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Station »Löwe« – Afrikanische Nachbarschaft – Auf Safari – Die grosse Öde – Gestalten der Wildnis – »Die Woche fängt gut an ...« – Der hypnotisierte Löffelhund – Kolleg über Fährtenkunde – »Es gibt hier viele Löwen, Bwana, wirklich!«
Am Morgen des übernächsten Tages war ich marschbereit. Ich hatte alles Notwendige oder, besser gesagt, alles für meinen mageren Geldbeutel Erschwingliche besorgt und, bis auf einen Mann, nunmehr auch alle meine Träger beisammen. Wie ich schon erwartet hatte, waren sie erst im Laufe des vorhergehenden Tages mehr oder weniger angesäuselt, verkatert und verbeult angeschlichen gekommen. Der einzige, der sich verabredungsgemäss schon vor Sonnenaufgang eingestellt hatte, war der Alte von Taveta gewesen, den ich wegen seines allzulangen Namens »Mze«, das ist »Alter«, getauft hatte. Der noch immer Fehlende war Mlomu, der Riese aus Kavirondoland. Wie mir mein Tumbo entrüstet berichtete, hatten Tumbo und Mze ihn gestern abend in einer Palmweinbeize schwer bezecht aufgefunden und ihn mit viel Mühe und Schweiss nach Hause geschleift. In der Nacht aber war er nochmals entwichen, und heute früh war Botschaft gekommen, dass er eingelocht worden war. Er hatte sich bei Nacht unter den Wasserstrahl des Bahnhofbrunnens gesetzt, niemand mehr zum Trinken herangelassen und einem Polizisten, der ihn vertreiben wollte, seine Kürbisflasche auf den Kopf gehauen.
» Never mind«, lachte Burton ob dieser Geschichte. »Gerade die Trunkenbolde sind meistens die allerbrävsten Kerle. Man muss nur sorgen, dass sie keine Witterung von Spiritus in die Nase kriegen. Werde auf die Polizei fahren, die fünf oder zehn Rupien Busse für das kavirondische Rauhbein bezahlen und es dann zum Bahnhof treiben. Fahren Sie unterdessen mit meiner Rikscha hier los, und besorgen Sie die Fahrkarten!«
Burton fühlte sich seit gestern abend etwas besser, und trotz meinem Widerspruch liess er es sich nicht nehmen, mich zum Zuge zu begleiten. Er behauptete, das Lachen über meine Zirkusvorstellung auf den Reitzebras habe ihm besser geholfen als alle Pulver und Pillen seines Medizinmanns.
Der Kavirondo sah furchtbar aus, als Burton ihn anbrachte: sein ganzes Gesicht war verschwollen, überall auf Armen, Schultern und Rücken trug er blutige Striemen – der eine Schlag, den er dem Polizisten versetzt hatte, war ihm tüchtig vergolten worden. Ich musste sogleich Heftpflaster, Verbandstoffe und essigsaure Tonerde aus meiner Reiseapotheke für den stöhnenden armen Teufel herauskramen, und so kam es, dass ich kaum noch Zeit fand, meinem kranken Freunde ein paar warme Dankes- und Abschiedsworte zu sagen, ehe das Zeichen zum Einsteigen gegeben wurde.
»Denken Sie nur immer daran, dass es das Schwierigste ist, die Enttäuschungen zu schlucken, lieber Junge! Sie werden einem draussen sozusagen mit dem Schöpflöffel eingefüllt«, flüsterte er, vor Schwäche hin- und herschwankend, als sich unsere Hände lösten. »Und was die Gefahren betrifft, so reiten Sie nur kein Zebra mehr, denn das scheint mir das Gefährlichste für Sie zu sein!« setzte er, während sich sein Gesicht vor Schmerz verzerrte, mit einem Anflug seines alten grimmigen Humors hinzu. Es war ein herzzerreissender Versuch, zu spassen.
Die erste Nachricht von ihm erhielt ich zwei Monate später aus Südafrika, eine weitere, fast ein Jahr darauf, von der Riviera, und erst volle sechs Jahre später hörte ich dann durch Dritte, dass Burton nach langer Qual im Jahre 1915 in Algerien gestorben war.
Der Himmel machte ein unfreundliches Gesicht, als der Zug mich ins Blaue hinaustrug, Jahren tiefster, weltverlorenster Einsamkeit entgegen. In bleiern-stumpfem Glanze schimmerte die Sonne durch graue Dunstschleier; ein heisser unsteter Wind trieb rötliche Staubwolken über die mit dürrem Büschelgras und einzelnen niederen Dornbüschen bewachsene Ebene. Hier und da tauchten kleine Antilopenrudel auf; ihre Gestalten sahen in der dunstigen Luft sonderbar verwischt und verweht aus. Ein starker Trupp Zebras äste, kaum zwanzig Schritt vom Bahndamm entfernt, unbekümmert das frischere Gras einer Bodensenke. Über einer Reihe mannshoher Bäumchen, die die Senke einfassten, schoben sich die hochgestellten Hälse einiger flüchtender Giraffen dem Winde entgegen; schon in der Entfernung von einem halben Kilometer verschwammen ihre grotesken Umrisse in treibenden Staubwolken. Auf einem Termitenhaufen unmittelbar neben den Schienen stand schwarz und reglos, wie aus Basalt gehauen, ein einzelner alter Gnubulle und starrte aus rotglühenden Augen den vorbeidonnernden Zug an. Sonst regte und veränderte sich nichts in der flachen, einförmigen Weite der Hochsteppe, bis der Zug gegen Mittag an der Station Simba, meinem Ziele, den ersten Halt machte. Die Station hat ursprünglich einen andern Namen getragen; Simba – Löwe – heisst sie, seit hier zwei Stationsvorsteher nacheinander von Löwen aus dem Hause herausgeholt und getötet worden sind.
Kahl und einsam, von keinem Gärtchen, keinem Busch oder Baum belebt, lag das graue Steingebäude unter dem grauen Himmel. Gleicherweise in fahles Grau gehüllt, öde und totenstill dehnten sich ringsum die unendlichen Weiten der Steppe. Wie eine dunkelgrüne Schlange wand sich die üppigere Ufervegetation eines Wasserlaufes zwischen der monotonen Folge spärlich begraster gelblichgrauer Bodenwellen dahin: fern im Südosten schloss das Silbergrau hoher Bergzüge das durch seine Ausmaße dennoch grossartige Landschaftsbild ab.
Mein Tumbo, der ein zuverlässiger Bursche war, beaufsichtigte mit der Miene turmhoher Ueberlegenheit und bedeutsamer Wichtigkeit das Ausladen meiner zahlreichen Lasten, und ich machte derweil mit dem Stationsvorsteher Bekanntschaft. Das olivenfarbene Gesicht des schmächtigen, kleinen Goa wurde gleich noch einmal so freundlich, als ich ihm Burtons Karte überreichte. Er versicherte mir, dass er sich in jeder Weise zur Verfügung stelle, und dass er sich freue, in seiner Einsamkeit nun einen ständigen Nachbar zu bekommen.
»Nachbar?« fragte ich erstaunt. »Von hier bis Ol Matun, wo ich – und auch das bloss wahrscheinlicherweise – längere Zeit bleiben werde, sind es immerhin drei stramme Tagesmärsche, und das nennen Sie Nachbarschaft! Ich weiss, dass die Gegend hier Wildreservat ist, aber es muss doch in der Nähe irgendwelche Menschen geben, denn wozu wäre sonst die Station da?«
» No, Sir. Hier steht auf hundert Meilen in der Runde tatsächlich keine einzige menschliche Wohnstätte, wenn man von den zeitweiligen Lagern nomadisierender Massai und Ndorobbo absieht. Der Platz hier dient nur als Wasserstation für die Lokomotiven und als Ausweichstelle, da die Bahn ja eingleisig ist. Ausserdem ist die Station Sitz eines Streckenaufsehers und eines Wild-Unterinspektors, die aber alle beide stets auf Safari in ihren riesiggrossen Bezirken sind. So bin ich fünfundzwanzig Tage im Monat mein eigener Gesellschafter, denn die schwarzen Arbeiter und Diener zählen ja in dieser Hinsicht nicht. Sie hausen für gewöhnlich dort drüben in den Hütten. Wenn sich wieder einmal allzu viele Löwen hier herumtreiben, kommen die Leute natürlich nachtsüber in das Stationsgebäude.«
»Gibt's denn immer noch so viele Löwen in der hiesigen Gegend, und ist in letzter Zeit wieder etwas vorgekommen?« fragte ich und warf einen nachdenklichen Blick auf die schwervergitterten Türen und Fenster des Hauses. Der kleine Mann zuckte die Achseln. » Well, Sir, Löwen gibt es hier stets. Ich habe hier noch keine Nacht erlebt, in der ich sie nicht mindestens brüllen gehört hätte, und jeden Morgen finden wir frische Fährten, die dort zu der Tränkstelle im Fluss und wieder zurück führen. Und auch dicht am Haus und bei den Arbeiterhütten sind immer wieder neue zu sehen. Aber seit mehr als drei Jahren ist hier auf der Station kein Mensch mehr durch Löwen ums Leben gekommen. Allerdings konnte ich vor vier Monaten, gerade am Neujahrstag, am Morgen nicht aus dem Hause heraus, um die Weiche für den von der Küste kommenden Zug zu stellen, denn vor meiner Tür hockte ein alter Simba und liess sich durch keine Schiesserei aus dem Fenster vertreiben. So musste ich tatsächlich nach Tsavo telegraphieren, sie sollten dort den Zug aufhalten. Er ist aber doch abgefahren, hat dann draussen vor der Station gehalten, und ein paar Männer sind zu Fuss herbeigekommen und haben den alten Kater dort am Wassertank abgeschossen. Er war hochbetagt, hatte ganz stumpfe Klauen und Zähne und ausserdem eine verkrüppelte Pranke. Also bestimmt einer von denen, die draussen nicht mehr genug Wild schlagen können und sich darum an zahmes Vieh und an Menschen halten. – Well, Sir, man gewöhnt sich mit der Zeit an alles, auch an Löwen. – Sie machen mir doch die Freude, heute hier zu übernachten?«
Ich nahm gerne an, denn es war ausgeschlossen, heute noch Burtons »Boma« zu erreichen, da das Verlesen und Packen der sechs Lasten zu viel Zeit in Anspruch nahm. Ich arbeitete mit meinen sieben Mann den ganzen Nachmittag hindurch, um alles, was gleich mitgenommen werden musste, noch einmal sorgfältig durchzusehen und in handliche Lasten von möglichst gleichem Gewicht zu verteilen. Den Rest der zwölf bis fünfzehn Trägerlasten, die in der Hauptsache aus Vorräten an Mais, Reis, Hirse und Zucker, einigen Konserven, ein paar Kanistern mit Erdnussöl und Petroleum und photographischem Material bestanden, übergab ich vorläufig der Obhut des Stationsvorstehers, um sie dann nach und nach von meinen Trägern ins Standlager hinausschaffen zu lassen. Der Goa schüttelte immer wieder bedenklich den Kopf darüber, dass ich es unternahm, mit nur sieben Leuten, ohne Begleitung von bewaffneten Askari der Reservats-Verwaltung, in die Wildnis hinauszuziehen, und dass ich auf lange Zeit draussen zu bleiben gedachte. Und ehrlich gesagt, ich schüttelte den meinen – natürlich sozusagen nur innerlich – selber ein paarmal, als ich, mit meinem Gastgeber beim Abendessen sitzend, draussen in der Finsternis plötzlich das ferne und dennoch so machtvolle Gebrüll jagender Löwen vernahm. Aber es lag bei mir wahrhaftig nicht an einem Überschuss von Heldenmut, sondern am Geldmangel, denn jeder Träger kostete mich monatlich ungefähr vierzig Franken Lohn und zehn Franken Verpflegung, und jeder Askari hätte mehr als das Doppelte gekostet.
Da ich drei Kanister Wasser mitnehmen musste, hätte ich eigentlich nur drei von den Lasten transportieren können. Freundlicherweise stellte mir jedoch mein Gastgeber einige von seinen Leuten für die Wasserlasten zur Verfügung. So trat ich am nächsten Morgen den Ausmarsch mit einem Gefolge von zehn Mann an. Wie immer in unbewohnten Gegenden ging ich ein Stück allein voraus, weil natürlich die meisten Wildarten bei dem Anblick und dem Lärm eines grösseren Menschentrupps von vornherein in Deckung gehen oder flüchtig werden. Angetan war ich mit der landesüblichen Safaribekleidung, das heisst: Khakihosen, Ledergamaschen und halbhohen Schnürschuhen mit dicken Gummisohlen. Den Oberkörper bedeckte ein Khakihemd, dessen Ärmel ich stets aufgekrempelt trug. Als wirksamen Hitzeschutz hatte es ein Futter aus roter Seide. Der traditionelle Tropenhelm hatte sich bei mir dank einem ungewöhnlich dicken Haarschopf als überflüssig erwiesen; statt dessen trug ich während der heissesten Tageszeit einen breitrandigen Filzhut, und in den Morgen- und Abendstunden ging ich barhaupt. An Gürtel und Schulterriemen hingen ein Felltäschchen mit Notvorrat, der meist aus Schokolade bestand, ferner die gewöhnlich mit dünnem Kaffee gefüllte Feldflasche, ein Feldstecher, ein Messer in Lederscheide und eine kleine Rollfilmkamera, die mir Burton geschenkt hatte. Als Wanderstab diente ein Speer, den ich einstmals in Somaliland erbeutet hatte, und der im Falle der Not ausserdem eine nicht zu unterschätzende Stosswaffe darstellte.
Hinter mir drein zuckelte in ebenso unerschütterlicher Treue wie Gemütsruhe die vierschrötige Gestalt Tumbos. Er schleppte den Lederkasten, der die schwere, aus Teakholz gefertigte Tropenkamera nebst ihrem Zubehör an Kassetten, Teleobjektiv und anderem enthielt. Aufgeschultert trug er das stets gebrauchsfertig ausgezogene, über zwei Meter lange Stativ und auf dem Rücken noch mein lächerliches Schiesseisen, die Schrotflinte. Ich hatte den Boy schon in Uganda darauf dressiert, sich stets in Sichtweite von mir zu halten, auf ein bestimmtes Zeichen hin sich niederzuducken und auf andere Gesten Kamera oder Gewehr herbeizubringen.
An die Spitze der Trägerkolonne hatte sich der gigantische Mlomu gestellt, und diesen Ehrenplatz liess er sich auch fernerhin nie streitig machen. Nach der gestrigen Verarztung und einem darauffolgenden, fast vierundzwanzigstündigen Schlaf schien er wieder völlig wohlauf zu sein. Die verschiedenen eingeschlagenen Zähne und die zahllosen Beulen und Striemen an seiner hundertneunzig Zentimeter langen und entsprechend breiten Leiblichkeit machten ihm offenbar überhaupt nichts aus. Wie ich späterhin feststellte, konnte der Riese eine Last von beinahe einem Zentner ein Dutzend Kilometer weit ohne merkbare Anstrengung auf seinem Büffelschädel tragen, und dabei pflegte er noch unablässig zu singen, und das mit einer Stimme, die es mit der eines Löwen aufgenommen hätte. Im übrigen spielte Mlomu die Rolle, die anscheinend in jeder in sich abgeschlossenen Gruppe von Menschen einer übernehmen muss – die des dummen August, des Sündenbocks und Packesels: er war die Zielscheibe nie abreissender Hänseleien. Wie fast alle körperlich grossen Menschen besass er eine ebenso grosse Gutmütigkeit. Wenn ihn die andern allerdings einmal gar zu sehr gepeinigt hatten, dann streikte er, sass schmollend in einem Winkel und wollte keinen Schritt mehr gehen. Es war freilich wahr, dass er sogar für Negernasen geradezu aufreizend stank und unvorstellbar schmutzig und gefrässig war. Was Menge und Beschaffenheit seiner Atzung anbelangte, so unterschied er sich kaum von einer Hyäne. Eines Tages überraschte ich ihn, wie er eine Büchse Corned beef, das von Maden wimmelte und einen teuflischen Duft verbreitete, mit schmatzendem Behagen verzehrte.
Wie der riesenhafte Kavirondo den ersten Mann der Safari darstellte, so war der dürre kleine Mze ständig der letzte, der »Koiko«. Das geschah jedoch nicht – oder wenigstens nicht ausschliesslich – infolge körperlicher Unzulänglichkeit, sondern aus Umsicht und Verständigkeit. Bei besonders anstrengenden oder wasserlosen Märschen kommt es sehr darauf an, dass zuhinterst ein erfahrener Mann ist, der sich um die etwa Liegenbleibenden und ihre Lasten kümmert. Schon mancher Reisende hat in der Wildnis Leute und Güter auf Nimmerwiedersehen verloren, weil ihm solch ein verlässlicher Bursche gefehlt hat.
Während der ersten halben Marschstunde rührte sich nichts Lebendiges auf der schweigenden Steppe, die nach dem klaren Sonnenaufgang wieder von trübgrauem Licht erhellt war. In unmittelbarer Nachbarschaft der Station war das dürre Gras niedergebrannt worden; bei jedem Schritt wirbelte schwarze Asche von dem rissigen, rötlich gefärbten Lateritboden auf, der in Afrika auf Flächen von ungeheurer Ausdehnung anzutreffen ist. Nur vielfältige Wildfährten waren allerwärts zu erkennen; die meisten liefen auf den Tränkplatz nahe der Station zu. Jenseits der Feuergrenze jedoch veränderte sich das Bild mit einem Schlage. Als ich wieder einmal auf einem Kamm der regelmässigen Bodenwellen ankam, flüchtete, kaum hundert Schritt vor mir, eine kleine Herde Gnus, und daraufhin wurde sozusagen die ganze Steppe lebendig. Allüberall tauchte plötzlich Wild auf; meine Augen konnten kaum die Fülle der Erscheinungen fassen. Alle Tiere aber waren in Bewegung; sie standen – mir zugekehrt – fluchtbereit, witternd, lauschend und äugend da, um einen Augenblick darauf in gemächlich wiegendem Trott, in langem Galopp oder in steilen gewaltigen Fluchten davonzugehen.
Ein Rudel von Impalla-Antilopen fegte, die schöngeschwungenen Hörner weit zurückgelegt, hinter einer Biegung des Tales hervor; ein anderes von einer mir noch unbekannten Art stob mit putzig zuckenden weissen Wedeln hinterdrein; drei, vier Strausse waren ihnen schon voraus und sausten mit der Geschwindigkeit abgefeuerter Granaten über die nächste Senke hinweg. Eine gewaltige Herde, die ich trotz ihrer Nähe vorher gar nicht bemerkt hatte, brach mit dem Getöse einer Lawine hinter den Uferbäumen des Wasserlaufs hervor. Flüchtig und undeutlich sah ich im Gewirbel des Staubes die Tigerstreifen der Zebras, die zottigen, dunklen Köpfe der Gnus, die Hörnerspiesse der Antilopen erscheinen – in den nächsten Sekunden hatte die Flutwoge in leichtem, schwingendem Gleiten bereits die Senke passiert, brandete drüben empor und stürzte donnernd in die jenseitige Niederung hinab. Erst als ihr ein abgesonderter kleiner Trupp von Nachzüglern folgte, dachte ich ans Photographieren, riss mit fliegenden Händen die Kamera aus dem Futteral, machte sie schussfertig und drückte, gerade als der Trupp in voller Seitenansicht schräg den Hang hinaufstob, auf den Abzug. Pech! Er funktionierte nicht, und bis ich ihn abgeschraubt hatte, war auch das letzte lebende Wesen aus der Talsenke verschwunden.
»Die Woche fängt gut an, sagte einer, der Montags gehangen wurde«, knurrte ich vor mich hin, brachte, am Boden hockend, den Auslöser in Ordnung und dachte dabei an Burtons Ermahnung.
Dicht unterhalb des jenseitigen Kammes angekommen, schob ich mich nur noch zollweise höher, und als ich, das Glas vor den Augen, ganz, ganz vorsichtig um einen Termitenbau herumlugte, sah ich, wie ich erwartet hatte, den Grossteil der geflüchteten Tiere wieder, und gebannt von dem Anblick, vermochte ich nicht, das Glas so rasch wieder abzusetzen. Die noch tiefstehende Vormittagssonne brach soeben durch und beleuchtete Hunderte und aber Hunderte der schönen Gestalten der Wildnis; unbeweglich, aber voll gespannter Aufmerksamkeit standen sie da. In streng ausgerichteter Reihe hatte sich die schwarze Masse der Gnus aufgebaut; die wuchtigen finsteren Köpfe waren mir ausnahmslos zugewendet. Dahinter wogten in unruhigem Trippeln schlanke, mannigfaltig behörnte Antilopen, verschiedene Arten hochbeinig-zierlicher Gazellen, und wieder dahinter war das drängende Getümmel der Zebras, deren scharfe Bänderzeichnung in dem schrägen Sonnenlicht wie ausgelöscht und in ein gleichmässig helles Grau verwandelt schien.
Endlich besann ich mich, dass ich nicht nur zum Betrachten, sondern vor allem zum Photographieren ausgezogen war. Vielleicht liess sich trotz dem unsicheren Sonnenlicht, das nur durch einen Spalt der Wolkendecke fiel, und trotz der weiten Entfernung eine Teleaufnahme erzielen. Ich hörte Tumbo hinter mir leise näherschleichen und streckte die gespreizte Rechte nach hinten; prompt schob er mir die grosse Kamera hinein, und ich machte sie aufnahmebereit. Ein Heben der geballten Faust bedeutete das Teleobjektiv, und auf ein loses Schütteln erhielt ich das Stativ. Die Handhabung des Teleobjektivs war schwierig und ging langsam vonstatten. Beim Einstellen spähte ich immer wieder besorgt nach dem Sonnenlicht, das jeden Augenblick entschwinden konnte; doch endlich war das Bild auf der Mattscheibe scharf. Rasch zog ich sie heraus, schob die Kassette ein, warf noch einen letzten Blick hinüber nach den Tieren – und liess die nach dem Auslöser gestreckte Hand enttäuscht wieder sinken. Am Hang drüben war nur noch eine wandernde Staubwolke sichtbar; die ganze Wildmasse befand sich aufs neue in voller Flucht. Die Veranlassung trat links hinten soeben in mein Blickfeld – die Träger hatten Tumbos Zeichen, stehenzubleiben, nicht beachtet und durch ihr Erscheinen meine Modelle verscheucht.
Das war die zweite Enttäuschung dieses Tages. Die dritte trat nach ein paar weiteren Marschstunden, in denen kein photographierbares Wild sichtbar geworden war, in Gestalt eines Löffelhundes in Erscheinung. Es sind possierliche, kleine, mit einem Paar überlebensgrosser Lauscher ausgerüstete Tierchen, die in Erdbauten wohnen. Dem meinigen hatte offenbar irgendein vierbeiniger Flegel das Hausdach eingetreten, und er war mit solchem Eifer an das Ausgraben einer neuen Wohnung gegangen, dass er mein Näherkommen gänzlich überhört hatte. Auf einmal stand ich vor ihm; in fassungslosem Entsetzen duckte sich der kleine Kerl zusammen und starrte mich aus runden Augen an. Ohne den Blick von ihm zu wenden, holte ich langsam die kleine Kamera vor; um ihn jedoch in den Sucher zu bekommen, musste ich ihn einmal aus den Augen lassen, und damit war die Hypnose gebrochen; in der nächsten Sekunde war er einfach verschwunden, im buchstäblichen Sinne vom Erdboden verschlungen.
Nun hatte ich vorläufig genug, es war bald Mittag, und trotz dem bedeckten Himmel war es drückend heiss geworden. So machte ich den nachkommenden Leuten Zeichen, Richtung auf den »Korongo« zu nehmen, um in seinem kühlen Grunde eine Rast zu machen.
Korongos werden die tiefen, oft viele Kilometer langen Schluchten genannt, die allerwärts die Steppe durchziehen. In den sechs bis acht Wochen der Regenzeit bilden sie tobende Flüsse; in den übrigen zehn Monaten des Jahres liegt der grösste Teil ihres Laufes völlig trocken da. Nur an überschatteten Stellen finden sich manchmal bis spät in die heisse Zeit hinein kleine schlammige Lachen; fast überall aber kann man durch geduldiges Graben noch ein geringes Quantum Wasser zusammenbekommen.
Eine von besonders hohen Bäumen und dichtbelaubten Büschen umstandene Stelle im Grunde der Schlucht lud zum Ausruhen ein. Der letzte Überrest des zeitweiligen Flusses musste hier kurz nach den letzten Regen versiegt sein, denn die mannigfaltigen Spuren von Tieren, die hier ihren Durst gelöscht hatten, traten in dem Lateritboden noch klar und scharf zutage. Einige wenige konnte ich selber deuten; der alte Mze aber, der mich bei diesen Studien beobachtet hatte, las alles ab wie aus einem Buche. Und zwar nicht nur die guterhaltenen, sondern auch die verwischten Fährten und hier und da sogar solche, von deren Vorhandensein ich trotz allem Bemühen nichts erkennen konnte. Ruhig und bestimmt sagte er, mit seiner grossen Zehe deutend: » Fissi – Hyäne! Chui – Leopard! Twiga, nne! Hapana, tatu! – Vier Giraffen! Nein, fünf!« und dann setzte er hinzu, während sein Finger ein paar unwahrscheinlich grosse Kreislinien am Boden nachzog, von deren Originalen ich so gut wie nichts erkennen konnte: » Tembo! Moje tu. Samani kidogo! – Ein einzelner Elefant, schon vor längerer Zeit.«
Tumbo wollte mir frischen Kaffee für die Feldflasche machen. Mlomu hatte schon die Steine für das Kochfeuer herbeigeschleppt; als er im Begriff war, sie zurechtzustellen, richtete er sich mit einem kurzen tiefen Lachen wieder auf und rief dem Boy zu: » Eh, Tumbo, tazama hapa. Simba! – Tumbo, schau hierher. Löwe!«
Mzes Augen glitten flüchtig über die auch für mich deutlich sichtbare Fährte hin. »Sie ist ganz frisch, Bwana. Vielleicht vor einer halben Stunde getreten.« Er nahm eine Prise Schnupftabak und blinzelte dabei die Schlucht hinunter. »Er hat dort in dem Gebüsch geschlafen, und als er uns oben kommen hörte, ist er hier vorbei und dort hinaufgegangen.«
Plötzlich kniff er seine faltigen Greisenaugen noch mehr zusammen, sah scharf auf einen angeschwemmten und halb im Sande vergrabenen Dornbusch hin, ging hinüber, zupfte etwas ab und hielt es mir vor die Nase. Es war ein schwärzlich-graues Haarbüschel. »Mähnenhaare, Bwana. Dieser war ein sehr alter Löwe.«
»Aber seine Fährte führt doch gar nicht da hinunter, sondern hier herauf!«
»Die Haare sind nicht von dem, der vor kurzem hier vorbeigegangen ist, Bwana. Der war lange nicht so gross wie dieser Alte. – Es gibt hier viele Löwen, Bwana, wirklich!«
Er hatte recht, denn als wir eine Stunde darauf unseren Marsch fortsetzten, sah ich beim Vorausgehen droben im staubigen Steppenboden eine Anzahl von Löwenfährten unseren Weg kreuzen, Fährten, die sogar mein ungeübtes Auge als noch ziemlich frisch und von mehreren Tieren getreten ausmachen konnte. Der herbeigerufene Mze und einige andere Leute bestätigten, dass hier heute früh, als noch Tau auf dem Grase gelegen hatte, ein Rudel von vier bis fünf Löwen in den Korongo hinuntergewechselt hatte. Wahrscheinlich steckten sie jetzt noch alle miteinander da unten und schliefen sich von ihrem nächtlichen Jagdzug aus. Es war jetzt, nachmittags gegen zwei, recht heiss, aber ... mich fröstelte plötzlich ein bisschen auf dem Rücken.