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Nie war Friedrich Thorsberg eine Reise so lang und so leer erschienen als die Heimfahrt vom Grabe des Namenlosen bis zum Hause am Englischen Garten in München, das den Freund nicht mehr in seinen Wänden barg. Mit geschlossenen Augen war er den Tag und die Nacht gefahren, als schliefe er einen traumlosen Erschöpfungsschlaf, und doch schlief er nicht und träumte er nicht, bewachte er nur sich selbst, um den Schmerz nicht Herr werden zu lassen über den Willen.
Auf dem Totenacker neben dem Steinbruch war der Namenlose in ein Armsündergrab gesenkt worden. Friedrich Thorsberg hatte den Gefangenenwärter gegen ein Entgelt in Pflicht genommen, das unscheinbare Grab zu hegen und zu pflegen, bis es einmal geschmückt werden würde mit einem hohen deutschen Heldenstein und eingezäunt von der Liebe des Volkes. Und nun winkte zu neuen Ufern ein neuer Tag, und die Musik, die eben noch wehmutsvoll die letzten Tonwellen des Trauermarsches hatte verwehen lassen, hob die Trompeten an den Mund und kehrte festen Schrittes heim unter den anfeuernden Klängen des Lebensmarsches.
Und festen Schrittes, das Gesicht undurchdringlich, ging Friedrich Thorsberg den Weg vom Bahnhof durch die Stadt und den Englischen Garten entlang zum rückwärtigen Hause der Königinstraße. Es war zehn Uhr morgens, als er die Treppen hinaufstieg und die Flurtür aufschloß. Die Wohnung roch dumpf und ungelüftet, und die Köchin kam mit verschlafenem Gesicht aus ihrer Kammer.
»Gottlob, der Herr Professor. Keinen Tag länger hätt' ich's ausgehalten in der einsamen Wohnstatt. Grad, daß ich die Zeit dahinschlaf'.«
»Sind Sie denn allein, Kathi?«
»Alleiner als ich kann kein Mensch sein. Der Herr Maler Brandt verreist, der Herr Professor Thorsberg verreist, der junge Herr und das Fräulein in Starnberg bei den Herren Großeltern, und vorgestern abend kommt die Frau und packt, was in die Koffer geht, und fährt zum Nachtzug an den Bahnhof mit dem amerikanischen Herrn, der im Wagen vor dem Hause vorgefahren gekommen ist, und ich steh' auf der Straßen und schau' hinterdrein.«
»So – so –. Die vorletzte Nacht ist Frau Brandt abgereist.« Lr war in sein Arbeitszimmer getreten, von der Magd gefolgt. »Und nichts hat sie hinterlassen? Für den Mann oder für den Mieter?«
»Doch, doch. Daß ich's nicht vergess'. Ein paar Zeilen hat sie gekritzelt und im Briefumschlag auf des Herrn Staffelei gelegt. Ich hol' sie schon.«
Friedrich Thorsberg nahm den Brief entgegen. »Herrn Gustav Adolf Brandt – dahier« las er die Aufschrift. Er dankte, versicherte, daß er schon gefrühstückt habe, und bat die Köchin, vorerst noch im Dienste zu verbleiben. Aber die Ängstlichgewordene hatte schon von der Frau das Monatsgeld verlangt und ihre Siebensachen zum Abmarsch bereit. Er mußte sie ziehen lassen.
Es ist schon besser so, dachte er, Dienstboten verbreiten Gerüchte. Es ist ja nicht das erstemal, daß ich für mich selber sorge. Er stand am Schreibtisch und drehte den Brief Amely Brandts an den Gatten in den Händen. Und er sagte sich, daß er der Testamentsvollstrecker Gustav Adolf Brandts sei und für des Abgeschiedenen gute Nachrede zu sorgen habe, und setzte sich an den Schreibtisch und öffnete mit einem Falzbein ruhig den Umschlag, ohne ihn zu verletzen.
Ein zusammengefaltetes Blatt hielt er in der Hand mit zerfasertem Rand, wie es eilig aus irgendeinem Merkbüchelchen gerissen war. Und quer über das Blatt hatte die Frau geschrieben – ›nein,‹ brauste es in ihm auf, ›nicht die Frau! Das leichtfertige, das liederliche Weibsbild!‹ –:
»Ich gebe dir die Freiheit zurück. Amely.«
Dann lachte er schallend auf. Sie, sie gab dem ausgeplünderten armen Teufel gnädig die Freiheit zurück! Weil sie selber die Freiheit für einen andern brauchte. Nicht für einen armen, aber für einen dummen Teufel.
Und das Lachen brach mitten durch.
Ein Bild war vor Friedrich Thorsberg aufgestiegen, und er fühlte, wie sich sein Mund mit Galle füllte.
»Lieber, tapferer, kinderreiner Gustav Adolf – daß du es nicht mehr zu sehen brauchtest, wie ich es sehe!«
Da fuhr das pflichtvergessene Weib an der Seite des vaterlandslosen Amerikaners deutschen Blutes durch die Nacht in den dämmernden Morgen. Durch dieselbe Nacht, in der Gustav Adolf Brandt seine Seele bereitete, zu Gott zu gehen. In denselben dämmernden Morgen, in den Gustav Adolf Brandt mit dem Ehrengeleit der fremden Dragoner hinausfuhr, um noch einmal mit seinem Blut für die Ehre seines deutschen Vaterlandes zu zeugen.
Fort mit dem Bild! Fort, fort! In die Hölle mit ihm! Gustav Adolf Brandt im Himmel bei Gottvater – wie ein Nachtwandler bist du dennoch den rechten Weg gegangen. Wohl dir. An der Flurtür schlug die Schelle an. Friedrich Thorsberg horchte, ob die Magd öffnen würde. Aber die Magd war schon fortgegangen, und die Schelle klang zum zweitenmal. Da ging er selbst zu öffnen und fand Lenbach vor der Türe.
Die Männer sahen sich auf Sekundenlänge in die Augen. Und der Oberst folgte stumm dem Freunde in das Arbeitszimmer.
Wieder standen sie sich gegenüber und wieder sahen sie sich in die Augen. Ihre Stirnen zogen sich zusammen. Und dann streckten sie die Hände aus, und einer hielt die Hand des andern mit festem Druck.
»Er ist hinübergegangen, Lenbach. Ich hatte die Verbindung mit ihm erreicht. Ich konnte ihm die Freiheit schaffen. Aber er hat geglaubt, ablehnen zu müssen, weil er im Tode eine edlere Freiheit sah.«
Der Oberst nickte hastig mit dem Kopf.
»Mit einem besudelten Liebesleben herumzulaufen, dazu gehört mehr Menschenverachtung, als unser Brandt sie besaß. Ich weiß es aus den Jahren, die hinter mir liegen und doch nie ganz vergehen.«
»Lenbach, vergessen Sie nicht, daß unser Gustav Adolf keinen Sohn besaß.«
»Sie haben recht. So ein Säugling besitzt zur rechten Stunde die Lebenskraft für den Vater mit.«
Er las die sechs Worte, die Frau Amely Brandt bei ihrer Eheflucht zurückgelassen hatte. Wie ein Ungeziefer schleuderte er das Blatt von sich. Kein Wort sprach er darüber.
»Gott schenke dir den ewigen Frieden, Kamerad.«
»Amen,« fügte Friedrich Thorsberg hinzu.
Fern über den Niederrhein verwehten die Klänge des Trauermarsches. Die Lebenstrompeten hoben an.
»Die Stunden, die mir die Sorge um Gustav Adolf freiließ, habe ich genutzt,« berichtete Friedrich Thorsberg. »Ich bin dort unten im bedrängten Gebiet durch alle Höhen und Tiefen gewandert. Die kühle Rechenaufgabe der Gegner geht auf. Der Widerstand der planvoll verelendeten Volksgenossen versickert in einer trüben Lache. Das deutsche Geld ist ein Hohn auf den Hunger geworden, und selbst diese Hungergroschen vermag das Deutsche Reich nicht mehr herbeizuschaffen. Und über das letzte Schattenbild seiner Landesherrlichkeit setzt sich der Gegner so verachtungsvoll hinweg, daß er nur noch mit den Vertretern der besetzten und abgehetzten Landesteile Verhandlungen aufnimmt und die Berliner Regierung kläglich ausschaltet.«
»Also Zahlungseinstellung der sittlichen Kräfte, Thorsberg. Auf einem Trümmerfeld.«
»Nein,« sagte Friedrich Thorsberg, »nicht auf einem Trümmerfeld. Auf einem brachgelegten Acker, den wir gedüngt haben.«
Der Oberst schwieg. Seine Brauen zogen sich zusammen.
»Lenbach,« fragte Friedrich Thorsberg, »ich nehme an, daß es nur der Schmerz ist, der Ihnen die Antwort verschlägt.«
»Der Schmerz! Der Schmerz! Ich kenne keinen Schmerz. Ich kenne nur den Zorn, der von der eigenen Ohnmacht ausgelacht wird.«
Friedrich Thorsberg ließ den Kampf in der Brust des Freundes vorübergehen.
»Lenbach,« hob er nach einer stillen Weile an, »ich pflege so gern zu sagen: man muß einen Gedanken zu Ende denken und man wird erst zu dem richtigen Ergebnis gelangen. Den Gegner mit wildem Schwunge aus dem Lande zu werfen, lag weder in unserer Absicht noch in unserer Möglichkeit. Wohl aber lag es in unserer Macht, so wir Männer waren, die Welt aus ihrer trägen Anteillosigkeit zu reißen und sie mit ihrem schlaftrunkenen Angesicht auf das Blut zu stoßen, an dem sie sich mitschuldig gemacht hat, und auf den Brand, der mit dem größten deutschen Arbeitsgebiet auch ihre Pfänder und Kaufmannspläne zerstören wird. Wir waren Männer, Lenbach, und mit Schweiß und Blut haben wir unsere Aufgabe gelöst. Die Welt beginnt wieder mit unserem Dasein zu rechnen, das sich nicht ohne weiteres auf der Schlachtbank abstechen läßt. Der Geldmarkt stellt unser Dasein wieder als Posten ein und besieht sich etwas genauer die gefährlich angeschwollenen Posten der Gegenspieler. Es kommt eine Atempause, Lenbach, aus der wir langsam das Atmen wieder erlernen werden. Und daran sind unsere Tapferen schuld, die unter dem Trümmerfeld neue Acker schufen.«
»Thorsberg,« sagte der Oberst, »ich danke Ihnen. Ich habe den Gedanken mit Ihnen zu Ende gedacht und fühle mich wohler. Und jetzt? Legen wir einstweilen die Hände in den Schoß? Spielen wir den müßigen Zuschauer?«
»Freund,« erwiderte Friedrich Thorsberg, »wir bekommen nur die Hände frei für andere Arbeiten, die weniger reinlich sind. Mit dem Feinde zu schlagen, ist immer noch eine Ehre. Die eigenen Volksgenossen sauberfegen zu müssen, dies Muß bleibt immer eine Unehre auf deutschem Schild. Je rascher die Arbeit getan ist, desto besser für uns alle.«
Der Oberst saß in tiefer Überlegung.
»In den preußischen Rheinlanden und in der bayerischen Pfalz breiten sich die Sonderbündler aus wie die Giftpilze und verbeugen sich strahlend vor Paris. In Thüringen und Sachsen ist man dabei, russische Zustände zu schaffen, und verbeugt sich kriecherisch vor Moskau. O du mein Deutschland! Und wer verbeugt sich achtungsvoll vor Berlin?«
»Wir, Lenbach. Vor der Reichshauptstadt. Vor dem Gleichnis der deutschen Volksgemeinschaft. Und nun wollen wir uns, wie so oft, die Arbeit teilen. Ich übernehme die Pfalz und den Rhein, Sie Thüringen und Sachsen. Verlieren wir keine Zeit.«
»Eins noch, Thorsberg. Die Kriegskasse muß aufgefüllt werden.«
»Ich suche heute noch meinen Bruder auf. Es werden keine Bedenken im Wege stehen. Sie zweifeln doch nicht?«
»Zweifeln? Ich Zweifle nur daran, daß Herr Karl Thorsberg heute denkt, wie er gestern dachte. Er denkt wie die Börse.«
Und Friedrich Thorsberg antwortete finster:
»Es gibt nur eine Fahne. Die schwarzweißrote. Frau Minne Thorsberg nannte sie: die reine. Sie flattert allen deutschen Landesfarben voran. Bis morgen früh werde ich Sie von Ihrer Zweifelsucht geheilt haben.«
»Ermöglichen Sie es. Und ich werde nicht verfehlen. Abbitte zu leisten.«
Am Nachmittag suchte Friedrich Thorsberg den Bruder auf dem Regierungsamte auf. Er wurde in ein Wartezimmer geführt und mußte sich über eine Stunde gedulden, bis er vorgelassen werden konnte.
»Nimm Platz, Friedrich. Womit kann ich dir dienen? Es stehen mir zwar nur wenige Minuten zur Verfügung, weil eine dringliche Sitzung anberaumt ist.«
»Also kurz denn. Die Bekämpfung der sonderbündlerischen Bewegung am Rhein und in der Pfalz erfordert größere Summen. Ebenso die Bekämpfung der reichsfeindlichen Strömungen in Thüringen und Sachsen. Würdest du mir an der Kasse deines Bankhauses neue Beträge anweisen?«
Die schweren Augenlider des Staatsmannes hoben sich wie zu einer verwunderten Frage.
»Meines Bankhauses, Friedrich? Das wäre mir eine nette Sache, wollte ein Regierungsmann gleichzeitig ein Bankhaus betreiben. Da wäre wohl jedem Geschrei und jedem hinterlistigen Angriff der gegnerischen Parteien Tür und Tor geöffnet. An dem Tage, an dem ich den Regierungsposten übernahm, bin ich aus dem Bankhaus ausgetreten, das Haus selbst ist in eine Aktiengesellschaft umgewandelt worden, und ich besitze dort nur noch ein laufendes Guthaben wie andere Kunden auch.«
»Es leuchtet mir ein,« gab Friedrich Thorsberg nach kurzem Besinnen zu. »Aber die Gelder, die uns in unseren Arbeiten unterstützt haben, wurden ja auch nicht aus den Mitteln des Bankhauses bezahlt, sondern flössen aus ungenannten vaterländischen Quellen.«
»So ist es,« pflichtete der Bruder bei, und seine Augenlider senkten sich. »Sollten diese Gelder inzwischen abgehoben sein, so wird wohl die Quelle einstweilen zum Versiegen gekommen sein.«
Friedrich Thorsberg preßte die Lippen aufeinander. Er mahnte sich zur Ruhe.
»Karl,« bat er, »du verfügst, wie du sagst, über wenig Zeit, und die Lage am Rhein und im Reich kann auch nicht hinausgeschoben werden. Es stehen dir in deiner jetzigen Stellung ohne Zweifel geheime Mittel zur Verfügung, um Zwecke wie die unsrigen zu fördern.«
»Diese Mittel sind wohl für bayerische Zwecke gedacht.«
»Nun ja doch. Was der Mutter Deutschland zugute kommt, ist der Tochter Bayern zunutze. Und die Sonderbündlergefahr bedroht die preußischen Rheinlande wie die bayerische Pfalz, also – das Deutsche Reich in seinen Teilen. Einen besseren Beweis findest du nicht. Selbst wenn du dem bayerischen Landtag Rede und Antwort stehen müßtest.«
Karl Thorsberg zog die Uhr. Er wich wie erschrocken vor dem Zifferblatt zurück.
»Ich muß zur Sitzung, Friedrich. Was du vorbringst, hat den Schein der Richtigkeit für sich. Wohlverstanden: vorerst nur den Schein. Aber es läßt sich vielleicht zu einer mittleren Linie gelangen. Komm in einigen Tagen wieder, und ich habe mir die Sache durch den Kopf gehen lassen. Sei versichert, ich tue wie du, was ich vermag.«
Friedrich Thorsberg hatte sich gleichzeitig mit dem Bruder erhoben.
»Karl,« bat er noch einmal, »die vaterländischen Unternehmungen können nicht wegen eines Geldbetrages in einer ungewissen Schwebe bleiben. Das wäre ihrer unwürdig. Gib mir einen klaren Bescheid.«
»Ach, Friedrich,« seufzte der Bruder auf, »du hast es gut. Du hast nicht die staatsmännische Verantwortung zu tragen. Du springst nur dem Büffel an die Hörner und kümmerst dich nicht darum, wer nachher den Flurschaden trägt. Aber ich gebe dir einen Rat. Fahre zu meiner Frau hinaus. Es gibt kein Ding, das ich nicht mit Bella bespreche. Ist sie mit ihrem kühlen und durchdringenden Verstande auf deiner Seite, so lasse ich schon morgen mit mir reden.«
Er hob den Hörer vom Fernsprecher und ließ sich mit seiner Wohnung verbinden.
»Ah, Bella – du selbst? Sehr schön. Friedrich ist bei mir und drängt auf Erledigung einer Angelegenheit, die nicht für den Fernsprecher beschaffen ist. Willst du Friedrich empfangen? Auf mich wartet die Sitzung. Du berichtest mir heute abend Genaueres. Sehr schön. Ich danke dir.«
Er reichte dem Bruder in eiliger Geschäftigkeit die Hand.
»Auf Wiedersehen. Ich hoffe morgen.«
Friedrich Thorsberg verließ das Amt. Der Weg, den er einschlug, führte nicht zur Wohnung der Schwägerin. Was soll mir diese ehrgeizige Schönheit, dachte er, ich brauche keine überkluge Egeria, ich brauche schnellentschlossene Männer.
Und mit einem Male machte er kehrt und schlug doch den Weg ein, der über die Isar hinüber zum Siegesdenkmal führte und zu Bella Thorsbergs Haus.
Du hast nicht die Befugnis, ein Mittel von der Hand zu weisen, sagte er sich, wenn es sich um den Dienst am Vaterlande handelt. Was ficht dich an, die Klugheit einer Frau abzulehnen? Auch Frau Minne war klug, und du bist ihr oft zu deinem Vorteil gefolgt.
Er klingelte am Tor und ließ sich durch den Diener bei der Hausfrau melden.
Der Diener kehrte zurück. Die gnädige Frau lasse den Herrn Professor in ihr Arbeitszimmer bitten.
Sieh da, ihr eigenes Arbeitszimmer hat sie auch, dachte er und folgte.
Bella Thorsberg erhob sich schnell von ihrem großen, grünbespannten Arbeitstisch. Stöße von Briefschaften lagen aufgeschichtet. An den Wänden zogen sich dunkle Regale hin, angefüllt mit den Dichtern und Weltweisen aller Völker und Zeiten.
»Willkommen, Friedrich. Das ist eine unerwartete Freude. Kamst du aus eigenem Antrieb, oder weil du mit dem vorsichtig wägenden Staatsmann Karl Thorsberg nicht fertig geworden bist?«
»Weil mir dein Mann diesen Besuch angeraten hat, Bella. Er nannte dich so etwas wie seinen geheimen vortragenden Rat.«
»Bist du mißgestimmt, Friedrich? Hältst du es wirklich so tief unter der männlichen Würde, ernste Dinge mit einer ernsten Frau zu besprechen? Glaub es mir, in vielen Fällen kommt ihr schneller mit uns ans Ziel als mit den ewigen Sicherheitsbeflissenen, weil wir Frauen uns immer noch einen Rest unserer alten Kinderbegeisterung für wagemutiges Heldentum aufbewahrt haben.«
»Das klingt so schön, Bella, daß ich nicht bereue, zu dir gekommen zu sein.«
»Laß dich nieder. Ich klingle nicht nach Tee, damit wir ungestört bleiben. Oder möchtest du eine kleine Auffrischung?«
»Wer einer Bella Thorsberg gegenüber sitzt, bedarf keiner weiteren Auffrischung mehr.«
»Friedrich,« sagte sie, und legte für einen Augenblick ihre Hand auf die seine, »es gibt sogenannte Natursänger, die ohne Schulung mit nachtwandlerischer Sicherheit jeden Ton treffen. So ein Natursänger scheinst auch du mir zu sein. Aber es gefällt mir nicht schlecht.«
»Sage ruhig: Naturbursche. Wenn er dir nur so gefällt, daß du ihm gefällig bist.«
»Lieber Friedrich, du bist gefährlicher, als du dich zu geben beliebst. Doch beginne, bitte.«
Rasch und in großen Zügen schilderte Friedrich Thorsberg die Lage. Er beleuchtete die Waffenstreckung von Regierung und Volk an Rhein und Ruhr und die augenblickliche Stellung der fremden Gewalthaber gegenüber der Welt. Blitzartig tauchten die Taten der Glaubenshelden auf. Die Taten, die der Welt erst die Sinne geschärft hätten. In kurzen, festen Strichen zeichnete er das Ergebnis des gewaltigen Wirtschaftskampfes im Zeichen der Politik und die politische Beklommenheit des Gegners, der für die offene Ablösung des Rheins vom Deutschen Reich von der Welt keine weiteren Vollmachten mehr zu erlangen wisse und nun die Werbetrommel unter dem Gesindel der deutschen Landsknechte umgehen lasse und die Sonderbündler für sich auf den Marsch bringe.
»Bewaffnete Banden überziehen den Rhein, die aus den Gefängnissen und Fürsorgeanstalten aufgefüllt und von bezahlten und ehrsüchtigen Abenteurern angeführt werden. Leicht wäre es den rheinischen Bürgern und Bauern, das Gesindel zusammenzuhauen, das im Namen der rheinischen Freiheit plündert und stiehlt und die Viehställe leert. Aber die diensttuenden Herren Sonderbündler werden von den Gewalthabern als eine erlaubte innerpolitische Umwälzungstruppe angesehen, und in die innerpolitischen Verhältnisse Deutschlands mischt man sich nicht ein, wenn sie dem eigenen Vorteil zugute kommen. Ist der offene Hohn je höher getrieben worden? ›Gut,‹ – sagen wir am Rhein, ›wir wollen uns mit den Andersgesinnten um die Krone und Leier im Rhein bis auf die Knochen schlagen. Gebt Raum und freies Spiel. Laßt sie ankommen!‹ Und die Fremdherren lassen sie ankommen, bis an die Zähne bewaffnet und den Revolver in der fuchtelnden Faust. Aber leider können sie nicht gestatten, daß sich auch die eingeborene Bevölkerung bewaffnet, weil das dem Rheinlandabkommen zuwiderlaufen würde, das keine Waffen in der Bevölkerung zuläßt. Und nun kann das ehrliche Spiel vor sich gehen. Die Angreifer feuern blindlings um sich, und die Angegriffenen schließen sich in den Häusern ein und lassen auch diese Heimsuchung über sich ergehen wie so viele andere. Da gilt es.«
»Was gilt« fragte die Zuhörerin kurz.
»Zur Stelle zu sein. Einzugreifen. Die furchtlos Gebliebenen zu sammeln. Den Schrecken zu bannen und als Fastnachtsspuk zu entlarven. Vor der Welt, die da glaubt, die deutsche Rheinlandtreue sei ins Wanken geraten, weil sie von den Messern und Revolvern der bezahlten Sonderbündler in Atemlosigkeit versetzt wird. Wenn es nicht anders geht: die Pest auszurotten samt ihren Trägern.«
»Du bist ja der große Pestkundige, Friedrich.«
»Darum auch liegt die Sache in guter Hand.« Er sagte es kalt und wie eine Selbstverständlichkeit, und Bella Thorsbergs Augen verloren keinen Zug in seinem Gesicht.
»Und welche Rolle hast du mir vorbehalten – ich meine – Karl?«
»Es findet keine Rollenverteilung wie beim Theater statt, Bella. Wir Reindeutschgesinnten müssen Hand in Hand gehen, und einer muß den andern stützen. Was ich jetzt am notwendigsten brauche, weil es allenthalben fehlt und für jeden Schritt und Tritt benötigt wird, ist Geld. Das ganz gemeine Geld.«
»Geld ist nicht gemein. Geld ist eine Macht. Die Hände erst machen es gemein oder verleihen ihm den Adel.«
»Verleih ihm den Adel, Bella,« sagte er rasch.
Sie lehnte sich zurück. In ihren Augen glomm es wie Freude an dem Mann.
»Du stößest blitzschnell zu. Mit nachtwandlerischer Sicherheit. Sagte ich nicht so?«
Er ging über den Einwurf hinweg. Er blieb scharf bei der Sache, die ihn bis in die letzte Fiber erfüllte.
»Wir brauchen Geld für Fahrten und Unterkünfte. Wir brauchen Geld für Waffen und Kleider. Wir brauchen Geld für Speise und Trank. Nur für unser Blut nehmen wir kein Geld und für unsere Vaterlandsliebe.«
»Du wildes Blut,« sagte sie und freute sich an ihm. Und plötzlich beugte sie sich vor und sah ihm dicht ins Gesicht.
»Was wünschest du. Bella?«
»Ich wünsche festzustellen, worin ihr Brüder euch eigentlich ähnelt. Ich wünsche festzustellen, ob ich den rechten erhalten habe, oder ob man mir den Mann, den ich suchte, vor dem Altar vertauscht hat. Und ich wünsche dein empörtes Gesicht zu sehen über solch eine ungezügelte Sprache.«
»Meiner schönen Schwägerin«, entgegnete Friedrich Thorsberg ruhig, »gefällt es, mit mir zu spielen. Von der erreichten Höhe aus gefällt es ihr. Nein, dir ist der Mann nicht vertauscht worden. Denn hieße er Friedrich statt Karl, so hätte er dich längst in den Armen zerbrochen wie ein Bär.«
»In Liebe oder in Zorn? Das Bild ist nicht vollendet.«
»Lassen wir es unvollendet, Bella. Ich bin dein getreuer Schwager und küsse dir die schöne Hand. Laß sie den vielen, vielen ein Segen werden und nicht dem einzelnen.«
»Du sprachst nicht nur vom Rheinland und der bayerischen Pfalz. Du sprachst auch von Thüringen und Sachsen?«
Ein Knie über das andere geschlagen, lehnte sie im Sessel und war wieder Ohr, forschte sie mit zusammengezogenen Augen in seinen Mienen.
»Auch hier gilt es die deutsche Fahne, Bella. Du bist eine zu gebildete Frau, als daß ich dir zu dieser Schicksalsfrage Neues berichten könnte.«
»Willst du mir nicht auch einmal ein Wörtchen von meiner bayerischen Fahne sagen? Und wenn es nur ein ganz winziges ist.«
»Ich weiß nur ein ganz großes von ihr. Sie ist das heilige Fahnentuch geworden. Ihr Weiß und Blau ist wie der Frühlingshimmel für alle Hoffenden und Harrenden, die an des Reiches Herrlichkeit glauben.«
»So gibst du zu, daß die Erlösung aus dem Süden kommen wird?« fragte sie schnell.
»Der Anstoß. Die Erlösung kann nur aus der Gemeinschaft des Volkes geboren werden, die ihre Banner mit dem weißblauen vereinigt.«
»Und das weißblaue wird die Führung erhalten? In voller Anerkennung?«
»Bella,« sagte Thorsberg ernst, »überlassen wir die Lösung dieser Frage dem Tage, der noch nicht gekommen ist. aber kommen wird. Der wird Führer sein in deutschen Landen, der sie reinigen wird von innen und außen, der das Volk zur geeinigten Gefolgschaft begeistert und vom Gegner die Unantastbarkeit des Friedens erzwingt. Ihm wollen wir alle zujubeln, der die schwarzweißrote Fahne neben die seine pflanzt, weithin sichtbar über sie hinaus.«
Sie strich sich mit beiden Händen die Schläfen. Sie wartete kaum den Schluß seiner Worte ab.
»Nein – nein. So nicht. Wir können nicht den Lohn für alle unsere Mühen und Sorgen in den Wolken aufhängen lassen.«
»Wir? Meinst du meinen Bruder damit – und dich selbst?«
»Wieder deine nachtwandlerische Sicherheit. Gut. Weshalb vor dir damit zurückhalten? Ja, ich meine es damit. Geld, sagte ich vorhin, Geld ist Macht. Aber Macht – Macht ist noch mehr als Geld. Macht ist der Atemzug der Starken. Macht ist allein die Luft, in der sie ihr wirkliches Leben zu leben vermögen. Ich gehöre zu ihnen. Wenn wir uns die Hände geben, können wir die Führer der Führer werden.«
Sie stand dicht vor ihm, und auch er hatte sich erhoben und blickte ihr fest in die Augen.
»So also – sieht deine weißblaue Fahne aus?«
»So sieht sie aus. Wenn du Mut hast.«
»Und dein Gatte Karl –?«
»Sitzt als unser Stellvertreter in der Regierung. In der Regierung unseres Fürsten.«
»Als unser Stellvertreter? Soll der Pakt noch gelten, wenn er Erfolg geworden ist?«
»Ich brauche einen Mann, der mir mehr bedeutet als der Puppenspieler Karl. Einen Mann, der die Stücke schreibt für den Puppenspieler. Einen Mann, den ich noch ganz anders belohnen werde, als ich ihn bisher schon belohnt habe.«
»Du – du hättest mich belohnt?«
»Sei nicht undankbar, Friedrich. Alles, was du durch Karl erreicht hast, hast du durch Bella Thorsberg erreicht. Den Beitritt zu eurer Gemeinschaft. Die Gelder zu euren Unternehmungen. Die Zeugenschaft in den Schwarzwaldbergen. Die Duldung und Bergung der Rhein- und Ruhrverschwörer auf bayerischem Boden. Alles, alles hast du durch mich. Alles und viel mehr noch habe ich für dich getan und tue es weiter. Die Summen, die du zum Kampf gegen die Sonderbündler brauchst, stehen zu deiner Verfügung. Ich selbst bin dir zugetan zu jeder Stunde. Aber ich mahne dich an Dankbarkeit, Friedrich, und werde dich immer wieder daran mahnen.«
Friedrich Thorsbergs Gesicht war weiß geworden. In seinen Augen stand der kalte, harte Glanz.
»Ich habe dich nicht gerufen, Bella. Du hast dich an mich gedrängt von der ersten Stunde an, und wenn du mir Gefälligkeiten erwiesen hast, so hast du es auf eigene Rechnung getan und nicht auf Rechnung des Vaterlandes. Wenn es schon für einen Mann nichts Fürchterlicheres gibt als eine Frau, die für aufgedrängte Hingabe nachträglich über Mangel an Dankbarkeit jammert, so will ich doch lieber als undankbarer Kerl verschrieen werden, als mich von der beständigen Mahnung zur Dankbarkeit in den Dreck jagen zu lassen.«
Er verbeugte sich und ging hinaus. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.
»Nun ist Klarheit,« sagte er sich, als er am Siegesdenkmal vorüberschritt und zur Isar hinab. »Nicht so, wie ich sie mir gedacht hätte. Aber doch Klarheit.«
Er fuhr sofort nach Starnberg hinaus und suchte den Oberst auf. In der durchsichtigen Herbstluft standen die Häupter der Berge stark und stolz wie die Wächter Gottes. Und an dem trotzigen Wächterbilde erfrischte sich seine Seele.
Er gab dem Freunde die Unterredung mit dem verschleierten Bruder bekannt und die Unterredung mit der unverschleierten Schwägerin. Nur die persönlichen Dinge, die ihn allein berührten, ließ er beiseite. Sie waren ihm wie eine körperliche Betastung, und er schauerte heimlich in den Schultern und schüttelte die gleitenden Hände ab.
»Ich brauche also keine Abbitte zu leisten, Thorsberg,« sagte der Oberst verächtlich. »Gehen wir zur Tagesordnung über. Sie läßt sich jetzt in einen engeren Rahmen spannen. Die Bewegung, die wir von hier aus in die Sonderbündlergebiete und in das rotgärende Mitteldeutschland tragen wollten, muß nun in den Ländern selbst entfacht werden. Aus Mangel an Geld! Sie werden sich die Arbeit am Rhein vorbehalten. Da einer von uns beiden an Ort und Stelle bleiben muß, um die Fäden in der Hand zu behalten, so schlage ich meinen Sohn Walter als Sendboten für Thüringen und Sachsen vor. Sind Sie einverstanden?«
Es war die zehnte Abendstunde, als sich die beiden Männer vom Arbeitstisch erhoben und Friedrich Thorsberg Abschied nahm. Morgen schon wollte er die Reise an den Rhein antreten.
»Glückauf, Thorsberg!«
»Glückauf Ihrem Jungen, Lenbach!«
In der Wohnung der Eltern war noch Licht und Leben. Er klopfte an und trat ein. Er spürte ein so starkes Bedürfnis nach offenen, frohen Menschen.
Auf dem geblümten Kanapee saß die Mutter. Unter dem silberweißen Scheitel lachte ihr Mädchengesicht mit dem blonden und dem braunen Mädchen um die Wette, die sich horchend an ihre Schultern schmiegten und den lustigen Erzählungen der Jünglinge lauschten. Walter Lenbach erzählte, und Gert Thorsberg sprang dem Freunde bei, wenn die Mädchen ihn spottsüchtig auszulachen beliebten. William Waldheim stieß nur zuweilen eine unverständliche Bekräftigung hervor.
»Der Vater!« rief Gertrude, flog auf und dem Vater um den Hals.
»Mein Mädchen ... Mein Mädchen ...!« Und er wiegte sie zärtlich in den Armen, als wäre sie noch seine kleine Gertrude von ehedem.
»Sehen Sie da, Waldheim, sehen Sie da!« polterte aus dem Nebenzimmer die Stimme der Exzellenz. »So etwas sehen Sie auch nicht in Amerika! Ein deutsches Familienbild!« Und er klatschte in die Hände: »Wechselt – die Stellung!«
»Guten Abend, meine Damen. Guten Abend, ihr glücklichen jungen Herren. Ja, Vater, ich komme schon zu dir und deinem Nachttrunk. Guten Abend, Ferdinand Waldheim. Du hast hier wohl eine Ankerstelle gefunden?«
»Hier ist gut sein, Friedrich. Wir sind schon bei der dritten Flasche und bei der hundertsten Geschichte aus der guten alten Zeit!«
»Tu einen Trunk, mein Sohn. Nur was du genossen hast, ist das Bleibende.«
»Bin ich schon so greis geworden, Vater?«
»Sehen Sie den eitlen Fant, meine Damen! Er möchte um seiner grauen Schönheit und Jugend willen gelobt sein! Das ist ein böses Zeichen, mein Sohn, und grenzt an die erste Alterserscheinung.«
»Es ist vielleicht nur ein bißchen Sehnsucht nach dem, Vater, was die Jungen da drinnen in der Fülle haben.«
»Ausflüchte! Ausflüchte! Auch der Neid ist eine Alterserscheinung. Nimm den Becher, mein Junge. Der Wein belügt dich auch. Aber er belügt dich schön.«
Bis Mitternacht blieb Friedrich Thorsberg bei den Eltern, den Kindern, den Freunden. Er trank den Wein mit den Alten und lachte das Lachen mit den Jungen. Und in seinem gereiften Mannestum strömte die Freude und das Verständnis der Freude zu einem warmen Wohlklang zusammen.
Ferdinand Waldheim, der mit Sohn und Tochter immer noch in einem Starnberger Gasthof wohnte, erbot sich, den Freund in seinem Kraftwagen nach München zu bringen. William Waldheim erhob sich gemächlich als Wagenlenker. Und Friedrich Thorsberg küßte der Mutter, die ihm liebkosend über das Haar fuhr, die Hand, küßte Gertrude, die sich fragend an ihn drängte, den Mund und verabschiedete sich von allen anderen mit einem festen Händedruck.
»Dich, Gert, möchte ich morgen vormittag zehn Uhr bei mir sehen.«
»Pünktlich um zehn Uhr, Vater.«
Friedlich Thorsberg ging. In der Tür wandte er sich noch einmal um und winkte dem jungen Walter Lenbach einen Gruß mit den Augen. Gertrude Thorsberg sah es und wurde still.
Der Deutschamerikaner saß bei seinem Gaste im Wagen. Der Wein hatte dem schwerblütigen Manne die Zunge gelöst, und er plauderte dem Freunde unaufhörlich von Gertrudes Schönheit, ihrer wundersamen Wesensart, ihrer fest deutschen Gesinnung und hundert kleinen und großen Zügen vor, ohne zu bemerken, daß Friedrich Thorsbergs Seele ausgeflogen war und noch einmal über dem vergangenen Tage ihre Kreise zog.
»Hab Dank,« sagte er, als der Wagen vor seinem Hause hielt. »Auch unsere Zeit ist noch nicht vergangen.« Und der Deutschamerikaner blickte ihm verständnislos nach.
Friedrich Thorsberg stieg die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. Ein wenig, so schien es ihm, hatte ihn die Müdigkeit nun doch erfaßt. Harte Tage, starke Nervenerprobungen und lange Fahrten lagen hinter ihm. Eine Nacht nur war ihm zum Ausruhen gelassen. Und wieder ging es auf langen Fahrten in die harten Tage und die starken Nervenerprobungen hinein.
Schlafen, dachte er. Im Schlaf die Erinnerung an die Frau auslöschen, die Macht im Staate gewinnen will und die Macht so schrankenlos Herr über sich selber werden läßt, daß sie sich dem Helfer als Siegesbeute bietet. Das ist der uralte Fluch der Macht.
Aus dem Briefkasten an der Flurtür schimmerte es weiß. Er schloß ihn auf und nahm einen Brief heraus. In der einsamen Wohnung hallten seine Schritte, als er sein Arbeitszimmer aufsuchte, Licht machte und sich am Schreibtisch niederließ.
Die Handschrift war ihm unbekannt. Er betrachtete die festgefügten Buchstaben, ob sie ihm ein Bild ergäben, und öffnete den Umschlag. Sein erster Blick galt der Unterschrift. Ein Lächeln ging über seine abgespannten Züge.
Martha Wilde schrieb vom Rhein an Professor Thorsberg. Sie berichtete mit einer frohmachenden Klarheit, der alle Umschweife fehlten, von der Übersiedlung des Bruders in den Rheinort dicht bei der Thorsburg, von ihrer Mithilfe. Sie erzählte von den ersten Anfängen seiner ärztlichen Tätigkeit und dem freundlichen Entgegenkommen des Ortsvorstehers Gotthold und seiner Leute. Sie teilte mit, daß Arnolds Hochzeit noch vor Weihnachten geplant sei und sie selber sich dann ein Zimmer suchen würde, um künstlerische Handarbeiten nach alten Kirchenmustern zu fertigen, die sehr gesucht seien. Sie schrieb, daß sie sich auch dann nicht einsam fühlen werde, da sie sich aus Münster einen rührend lieben Zeitvertreib mitgebracht habe, das neugeborene Kindlein einer Flüchtlingsfrau, die kurz nach der Geburt des Kindes ihrem Manne nachgestorben sei. Nun zöge sie das verwaiste Wesen mit der Flasche auf. Und ganz zum Schluß schickte sie dem Professor Thorsberg einen Gruß von dem Waldgrabe am alten Turm.
Friedrich Thorsberg faltete den Brief zusammen. Und er entfaltete ihn aufs neue und las den Schluß noch einmal.
»Einen Gruß von der Frau Minne,« sprach er vor sich hin. »Und meine Minne hat ihn der Rechten aufgetragen.«
Er legte sich nieder und schlief ruhig und traumlos. Die Zerrbilder des Tages waren auseinandergeflattert. –
Pünktlich um zehn Uhr vormittags stand Gert Thorsberg vor dem Vater. Der Zwanzigjährige war weit über seine Jahre hinaus gereift. In seinen Augen saßen Ernst und Willensstärke.
»Ich muß wieder auf die Reise, Gert. Die Sonderbündelei am Rhein nimmt gefährliche Formen an und könnte alles verderben, was wir gewonnen haben. Deutsche Treiber bringen dem fremden Schützen das Edelwild vor die Flinte, über das er keine Jagdgerechtsame besitzt. Deutsche Treiber, Gert.«
»Du wirft sie zur Strecke bringen, Vater, bevor das eigentliche Treiben begonnen hat.«
»Es wird viel Zeit und Geduld kosten, Gert, da für den umfassenden Angriff die Mittel fehlen. Dein Oheim Karl Thorsberg trägt sich mit Plänen, die selbstsüchtiger sind als die unseren, und hat uns das Geld gesperrt. Vergiß das nicht, Gert. Meinen Aufenthalt teile ich dir bei jedem Wechsel mit. Und wenn Gott mich liebt, so verleiht er mir einen Schlag auf das Gezücht, der Widerhall findet, wo Verräter beieinander hocken.«
»Wo ist Gustav Adolf Brandt, Vater?«
»Bei den Helden im Himmel. Unser Kreis wird kleiner, Gert. Sorgt mir, daß der junge Lenbach gut heimkehrt. Er geht ins Sächsische.«
Vater und Sohn hielten sich bei den Händen.
»Gert, ich vertraue dir die Gertrude an. Was auch kommen könnte, laß sie nie im Stich.«
»Niemals, Vater.«
Und wieder wie vor Jahren schon sagte Friedrich Thorsberg: »Auf dich ist Verlaß.« So schieden sie. – –
War das Glück gewichen? Wollte die Heimsuchung noch höher steigen über die Wielandsleute? Oder war es nur eine Doppelung der Ereignisse, daß auch Walter Lenbach aufgegriffen und in Leipzig gefangen gesetzt wurde? Der Sohn schrieb dem Vater aus dem Gefängnis. Er hatte aus Studenten eine bewaffnete Gruppe gebildet, um über die Zügellosigkeiten der Masse hinweg den sächsischen Ordnungsparteien zum Siege zu verhelfen, und war ausgekundschaftet und festgenommen worden. Im Untersuchungsgefängnis sah er der Aburteilung vor dem Staatsgerichtshof entgegen.
Oberst Lenbach hatte Gert zu sich heraufgerufen. Mit schweren Schritten ging er im Zimmer auf und ab.
»Vor dem Staatsgerichtshof, mein Junge. Das ist die glorreiche Einrichtung zum Schutze der verängstigten Republik und ihrer Stützen und Leuchten. Obwohl seine Macht in Bayern aufgehoben ist, nennt er sich nichtsdestotrotz den ›Staats‹gerichtshof. Darf er in Leipzig einen Mann verurteilen, den er in München nicht verurteilen dürfte? Ach, Gert, wir Deutschen leben in einer wirrsinnigen Zeit.«
»Was befehlen Sie, Herr Oberst?« Der erregte Mann blieb stehen. Die Wogen ebbten ab. Das Hirn begann seine Arbeit.
»Das Geld ist gesperrt. Das hundsgemeine Geld, das doch die größten Erdenwunder vollbringt. Es muß herangeschafft werden. Irgendwie und irgendwo. Für meinen Walter.«
»Gestatten Herr Oberst, daß ich die Gertrude ins Vertrauen ziehe?«
»Was soll das nützen? Wollen wir dem Mädel auch noch den Kopf warm machen?«
»Herr Oberst wissen, wie kalt und sicher die Gertrude den Mörder der Mutter in den Schwarzwald gebracht hat. Die Gertrude und der Walter sind eng befreundet, und ich bin der Dritte im Bund. Das besagt alles.«
»Ich habe Sie lieb für dieses Wort. Und unsere stolze, starke Gertrude. Der eigene Vater ist beim Kinde immer der schlechteste Arzt. Und ich habe nur den Walter.«
»Ich werde Herrn Oberst Bericht erstatten.«
»Du darfst keinen Zuck tun, Gertrude, und auch keinen Kleinmädchenschrei, damit die Großeltern nichts merken. Sie haben den Walter fest. Im Leipziger Gefängnis. Mach nicht so törichte Augen, Mädel. Es geht ihm nicht ans Leben – es geht ihm nur an die Freiheit. Für ein paar Jahre werden sie ihn wohl auf einer Festung einschließen, und wir haben kein Geld, um rasch einen Befreiungszug ins Werk setzen zu können.«
Gertrude Thorsberg hatte nur ganz tief und hastig den Atem eingezogen.
»Ich mache keine törichten Augen, Gert. Und Geld – hat Waldheim. Auch einen hundertpferdigen Wagen hat er.«
»Lauf, Gertrude. Aus der Festung kriegen wir den Walter nicht mehr heraus.«
»Wir rudern über den See, Gert. Jetzt treff' ich Waldheim noch beim Frühstück.«
Das Boot stieß vom Steg. Die Schwester ruderte mit dem Bruder im festen Gleichtakt.
»Warte hier, Gert. Dort droben sitzt er am Fenster. Ich laufe hinauf.«
Der Deutschamerikaner legte erstaunt das Buch zur Seite, als auf seinen Hereinruf statt des Kellners das liebgewonnene Mädchen sein Zimmer betrat. Ein scharfer Blick über die Brillengläser hinweg, und er wußte, daß eine Bittende vor ihm stand.
»Was führt Sie her, Gertrude? Verfügen Sie ruhig über mich.«
Aber das Mädchen erzählte nicht ruhig, sondern hastend. Der Freund säße gefangen zu Leipzig. Einen Freund dürfe man nie und nimmer im Stiche lassen. Auf ein paar Jahre vielleicht solle er auf die Festung gebracht werden. Sie bäte um den Wagen. Sie bäte um Geld. Sie bäte um Hilfe – um Hilfe!
Ferdinand Waldheim hielt die zuckenden Mädchenhände in den seinen.
»Erst setzen Sie sich nieder, Gertrude. Ganz gehorsam. So, so, den jungen Lenbach hat's ereilt. Und der alte Waldheim soll helfen. Mit dem Wagen. Mit Geld. Vielleicht auch mit Williams amerikanischem Paß? Die beiden Herren sind von gleichem Ansehen.«
»Ja, ja. Auch mit dem Paß. Denn wir müssen über die Grenze nach Böhmen und von Böhmen über die Grenze nach Bayern.«
»Wie mein Töchterchen unterrichtet ist.«
»Der Gert hat mir's eingeschärft. Die Zeit drängt.«
»So, so. Es drängt. Und was setze ich dabei aufs Spiel? Gefängnisstrafe wegen Gefangenenbefreiung und nachher Ausweisung als lästiger Ausländer. Drängt's immer noch so sehr? Nun, nun, nicht rot und blaß werden, als schämten Sie sich, daß Sie zu Ferdinand Waldheim gekommen wären. Nur meine ich, man setze als Familienvater so hohe Einsätze nur, um einem eigenen Kinde aus der Not zu helfen. Gertrude – gut also – seien Sie mein Kind. William möchte Sie zur Frau. Ich möchte Sie zur Tochter, Gertrude. Nein, zu viel mehr. Ich möchte, daß Sie mit Ihrem unerschütterlich deutschen Wesen die Waldheims in Amerika auf ein paar weitere Menschenalter hinaus deutsch erhielten. Gertrude, Sie erfüllen nicht nur meinen und Williams Wunsch, Sie erfüllen eine deutsche Aufgabe.
Das Mädchen stand wie in einem Wirbel. Sie hörte Worte an ihr Ohr dringen, Worte, Worte. Was sprach der Mann immer von William, wo sie von Walter sprach. Was wollte der Mann mit einer Brautwerbung, wo es sich um nichts anderes als um die Befreiung eines Gefangenen handelte? Die Gedanken hetzten sich zu Tode. Einen Augenblick war es, als wollte sie die klare Besinnung verlieren.
»Es kommt Ihnen unerwartet, Gertrude. Setzen Sie sich nieder. Wir wollen in Ruhe miteinander sprechen.«
»Ich habe keine Zeit,« murmelte sie, »ich habe keine Zeit. Wenn sie den Walter erst vor Gericht gestellt haben, kommen wir zu spät. Aus der Festung holt ihn keiner mehr heraus.«
»Mein Mädchen,« sagte Ferdinand Waldheim, »Ihren Freund Walter kenne ich zu wenig. Um so besser aber kenne ich die Gertrude Thorsberg. Halten Sie mich nicht für einen amerikanischen Geschäftsmann, der ebenso kühl mit Maschinen handelt wie mit Menschenherzen. Ich trage eine tiefe, unaussprechlich tiefe Liebe zum Deutschtum in mir. Mir ist oft, als sei sie das Beste an dem ganzen Manne. Und dieses Beste möchte ich als wertvollstes Erbstück auf die Binder übertragen wissen, auf die nächste Geschlechterfolge. Ich möchte noch deutsche Enkel sehen. Wie greife ich das Schwere an? Nur das reinste und heißeste deutsche Blut ist mir gut genug. Reineres und heißeres deutsches Blut als das Thorsbergsche kenne ich nicht. Darin habe ich, wenn Sie es so nennen wollen, wirklich die Augen eines unbestechlichen Geschäftsmannes. Verpfänden Sie mir Ihre Freiheit und ich setze die meine aufs Spiel.«
Gertrude Thorsberg stand steif aufgerichtet. Und doch rang sie innerlich nach einem einzigen armseligen Wort.
»Sie wollen Zeit zur Überlegung, Gertrude. Ich verstehe das. Sie können mich, wann Sie wollen, benachrichtigen.«
»Nein, nein, nein. Es ist keine Zeit zu verlieren. Keine Zeit. Lassen wir heute noch fahren! Nur fahren!!«
Mit ernsten Augen stand der Deutschamerikaner vor ihr und streichelte mit der kantigen Hand über ihren Scheitel.
»Wenn unser Unternehmen gelungen ist – eher kein Wort mehr darüber. Ich bin gläubig, was die Thorsbergs angeht.« – –
William Waldheim saß als gewöhnlicher Wagenlenker am Steuer. In den Lederpolstern saß aufrecht Gertrude Thorsberg neben dem Deutschamerikaner. Jeden anderen Gedanken als den an Walter Lenbachs Befreiung hatte sie ausgeschaltet. Sie reiste auf den Paß des amerikanischen Fräuleins, und ihr blondes Haar lag unter der Mütze versteckt.
Am zweiten Tage trafen sie in Leipzig ein und stiegen in einem Gasthof ab. Gelassen begab sich der Deutschamerikaner zu des jungen Lenbach Rechtsanwalt, den er in dem Briefe an den Vater genannt hatte. »Wenn es sich um eine ehrlose Tat des jungen Lenbach handelte, würde ich nicht mit Ihnen sprechen, Herr Doktor. Aber es ist eine Tat der selbstlosesten Vaterlandsliebe. Morgen, unter einer anderen Regierung, wäre sie nicht mehr strafbar, sondern lobenswert. Doch wir wollen nicht Silben stechen. Ich weiß, daß Lenbachs Anschauungen auch die Ihren sind. Um es kurz zu machen: sichern Sie dem Beamten, der den jungen Lenbach zu uns hinausbringt, eine Summe zu, die für eine anständige Geschäftsgründung ausreicht. Oder eine Rente. Ich will nicht knausern, weil ich morgen Leipzig im Rücken haben möchte.«
»Wenn Sie mir derart freie Hand lassen, ist die Sache bei der politischen Verworrenheit auch im Beamtentum nicht aussichtslos,« erwiderte der Rechtsanwalt. »Haben Sie schon weitere Anordnungen getroffen?«
»Der junge Lenbach weiß einen Kraftwagen zu steuern. Er begibt sich sofort in meinen Gasthof und fragt nach dem Wagenführer des Herrn Waldheim. Es ist mein Sohn, der ihm Mantel, Mütze, Brille sowie seinen amerikanischen Paß überläßt und mit der Bahn nach München fährt. Ich selbst setze mich inzwischen mit meiner Tochter in den Wagen, bis Lenbach aussteigt und das Steuer nimmt. Sagen wir morgen, vier Uhr nachmittags.«
Der Rechtsanwalt lächelte leise.
»Sie sind an rasche Arbeit gewöhnt, Herr Waldheim.«
Und gelassen antwortete der Deutschamerikaner: »Zeit ist Geld. In diesem Falle sogar Dollargeld. Für den Helfer bitte ich einstweilen diese Summe zu übernehmen. Ihre Rechtsanwaltsgebühren gestatten Sie mir wohl von München aus zu erledigen, wo der Staatsgerichtshof nichts gilt.«
Der Rechtsanwalt verbeugte sich zustimmend.
»Bis morgen mittag zwölf Uhr erhalten Sie Nachricht durch meinen Boten.« – –
Am Nachmittag des nächsten Tages trat ein Beamter in Walter Lenbachs Zelle.
»Machen Sie sich fertig, mir zum Untersuchungsrichter zu folgen. Achtung, Mann! Ich öffne Ihnen das Tor, und Sie spazieren ab. Sie begeben sich ohne Aufenthalt dorthin, wohin Sie dieser Zettel ruft. Sind Sie endlich fertig? Marsch, mir folgen.«
Er ging mit ihm über ein Gewirr von Gängen und Treppen, öffnete eine verschlossene Tür, die ins Gerichtsgebäude führte, nahm im Vorübergehen einen Hut vom Haken, reichte ihn hin und ließ den Gefangenen wie einen Gerichtbesucher durch die öffentliche Halle ins Freie treten. Er selbst verschwand hinter ihm auf der Straße, um so wenig wiederzukehren wie der Gefangene.
Walter Lenbach, den fremden Hut auf dem Kopf, ging ruhig im Menschengewühl seines Weges. Er las den Zettel und vernichtete ihn. Im Gasthof fragte er den Pförtner nach dem Wagenführer des Amerikaners Waldheim und wurde nach dem Zimmer verwiesen. Im Vorüberschreiten bemerkte er Gertrude und den Deutschamerikaner. Sie nahmen gelangweilt im Wagen ihre Plätze ein. Wenige Minuten, und der Wagenlenker erschien in Mantel, Mütze und Brille. Der Besucher verließ den Gasthof, als der Pförtner dienstfertig mit den Pagen und Hausdienern den Wagen umstand. Der Wagenlenker nahm das Steuer. Geradeaus blickte er und wartete auf den Befehl.
»Los, William.«
Der Wagen sprang an. Eine Viertelstunde später lag Leipzig im Rücken. Unaufhaltsam brauste der Hundertpferdige der tschechischen Grenze entgegen. Kein Wort wurde gesprochen.
Und langsam kehrten der jungen Gertrude Thorsberg die Gedanken zurück und irrten um den Mann, der vor ihr wie stahlgeschmiedet am Steuer sah, und umirrten ihn heftiger noch, als sie im Nachtdunkel die Grenze nahmen, in einem bitteren, erstickenden Weh.
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