dem Tische hinter ihm sass.
»Guten Abend, Herr Thyssen«, sagte er grüssend.
Der Schriftsteller verneigte sich lächelnd – mit dem überlegenen Lächeln des Geistesaristokraten.
»Darf ich bekannt machen?« sagte Joopie Bok, der plötzlich ein Gefühl der Zusammengehörigkeit hatte – warum, wusste er eigentlich selber nicht – »darf ich vorstellen: Herr Hans Thyssen, unser vortrefflicher Autor – Herr Artur Rondeel.«
Ein sehr verschiedenartiger Ausdruck lag auf drei Gesichtern. Der Bankier grüsste mit einem wohlwollenden Lächeln, dem Lächeln des Klassenbewussten, der instinktiv die Bekanntschaft mit einem etwas Zweifelhaften ablehnt, – der Schriftsteller stand auf und verneigte sich zum zweiten Male, diesmal aber mit bestrickender Liebenswürdigkeit. Wenn es Rondeel beliebte, einen Menschen zu lancieren, so war der Betreffende »gemacht«. Der Kriminalkommissar lauschte wie ein Jäger, der ein Geräusch in den Büschen hört. Also kein Reisender in Farbstoffen, sondern der Schriftsteller Hans Thyssen! Und der untersetzte Herr, der anscheinend eine Vergnügungsreise unternahm, vor der seine Tochter auf dem Bahnsteig in Amsterdam sich weinend von ihm verabschiedet hatte, war der bekannte Amsterdamer Bankier!
Nach der Vorstellung blieb es einen Augenblick still. Schliesslich richtete der Bankier mit dem Takt des Mannes, der mit vielerlei Menschen in Berührung kommt, ein paar freundliche Worte an den Schriftsteller in dem abgeschabten Anzug und den ausgefransten Manschetten.
»Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Herr Thyssen, und ich freue mich ausserordentlich, Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen. Ihren Roman ›Weltmeer‹ habe ich mit grossem Genuss gelesen; es ist ein aussergewöhnlich interessantes Werk.«
»Verzeihung«, sagte Hans Thyssen, »der Roman ist nicht von mir.«
»Oh«, sagte der Bankier und lächelte ein wenig befangen. Der Speisewagen, der gerade eine Kurve machte und dabei so schaukelte, dass die Gläser und Tassen fast vom Tische fielen, sorgte für rasche Ablenkung von dem peinlichen Thema.
Der Schriftsteller, der einen Augenblick ganz betroffen gewesen war, guckte auf seine Stiefel, die er noch nicht hatte in Ordnung bringen können, und während der Bankier und der Direktor der All-Risk-Versicherungsgesellschaft miteinander flüsterten und der rothaarige Deutsche sich ein paar Notizen machte, griff er mit äusserster Geschicklichkeit nach der Weinkarte, die auf dem Tische hinter ihm lag, und liess sie, da nun anscheinend kein Mensch auf ihn achtete, als Material für ein paar bessere Einlegesohlen in seiner Brusttasche verschwinden. Darauf ging er nach höflicher Verbeugung in sein Abteil zurück.
»Was mag er damit wollen?« dachte Nathan Marius Duporc, während er sich zurücklehnte und die Augen zukniff, um die beiden, die ihm schräg gegenüber sassen, besser sehen zu können.
»Tun Sie mir den einzigen Gefallen,« sagte Artur Rondeel nun lauter – denn vor dem unmanierlichen Deutschen glaubte er sich nicht genieren zu müssen – »und drängen Sie mir keine solchen Bekanntschaften mehr auf.«
»Ich verfolge damit ganz bestimmte Absichten«, antwortete der dicke Rote mit der zu weiten Reisemütze und flüsterte etwas, das im Rattern des Wagens verloren ging.
»Kein übler Gedanke«, sagte der Bankier und leerte sein Glas. Noch vor Delft bezahlte er: drei Diners, eine Flasche Rotwein, zwei Flaschen Sekt, Mokka, Liköre, und liess noch eine halbe Flasche Kognak mit drei Gläsern in sein reserviertes Schlafwagenabteil bringen. Der Kellner bekam ein fürstliches Trinkgeld.
Da er nun einmal Sammler war – die Manie, alles aufzuheben, alles an sich zu nehmen, alles zu beschnüffeln, hatte ihm in seinem Leben schon zu mancher hübschen Entdeckung verholfen –, nahm der Kriminalkommissar die bezahlte Rechnung vom Tische gegenüber, steckte sie in die Tasche und besah sich dann die Bauchbinde der Zigarre, die der Bankier geraucht hatte. »Merkwürdig,« dachte er, während er diese Banderole mit der verglich, die er um das Rauchkraut des Schriftstellers gesehen hatte; »wie man heutzutage an den Banderolen der Zigarren noch mehr als an den Kleidern die Menschen erkennt ... Eine Importe zu einem Gulden, und ein Strunk zu vier Cents!«
Nach dieser nicht allzu tiefsinnigen Betrachtung warf er noch einen flüchtigen Blick auf das Menü, das er in die Tasche gesteckt hatte und auf dem der vom Hoteldieb für die Witwe Menzel Polack aufgezeichnete Rebus stand. Dieselben feinen Schriftzeichen, die er im Fremdenbuch jenes Hotels gesehen hatte! Es war geradezu ein Genuss, wie ein Juwelier die Glieder einer so feinen Kette aneinander zu fügen! – Wie er nun den Gang des langen D-Zuges durchschritt, stellte Marius Duporc fest, dass Charles Jean Tullipe noch immer in seinem Abteil 1. Klasse mit der Frau Menzel Polack flirtete. Als er weiterging, sah er, wie Herr Hans Thyssen, der allein in einem Coupé 2. Klasse sass, sich damit beschäftigte, die aus dem Speisewagen mitgenommene Weinkarte mit einer Nagelschere zu zerschneiden. Im Schlafwagen waren die meisten Abteile hinter den herabgelassenen Vorhängen beleuchtet. Kein Wunder. Es war noch nicht halb neun – beinahe undenkbar, dass sich jetzt schon Reisende ins Bett legen wollten, zumal die Zollrevision in Roosendaal und Essen noch bevorstand. Nur in einem Coupé war es schon dunkel. Auch das wäre vielleicht nicht weiter auffällig gewesen, wenn nicht drinnen lautes Lachen vernehmbar gewesen wäre.
»Verdrehter Hering!« hörte man eine Stimme sagen.
»Die trinken Kognak und sitzen dabei im Dunkeln ...« dachte Nathan Marius Duporc, »... merkwürdige Nummern!« Aber im übrigen interessierte ihn das nicht im geringsten. Der Bankier und seine Freunde, die anscheinend ein wenig über den Durst getrunken hatten, kümmerten ihn wenig. Seinen sämtlichen Kollegen würden die Augen übergehen, wenn er Tulp zu fassen bekäme, denn Tulp war das Alpha und – das konnte man mit beinahe absoluter Gewissheit annehmen – auch das Omega einer internationalen Diebesbande.
Duporc pfiff leise vor sich hin und gab sich nicht erst die Mühe, auch noch an den Abteilen der dritten Klasse vorüberzuschlendern. Damit beging er nun seinerseits denselben Fehler, den Jaapje Eekhorn gemacht hatte, als er vom Ufer aus nur die eine Seite seines Wohnschiffes betrachtet hatte. Hätte er seine Wanderung fortgesetzt, so würde er nach menschlicher Berechnung den ausserordentlich geschickten Helfershelfer des Charles Jean Tullipe auf dem Gange getroffen und keine weniger angenehme Ueberraschung erlebt haben. So aber blieb er stehen, rauchte seine Zigarre vor einer der Wagentüren und stand dabei so gedeckt, dass er selbst kaum zu sehen war, aber den Gang des Wagens mit 1. und 2. Klasse keinen Moment aus den Augen verlor.
Zwischen Delft und Rotterdam begab sich nichts Wesentliches. Charles Jean Tullipe blieb, wie Duporc vermutet hatte, im Abteil bei Frau Menzel Polack. Nur der Schriftsteller Hans Thyssen benahm sich einigermassen kurios. Schon zum zweiten Male versuchte er, die Damentoilette aufzusuchen. Das erstemal hatte der vorübergehende Schaffner zu ihm gesagt: »Sie irren sich, mein Herr!«, worauf der andere geantwortet hatte: »Das ist nicht meine Schuld, es scheint jemand die Herrentoilette gleich für die ganze Reise mit Beschlag belegt zu haben.« Das zweitemal wollte er wiederum mit einem Täschchen in der Hand dahinein gehen, als der Herr, der zuletzt mit dem Bankier zusammengesessen hatte, aus dem Schlafwagen herauskam und ein gedämpftes Gespräch mit dem Schriftsteller begann. Beide gingen dann zusammen durch den Korridor zurück.
Auf dem Bahnhof von Delft wurde Marius Duporc sehr aufmerksam. Da schien sich etwas vorzubereiten. Jan Tulp stieg aus, sah sich auf dem Bahnsteig um, als suchte er jemanden, kaufte sich eine Zeitung, ging am Zuge entlang, nahm darauf von dem herumfahrenden kleinen Erfrischungswagen eine Tasse Kaffee, die er vorsichtig vor sich hertrug, und stieg damit in ein Abteil 3. Klasse, von wo aus er auf die unbequemste Weise von der Welt, mitten durch das Gedränge aller Reisenden hindurch, den Weg zu seinem Coupé zurücknahm. Der Kriminalkommissar folgte ihm in vorsichtiger Entfernung. Ein kleines Männchen mit hochgeschlagenem Rockkragen stiess gegen den Herrn mit der Kaffeetasse, stotterte ein paar entschuldigende Worte, bemühte sich, die ins Wackeln gekommene Tasse mit festzuhalten und wischte sich, nachdem Charles Jean Tullipe weitergegangen war, ärgerlich die Kaffeeflecke von den Knien, worauf es in einem vollgepfropften Abteil 3. Klasse verschwand. Der elegant gekleidete junge Mann aber liess, bevor er in sein Abteil Erster zurücktrat, das »Fussbad« der Tasse Kaffee in den Korridor abtropfen und sah sich dabei ruhig um.
Das geheime Gefahrzeichen, das Jaapje Eekhorn ihm soeben gegeben, hatte er wohl verstanden, und es machte ihn nervös. Er konnte aber niemanden anders entdecken als den groben »Deutschen« und wagte auch nicht, sich noch länger umzuschauen, um nicht die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ueberdies kam ihm Frau Menzel Polack, die sich nicht ganz wohl fühlte, mit vielem Dank für seine Aufmerksamkeit schon an der Tür entgegen. Duporc schlenderte gleichgültig an den Wagentüren vorüber und sah dabei, dass die leere Tasse durch das Coupéfenster zurückgereicht wurde und dass die verlebte Dame blass, aber mit einem Lächeln in die für sie mitgebrachte Zeitung guckte.
Die Sache gefiel ihm nicht. Wenn die Witwe des reichen Fabrikanten Lust hatte, eine Tasse Kaffee zu trinken, so war es doch weitaus besser und einfacher, sie im Speisewagen zu bestellen! Es musste also etwas dahinter stecken – und es steckte auch etwas dahinter, dessen war er gewiss, so bald er gemerkt hatte, dass Jan Tulp den Kaffee nicht selber trank. Zwischen den beiden Delfter Haltestellen lauerte der Polizeibeamte mit wahren Argusaugen. Ihm entging nichts, aber auch gar nichts. Und als die Dame sofort, nachdem der Zug die zweite Bahnhofshalle verlassen hatte, totenblass, auf den Arm des galanten jungen Mannes gestützt, durch den Korridor gewankt kam, beeilte er sich, rasch selber die Damentoilette aufzusuchen und die Türe hinter sich zu verschliessen. Mit gespitzten Ohren lauschte er.
Es wurde an der Tür gerüttelt, und eine Stimme rief auf Französisch: »Zu ärgerlich, gnädige Frau! ... Versuchen wir die nächste ...«
Mehr hörte er nicht; sie gingen weiter. Herrlich!
Nun rasch ihnen nach!
Doch als er die Türe wieder öffnen wollte, ging sie nicht auf. Es schien, als sei an dem Schloss etwas entzwei oder hielte jemand von draussen den Griff fest. Zwei-, dreimal rüttelte der Kommissar an der Tür, die nicht nachgeben wollte. Dann zog er, rasch entschlossen, die Notleine und riss das Fenster auf.
Die eisernen Bogen der Maasbrücke glitten vorüber, und plötzlich gewahrte er etwas, das sein Herz rascher schlagen liess: ein Körper flog aus dem Zuge – schlug gegen einen der Pfeiler und stürzte dann in die Tiefe, in das rasch dahinfliessende Wasser ...