Franz Hessel
Laura Wunderl
Franz Hessel

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Laura Wunderl

1.

Als ich ein junger Student im ersten Semester war, sagten die anderen, die schon länger in München lebten, immer, ich müsste den Mädchen nachgehen: das gehörte sich nun einmal.

Sogar mein Kolleg-Nachbar, ein ernster Jüngling und Vorsitzender einer wissenschaftlichen Verbindung mit künstlerischen Interessen, riet mir zu. Er hatte sich früher auch nicht um das andere Geschlecht gekümmert. Aber da wäre er einmal ins Gärtnerplatz-Theater gegangen: Wie er seinen Mantel in der Garderobe abgab, stand ein Mädchen neben ihm und legte auch ab. Da fragte die Garderobiere: »Bitt' schön, die Sachen gehören zusammen, nicht wahr, da brauch ich bloß eine Nummer zu geben?« Ach nein, das Fräulein gehörte nicht zu ihm. Und als er dann oben in seine Bankreihe wollte, fragte der Logenschließer verwundert: »Ist der Herr allein?« – Und da saßen denn auch ringsum lauter Pärchen, man musste sich schämen allein zu sein.

»Na, und dann?« fragte ich.

Ja, jetzt hätte er etwas sehr Nettes gefunden; er nahm seinen Kneifer ab und putzte ihn lächelnd.

Auch mein Freund Eduard Wedel, der ein Dichter war und an einer rein philosophischen Doktordissertation arbeitete, ließ mir keine Ruh'. »Du musst das Münchner Mädel kennen lernen. Wenn du dich nicht beeilst, stirbt es inzwischen aus.« Er konnte meine »unverantwortliche Lebensträgheit« schließlich nicht mehr mit ansehen und bestand darauf, mich mit einer kleinen Nähterin zusammenzubringen, die er schon etwas lange kannte.

Also gingen wir eines Abends um zehn Uhr die Sonnenstraße hinauf und vor das Volkstheater, auf das Münchner Mädchen zu warten, das da drin den »Pfarrer von Kirchfeld« sah.

Wir kamen gerad zum Schluss der Vorstellung zurecht. Da strömten sie in Menge heraus, manche eilig und allein, im Kopftuch und grauen Mantel, andere langsam im garnierten Hut und modernen Jackett am Arm des Freundes. 5

»Da ist das Kätchen«, sagte Wedel und begrüßte ein Persönchen, das schüchtern unter einer Pelzmütze hervorsah. Sie gab ihm den einen Arm und ließ mir den andern, und wir gingen ins Café.

Dort nahm mich Wedel nach einiger Zeit beiseite und sagte: wenn mir das Kätchen gefiele, so sollte ich sie jetzt beide noch zu mir zum Tee einladen; er wollte dann schon im rechten Moment verschwinden.

Also gingen wir noch zu mir hinauf, tranken Tee und rauchten Zigaretten. Wedel erzählte die ungeheuerlichsten Geschichten; und das Kätchen gab sich Mühe, nicht alles zu glauben. Aber als er fort wollte, bestand sie darauf, wir müssten ihn begleiten.

Und wie wir vor seiner Tür waren, wollte sie gleich mit hinauf. Er sagte: »Ich bin noch nicht müde, wir bringen den Fritz noch heim.« Dann ging's wieder bis zu mir zurück. Wedel reichte mir rasch die Hand und wollte davon. Da streckte sie flugs ihre dazu. Und ich – ging allein meine vier Stiegen hinauf.

 

Aber mein Freund war nicht von seinen kupplerischen Vorsätzen abzubringen: Er lud mich zwei Tage später mit dem Kätchen zum Abendbrot ein, setzte uns nebeneinander auf den Diwan und sagte immer: »Ihr jungen Leute« und »wie gut ihr zusammen passt« und dergleichen.

Kätchen gewährte mir dann ein Stelldichein.

Das erste Mal versetzte sie mich allerdings, und ich stand am Karlstor eine Stunde ohne Schirm im Regen. Viele hübsche Mädchen gingen vorbei und sahen sich nach mir um.

Den andern Morgen bekam ich einen Brief: ich sollte entschuldigen. Sie wäre von einer Freundin »in Beschlag genommen worden« und käme heut zum gleichen Stelldichein, »wenn dem Herrn paßte«.

Diesmal nahm ich einen Schirm mit, aber es regnete nicht.

Kätchen ließ nicht lange auf sich warten und wir gingen in die Blumensäle.

Wir waren sehr früh da. Während der ersten Musikstücke aßen wir Gulasch und tranken Bier. Als Kätchen mit essen fertig war, fuhr sie sich mit dem Rücken der rechten Hand gelinde über den Mund. Sie hatte zwar eine Serviette im Schoß, aber darauf lagen die Geldbörse, der Hausschlüssel und die Handschuhe. Und die linke Hand hatte sie doch mir gegeben, ein wackeres braunes Händchen; ich streichelte es, wie sich's ziemt, und kam dabei ans Handgelenk: da fühlte ich einen 6 Pulswärmer. Das arme Kind. Nähterinnen müssen immer stillsitzen und frieren, »aber die Liebe hält warm«, meinte Kätchen, als ich sie bedauerte.

Das war so um halb zehn Uhr herum. Die Vorstellung dauerte dann noch bis Elf und den Kinematographen zuletzt wollte Kätchen nicht schenken. Auf dem Heimweg erzählte sie, dass der Herr vis-à-vis ein paarmal versucht hätte, unterm Tisch mit ihr zu fußeln. Das wäre empörend, wo sie doch jetzt mit mir ginge. Ich fand es auch empörend. Sonst sprachen wir unterwegs nicht viel.

In meinem Zimmer fand sich ein großes Postpaket auf dem Tisch. Es kam von zu Hause, ich machte auf, es waren Kuchen darin. Davon sollte nun das Kätchen essen, während ich neben ihr saß und an ihrer Taille knöpfte. Aber wir kamen beide nicht recht von der Stelle. Sie futterte wie ein Vögelchen, und ich wurde aus ihren Haken, Ösen und Bändern nicht klug. Dann fing sie noch ein bisschen an zu weinen: »Heut den, morgen den«, schluchzte sie, »ich bin ein schlechtes Mädchen – aber wenn man nicht das bisschen Liebe hätt'«, meinte sie schließlich und zog die Pulswärmer ab.

Ich hatte inzwischen im Dunkeln gebückt mit meinen Hosenträgern und Schnürriemen zu tun. Als sie das von der Liebe sagte, richtete ich mich auf und zeigte auf das offne Bett, das gleichgültig in seiner Ecke stand.

Das Kätchen tauchte aus einer Hülse von buntem und weißem Unterzeug, die mitten im Zimmer stehen blieb, sah über die Schulter nach mir zurück und sagte »Ich bin so frei . . .«

 

Ich träumte schrecklich viel in dieser Nacht und wachte alle Stunden auf, dann lag neben mir das fremde Mädchen in wirrem Haar und mit offenem Munde. Ich träumte von meinem Vater: er kam mir aufzuhelfen; denn ich lag in einer nassen kalten Erde und konnte nicht heraus. Und drüben spielten die kleinen Freundinnen meiner Schulzeit in weißen Kleidchen und schwarzen Strümpfen Ball und wussten nicht, dass ich unter ihnen in der schwarzen Erde vergraben lag. Eine Uhr schlug: die Kinder hielten im Spiel ein.

Vom siebenten Schlag der Uhr wachte ich auf. Es war der Regulator überm Sofa, zwischen den Öldrucken König Ludwigs und des Trompeters von Säckingen. Kätchen war schon aufgestanden und wusch sich, weil sie zur Arbeit musste. 7

Als sie mir dann den Abschiedskuss gab, hätte ich ihr gern wenigstens einen Kaffee gekocht. Aber sie war gleich zur Tür hinaus. Wie ihre Pelzmütze verschwand, hatte ich sie, glaube ich, einen Augenblick wirklich lieb.

Aber mir ist nichts von ihr geblieben, als vier Haarnadeln auf dem Tisch, eine braune Flocke in meinem Kamm und das Schnupftuch im Sofawinkel.

Ich habe das Kätchen dann nicht wieder gesehen. Sie ließ mich durch Wedel ersuchen, ihr Schnupftuch zu »remittieren«. Ich »remittierte« es.

 

Meine Freunde machten noch einige Versuche, mich mit Mädchen zusammenzubringen, aber vergebens. Ich war vormittags in der Universität und am Nachmittag lief ich brav mit einem Buch in der Hand im Englischen Garten und Isartal herum. So verging der Herbst. Dann kam die Konzert- und Theaterzeit. Ich saß oben im vierten Rang der Oper neben den Musikschülerinnen, die die Augen schlossen, um Tristan in sich aufzunehmen. Ich saß im Odeon neben den blondgezöpften Malerinnen und hörte Symphonien. Aber ich machte keine Bekanntschaft.

Da begab es sich, dass ich eines Nachmittags bei trostlosem Winterregen allein in meinem Zimmer war, mochte nichts lesen noch studieren und langweilte mich.

Da nahm ich meinen Schirm und lief in den Regen hinaus. Ich ging am Café vorbei: drinnen waren Bekannte. Aber ich hatte keine Lust, mich zu ihnen zu setzen.

Ich ging traurig weiter in die Stadt hinein. Den Schirm hielt ich dicht vors Gesicht, weil es schief regnete, und sah von meinen Mitmenschen nur die Beine. Am Stachuseck drehte mir der scharfe Wind den Schirm nach rechts. Und ehe ich ihn wieder zurückgedreht hatte, stand ein Mädchen vor mir, das ich ansehen musste.

Sie hatte einen Strohhut auf, mit einer dicken Kirschengarnitur, ließ sich den Regen gefallen und lächelte alle Leute vergnügt an, wie ein Kind, das zum ersten Mal auf die Straße kommt.

Als sie mich und meinen schiefen Schirm ansah, mussten wir beide lachen und ich fragte: »Wohin geht's, Fräulein?«

Sie: »Immer grad aus, bis es ums Eck geht.«

»Und an der Ecke?« 8

»Bleibt man stehn, ob schöne Leut' kommen.«

Ob wir zusammen weiterspazieren wollten?

»Recht gern.«

Ob wir ins Café hinterm Tor wollten?

»Ei warum nicht!«

Am Fenster saßen ein paar sehr Aufgetakelte, die sahen sich nach mir und der Kleinen mit dem Kirschenhut um, als wir durchs Lokal gingen.

»Denen bin ich nicht recht«, meinte sie, »sie sind mächtig hergerichtet und nun verdrießt sie's, dass ich in meinem braunen Kittel ihnen den feinen Herrn vor der Nase weggefischt habe.«

Aha, dachte ich, du bist an eine Berufliche geraten. Aber zu meiner Verwunderung gefiels mir recht gut neben ihr. Und als wir unsern Kaffee ausgetrunken hatten, fragte ich: »Wie heißt du denn?«

»Laura.«

»Ein hübscher Name.«

»Und du?«

»Fritz.«

»Wo wohnst du denn, Laura?«

»Im Sterneck.«

»Wollen wir einen Wagen nehmen?«

»Nein, Fritz, wir spazieren hübsch unter deinem Regenschirm.«

Aber den brauchte ich gar nicht aufzuspannen. Die Sonne schien, es tropfte von den Dächern und ein Flaschenscherben auf dem Fahrdamm spielte lustig in allen sieben Regenbogenfarben.

Wir kamen in die Sendlingerstraße, und blieben vor einem alten Giebelhaus stehen. Es ging eine steile Holzstiege mit geschnitztem Geländer hinauf in ein dunkles, breites Treppenhaus.

Im obersten Stockwerk zog die Laura an einer Schelle. Da kam mit einem Licht ein altes Weibchen in der Haube heraus:

»Nur leis' die Herrschaft, nur leis'. Bitte derweil einen Augenblick in die Küche zu treten. Im Zimmer wärs noch nicht gerichtet.«

»Was hast du denn im Zimmer, Mutter Milly?«

»Ich habe deine Wäsch' ausgeflickt, du lässig's Kind. Komm, hilf mir einräumen. Einen Augenblick, die Herrschaft.«

Ganz winzig war die Küche. Auf dem grünen Fensterbrett standen Blumentöpfe. Ein Kätzchen hockte am Herd. Ich setzte mich auf den 9 Küchentisch, zwischen ein großes Bauernbrot und den Kirschenhut, den Laura abgelegt hatte, und wartete.

Nach einer Weile streckte die Kleine ihre Hand durch die Tür und zog mich in ihr Zimmer. Da rochs ganz ländlich nach Holz und Leinen, der Schrank stand noch offen: lauter weiße Hemden mit roter Stickerei lagen darin. Auf dem Tisch stand ein grüner Milchkrug und daneben ein großes Glas mit welken Herbstblumen.

»Gefällts dir bei der Laura Wunderl?«

»Wunderl?«

»Ja, Wunderl.«

Sie machte ihr Haar auf, in zwei lichten Zöpfen fiel es lang herunter.

Ach, mir gefiels nur gar zu gut.

Dem Hemd der Laura war vorn auf der Brust ein T. und ein W. aufgestickt.

»Das ist von meiner Mutter Theres«, sagte sie.

Da küsste ich beide, das T. und das W. und bekam zum Lohn auch so ein Wunderlhemd angezogen.

Wir tranken zweimal aus dem grünen Krug; und so gut hat mir noch keine Milch geschmeckt.

Beim Abschied standen ihr Tränen in den Augen. Warum sie weinte, fragte ich.

»Ach, das ist schwer zu sagen«, antwortete die Laura und lachte wieder.

Den spätern Abend dann saß ich allein zu Haus und konnte vor lauter Staunen nichts essen und nichts lesen. Ich lag in meinem Bette wach und kam auf keinen rechten Gedanken.

Und die ganze nächste Zeit kam mir dieser Abend nicht aus dem Sinn. Ich hatte ihr doch einen Taler gegeben und morgen gab ihr ein anderer den Taler und gestern war's wieder ein anderer. Man konnte doch eigentlich so eine nicht lieben. Mitleid hatte ich aber auch gar keins mit ihr. Ich nahm mir vor, sie nicht wiederzusehen.

2.

Nun studierte ich wieder eine Weile. Aber dann kam der Karneval. Da es mir auf den großen Redouten nicht recht gefallen wollte, schickten 10 mich die guten Freunde, die durchaus ein »Erlebnis« von mir beanspruchten, eines Abends auf den Kindl-Keller-Ball.

Zuerst langweilte ich mich sehr. Die Zigeunerinnen und die Türkinnen, das Gänseliesel und die Königin der Nacht tanzten jede am liebsten mit ihrem Schatz. Und als ich endlich eine zur Française erwischte, hatte sie einen Vetter im Visavis.

Die Française wurde sehr regelrecht getanzt. Die »Herren« im schwarzen Sonntagsrock sahen sogar beim Dreher aus wie Leute, die ihre Pflicht erfüllen. Und rings an den Wänden saßen die Mütter und schürten ihre knallroten Backen mit den Fächern, die ihre Töchter ihnen während des Tanzes anvertraut hatten. Auch von den Müttern waren manche kostümiert.

Ich war schon im Begriff wegzugehen. Da sagte im Gedränge an der Tür ein Domino zu mir: »Langweilst du dich auch so schrecklich?«

Sie hatte braune Augen unter der Maske und rabenschwarzes Haar.

»Jetzt wirds schon besser«, sagte ich und tanzte gleich mit ihr zweimal im Saal herum.

»Du bist ein Student und aus Norddeutschland«, meinte sie dann.

»Und du bist eine Münchnerin.«

»O nein, ich bin aus Augsburg, und meine Familie stammt aus Italien.«

Nun sah ich, dass sie bräunliche Arme und Schultern hatte, und sagte einiges auf Italienisch. Sie verbesserte mich und folgte meiner Einladung in eine Loge, wo wir einen sehr schlechten Asti Spumante tranken.

Als die Flasche leer war, sagte sie mir ihren Vornamen: Nina, und ich nahm ihr die Maske ab und küsste sie. Sie war aber mit meinem Kuss gar nicht zufrieden und schüttelte den Kopf.

»So einfach ist das nicht«, sagte sie, legte mir die Arme um den Hals und küsste mich sehr sorgsam und eindringlich.

»Wie kommst du eigentlich hierher, Nina?«

»Daran ist der gute Thomas schuld. Hätt' er mir beim Abschied nicht express gesagt, ich sollt' mit dem Karneval auf ihn warten, so wär ich heut am Ende hübsch zu Hause geblieben.«

»Wer ist denn der gute Thomas?«

»Der gute Thomas ist wirklich ein sehr guter Mann. Ich kenn ihn schon von zu Hause. Er ist Kaufmann und hat mich hier auf die Handelsschule gebracht. Wenn ich die doppelte Buchführung gelernt 11 habe, dann können wir heiraten, meint er. – Ich hab ihn heut früh zur Bahn begleitet. Er macht eine Geschäftsreise. Unterwegs hat er mir gute Lehren gegeben. Vom Ernst des Lebens hat er gesprochen und von den magern Jahren, wenn der Mann krank ist und die Kinder groß werden. Er liebt mich sehr, zuletzt hat er mir drei Küsse gegeben: zwei aus Freundschaft auf die Wangen und dann einen aus Liebe auf den Mund – lach nicht, er küsst vielleicht besser als du.«

»Und dann bist du doch noch am selben Abend tanzen gegangen!«

»Das verstehst du noch nicht, Fritzchen«, sagte sie und streichelte meine Hand. »So gehts, man weint und ist wirklich traurig und winkt noch mit dem Taschentuch, wenn der Zug schon weit weg ist. Und dann wischt man sich die Tränen ab und schneuzt sich die Nase.«

 

In der Garderobe nahm Nina einen schwarzen Spitzenschal um, der war noch von der Großmutter und aus Venedig.

Wir gingen langsam durch die Straßen bis zum alten Sendlinger Tor: »Ich wohne hier gleich um die Ecke«, sagte Nina. Sie stand im Schatten, mir aber fiel der Schein einer Laterne ins Gesicht. Sie lachte und sagte: »Du hast noch ein richtiges Kindermäulchen.« Das reizte denn doch meinen Ehrgeiz, ich nahm das Mädchen fest in die Arme und küsste ihren Mund, so gut es irgend ging.

»Kann ich's noch immer nicht so wie der gute Thomas?«

»Immerhin, du bist recht gelehrig«, bekam ich zu hören, »und nun adieu und erwarte mich morgen um sechs vor der Handelsschule am Altheimereck.«

Sie lief rasch davon und verschwand in der nächsten Seitengasse. Ich ging die Sendlingerstraße hinauf an dem Sterneck vorbei, wo die Laura Wunderl wohnte –

 

Am nächsten Abend kam Nina wirklich um sechs Uhr aus der Handelsschule und wir fuhren zu mir. Wir stiegen langsam die Treppen hinauf. »Noch eine Stiege, Fritz?« – »Ja, es sind im ganzen vier, dafür hat man aber auch von meinem Fenster viel Aussicht.«

Ich schloss meine Tür auf, gab dem Hund meiner Wirtin, der mich immer noch ankläffte, einen Tritt und führte Nina in mein Zimmer.

Sie sah nachdenklich die drei Plüschsessel mit den Häkelschonern auf der Lehne an, nahm die Nadeln aus ihrem Hut und hing ihn dem altdeutschen Hirschweibchen in der Ecke auf den Kopf. Dann legte sie 12 sich mit einem Seufzer auf das Sofa, das erschrocken krachte, und sah abwechselnd den König Ludwig und den Trompeter von Säckingen an.

Es klopfte an die Tür und eine Hand mit Tellern und Messern erschien. Mehr wollte meine Wirtin aus Schamhaftigkeit nicht sehen lassen. Aber da ihr Jüngstes mitgelaufen war und an die offene Tür drängte, musste sie, um es zurückzuhalten, unsern Blicken auch noch die andere Hand bis zum Ellenbogen preisgeben . . .

 

Es war der Nina lange nicht warm genug im Zimmer. Sie schob alle Kohlen, die im Kasten waren, in den Ofen und setzte sich im Hemd ans Feuer, ihre Füße zu wärmen.

Aber so wurde es ihr doch zu heiß. Sie warf das Hemd ab, sprang auf das Sofa und hockte braun und schmal wie ein Bube an der Lehne.

Sie war zum Plaudern aufgelegt und erzählte von Katzen und Kindern und Mädchen und Männern. Ja, sie sollte mal verheiratet werden früher, sagte sie, aber es war nicht geglückt.

»Als ich siebzehn Jahre alt war, kam einer aus Mantua, wo meine Mutter her ist, der wollte mich zur Frau. Er hieß Herr Borromeo. Er hatte einen langen blauen Rock mit zwei goldnen Knöpfen hinten auf den Schößen. ›Die müssen wir ihm abschneiden‹, sagte mein kleiner Bruder, der ein schlimmer Bub war, aber der Vater hörte es und gab ihm eine Ohrfeige.

Ich hätte auch am Ende den Herrn Borromeo genommen und säße jetzt als Ehefrau in Mantua. Aber als er zum ersten Mal seinen Arm zärtlich um mich legte, biss ihn mein böser Bruder in die Hand; und Herr Borromeo ging verstimmt weg. Der Vater hatte viel Mühe, ihn wieder zu versöhnen.

Inzwischen blies mein Bruder jede Nacht vor meiner Tür so lange auf seiner Okarina, bis ich ihm aufmachte. Er war vierzehn Jahr damals und alle Mädchen sahen ihm nach. Er durfte sich an mein Bett setzen und mein weißes Kätzchen mit dem schwarzen Fleck an der Kehle streicheln. Einmal kam ihm der Vater auf die Spur. Da gabs Schläge. Aber das half nichts und als nun Herr Borromeo auf meines Vaters Zureden wieder einmal zu Besuch kam, stellte sich mein Bruder breitbeinig vor mich hin und sagte: »Lass uns in Ruh, Herr Blaurock, wir heiraten dich doch nicht.« Das war zu viel, Herr Borromeo drehte sich schweigend um und langte seinen Hut vom Nagel. Da war der Spitzbub 13 geschwind hinter ihm und schnitt ihm wirklich den einen goldenen Knopf vom Rockschoß.

Den brachte er zu einem Händler, bekam einen Taler dafür und für den Taler kaufte er mir eine große Vase mit Blumen, der gute Junge.

Der Händler – er war Witwer und hieß Jacob – sagte zu ihm: ›Bring doch einmal dein Schwesterchen mit zu mir, sie soll sich meine schönen Ringe und Tücher und Siebensachen besehen.‹ Erst mocht ich nicht recht. Denn der Jacob hatte ein Janusgesicht und einen spitzen roten Bart, aber schließlich kam ich einen Abend mit in den Laden. Der Jacob zeigte mir Rubine und Achate und wie all die Steine heißen, und so oft er einen beim Namen nannte, sah er mir in die Augen, dass mir ganz bang wurde. Zuletzt versprach er mir leise einen gotischen Goldreif, wenn ich übermorgen allein wiederkäme.

Ich habe nicht gewollt. – In der andern Nacht schlich mein Brüderlein wieder zu mir und war so gut anzusehen, dass ich ihn am liebsten in mein Bett genommen hätte. Aber er musste auf dem Stuhl bleiben und die Katze streicheln. Ich schlief ein und träumte, ich wäre zwischen tausend Edelsteine eingesperrt. Die glitzerten aus allen Ecken und sahen nach mir wie böse alte Augen.

Und dann bin ich, ob ich auch gar nicht wollte, am Abend zum Jacob gelaufen. Wie wir hinterm Laden in der dunklen Stube waren, hatt' er erst nur allerlei Kurzweil mit mir, lag zu meinen Füßen und legte den Kopf in meinen Schoß, recht demütig, dass ich ganz vergnügt wurde. Dann aber trieb er ein Spiel, das war mir noch sehr seltsam damals. Und ob ich meine Ohren schon immer offen hatte, wenn die Mädchen von den Männern erzählten, so wusst ich nun doch nicht, wie mir geschah. Ich lachte nicht mehr und musste immer in die Luft fassen, als wär da oben meines Bruders schwarzes Haar zu streicheln. Und mit einemmal ward mir ganz schwach und schlecht, und der Jacob lachte.

Und wie dann in der Nacht mein Bruder bei mir saß, ach, der wusste nicht, warum ich so viel weinte!

Aber ich lief doch wieder zum Jacob und verlernte das Weinen und lernte allerlei. – Und der Jacob hatte einen Geschäftsfreund. Das ist der gute Thomas, der hat mich dann später nach München gebracht.«

Ninas Augen waren weit offen, während sie erzählte, und wurden immer größer und runder dann in der Nacht. Meine Kerze brannte herunter bis an die Manschette. Und als ich gegen Morgen ein wenig 14 eingeschlafen war, kratzte mich Nina mit dem gotischen Ring auf der Brust und tat mir weh mit ihren langen Nägeln.

Für die Nägel musste ich ihr meine schöne Nagelfeile aus Elfenbein schenken. Nina setzte sich auf die Bettkante, machte einen runden Katzenbuckel und feilte eine Stunde lang an ihren Fingern herum.

 


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