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Die Menschen, die Friedrich Thorsbergs Freundschaft und Gefolgschaft bildeten, fühlten es bald, daß seine Wesensart seit der Rückkehr aus dem Schwarzwald eine neue Verstärkung erfahren hatte. War er bisher ein unermüdlicher Arbeiter gewesen, das eine Ziel der vaterländischen Erhöhung vor Augen, so wuchs er von diesen Tagen an in eine Selbstlosigkeit hinein, die seine Persönlichkeit nur noch als einen Teil der Sache erscheinen ließ. Und als Teil der Sache empfand er jedes leise Erzittern des Landes, jede Schwingung im Volkskörper, stemmte er sich in Abwehr entgegen oder kam er in Angriffsbereitschaft zuvor. Überall war insgeheim seine Hand zu spüren, in der Vorsorge, im Selbsteingreifen und in der Linderung. Wer zu ihm zählte, wußte sich geborgen, und wenn es im Sterben gewesen wäre. Des Meisters Vorbild löste alle Ängste.
Die Freunde gewahrten wohl Friedrich Thorsbergs immer Heller werdende Augen, aber sie sahen auch die bis zur Verschwendung gesteigerte Kräftehergabe, die keinen Ausgleich fand durch einen Schöpfbrunnen der Stille. Und Ferdinand Waldheim trat an einem goldenen Herbstmorgen in sein Zimmer und sagte es ihm.
»Auch die reichste Quelle vertrocknet, Friedrich, wenn sie nicht gespeist wird. Wer so viel Liebe gibt wie du, muß auch viel Liebe empfangen. Laß bei der Arbeit den Lebensbecher nicht ganz abseits stehen.« Friedrich Thorsberg blickte den Mahner verwundert an.
»Ich habe ja die Kinder und habe euch. Ist das nicht genug für einen einzelnen Menschen?«
»Freilich. Wenn du es wärst. Aber du bist ja gar kein einzelner Mensch. Du bist ein Teil des Ganzen. Sagen wir ruhig: des Volksherzens. Und wenn ein Teil des Herzens nicht gesund ist, so krankt das ganze Herz.«
»Mein Herz ist gesund. Es ist nie gesunder gewesen. Seit ich auf deinem Grund und Boden meine Schulden bezahlt habe, bin ich so gesund geworden wie in der besten Zeit meiner Ehe.«
»Es ist nicht mehr mein Grund und Boden,« sagte der Deutschamerikaner. »Ich habe das Gut im Schwarzwald weiterverkauft. Ach nein, Fritz. Nicht, weil mich das Grab im Wald behelligt hätte. Der Anblick hätte mich nur in meinem deutschen Wesensgrund gestärkt. Es wäre mir Bürgschaft dafür geworden, daß es im alten Vaterland doch noch eine Handvoll Männer gibt, die sich Achtung erzwingend selber helfen, statt mit der Drehorgel durch die Welt zu ziehen. Aber ich habe einen Narren an deiner Gertrude gefressen, und wenn ich das Mädchen oft und öfter bei mir sehen möchte, so soll ihr der Aufenthalt nicht mit Erinnerungen beschwert sein.«
Friedrich Thorsberg nickte, in Gedanken versunken.
»Ich werde sie nun auch von mir geben müssen. In wenigen Wochen tritt sie in die landwirtschaftliche Frauenschule ein. Sie wird mir mehr fehlen als der Gert, wenn der Junge einmal weiter muß. Die Liebe einer Tochter birgt Frauenliebe.«
»Das ist es, Friedrich. Sie war bis jetzt, für dich unbewußt, dein Schöpfbrunnen. Wie es vor Jahren deine Frau Minne war.«
Friedrich Thorsberg hob den Kopf.
»Und nun rätst du mir –«
»Ich rate dir nichts. Vor allem nichts, was ein heiliges Andenken antasten könnte. Aber es steht geschrieben: ›Lasset die Toten ihre Toten begraben!‹ Du aber lebst und hast Tausenden das neue Leben zu schaffen. Und darum bittet dich der Freund: Laß bei der Arbeit den Lebensbecher nicht ganz abseits stehen. Er kommt deiner Arbeit zugute. Verschließe nicht die Augen, wenn er dir mit einem reinen Trunk geboten wird.«
»Lieber Freund,« entgegnete Friedrich Thorsberg, »die Antwort wird mir schwer. Frauen finden sich leichter in die Vertraulichkeiten ihres Geblüts. Nur um dich über den Mann in mir zu beruhigen, den ich in meinen Jahren als einen stärkeren und sehnsüchtigeren spüre als selbst in jüngeren Jahren: ich habe für die Tugendbünde nie eine Meinung gehabt. Aber das Glas, aus dem ich Freude trinken soll, muß so blank sein, daß ich mich darin spiegeln kann. Und nun zu wichtigeren Dingen.«
Der Deutschamerikaner nahm seinen Hut.
»Mir schiene jetzt ein Spaziergang mit deiner Gertrude das wichtigste. Auch als schwerfälliger alter Knabe kann man sich in ihr spiegeln. Ruf sie mir doch.«
Gertrude Thorsberg war daheim. Sie nahm die Einladung zu einem Spaziergang mit einer schnellen Bereitschaft an.
In der Herbstsonne des Englischen Gartens legte Ferdinand Waldheim ihre Mädchenhand in seinen Arm.
»Weshalb zittern Sie denn bei der Berührung? Haben Sie etwas an mir auszusetzen?«
Das Mädchen kämpfte mit der Antwort.
»Es ist die Hand – die Hand, die der Mensch geküßt hat.«
Ferdinand Waldheim legte seine freie Linke auf die Mädchenhand in seinem Arm.
»Es ist richtig. Aber noch richtiger ist, daß Ihr Vater sie reingewaschen hat. Das dürfen Sie und das darf keiner je im Leben vergessen.«
Ihre Brust hob sich stürmisch hoch. Über ihr Gesicht zuckte es wie von jäh verhaltenem Weinen.
»Keiner! Nicht wahr: Keiner, Herr Waldheim? Der Vater hat sie reingewaschen.«
»Ich wollte,« sagte der Mann an ihrer Seite, »ich wollte, ich hätte Sie zur Tochter. Meine Kinder sind gut geraten und aufrecht emporgewachsen. Aber doch mehr für sich als für mich. Wenn Sie meine Tochter wären, wollte ich Gott preisen für seine Güte und Vaterliebe.«
»Ich weiß nicht, wie ich Ihr Lob verdient habe –«
»Es ist kein Lob, mein Mädchen, es ist die Wahrheit. Und diese Wahrheit stammt aus Ihnen. Aus Ihrer Kindesliebe, aus Ihrer Hingabe an den Vater, aus Ihrer Tapferkeit und Entschlossenheit, die für den Vater bis zur Selbstüberwindung Ihres Wesens ging. Ich bin an Lebensgütern reicher geworden als Friedrich Thorsberg, aber an Liebesgütern wurde er der reichere.«
»Ich ging«, sagte das Mädchen, »so eilfertig auf Ihre Einladung ein, weil mich immer noch mein Gewissen bedrückte. Der Gert und ich, wir haben damals, als wir – als wir auf der Menschenjagd waren – ohne Sie zu befragen – über Ihren Wald in den Schwarzwaldbergen verfügt. Ich – ich habe überhaupt nicht erwogen, ob es Sie freuen würde oder nicht freuen. Nur an die fehlerlose Lösung der Aufgabe habe ich gedacht, der alles dienen müßte. Als des Vaters Helfershelfer habe ich mich gefühlt. Für den Ehrennamen gingen wir schon als Kinder durch Büsche und Gräben.«
Ferdinand Waldheim klopfte ihr die Hand. Er dachte an die eigenen Kinder, an Sohn und Tochter, die wohl seines Blutes waren, aber nicht seiner Auffassung der Lebenswerte. Das tat, daß Sohn und Tochter Kinder des amerikanischen Mutterbodens waren und ihn selber der deutsche Mutterboden geboren hatte. Das war die Trennung, die nur insgeheim eingestandene Trennung, die mit den Jahren sichtbarer wurde, statt sich mit der Reife zu verwischen, und über die sein Gemüt doch so gern die Brücke geschlagen hätte. Und mit einem Male begann er zu erzählen: von dem Sohne und des Sohnes geistiger und körperlicher Ausbildung, von des Sohnes technischer Begabung und des Sohnes kühnem Geschäftsblick in den großen Fabrikunternehmungen drüben über dem Wasser. Und wie der Vater das aus dem Nichts Geschaffene keinen sichereren Händen zur Fortführung und Ausgestaltung anvertrauen könne als den Sohneshänden.
»Erzählen Sie mir von Ihrer Tochter,« bat Gertrude Thorsberg.
»Von meiner Tochter ... Ja, sie heißt Ellen und wird im nächsten Jahre ihre Abschlußprüfung machen. Dann bring' ich sie Ihnen herüber, denn es wäre hübsch, wenn Sie Schwestern würden.«
»Wollten Sie nicht in Deutschland bleiben, Herr Waldheim?«
»Ja, mein liebes Kind, das ist mein Feierabendwunsch. Aber Feierabend kann man erst machen, wenn man sein Haus gut bestellt weiß und seine Kinder in der Nachfolge. In der Nachfolge aber heißt nicht zuletzt: im eigenen Hausstand. Dann ist der Vater fünftes Rad am Wagen und darf den Berg auch allein hinunterlaufen.«
»Nein, Herr Waldheim, jetzt übertreiben Sie.«
»Es wäre schön, wenn Sie mich von meinen Übertreibungen heilten.«
Als Gertrude Thorsberg aus der Stadt zurückkehrte, traf sie mit Walter Lenbach zusammen.
»Weißt du, Walter,« sprudelte sie erregt hervor, »was mir vorhin Herr Waldheim gesagt hat? Die Hand – die Hand, die der Mensch geküßt hat, ist blitzsauber. Der Vater hat sie reingewaschen.«
»Gertrude,« entgegnete der Freund und ging mit weitausholenden Schritten neben ihr her, »ich hätte den Deutschamerikaner für gescheiter gehalten.«
»Für gescheiter? Glaubst du ihm etwa nicht, was er vom Vater sagt?«
»Der Mann ist sonst zu ernsthaft, um solche Selbstverständlichkeiten daherzureden.«
Gertrude Thorsberg schwieg und fand auf dem ganzen Heimweg keine Worte mehr. Aber es lief ein Lachen durch ihr Mädchenherz.
Im November fuhr Ferdinand Waldheim über das Meer zurück. Der Deutschamerikaner schaute trübe in des deutschen Volkes nächste Zukunft.
»Es wird eine furchtbare Heimsuchung werden, und wir stehen dicht vor der Hauptprobe. Glückauf, Friedrich Thorsberg.«
»Ein Glückauf auch dir – und ein Kehrwieder!«
Der Winter kam. Ein Albdruck legte sich auf die deutschen Lande. Die Lebensmittel stiegen sprunghaft in den Preisen, und der Wert des Geldes sank sprunghaft in die Tiefen. Am Abend zählten bleiche Väter und Mütter ihr Tagesgeld, und wenn sie am nächsten Morgen erwachten, lag es unberührt und war doch durch Geisterspuk um die Hälfte geringer geworden.
»Achtung, Lenbach,« sagte Friedrich Thorsberg. »Sie wollen die breiten Volksschichten mürbe machen. Sie fassen das Volk beim Magen, wie wir es bei der Ehre fassen. Es steht Schweres bevor, und wir werden Arbeit bekommen.«
Der Oberst runzelte die Brauen. Er dachte an die Hungerzeit des Volkes im Kriege und an den vorzeitigen Friedensschrei der Volksvertreter.
»Ich bewundere Ihren immer gleichen Mut. Es gehört ein unendlicher Glaube dazu.«
»Nur eine unendliche Liebe, Lenbach.«
Und er sagte dasselbe dem Tiermaler Gustav Adolf Brandt, der ihn daheim erwartete.
»Sie scheinen mir nicht so ganz bei der Sache zu sein, Brandt,« fragte er und blickte dem Freund aufmerksam ins Gesicht. »Frau Amely befindet sich doch wohl? Und der Herr Vater hält Ruhe?«
»Wie und wo sich Frau Amely befindet, vermag ich nur noch selten zu sagen,« entgegnete der Maler ernst. »Da sich mein Vater aber in großer Betriebsamkeit befindet, so darf ich wohl vermuten, daß es meiner Frau und auch meinem Stiefsohn recht gut geht.«
»Sie meinen, Brandt, daß sie zu dritt ein großes Geschäft vorhaben?«
»Es ist bereits abgeschlossen. Der alte Herr hat Seefelden verkauft. Sie wundern sich, weil doch heute kein Vernünftiger Grund und Boden aus der Hand gibt. Das einzige, was im Werte bleibt. Und der alte Herr hat's auch garnicht richtig aus der Hand gegeben. Nur den Gegenwert hat er richtig eingesteckt.«
»Langsam, langsam,« bat Friedrich Thorsberg, »ich komme nicht mit. Das einzig Unvernünftige scheint mir bis jetzt Ihre Erzählung zu sein.«
»Schelten Sie mich nur, Herr Professor. Aber die Tatsachen bleiben darum doch bestehen. Und es ist wohl nicht ganz einwandfrei zugegangen. Das liegt mir wieder wie Galle im Mund. Meine Leute!«
»Erzählen Sie. Die Galle muß heraus. Wir werden unseren Kopf bald für bessere Dinge nötig haben.«
»Der Alte hat auf Seefelden ein Verschwenderleben geführt. Vor dem Wort Hochstaplerleben schrecke ich als Sohn zurück. Und meine Frau und mein Stiefsohn haben ihn weidlich darin unterstützt und die Gäste hingebracht, mit denen der Herr Sohn dann seine Geschäfte machte. Nun hat der Franz Haßlinger im Gasthof einen protzenhaften Amerikaner deutscher Herkunft aufgespürt, der viel von einem Gutskauf geredet hat. Und der Franzl, der bald heraus hat, daß der Fremdling so wenig von der Gutswirtschaft versteht wie er selbst, ladet seine vornehmen Freunde – ich mein': von Namen vornehm – nach Seefelden zu einem Abend, an dem es besonders hoch hergeht unter den verbummelten Herren Baronen, und ladet den Amerikaner dazu, und die Frau Amely spielt die Tochter vom Haus und die Tischdame des amerikanischen Ehrengastes. Nun, sie hat ihn weidlich schwitzen machen. Mein lieber alter Herr, als er's mir erzählte, war noch toll vor Vergnügen. Der Amerikaner hätte geschnauft vor Liebe und Lust und geschworen, er wolle auch ein Gut und den Herrn spielen und seine Gäste bewirten, daß sie erst einmal merken sollten, was amerikanische Gastfreundschaft sei. Und die jungen Herren haben ihn hochleben lassen und ihn ›Herr Nachbar‹ genannt, und der Franzl hat ihn gleich zur Jagd eingeladen, obwohl der Lotter selber noch auf keinen Hasen geschossen hat.«
In Friedrich Thorsbergs Augen begann es zu flimmern, und der Tiermaler gewahrte es.
»Meine Erzählung belustigt Sie. Lachen Sie nur ruhig heraus und über die bildschöne Rolle des Erzählers dazu.«
»Sie irren, Brandt. Ich meine nur den Vollblutamerikaner zu erkennen. Seine Wiege stand näher am Mainstrom als am Mississippi, und vor zehn Jahren wußte er kaum, daß Kolumbus Amerika entdeckt hatte. Fahren Sie, bitte, fort.«
»Sie kennen diesen Mister Bob Heß?« fragte Brandt betroffen. »Nun, um so besser. Das erleichtert das Verständnis. Ich habe diese aus dem Leim gegangene Schöpfung Gottes nur das eine Mal vor Augen bekommen, als mein Vater ihn gestern herbrachte, um meine Frau zum Notar zu holen. Und das eine Mal hat mir genügt. Frau Amely aber flatterte um ihn her wie ein Schmetterling, der auf eine seltene Honigblume gestoßen ist. Ah – pfui Teufel. Nun werden Sie meine Empfindungen verstehen.«
»Bleiben Sie bei dem Gutsverkauf, Brandt,« half Friedrich Thorsberg weiter.
»Gewiß, gewiß. Der Franzl Haßlinger hat seine Sache vortrefflich gemacht, und der Mister Heß hat geholfen und geglaubt, er wäre der Allerschlaueste. Die Schulden, die auf dem Gute lasteten, sind in entwertetem Geld an die Gläubiger abgegolten worden, und der Amerikaner konnte den ganzen Betrag aus der Westentasche nehmen. Die Restsumme zwar mußte der Mann nach Friedenswert in vollgültigen Dollars zahlen; aber der alte Herr hatte ja schon gründlich vorgesorgt, daß sie nicht viel mehr als ein gutes Trinkgeld darstellte. Dafür aber hat er sich vor dem Notar einen Vertrag geben lassen, der ihn auf eine Reihe von Jahren als Gutsverwalter mit allen Vollmachten anstellt, um das Gut auf einen glänzenden Stand zu erheben. Nach der Probe mit den betrogenen Gläubigern witterte der Vollblutamerikaner vom grünen Mainstrom in Herrn Brandt dem Älteren den rechten und gerissenen Platzhalter, in Herrn Franz Haßlinger den betriebsamen Aufpasser und in Frau Amely Brandt – ja, mein Gott und Vater, was vermutet der Schuft in dieser Frau?«
»Lassen Sie ihn doch vermuten, was er will, Brandt, wenn Sie es besser wissen.« Der Maler schüttelte den Kopf. Er schüttelte abwehrend die Hände.
»Ich weiß es aber nicht besser, Herr Professor Thorsberg. Sehen Sie, und das ist das Fürchterliche. Ich weiß nur, daß sie am Abend ein Armband mit Brillanten trug. Als Vermittlergebühr, wie sie strahlend berichtete. Und ich weiß weiter, da ich die Mitspielenden bis in ihre letzte Seelenfalte hinein kenne, daß sie die Freundschaft mit diesem Menschen der tiefsten Gewöhnlichkeit noch immer inniger gestalten werden, solange noch ein Dollar in seiner Hosentasche klimpert. Koste es, was es wolle ...«
Friedrich Thorsberg stand auf und strich dem jüngeren Freunde übers Haar.
»Ich hoffe, Sie sehen zu schwarz, Brandt. Wenn es Ihnen ein Trost ist, so kann ich Ihnen sagen, daß ich die Ausbeutelung des ehrenwerten Mister Bob Heß vom Maingestade nur als einen Vollzug der ausgleichenden Gerechtigkeit ansehen würde. Freilich – er dürfte nicht von unseren Nächststehenden vorgenommen werden.«
Auch der Maler erhob sich. In seinen Augen war ein immerwährendes Grübeln.
»Wir werden unsern Kopf bald für bessere Dinge nötig haben. So sagten Sie doch vorhin. Und der Schmutz soll aus dem meinen heraus mitsamt dem Schmutz der ganzen Zeit. Damm bitte ich mir aus, daß ich bei allen kommenden Unternehmungen dort eingesetzt werde, wo es einen Mann gilt. Einen Mann, der – wenn er schon nichts anderes im Leben lieben soll – seinen Mutterboden liebt bis aufs letzte. Geben Sie mir Ihr Wort darauf, Professor Thorsberg.«
Es war zum erstenmal seit langem, daß eine Wehmut in Friedrich Thorsberg aufsteigen wollte. Da stand der frischfröhliche Jagdgefährte aus den Tagen Deutsch-Ostafrikas und stellte dem Leben gegenüber seine Zahlungen ein. Dem beschmutzten deutschen Leben gegenüber. Nein – nicht doch! Da stand ein Mann, der zahlen wollte. Der mit dem Einsatz seines Lebens beweisen wollte, daß die deutsche Mannheit nicht aus Bankbrüchigen bestünde. Und in Friedrich Thorsbergs Augen trat ein großes, ruhiges Licht.
»Sie haben mein Wort, Brandt.« –
Den Silvesterabend hatte Friedrich Thorsberg in aller Stille mit den Kindern begangen. Gertrude war aus ihrer Landwirtschaftsschule auf Urlaub gekommen und voll von ihrer jungen Weisheit. Der Vater und Gert hörten ihr lächelnd zu. Und mit dem Mitternachtsschlag hatte der Vater sein Glas erhoben und Deutschland Kraft und Würde gewünscht zur Heimsuchung des neuen Jahres.
Am Neujahrstage war Friedrich Thorsberg zu Tisch gebeten bei Bruder und Schwägerin. Bella Thorsberg kam ihm in einem auserwählten Kleide entgegen, das dennoch nur die Umrahmung ihrer dunklen, reifen Schönheit blieb. Sie hat einen erlesenen Geschmack, mußte er ihr in einer ehrlichen Bewunderung zugestehen.
»Du bist unser einziger Gast, Friedrich,« begrüßte sie ihn mit einer erhöhten Wärme. »Selbst Ruth mußt du entschuldigen. Sie hat bei den Prinzen draußen am See Silvester gefeiert und ist natürlich hängen geblieben.«
»Friedrich wird daraus schließen,« meinte der Hausherr mit leichtem Spott, »daß wir das Jahr im Zeichen der weißblauen Bayernfahne statt der schwarzweißroten Deutschlandfahne begonnen hätten.«
»Ich liebe die eine wie die andere, Bruder. Doch muß die schwarzweißrote vorangetragen werden.«
»Wir wollen uns gleich zu Tisch begeben,« bat Bella Thorsberg und wies die Plätze an. »Friedrich an meine Herzseite, damit er nicht erfriert in unserer Feierlichkeit. Ich hoffe, du bist den Platz noch von unserer Wagenfahrt gewöhnt?«
Er sah ihr verwundert in die Augen und verbeugte sich.
»Weiht du,« plauderte sie an seiner Seite, »weshalb ich außer dir keine Gäste geladen habe? Du wirst gewißlich denken: niemals lerne ich in diesem Hause ein anderes Gesicht kennen. Ja, lieber Schwager, das ist ganz einfach Selbstsucht. Frage Karl, wie empört ich war über dein hoheitsvolles Fernbleiben. Und da soll ich dich schon an meine habgierigen Freunde und Freundinnen weitergeben, ohne daß ich in dir meinen sicheren Verehrer wüßte? O nein. Erst das Handgeld.«
Der Hausherr hob nur ein wenig die Augenlider. Wie ein überlegener Weltmann.
»Wenn dir deine Zeit kostbar ist, Friedrich, so rat' ich dir gut: gib dich gefangen. Um so eher kommst du wieder los.«
»Als ich mich vor langen Monaten schon gefangengeben wollte, hat sie mich aus dem Wagen ohne weiteres auf die Straße gesetzt. Laßt mich vorher wenigstens zu Mittag essen, bevor ich das Wagnis noch einmal unternehme.«
Karl Thorsberg erhob das Glas, neigte es in tiefem Gruße gegen seine Frau und trank es leer.
Sie erwiderte mit einer übertriebenen Neigung des Hauptes.
»Sehr schmeichelhaft für das Opfer,« meinte der Gast, »diese priesterlichen Handlungen.«
Bella Thorsberg streckte ihm die Hand hinüber. Weiß schimmerte der schlanke Arm aus dem Gewand.
»O du Opfer!« lachte sie auf. »War Friedrich Thorsberg schon ein einziges Mal in seinem Leben das Opfertier? Ich glaube, er hätte selbst den vollziehenden Hohenpriester auf die Widderhörner gespießt. Darum gefällst du mir gerade, Schwager. Weil du eine andere Note in unsere Männerwelt trägst. Ja, stell dich nur weiter verwundert. Eine Note, die über die höhere Rechenkunst der Bankwelt und der politischen Welt hinausklingt in die Vorwelt der Ur-Urahnen, die ihre Gegner kürzer abtaten und heimritten, als kämen sie von einer Hasenjagd.«
Friedrich Thorsbergs Stirn lief dunkel an. Seine Augen gingen von der Schwägerin zum Bruder.
»Ich mußte damals doch Bella eine Auskunft über meine plötzliche Reise nach dem Schwarzwald geben, Friedrich.«
»Ich bin dir sicher,« sagte sie schnell. »Wir sind doch Mitverschworene, Friedrich.«
Eine Weile blieb er stumm. Dann meinte er ruhig:
»Das ist es nicht, Bella. Vom Fürchten ist nicht die Rede. Aber es gibt Dinge, die man tut und zu jeder Zeit wieder tut, und die dennoch kein Gesprächsstoff sind.«
Sie atmete rascher, als müsse sie den Vorwurf überwinden. Ihre gepflegte Hand glättete das Gewand über der Brust.
»Nicht böse sein. Wir Frauen dieses späten Jahrhunderts haben zuweilen eine Sehnsucht nach einem furchtlosen Wikking – oder sonst einem wilden Drachenhelden. Gottlob, jetzt lachst du.«
»Ich lache, weil ich deine sorgsam gepflegte Hand auf den Teerplanken eines Drachenschiffes ruhen sehe.«
Sie hob ihre Hand und betrachtete sie. Und dann reichte sie sie ihm zum Kuß.
»Ist sie dir nicht lieber so? Ich halte dich für einen verwöhnten Menschen.«
»Auch darin irrst du. Ich bin ein stiller Einsiedler.«
»Ich glaube es dir nicht. So sehr läßt sich eine Urnatur nicht unterdrücken. Die Frauen werden dir anhängen, und du wirst in aller Welt Dutzende von Geliebten haben. Beichte!« In Friedrich Thorsbergs Augen lag ein tiefer Ernst, als er nach kurzem Besinnen entgegnete.
»Bella,« sagte er, »du bist eine Frau. Eine Frau von gewiß nicht alltäglichen Graden. Und eine solche Frau verkennt die Naturbegriffe des Weibes? Dutzende von Geliebten? Entweder du verwechselst den Namen Geliebte mit dem eines beliebigen Dirnchens für jedermann, oder du nimmst an, es sei dasselbe, was die Frau Rat Goethe der Tochter nach Darmstadt über ihren Wolfgang berichtete: daß er sich einen neuen Bettschatz zugelegt habe. Eine Geliebte, das muß eine Frau am ehesten fühlen, kann mit einem gefälligen Liebchen nie und nimmer in einem Atem genannt werden. Eine Geliebte ist ein Ewiges. Sie ist eine Frau, die um ihrer Liebe zu dem Einen willen so schwer an Leid und Verzicht zu tragen hat, daß jede Rose in ihrer Hand ihr mit dem Dorn einen Blutstropfen entlockt. Die Rose schenkt sie dem Geliebten, die Blutstropfen behält sie für sich als ihren reichsten Reichtum und ihren geheimsten. Wenn ich als Dichter redete, Bella, und nicht als einfacher Mensch, würde ich sagen: als eine Zahlung an das Schicksal für die tiefe Liebe, die ihr der Geliebte durch Nacht und Nebel bringt.«
»Sprich weiter. Ich habe noch nie eine so hohe Auffassung des Begriffs vernommen.«
»Nein, es ist kein Knabenspiel von Schatz und Schätzin. Nur ein reifer Mann kann eine Geliebte besitzen, nur ein reifes Frauenwesen kann eine Geliebte sein. Vor einer Geliebten senkt der Engel des Herrn das feurige Schwert.«
Es war still geworden in dem kleinen Kreis. Die drei Menschen umtasteten mit den Fingern den Stengel ihres Kelchglases und schauten versonnen in den Wein. Ein jeder mit seinen Gedanken.
»Du sprichst wie ein Glücklicher,« sagte Frau Bella träumerisch.
»Ich spreche wie ein Einsamer,« sagte Friedrich Thorsberg.
Der Bankherr hob sein Glas an die Lippen und trank es langsam leer. Er blickte zu seiner Frau hinüber.
»Ich verstehe,« meinte die Hausfrau. »Karl mahnt mich. Der Parteiführer möchte politischere Gespräche führen, und die Herren wünschen allein zu sein.«
Bis zum Abend noch saßen die Brüder im Arbeitszimmer des Hausherrn und deuteten die Zeichen.
»Der Rhein ist in Feindeshänden. Die Ruhr wird folgen. Lassen wir diesen Hohn auf den Friedensvertrag, diese Wegnahme der einzig übriggebliebenen deutschen Schatzkammer ohne Widerstand zu, so sind wir mitsamt der letzten übriggebliebenen Würde erdrosselt, und die Welt wendet sich mit berechtigtem Abscheu von unserem Schicksal ab.«
»Ich stehe zu deiner Verfügung,« sagte Karl Thorsberg kalt.
»Ich danke dir. Es wird größere Summen kosten als bisher. Was ist in solcher Lage Geld? Wer Blut gibt, gibt mehr. Unsere Sendboten sind bereits im gefährdeten Gebiet. Unsere Stoßtrupps stehen bereit, auf Anruf zu folgen. Es kann sich ja leider nicht um einen Widerstand mit der Waffe handeln, Mann gegen Mann. Nur um Durchkreuzungen der feindlichen Zermürbungspläne, um Zeitgewinnungen, um Hinlenkung der Blicke der Welt auf die Verzweiflungstaten eines hochstehenden, aber wehrlosen Volkes, dem man sein Lebensrecht bestreitet durch Aushungerung und Blutvergießen.«
»In Monatsfrist, Friedrich, werden wir den Einmarsch ins Ruhrgebiet haben. Ich weiß es, weil ich näher an der Drahtleitung sitze als du.«
»Es ist derselbe Zeitpunkt, den ich mir errechnet habe. Gehen wir ans Werk.« Er bot dem Bruder zum Abschied die Hand. »Grüße Bella.«
»Noch eins,« meinte Karl Thorsberg, als sie schon an der gepolsterten Zimmertüre standen. »In den unheimlichen Nottagen, die mit der Lahmlegung der deutschen Industrie durch das feindliche Vorgehen heraufbeschworen werden, müssen naturgemäß die wirtschaftlichen Fragen vor den politischen noch mehr in den Vordergrund rücken. Es könnte sich ergeben, daß man mich als den gründlichsten Wirtschaftskenner und nicht als Parteiführer in die Regierung Bayerns beriefe. Ich sehe in diesem Falle einen steilen Weg vor mir. Aber ich darf wohl unbedingt darauf rechnen, daß du die Vaterländischen Verbände und die Kampfverbände, über die dein Name Macht hat, als festeste Stütze hinter mich bringst.«
Friedrich Thorsberg wandte sich langsam nach dem Bruder um.
»Hinter dich? Entschuldige meine Genauigkeit, Karl. Hinter die deutsche Sache!«
»Sei kein solcher Silbenstecher, Friedrich.«
Noch immer blickte Friedrich Thorsberg den Bruder an. Und der Bruder erwiderte den Blick mit Ruhe.
»Ist der Antrag erst heute an dich herangetragen worden, Karl? Er kann für uns Führer von ungeheuerer Wichtigkeit sein, und du behandelst ihn wie ein Nebenbei zwischen Tür und Angel.«
»Ich habe im geschäftlichen Leben gelernt, nicht eher über ein Ei zu reden, als bis die Henne es wirklich in mein Nest gelegt hat.«
»Benachrichtige mich sofort, Karl. Es könnte eine andere Einteilung der Arbeit vorgenommen werden müssen.«
Noch einmal reichten sich die Brüder die Hand. Und Friedrich Thorsberg schritt durch den Vorgarten und hörte geräuschlos das Tor hinter sich in den Angeln schwingen und schritt die winterkahlen Anlagen am Siegesdenkmal hinab bis zur rauschenden und brausenden Isar und folgte ihr ein langes Stück, ohne daß die schäumenden Wellen das Rauschen und Brausen seiner Gedanken zu übertönen vermochten. – –
Im Februar begann der Einmarsch der feindlichen Truppen in das friedlich arbeitende Ruhrgebiet. Gleichzeitig wurden die wenigen bisher noch der deutschen Gewalt unterstehenden Landstreifen am Rhein in den Besetzungsbereich einbezogen. Rhein und Ruhr waren von Deutschland abgetrennt.
Nun lag auch die Zufluchtsstätte der Thorsburg im feindlichen Machtbezirk und mit ihr Frau Minnes deutsches Grab.
»Wir werden häufiger danach sehen müssen,« sagte Friedrich Thorsberg zu Gert.
Im Februar begann der Einmarsch. Am gleichen Tage begann die Vergewaltigung deutschen Landes, deutscher Menschen. Die Welt horchte auf. Sie horchte immer gespannter. Fiel kein Schuß? Ach, wir haben ja den Narren die Schießeisen genommen. Was werden sie tun? Gehen sie mit dem Messer los? Die Welt erwartete, als harrte sie im Theater, den großen Nervenreiz. Nichts? Nichts? Weshalb stockt denn der Einmarsch? Weshalb muß der Nachschub der Truppen umgeleitet werden? Doch eine Volkserhebung?
Zehntausende pflichtgetreuer Eisenbahnmänner an Rhein und Ruhr hatten den Fremden die Gefolgschaft geweigert. Das gewaltigste Eisenbahnnetz der Welt lag still.
Vaterlandsverräter vor, gegen blinkenden Judaslohn! Kein Dutzend armer Seelen meldete sich. Fremdländische Eisenbahner – heran! Hunderte. Tausende. So arbeitet die Gewalt, ihr Narren! Die Welt atmete auf. Und fuhr atemlos horchend empor.
Ein paar Schläge waren erschollen. Wie Dynamit hatte es geklungen. Aber den Rhein rollte das Echo.
Gert Thorsberg und Walter Lenbach meldeten nach München die ersten Schienensprengungen auf der Hauptstrecke durch ihren Stoßtrupp. Die fremden Techniker und Eisenbahner besserten sie aus.
Gustav Adolf Brandt meldete nach München die erste Gen-Himmel-Sendung einer Maschine mit mehreren Mannschaftswagen durch seinen Stoßtrupp.
Die Zerrissenen Leichen waren nicht auszubessern.
Wieder war das Wielandschwert umgeschmiedet worden. Kürzer war es geworden, aber auch schneidender.
Durch die unterjochten Lande an Rhein und Ruhr fuhr ein Jubelschrei dahin. Nur ein Schrei. Und die Menschen verstopften sich den Mund und flüsterten nur insgeheim oder winkten sich mit den Augen zu, denn die Fremden, die sich die Gewalt angemaßt hatten über Besitz und Arbeit, ja über die Rechtsprechung auf Leben und Tod, griffen mitten hinein in die Bevölkerungsmassen, setzten unliebsame Führer ins Gefängnis oder schafften sie auf offenen Lastwagen über die willkürlich gezogene Grenze und warfen sie in Wetter und Wind auf die nächtliche Landstraße.
Das Kohlengebiet Deutschlands, das über den Bedarf des Vaterlandes hinaus die kohlenarmen Auslandvölker mit Brennstoff in täglich rollenden Eisenbahnzügen versorgt hatte, wurde von den fremden Truppen umzingelt, nach jeder Himmelsrichtung durchquert, mit einem Netz von Truppen belegt. Die Behörden wurden unter die Gewalt der Generale gestellt, die Beamten, die sich auf ihren der deutschen Regierung geleisteten Eid beriefen, wie Verbrecher behandelt und aus der Heimat gejagt. Mit ihnen die Tausende der Eisenbahnerfamilien, deren Häuser und Hütten mitsamt dem ganzen, mühsam erworbenen, Eltern und Kindern ans Herz gewachsenen Hausrat den ins Land gezogenen fremdländischen Beamten und Arbeitern zur Wohnung überwiesen wurden. Seltsame Lasten trug der Rheinstrom. Schiffe fuhren in Todesschweigen zu Tal, vollgepfropft mit Männern und Frauen, Kindern und Greisen, die aus dem Moselland kamen, aus Hunsrück und Eifel, und in einem Rheinhafen verladen wurden mitsamt den rheinischen Schicksalsgefährten. Und alle saßen auf ihren Bündeln und starrten wie Vertriebene und fassungslose Auswanderer rückwärts auf die entschwindenden Ufer der Heimatgefilde.
Die Regierenden des Deutschen Reiches riefen ihnen zu: »Mut! Haltet aus! Wir verlassen euch nicht. Wir übernehmen die Sorge. Baut auf den Dank des Vaterlandes, ihr Treuesten der Treuen!« Und die Treuesten der Rheinländer und Westfalen nahmen Elend und Entbehrungen, Mißhandlungen, Kerker und Verbannung auf sich und bauten auf der Regierenden Wort.
Einen Schritt weiter taten die fremden Gewalthaber. Sie bemächtigten sich unter dem Schutz ihrer Kanonen und gepanzerten Tanks, ihrer Maschinengewehre und ihrer Bajonette der Zechen und Kohlenhalden und befahlen, von Stund an die Ausbeute zum Verkauf in ihre Länder zu schaffen. Hunderttausend deutsche Arbeiter und Beamte des Bergbaues und der verarbeitenden Industrie lehnten es ab, am Vaterlande meineidig zu werden. Da man die Kohlenzechen nicht entvölkern konnte, ohne sie durch die steigenden Grundwasser ersaufen zu lassen, so griff man die Führer und stellte sie vor die Kriegsgerichte und gab die Masse dem Hunger preis. Soldaten aber und fremdländische Arbeiter gaben sich daran, die reichen Vorräte der Kohlenhalden auf Eisenbahnzüge zu laden und abzufahren. Durch die Welt ging ein Grinsen. Die Hemmungen waren besiegt. Der deutsche Narr hatte das Nachsehen wie der Michel im Hanswurstspiel.
Die bekränzten Beutezüge rumpelten aus den Bahnhöfen.
Einmal, zweimal krachten nervenzerreißende Donnerschläge, rollte das Echo über die Ruhr. Ein Tunnel war zusammengebrochen wie ein Kartenhaus, und in den erstickenden Erd- und Steinmassen lag ein Kohlenzug begraben. Eine eiserne Brücke war klirrend auseinandergerissen, und ihr wildwogendes Gestänge hatte einen Kohlenzug in die Tiefe geschleudert.
Und wieder und wieder krachten die nervenzerreißenden Schläge, als wäre der Gott der alten Germanen, als wäre Asathor selber am Werk. Eine Böschung war zu Staub zermalmt, und ein Kohlenzug lag auf dem Rücken. Ein Stellwerk war in die Luft geflogen, und ein Kohlenzug hatte den anderen gerammt, daß die Trümmer auf Wochen jede Ausfahrt versperrten.
Im Gesicht der Welt gewann das Staunen die Oberhand.
Hatte man den deutschen Narren unterschätzt? Wollte der Michel im Hanswurstspiel den Teufel betrügen?
In den unterjochten Ländern an Rhein und Ruhr aber war der heiße Jubel kaum noch zu unterdrücken. Männer im Bürgerrock und Männer im Arbeiterhemd drückten sich auf den Straßen die Hände, Menschen, die sich nie gekannt hatten, fielen sich um den Hals, schlugen sich auf die Schulter, riefen sich ein erregtes »Glückauf« entgegen. Was keiner mehr zu glauben sich getraut hatte, es war dennoch wahr! Es gab noch Männer in Deutschland, Tatmenschen, todverspottende Vaterlandssöhne! Und wo einer dieser Männer aus dem Dunkel auftauchte, verfolgt, verwundet, von den Feinden verfehmt, da versteckte man ihn wie einen heißgeliebten Bruder, pflegte und stärkte ihn und brachte ihn auf Schleichwegen mit Einsetzung des eigenen Lebens über die Grenze. Und kein Wort verlautete.
Immer neue Meldungen der Stoßtruppführer liefen bei der Leitung in München ein. Immer neue Weisungen gingen durch Sendboten hinaus. Immer neue Aufgaben erwuchsen Friedrich Thorsberg und seinem kaltwägenden Helfer Lenbach zu den alten. Die Sprengstoffmengen mußten ergänzt, eingeschmuggelt, an die Plätze der nächsten Handlungen herangebracht werden. Das ging ein jedesmal auf Leben und Tod. Frische Stoßtrupps mußten gebildet, die alten abgelöst werden. Und die einen wußten nicht, ob sie die anderen wiedersahen.
Das Lied der namenlosen Helden an Rhein und Ruhr zog durch Deutschland wie ein Frühlingsbrausen.
Und die Völker rundum hörten es mit schweigendem Ernst und einige mit Ergriffenheit, und es zog über die Meere.
Im weiten Vaterlande aber schwuren sich die Menschen zu einer ewigen Dankgemeinde zusammen, und die Regierenden druckten neues Geld, ob sie das alte dadurch auch immer mehr entwerteten, um den arbeitslosen Massen der Volksgenossen an Rhein und Ruhr einen Ehrensold zu zahlen und ihnen den Trutznacken zu steifen.
Zu neuen Mitteln griffen die fremden Gewalthaber, um sich der ersehnten Bodenschätze zu bemächtigen. Die zerstörten Eisenbahnen mußten mühsam neuaufgebaut werden. So gingen sie daran, die Rheinschiffe zu beschlagnahmen und durch die Kanäle in die Binnenhäfen des Kohlengebiets zu schaffen. Zahllose Hände wurden mit der Ladung der Riesenfrachtkähne beschäftigt.
Unverzüglich arbeitete Friedrich Thorsberg mit dem Oberst Lenbach neue Pläne aus. Oft schliefen sie nur ein paar Nachtstunden in den Kleidern. Und auch dann war es, als ob ihre Gedanken weiterarbeiteten.
In diese Zeit fiel ein Besuch Karl Thorsbergs bei dem Bruder. Der Oberst war anwesend. Karl Thorsberg teilte den Herren mit, daß er auf einen neugeschaffenen Posten in die Regierung des Landes berufen sei.
Friedrich Thorsberg reichte ihm ernst die Hand.
»Gott mit dir, Karl, mit dem Reich und mit Bayern. Hilf, daß immer das Reich vorweggeht.«
»In die hürdenlose Herde bricht der Wolf,« sagte der Oberst knapp. »Und der Wolf geht um.«
»Ich komme,« begann Karl Thorsberg aufs neue, »um die Herren zu ersuchen, mich auf unbestimmte Zeit von der Mitarbeit zu entbinden. Alle meine Kräfte – und Sie werden das verstehen – müssen jetzt für die Aufgaben meines Amtes eingesetzt werden.«
»Du willst uns verlassen, Karl? In der allerbrennendsten Zeit?«
»Nicht verlassen. Niemals. Die Unterstützungsmittel bleiben unverändert an der Kasse des Bankhauses bereitgestellt. Nur um eine zeitweilige Beurlaubung handelt es sich. Ich übernehme den Regierungsposten parteilos und muß deshalb über den Parteien stehen, also unbelastet. Bis das Ziel erreicht ist. Sorgen Sie, daß ich jederzeit auf Sie und Ihre Leute zählen kann, wie Sie immer auf mich zählen können.«
»Der letzte Satz war der Hauptsatz,« sagte der Oberst, als die beiden Freunde allein zurückgeblieben waren, »und von diesem Satz war wiederum die erste Hälfte der Hauptteil.«
»Lenbach,« entgegnete Friedrich Thorsberg nach kurzem, scharfem Sinnen, »übernehmen Sie das Arbeitsgebiet in den Vaterländischen Vereinen. Ein kühlblickender Mann gehört auf den Posten, der jeden Wolf abwehrt. Ich selbst werde in der nächsten Zeit draußen nötig sein. Der Feind will wie vor Jahrhunderten mit den Landsknechten deutsches Land erkämpfen. Er will den Rhein. Den Rheinstaat. Den französischen Rheinstaat. Das ist die Staffel. Den Rhein hat er in der Hand; den Rheinstaat sollen ihm seine deutschen Landsknechte, die rheinischen Sonderbündler, schaffen; den französischen Rheinstaat schafft er dann über Nacht ohne die betrogenen Landesverräter. Wir werden, Lenbach, in den nächsten Monaten ein jeder für sich arbeiten müssen und uns doch auf Schritt und Tritt ergänzen.«
Dann nahmen sie noch einmal den Plan zur Hand, in dessen Durcharbeitung sie der Eintritt Karl Thorsbergs gestört hatte.
»Mit der Ausführungsleitung ist der Doktor Arnold Wilde betraut, Thorsberg. Sie kennen ihn ja.«
Friedrich Thorsberg blickte auf. Und dann blickte er gedankenvoll zum Fenster hinaus.
»Es ist das bisher größte und gefährlichste Unternehmen. Es wird gut sein, daß ich mich selber in der Nähe halte.«
Am andern Tage schon reiste er ab und gelangte mit gefälschten Papieren ins Rheinland. Für die Fahrt im eigenen Vaterland muß ich ein Fälscher werden, dachte er. So krank ist die Zeit.
Auf Umwegen gelangte er ins Ruhrgebiet. Als Spaziergänger kam er in die Zechenstadt, die einem der größten Binnenhäfen am Kanalnetz zunächst gelegen war. Ein wasserreicher Fluß speiste die Kanäle. Erst jenseits des Flusses war Deutschland.
Im Binnenhafen lag die Flotte der kohlenbeladenen Rheinkähne abfahrtbereit. In langer Reihe sollten sie in den Kanal einfahren und den freien Rheinwasserweg erreichen. Das vorderste Kahnschiff, mit einer Hilfsmaschine versehen, lag dicht vor der Einmündung in den Kanal.
Mit beginnender Dunkelheit durfte keine bürgerliche Person bei Gefahr des Erschossenwerdens das Hafengebiet betreten.
Zwischen dem Grenzfluß und dem tiefen Einschnitt des Kanals lagen die Wiesen im ersten Schnitt. Das gehäufelte Heu duftete süß und betäubend durch den Sommerabend. Ein paar Feldarbeiter waren noch emsig mit dem Rechen beschäftigt und häuften das rauschende Heu für die Abfahrung zu kegelförmigen Bergen. Dann waren auch sie verschwunden.
Friedrich Thorsberg machte wie ein geruhsamer Spaziergänger kehrt und ging im Abendfrieden gemächlich der fernwinkenden Zechenstadt zu. In einem Bodenknick verschwand auch er.
Er lag in einem Brombeergestrüpp, und die Ranken rissen ihn blutig. Er bemerkte es garnicht. Auf seinen afrikanischen Jagden hatte er unter anderen Dornen auf dem Anstand gelegen und in der Anspannung aller Sinne die paar Blutstropfen nicht beachtet. Er atmete so leise, daß sein Gehör den feinsten Ton behorchte. Und seine Augen durchdrangen die Dämmerung.
Menschenleer lag das Gelände. Kaum etwas anderes noch vernahm er als das Ticken seiner Taschenuhr, die Minute auf Minute abhastete mit der enteilenden Stunde. Halt – jetzt! Er hielt auch den leisen Atem an. Ein paar Soldaten auf dem Böschungsweg. Sie machten gelassen die Runde. Die Fünkchen ihrer Zigarette glimmerten durch das Dunkel, irrlichterten weiter und weiter und erloschen. Mit angespanntem Ohr horchte er auf die Schritte. Sie verloren sich in der Ferne und kehrten nicht wieder. Behutsam kroch der Harrende aus dem Versteck, sicherte nach allen Seiten und glitt schattengleich über den Wiesengrund, um hinter dem nächsten der hohen Heuhaufen haltzumachen.
Wieder wartete er die Stunden ab. Der zunehmende Mond verstreute ein blasses Licht. Mitternacht mußte längst vorüber sein. Und mit einem Male reckte er den Kopf. Sein geschärftes Auge glaubte Schatten gesehen Zu haben. Auch die Heuhaufen näher dem Kanal bargen Leben. Ah – die verschwundenen Feldarbeiter. So hatte er es sich gedacht. Und die Schatten glitten die Böschung hinab, ließen das Kanalwasser leise erzittern, erhaschten die Planken des vordersten Kahnes und huschten nach hinten.
Ein kurzes Geräusch. Als ob ein Mensch im Schlafe stöhnte. Vom nächtlichen Schweigen wieder verschlungen. Und wieder ein Geräusch. Als ob der Nachtwind in Fernsprechdrähten singe. Das war die kleine elektrische Hilfsmaschine, die im Kahnschiff angekurbelt wurde. Friedrich Thorsberg lag in knieender Stellung. Bereit, in jeder Sekunde aufzuspringen. Seine Nerven wußten es: dies war der Augenblick der Entscheidung. In zwei Minuten mußte es geschehen sein, oder die Tapferen waren verloren. Und plötzlich dachte er an die gläubig vertrauende Zwillingsschwester des Mannes, der dort sein Leben wagte in der deutschen Abwehr. Er war ihr verantwortlich für den bekehrten Bruder.
Der Kohlenkahn begann sich zu drehen und gegen die Einmündung in den Kanal Zu treiben. Mit der ganzen Breitseite legte er sich wie ein Riegel querüber vor den Eingang. Herr des Himmels und der Erde – auf einem der vorderen Kahnschiffe blitzte eine Laterne auf. Eine Stimme schrie herüber. Auf einem zweiten, einem dritten Kahn erwachte Leben. Die Schiffer fuchtelten mit den Laternen durch die Luft und schrieen sich verwirrte Fragen und Antworten zu.
Und jählings begann das breitvorgelagerte Kahnschiff dicht vor dem Kanalmund zu sinken, als würde es von den gurgelnden Wassern weggeschluckt. Friedrich Thorsberg fühlte sein Herz an die Rippen schlagen, aber sein Kopf blieb kühl.
Wieder hatte er die Schatten gewahrt, kurz bevor das Schiff nach dumpfem Schlage wegsackte. Vier Männer waren es, die über das Kanalwasser hastig ein Bündel stießen und es auf die Böschung hoben. Einen menschlichen Körper. Sie muhten ihn liegen lassen, die Meute war ihnen auf den Fersen. Friedrich Thorsberg stand vor ihnen: »Gut Freund! Rettet euch! Für den hier sorge ich!« Und von der Nacht waren die vier Schatten aufgesogen.
»Professor Thorsberg!« murmelte am Boden der Verletzte verblüfft. »Wie kommen Sie hierher?«
Er ahnt nicht, daß ich der Kopf bin, blitzte es durch des Helfers Hirn.
»Hände hoch!« donnerten Stimmen. Die bewaffnete Runde tauchte vor ihnen auf. Drei Gewehrläufe richteten sich gegen ihre Brust. Wie ein Gnadeflehender sank Friedrich Thorsberg augenblicks in die Knie.
»Feigling!« murmelte der Verletzte und spie aus.
Hintereinander drei Schüsse. Wie gejagt. Die Gewehrläufe fort. Drei Körper auf dem Boden, brüllende Menschen in wilden Zuckungen.
»Können Sie laufen, Arnold Wilde? Nur die kurze Strecke bis zum Fluß! Auf! Reißen Sie das Letzte zusammen.«
In jäher Willenlosigkeit hatte sich der Mann emporziehen lassen. Friedrich Thorsbergs Arm lag um seine Hüfte. So liefen sie quer über den dunklen Wiesenstrich zum Fluß. Wortlos. Mit letzter Hergabe des Atems.
»Halt! Erst horchen! Jetzt hat man die Niedergeknallten statt uns. Jetzt sucht man uns in den Heuhaufen. Wir müssen über den Fluß. Drüben lachen mir sie aus, Arnold. Wird's mit dem Schwimmen gehen, wenn ich helfe? Nein? Was ist's?«
»Der linke Arm ist gebrochen.«
»Legen Sie mir den rechten um den Nacken. Zähne zusammen. Und nun leise hinein wie die Fischottern.«
Schrittweise ging er ins Wasser und zog behutsam den Gefährten nach. Die breite Brust atmete tief die Luft in die Lungen, preßte sie aus, atmete ruhig. Die Muskeln spannten sich. Und er stieß vom Boden ab und schwamm.
Das verlassene Ufer wurde voll Lärm. Befehlsworte tönten. Schüsse krachten in die Dunkelheit hinein, und die Kugeln peitschten das Wasser. »Einmal müssen wir tauchen, Arnold. Halten Sie fest.« Und eine weitere Strecke stromab tauchte er wieder empor, gewann in der Dunkelheit das jenseitige Ufer und zog den Bewußtlosgewordenen nach.
»Siehst du, Martha Wilde?« sagte er nach Atem ringend. »Ich schwimme nicht zum erstenmal – um Leben – und Ehre.«
Dann beugte er sich über den Bewußtlosen. Unter seinen griffgewohnten Händen schlug der todblasse Mensch bald verwundert die Augen auf.
»Es ist nichts, Freund. Nur einen Liter Flußwasser geschluckt und gerade wieder ausgespuckt. Dafür sind wir – in der Freiheit.«
Arnold Wilde stieß ein Lachen hervor. Und das Lachen vergurgelte, als ob ein Mensch mit einem Weinkrampf kämpfte.
»Es ist – nur die Erregung, Professor Thorsberg. Ich bin seit kurzem verlobt. – Fast wäre auch dieses Glück – aus gewesen.«
»Das sollen Sie mir alles später erzählen, Arnold. In einer halben Stunde wird's hell. Es ist besser, wir befinden uns dann nicht mehr in Sicht. Es gibt auch verirrte Flintenkugeln. Und nun werde ich Sie landeinwärts schleppen.«
Am nächsten Gehöft klopfte er den Besitzer heraus, ließ für Geld und gute Worte warme Kleider herleihen und einen Wagen anspannen und lieferte in der Morgenfrühe den Fiebernden im Krankenhause eines westfälischen Landsstädtchens ab.
»Sie nennen meinen Namen nicht! Hören Sie, Arnold? Sie nennen mich im Krankenhause Doktor Friedrich. Ich gebe Ihnen schon die Erklärung. Vorläufig genügt's, daß Sie auf einer gemeinsamen Nachtwanderung auf glattgewaschenem Ufergestein abgeglitten sind, den Arm gebrochen und außerdem ein unfreiwilliges Bad genommen haben.«
Diese Mitteilungen machten sie dem behandelnden Arzt, und eine halbe Stunde später lag Arnold Wilde mit geschientem Arm im Bette eines freundlichen Krankenzimmers, und Friedrich Thorsberg saß bei ihm und prüfte seinen Puls.
»Acht Tage werden Sie sich ruhig verhalten müssen. Das ist gleichzeitig eine gute Erholung Ihrer Nerven. Ich bleibe bis morgen, um sicher zu sein, daß es sich nur um ein vorübergehendes Erkältungsfieber handelt. Ihrer Schwester drahte ich. Wohin?«
»Sie wartet in der westfälischen Stadt Münster.« Und er nannte den Gasthof. »Sagen Sie mir endlich, Herr Professor, wie Sie im furchtbarsten Augenblick meines Lebens an den Kanal kamen? Mein Hirn gibt keine Ruhe!«
Friedrich Thorsberg legte dem Kranken wie ein sorgender Arzt die Hand auf die Stirn.
»Sie sind mein Bruder geworden, Arnold. Durch Ihre aufopfernde Vaterlandstat. Und darum dürfen Sie es wissen, daß in der großen Abwehrbewegung nichts geschieht, ohne daß ich es angeordnet habe, ohne daß mein Auge wacht.«
Der Kranke tat ein paar ganz tiefe Atemzüge. Er nahm die beruhigende Hand von seiner Stirn und legte sie an seine Wange. Seine Augen lächelten ins Leere.
»Meister ...« sagte er. Und dann schlief er in ruhigen Zügen ein.
Friedrich Thorsberg erhob sich leise. Der Gedanke an die eigene Müdigkeit wollte ihm nicht kommen. Er verließ das Krankenhaus, suchte das Postamt und drahtete an Fräulein Martha Wilde.
»Alles gut erledigt. Erwarte mich morgen abend. Arnold.«
Er aß in einem Gasthaus, trank ein Glas Wein und begab sich zum Krankenhaus zurück. Von der Krankenschwester hörte er, daß die nassen Kleider zum Trocknen und Herrichten in eine Schneiderwerkstätte geschickt worden seien. Er dankte der freundlichen Sorgerin herzlich und saß am Bette des Schläfers, bis am Nachmittag Arnold Wilde groß die Augen aufschlug. Und das letzte Wort des Kranken wurde wieder sein erstes: »Meister.«
»Das war ein braver Schlaf, Arnold. Und die Martha in Münster wird diese Nacht auch gut schlafen. Ich drahtete ihr: ›Alles gut erledigt. Erwarte mich morgen abend. Arnold.‹ Statt des Arnold wird sie zwar mich zu sehen bekommen.«
»Ich danke Ihnen, Herr Professor. Mir ist so wohl.«
»Das tut das Bewußtsein einer Mannestat. Sie trägt uns auf Flügeln über uns selbst hinaus und gibt dem alltäglichen Leben erst den Feiertagsgehalt.«
»Ich spüre ihn, Professor Thorsberg – ach, Doktor Friedrich muß ich ja sagen.«
»Weshalb legten die Kameraden Sie nieder?«
»Ich gab ihnen den Befehl. Ich war der Anführer. Vier Leben konnten gerettet werden. Mit mir belastet, waren fünf verloren.«
»Recht gehandelt. Sie trugen für die andern die Verantwortung. Und wie brachen Sie den Arm?«
»Ich stolperte in der Luke, in der wir die Sprengladung mit dem Minutenzünder legten, über eine Kette. Die Kameraden rissen mich schleunigst hoch und über Bord. Aber das Leben danke ich doch nur Ihnen. Ich – und meine Braut.«
»Erzählen Sie mir von ihr, Arnold. Es kann Ihnen nichts schaden.«
»Es ist nur eine Armeleutegeschichte von heute,« sagte Arnold Wilde. »Sie war meine Studentenliebe vom Rhein und vor dem großen Kriege schon kein vermögendes Mädchen. Aber der Krieg hat sie ganz arm gemacht und die Nachkriegszeit zu einer Dienenden. Sie mußte Stellung in einem Haushalt nehmen, hieß Fräulein und war dafür der Packesel für alle, nicht ganz Dienstbote und noch lange nicht ganz Dame. Daher eilte es mir mit meiner Anstellung, daher eilt es mir jetzt mit der Niederlassung als Arzt. Um meinem Mädchen aus der Zwitterstellung herauszuhelfen. Um ihr den Glauben an ihren Mann zu geben. Arme Leute – haben – nämlich auch ihren Reichtum. Ihre Liebe – kann glühen – wie das Morgenrot und das Abendrot – und dem Tag – Zweck und Ziel geben.«
Er verstummte, und Friedrich Thorsberg blickte ihn lange an. Ihn und seinen Reichtum.
»Und wo gedachten Sie sich als Arzt niederzulassen? Sie wissen es nicht? Ja, der Überschuß an Ärzten ist groß und vielerorts Schmalhans Küchenmeister. Lassen Sie mich nachdenken!«
In den fiebrigen Augen des Kranken blitzte es auf. Seine Augen richteten sich in erregter Kindererwartung auf den ernsten Mann.
»Ich möchte Sie am Rhein haben, Arnold, mitten im bedrängten Gebiet. Als Horchposten. Sie sehen, ich tue nichts umsonst, und mit dem großen Wohltäter ist es nichts. Ich wüßte am Mittelrhein einen hübschen Ort. Der nächste Arzt wohnt eine gute halbe Wegstunde weit; das ist den meisten zu beschwerlich, und sie kurpfuschen mit Hilfe des Bartscherers im Hause. Der Ortsvorsteher ist mein Freund, und andere gesetzte Männer im Ort sind mir nicht weniger Freund. Die Thorsbergsche Familie hat seit alters her eine kleine Waldbesitzung dort mit einer Burgruine und einem Wohnturm. Ich werde heute noch an den Ortsvorsteher schreiben und ihn bitten, Ihnen ein kleines Haus freizumachen und Ihnen Eingang in die Ortsbevölkerung zu verschaffen – falls Sie einverstanden sind.«
»Herr Professor – – –«
»Gut. Jetzt schlafen Sie noch einmal rundherum. Ich gehe in den Gasthof und schreibe den Brief. Dann können Sie in vierzehn Tagen Ihr ärztliches Schild heraushängen. Still, wenn ich bitten darf. Augen zu.«
Am Abend kam er wieder. Aus einem Buchladen hatte Friedrich Thorsberg die Abendzeitung mitgebracht, und er las einen Abschnitt dem aufhorchenden jungen Freunde vor. Es war die Nachricht von der gewaltsamen und tollkühnen Sperrung des Binnenhafens durch die Versenkung eines großen Kohlenschiffes quer vor der Einfahrt in den Kanal. Die Wiederfreimachung des Fahrwassers würde Wochen angestrengtester Arbeit in Anspruch nehmen. Inzwischen läge die ganze, hoch mit Kohlen beladene Schiffsflotte still und ausgeschaltet. Die Täter hätten auf der Flucht mehrere Soldaten niedergeschossen und wären im Dunkel der Nacht über den Fluß entkommen. Ohne sich zu regen, lag Arnold Wilde in den Kissen. Und doch spürte er, wie ihm unsichtbare Schwingen wuchsen, die ihn hinauftrugen in die Höhen der sehend gewordenen Männer.
Am anderen Morgen kaufte sich Friedrich Thorsberg die neueste Zeitung aus Münster. Sofort fiel sein Auge auf eine Bekanntmachung, die die fremden Gewaltanmaßer für das von ihnen besetzte Gebiet erlassen hatten. Der Städteumkreis, der den Binnenhafen umschloß, war mit schweren Strafen belegt. Jede Handlung, die auf Sachzerstörung oder Störung des Verkehrs gerichtet war, selbst der Versuch hierzu, wurde mit der Todesstrafe bedroht.
Auch dieses Blatt zeigte Friedrich Thorsberg Arnold Wilde. Die Männer sahen sich mit ernsten Augen an. Einer las im Auge des andern die stumme Frage: Wer wird der erste sein?
Am späten Nachmittag reiste Friedrich Thorsberg ab. Er hinterließ für den jungen Freund zur persönlichen Abgabe ein Beglaubigungsschreiben an den Ortsvorsteher Gotthold und nahm von Arnold Wilde ein verschlossenes Bleistiftbriefchen an die Schwester in Empfang.
»Glückauf!«
»Glückauf!« –
Am Abend stand Friedrich Thorsberg im Gasthauszimmer Martha Wildes in der Stadt Münster. Sie war auf das Anklopfen zur Tür geeilt, in der glückseligen Erwartung des geretteten Bruders. Die erhobenen Arme sanken ihr hinab. Sprachlos starrte sie auf den unerwarteten Gast. Und dann stieg ihr langsam die Freude des Wiedersehens in die Wangen.
»Ja, liebe Freundin, nun müssen Sie mit mir vorliebnehmen. Erschrecken Sie nicht. Dem Bruder Arnold geht es nicht schlecht, und zum Zeugnis sendet er Ihnen diese selbstgeschriebenen Zeilen.« Noch immer wortlos nahm sie sie mit leise zitternder Hand, öffnete den Umschlag, las.
Friedrich Thorsberg stand vor ihr und betrachtete sie. Ihre große, gesunde Gestalt. Ihr klares Antlitz in den feinen Farben der rothaarigen Menschen. Die satte Fülle des Haares. Ein Duft ging von ihr aus von Frische und Lebensfreude, von Frauenwärme, von reinem Weibtum. Er sog ihn ein und sah sie an.
Martha Wilde ging zum Tisch, legte das Blatt hin, legte die Hände über die Augen.
»Der Schwärmer hat mich wohl stark herausgestrichen? Der liebe, tapfere, deutsche Held.«
»Ich weiß keinen Dank für Sie,« murmelte das Mädchen. »So arm habe ich mich noch nie gefühlt. Wüßte ich doch nur einen Dank.«
»Wenn Sie mir wirklich etwas zu Dank tun wollten – ich wüßte es, Martha.«
Sie wandte sich hastig ihm zu. Ihre Augen befragten ihn.
»Nehmen Sie mich ein einziges Mal ganz, ganz fest in Ihre lieben Arme. Ohne ein Wort. Ich habe die liebe Frauenwärme so lange nicht gespürt und weiß nur aus der Vergangenheit, wie wohl sie tut.«
Unbeweglich verharrte sie vor ihm. Blaß wie eine Entgeisterte. Und langsam hob sie mit einer rührenden Bewegung die Arme, legte sie ihm um den Nacken, zog sein schmal gewordenes Haupt fest, ganz fest an ihre Brust.
Friedrich Thorsberg schloß für Minuten die Augen. Seine Lippen lagen auf ihrem Herzen.
Dann verließ er sie schweigend, und der Sommerabend hatte den Duft und die Wärme einer lieben Frau.
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