Rudolf Herzog
Jungbrunnen
Rudolf Herzog

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»Weihnachtskonzert für Klavier und Violine«

Der dicke, graue Dezembernebel, der sich über Nacht in den Straßen zusammengeballt hatte, lag noch immer eingeklemmt zwischen den Häusern, widerstand dem Licht der Straßenlaternen, die man trotz der zehnten Morgenstunde hatte brennen lassen, nahm nur einen rötlich schimmernden Saum von ihm an und umgab alles Leben mit einer geheimnisvollen Lautlosigkeit. Das Geräusch der Straßenbahn wurde von ihm aufgesogen und auf dem Bürgersteig der hastende Schritt der Fußgänger. Wo aus einem Ladenfenster grell und weiß der Schein elektrischer Lampen fiel, tauchten wie im Tanz Köpfe und Gestalten im Lichtkegel auf, huschten vorbei und waren im Augenblick wie Gespenster verschwunden.

Vinzenz Torquist im langen Mantel mit hochgestülptem Kragen glitt über den Bürgersteig. Der weiche Filzhut saß ihm tief in der Stirn, und da das Kinn im Mantelkragen vergraben stak, waren in dem faltenreichen Gesicht nichts als die schmale Nase und die weitgeöffneten Augen erkennbar. Die schmale Nase aber sog den Nebel ein, als wäre er gesättigt von dem Weihrauchduft eines Mysteriums, und die Augen forschten in die graue, rötlich beschienene Finsternis mit dem glänzenden Blick eines Wundersehers. Wenn sein derbbeschuhter Fuß unsanft gegen einen Treppenstein stieß oder Knie und Ellbogen der langen Gestalt mit den Gliedmaßen einer jäh aus dem Dunkel emporgewachsenen Person zusammenprallten, tönte aus der Tiefe des Mantelkragens ein heiteres Lachen.

»Es ist wunderschön ...«

Wieder trieb ein Ladenfenster seinen Lichtkegel in die Nebelmasse. »Musikalienhandlung von Peter Hartmann sel. Erben« stand in bunter Glasmosaik zwischen Notenheften, Blas- und Streichinstrumenten und den Gipsmasken großer Tonkünstler zu lesen. Und Vinzenz Torquist las, sog noch einmal tief den Nebel ein, lachte mit Augen, die da sprachen: ›Ich weiß, ich weiß‹, in die dicht verschleierte Welt und trat in den Laden.

»Guten Morgen, Peter Hartmann selig Erben.«

»Guten Morgen, großer Kindskopf.«

»Du, bring dich nicht von vornherein in Nachteil. Das ist heute ein Fest für Kinder. Nur Kindsköpfe haben den Gewinn davon.«

»Solch ein Weihnachtswetter,« brummte der Musikalienhändler. »Ist das bei Gott erlaubt? Nicht die Hand vor den Augen sieht man, geschweige meinen Laden.«

Vinzenz Torquist legte seinen nebelfeuchten Hut auf einen Stuhl und klappte den Mantelkragen nieder. Sein bartloses Gesicht war von der Luft gerötet, sein angegrautes Haar zog sich in Kringeln um seine Stirn.

»Sieh einmal, Peterlein, es war zu warm in den letzten Tagen, als daß Schnee hätte fallen können. Nun bescherst du deinen Kindern doch auch nicht, indem du vor ihren Augen in der offenen Stube deine Geschenke nur so aufbaust. Das Geben muß von einem geheimnisvollen, ich möchte fast sagen göttlichen Schleier umhüllt sein. Ein Wunder vollzieht sich aus dem Nichts. Und du als der Gebende spürst etwas in dir wie ein Geadeltwerden, weil du dies Wunder vollziehen durftest, und bist plötzlich wer. Und viel mehr als ein Musikalienhändler. Verstehst du das?«

»Ich wollt',« meinte der Musikalienhändler lachend, »ich kriegte deine beneidenswerte Seele zu Weihnachten. Die Verpackung wollte ich schon liefern. Und nun komm mal nach hinten ins warme Kontorstübchen, denn dein göttlicher Nebel scheucht mir ja doch die Kundschaft weg.«

»Ist es angekommen, Peter?«

»Was?«

»Gott, gibt es denn was anderes auf dem Musikalienmarkt? Das ›Weihnachtskonzert‹ von Amadeus Torquist. Das ›Weihnachtskonzert für Klavier und Violine‹. Das neue Opus meines Bruders Amadeus.«

»Da liegt es. Ich habe es mir heute morgen im Kopf vorgespielt.«

»Schön?« fragte der Besucher hastig und griff nach dem Notenband.

»Es klingt prachtvoll,« antwortete der Musikalienhändler, »kostet aber auch zehn Mark.«

Vinzenz Torquist holte sein Geldbeutelchen hervor und zählte die Silberstücke leise auf den Tisch. Und ohne aufzublicken, fragte er, über das ganze Gesicht errötend: »Bekomme ich Rabatt?«

»Du bekommst es für sieben Mark und fünfzig.«

»Schönen Dank. Willst du nachzählen?«

»Es stimmt,« sagte der Musikalienhändler. Und während er das Geld einstrich, meinte er kopfschüttelnd: »Wundern tut's mich doch, daß dein berühmter Bruder dir das nicht einfach ins Haus schickt.«

»Der hat an anderes zu denken, Peterlein, als wir armen Schächer.«

»Auch daran, daß du nun schon seit acht Jahren seine Tochter bei dir hast?«

»Aber das ist doch gerade das großartig Brüderliche an ihm, daß er mir das Kind gab. Denk doch einmal darüber nach! Mir als Junggesellen vertraute er seine Rosemaria an. Wer hätt' das wohl getan?«

»Er konnte sie eben nicht mitnehmen auf seinen Künstlerfahrten, und bei dir hatte sie obenein den besten Musikunterricht der Welt. Das ist kein großes Rechenexempel, mein Lieber.«

Vinzenz Torquist erhob sich. Eine ärgerliche Falte erschien auf seiner Stirn.

»Du mußt die Menschen nicht nach deiner Rechenkunst beurteilen, Peter. Wir nähmen uns selber ja die Freude am Leben.«

Er griff den Notenband vom Tisch auf. Als die Finger ihn berührten, kehrte das alte Leuchten in seine Augen zurück, und die Finger strichen zärtlich über die Blätter.

»Wie ich mich auf die Musik da freue. Rosemaria bekommt sie zu Weihnachten. Heute abend wird sie gespielt. Komm morgen in der Frühe zu uns und hör' sie dir an.«

»Wie alt ist deine Nichte jetzt?«

»Sie ist sechzehn. Aber sie ist meine Nichte nicht, sie ist mein Kind. Und, Peterlein, eine Geigerin von Gottes Gnaden.«

Der Freund nickte. »Ich sah sie kürzlich. Sie ist ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.«

Da ergriff Vinzenz Torquist Peter Hartmanns Hand, als müsse er ihm für das Wort einen Dank sagen.

»Sie war schön, die Margareta, sie war die Schönste, die es auf der Erde gab. Das meintest du doch damit.«

»Sie war deine Braut, Vinzenz. Und heiratete deinen Bruder.«

Aber diese Erinnerung schien den fröhlichen Mann nur noch heiterer zu stimmen. »Es war eine Frechheit von mir. Gelt, Peterlein, ich war in meiner Jugend ein frecher Dachs? Die Allerschönste – gerade gut genug für den Vinzenz Torquist! So eine Narrheit! Aber, gottlob, die Margareta wurde zeitig genug von der Narrheit geheilt, als sie den Amadeus sah, dem damals schon die Leute auf der Straße nachliefen. Solch ein Genie war der. Ein Meister auf dem Flügel. Ich daneben nur ein gut empfindsamer Magister. Schönheit und Genie aber gehören zusammen wie zwei edle Rosse vor Apollos Sonnenwagen. Da hat sie das Leben gefunden, das zu ihr paßte, und ich habe sie nicht unglücklich gemacht. Ich bin sehr froh darüber.«

»Und glücklich? Mit dem Schemen in der Hand?«

Vinzenz Torquist sah den Freund verwundert an.

»Du weißt wirklich zuweilen nicht, was du sprichst. Ist es nicht etwas Tatsächliches, das Kind? Und ist es nicht ein Glücksfall, daß ich sie nach ihrer Mutter Tod bekommen durfte und sie aufziehen und aus der Knospe entwickeln und mich an all dem Frühlingszauber freuen durfte? Und Zeuge sein durfte dieser unglaublichen musikalischen Begabung?«

»Die du so sehr fördertest und steigertest, daß du die meisten deiner Unterrichtstunden in der Stadt und dich selber darüber vergaßest. Erst opfertest du dein Glück dem Bruder und dann dein Leben dem Mädchen. Wer vergilt dir das?«

»Die Freude vergilt mir das. Aber der läßt sich mit deinem Einmaleins nicht beikommen. Nichts für ungut, Peterlein, und fröhliche Weihnachten dir und den Deinen.«

»Morgen in der Frühe komme ich, das ›Weihnachtskonzert‹ zu hören.« –

Vinzenz Torquist glitt, das Paket fest an sich gepreßt, durch den rötlichen Nebel. Das Gespräch hatte er schon vergessen. Ihm war ganz feierlich zumute in der Undurchsichtigkeit der Luft. Ihm war, als ob unter den deckenden Nebelschleiern, unverletzt von den Blicken der Menge, eine lächelnde Mutter ein Kind erzeuge, einen Heiland der Menschenseelen, dessen Sendung es sei, die Sonne in die Welt zu tragen und alles Schwere leicht zu machen. So träumte er und stieß mit Knien und Ellbogen gegen Vorübergehende und Entgegenkommende.

»Es ist wunderschön ...«

*

Nach Mittag langte er zu Haus an. Er schleppte einen starken Tannenzweig die Treppe hinauf, den er rasch in seiner Schlafkammer barg. Auch das Notenpaket legte er dort nieder und ein paar Schächtelchen mit Wachsstöcken und Lebkuchen. Dann ging er, hart auftretend, als käme er erst jetzt heim, über den Flur zur Wohnstube.

»Guten Tag, Rosemaria! Ist die Suppe fertig?«

»Sie soll sofort auf den Tisch, Oheim.«

Rosemaria lief, und er sah ihr nach, wie sie in der Küche verschwand. »Sie ist wirklich so schön wie die Margareta oder doch wohl noch schöner,« sagte er sich und atmete tief und wohlig. »Und daß der Amadeus sie mir für die Margareta gab, das darf ich ihm nicht vergessen, das war eine brüderliche Tat.« Er lachte heiter in sich hinein. »Peter Hartmann selig Erben! Dieser alte Pessimist und Skeptiker! Nun, morgen spielen wir ihm das ›Weihnachtskonzert‹, daß ihm die Augen übergehen sollen!«

Rosemaria kehrte zurück und setzte den Suppennapf auf den Tisch. »Hoffentlich ist sie geraten, Oheim.«

»Prachtvoll, prachtvoll,« lobte er und hatte noch nicht den Löffel am Mund. «Was hast du getrieben, Kind?«

«Zwei Stunden Fingerübungen. Anderes ließ die Küche nicht zu.«

»Na, warte nur. Vom nächsten Jahr an muß es zu einer Köchin reichen. Und wenn ich den talentlosesten Rangen der Stadt die C-Dur-Tonleiter einpauken müßte.«

»Ach, Oheim, das wäre schade um dich.«

»Willst du mir ein Kompliment sagen, Kleine? Du spielst heute schon zehnmal besser als ich.«

Sie aßen ihre Teller leer und lehnten sich zurück. Die Lampe surrte und beschien das einfache Gemach, in dessen Ecke ein Flügel stand und ein Geigenpult. Die Bilder von Bach, Beethoven und Brahms blickten von den Wänden und unter einem Stich des Sonnenkindes Amadeus Mozart eine große und schöne Photographie von Amadeus Torquist.

Das Mädchen sah die Bilder mit versonnenen Augen an. Seine Gedanken waren noch bei dem Tischgespräch.

»Wie kam es, Oheim, daß du nicht einer wurdest wie diese da?«

»O du kindliche Einfalt. Es kann nicht jeder oben auf der Leiter stehen. Es muß auch welche geben, die die Leiter tragen und halten, damit sie nicht umfällt.«

»Ich weiß jetzt,« meinte das Mädchen nachdenklich, »daß ein ungeheurer Fleiß dazu gehört, um aus einem Talent mehr als ein Talent zu machen. Wenn ich bedenke, daß Mozart fünfunddreißig Jahre zählte, als er ins Grab mußte ... Und du hattest doch nicht nur den Fleiß, auch die Begabung. Woran lag es denn, Oheim?«

»Ich hatte keine Zeit.«

Sie sah ihn überrascht an, ob er scherzte, und schüttelte ernsthaft den Kopf. »Das mußt du auch nicht zum Spaß sagen, Oheim. Das sagen doch alle die vielen, die eine Ausrede haben müssen.«

Vinzenz Torquist klopfte ihr die Hand. »Kind, ich hatte wirklich keine Zeit. Mein Vater war ein tüchtiger Musikant, aber ein schlechter Geschäftsmann. Er hinterließ der Mutter nichts als die beiden Söhne mit den schönen Musikantennamen Vinzenz und Amadeus. Als der Amadeus geboren wurde, hatte sich sein Geschmack schon geklärt, sonst hätte ich sicher Johann Sebastian geheißen. Nun, ich mußte mit halber Ausbildung vom Konservatorium wieder herunter, um die Mutter zu ernähren. Mit Klavier- und Geigenstunden, weißt du? Und da blieb mir für mich keine Zeit.«

»Wie schwer muß dir das Handwerk geworden sein –«

»Schwer? Der Mutter ist es bei Lebzeiten des Vaters nie so gut gegangen. Da gab's kein ›schwer‹ mehr.«

»Und als Großmutter starb? Da konntest du doch zur reinen Kunst zurückkehren?«

»Da war der Amadeus auf dem Konservatorium, der konnte mehr als ich. Und ich sagte mir: besser ein Ganzer als zwei Halbe, und half ihm, damit der Junge mir nicht verhungerte. Das hat sich gelohnt, Rosemaria. Frag die musikalische Welt.«

Sie nickte vor sich hin. »Der Vater ...! So möchte ich auch werden.«

»Am ersten Januar kommt die Köchin.«

Da stand sie auf und fiel ihm um den Hals. »Ach du, es gibt ja keinen» der einem die Musik so erschließt wie du. Der so ganz und gar Musik ist, daß man nur hinzuhorchen braucht, um plötzlich alles zu verstehen. Ach du, wie bin ich dir dankbar für deinen Unterricht.«

Er horchte noch eine Weile in ihrer Umarmung, ob auch der liebende Mensch in ihm so ein wonniges Streicheln erhielte. Aber ihre Mädchenbegeisterung war bei der Kunst.

»Trag den Tisch ab. Bleib eine halbe Stunde in der Küche. Ich glaub' wahrhaftig – der Weihnachtsmann kommt.«

Da schob sie hastig das Geschirr auf das Servierbrett und lief hinaus.

Vinzenz Torquist aber holte behutsam den starken Tannenzweig aus seiner Schlafkammer, pflanzte ihn in einen großen Blumentopf und besteckte ihn mit den Wachsstöcken. Das verschnürte Notenpaket legte er links und die Lebkuchenschachteln rechts. Dann löschte er die Lampe aus, zündete die Wachsstöcke an und freute sich der aufgebauten Herrlichkeiten. Leise ging er zum Flügel und öffnete ihn. Und ohne sich zu setzen, schlug er ein paar Takte eines Weihnachtsliedes von Cornelius an. Erst als die Tür sich öffnete und Rosemaria langsam ins Zimmer trat, ließ er sich auf seinem alten Klavierschemel nieder und spielte das Lied vom Anfang zum Ende.

»Nun – Rosemaria?«

»Oheim – ich hab' – ein Kissen für dich gestickt – damit du – an mich denkst.«

»O du Verschwenderin! Brauch' ich ein Kissen? Soll ich noch fauler werden? Nein, wie köstlich das in den Farben ist! Das kann nur eine durch und durch harmonische Seele erfinden. Ach, komm her, ich geb' dir lieber einen Kuß. So. Und nun schau, ob auch dein Weihnachtsmann galant genug war.«

Er rieb sich heimlich die Hände, während sie eilig den Bindfaden des Pakets löste. Dann stand er ganz still und hielt den Atem an. Sie las: »Weihnachtskonzert von Amadeus Torquist. Für Klavier und Violine.« Ganz steif hielt sie den Notenband von sich. »Von meinem Vater ...« sagte sie, und ihre Augen leuchteten. »Er ist ein ganz Großer, mein Vater.«

»Das ist er, mein Kind. Wir können stolz auf ihn sein.«

Sie erwiderte nichts mehr. Sie hockte auf einem Stuhl und blätterte lesend in den Noten. Eine Reife, die weit über ihre Mädchenjahre ging, lag in ihren Augen. Und die Umwelt hatte sie vergessen.

»Wollen wir es gleich einmal spielen, Rosemaria?« fragte Vinzenz Torquist, scheu, als ob er sie der Störung wegen um Entschuldigung bitten müßte.

Sie nickte und las weiter ...

Es pochte an die Tür, und Vinzenz Torquist ging, um nachzusehen. »Eine Depesche?« meinte er verwundert. »Das hab' ich seit Jahr und Tag nicht erlebt. Ja, ja – Weihnachten ...« Und er faltete das Depeschenblatt auseinander. »Rosemaria!« rief er.

»Was ist, Oheim?«

»Von deinem Vater! Hör zu! Hörst du auch? Das ist das schönste aller Weihnachtsgeschenke! Amadeus kommt! Er kommt mit dem Kraftwagen in unsere Stadt und wird heute abend ein Stündchen mit uns zusammen sein, bevor er weiterfährt.«

»Oheim! – Oheim!«

Er hielt sie im Arm und streichelte sie. »Ach du mein Kleines, mein Dummes, wie sollte heute einer an anderes als an Geben und Schenken denken. Nur wer geben kann, hat die Reinheit der Freude.«

»Was sollen wir tun? Wie sollen wir ihn empfangen?«

»Komm, komm schnell. Wir spielen, so gut es geht, das ›Weihnachtskonzert‹ durch. Das Werk grüße den Meister.«

Mit erregten Händen teilten sie den Klavier- und Violinpart aus, und während Vinzenz Torquist, über die Schulter blickend, ein paar Akkorde anschlug, stimmte Rosemaria die Geige. Wirr quirlten die Töne unter dem Bogen hervor. Dann fanden sie sich in langem, breitem Strich.

»Fertig, Kleine?«

Das Kinn fest auf die Geige gelegt, den Bogen erhoben, stand sie wie mit geschlossenen Augen. Aber unter den gesenkten Wimpern ging ein scharfer Strahl zu den Noten hinüber, als müsse er die schwarzen Figuren wegschmelzen und ihre Seele bloßlegen.

»Fertig, Oheim.«

Er winkte. «Largo,« sagte er mit schwerer Zunge. Und unter seinen Händen begannen die Tasten feierlich und getragen die harrende Welt zu malen. Und die Geige setzte ein mit einem verhaltenen Sehnsuchtslied. Und die Nebel ballten sich und wogten unter Vinzenz Torquists Händen, und fern, ganz fern stieg der Stern auf von Bethlehem aus Rosemarias Geige. Der Schicksalskampf hob an in den Lüften, der Kampf des göttlichen Lichts mit den Nebeln der Erde, der Kampf zwischen der alten und neuen Welt, die sich in dieser Stunde loslöste aus der Jungfrau Maria Schoß.

Und wieder winkte Vinzenz Torquist, und wieder war seine Zunge schwer: »Allegro«.

Ein Ruf erscholl aus den Tasten, und die Geige trug ihn von der Erde zum Himmel. Ein Mutterruf. Glücksruf und Notruf zugleich. Jesus lebt! Christ ist erstanden! Mutterseligkeit und Mutterleid. »Mein Sohn, mein Sohn, den ich unter dem Herzen trug, mir gehörtest du bisher, mir ganz allein, und nun muß ich dich geben und lassen, denn deine Sendung ist mehr als ich.« Und Glücksruf und Notruf der Mutter wurde verschlungen vom Erlösungsschrei der Welt.

Die Geige übernahm die Führung des Nebensatzes. Der Gesang der Engel strömte aus ihren Saiten und wurde zu frommen Weihnachtsliedern der Menschen und löste sich in süßen, irdischen Melodien, die getragen waren von der Wonne und Kraft unvergänglicher Menschenhoffnungen ...

Vinzenz Torquist hob die Hände. »Amadeus?« fragte er in die Stille.

Rosemaria aber regte sich nicht. Das Kinn fest auf die Geige gelegt, den Bogen im Ansatz, stand sie wie mit geschlossenen Augen und der Umwelt entrückt.

»Ich bin's, Vinzenz. Laßt euch nicht stören.«

»Amadeus!«

Beide Arme hielt er um den bewunderten Bruder geschlungen, und sein langer Körper drückte sich ungestüm an die schlanke Gestalt. »Daß du wieder einmal da bist, Amadeus. Daß du wieder einmal gekommen bist, nach uns zu sehen. Am vorigen Weihnachtsabend warst du nicht frei. Und inzwischen schriebst du das da, dies herrliche Werk, dies ›Weihnachtskonzert für Klavier und Violine‹ – was sag' ich? – für Menschen und Götter! Du, du, Amadeus, das ist das Schönste und Tiefste, was du bisher in Tönen gedichtet hast.«

»Und Rosemaria?« fragte der andere lächelnd über die Schulter. »Was sagt Rosemaria?«

Da erwachte das Mädchen, legte die Geige hin und kam zitternd herbei. Amadeus Torquist aber breitete die Arme aus und nahm sie hinein und wiegte und herzte sie in jäher Zärtlichkeit. »Mein Mädchen, mein Töchterchen, und ist eine Dame geworden wie keine neben ihr, und ist eine Künstlerin geworden wie keine über ihr. Und sechzehn Jahre erst zählt mein junger Frühling ...«

»Vater!«

»Du – du – du –! In meinen Armen. Ist es dir wohl in meinen Armen?«

»Ja, Vater. Das ist so schön ...«

»Jetzt bleibe ich eine Stunde bei dir. Bei dir ganz allein. Das soll eine reiche Stunde werden.«

»Bleib länger, Vater. Es wird mir nichts einfallen in dieser Stunde, weil ich dich immer ansehen muß.«

Er seufzte, und ein Zug von Müdigkeit trat in sein Gesicht.

»Ich muß weiter. Ja, ja, Kind, dein Vater muß. Ich spiele am zweiten Feiertag mein ›Weihnachtskonzert‹ in der Residenz und habe mir morgen noch den Geiger anzuhören. Nicht traurige Augen machen. Ich bitt' mir dein fröhlichstes Gesicht aus zum Heiligen Christ.«

»Vater, ich dank dir noch für das Geschenk da!«

»Für das ›Weihnachtskonzert‹? Wollen wir es einmal spielen?«

»Ja, Vater, ja! Aber das Scherzo habe ich noch nicht durchgespielt –«

»Du kannst, was du willst,« sagte er und schritt zum Flügel. Und sie nahm die Geige auf und stand wartend neben ihm. Vinzenz Torquist aber hatte sich mit glänzenden Augen in die Ecke des Zimmers zurückgezogen.

Da brausten schon die Töne einher, und die Nebel wurden zu Dämonen, die sich zwischen Himmel und Erde drängten, und der aufleuchtende Stern wurde zum Erzengelschweif, das blitzend unter sie traf. Ein Opfer – ein Opfer her! Das war der alte heidnische Mythus, der zum letztenmal nach einem Opfer verlangte. Nach dem größten, das bislang die Erde sah. Nach der Aufopferungsfähigkeit der Mutter. »Willkommen, du Kind meines Leibes! Ade, du Sohn des Himmels und der Erden ...!« Und die Engel sangen so hoch und hehr und die Menschen so glückselig und erlöst, daß die Mutter vergessen war.

Vinzenz Torquist stand mit weit vorgestrecktem Kopf in seiner Ecke und lauschte wildschlagenden Herzens. Ah, wie seine Seele das alles verstand und sein glühendes Musikantenherz. Und das Scherzo begann. Wie ein ländliches Fest. Das Volk lief zusammen, die drei Könige aus dem Morgenland zu sehen, die mit Pferden und Kamelen eilig herbeigezogen kamen. Und Jubel war in der Luft und Freude am seltenen Tag. Bis der Abend sank und der Friede der Nacht sich breitete unter dem aufleuchtenden Stern. Wie ein Echo aus anderer Welt klang im Finale das Leitmotiv zurück und strömte in breiter Fuge in das Meer der Ewigkeit. ...

Vinzenz Torquist sah wie im Nebel die Köpfe von Bruder und Nichte verschwinden. Vom Tisch her zischte es auf. Die Wachsstöcke waren niedergebrannt und erloschen. Es herrschte Finsternis im Zimmer. Da ging er mit verhaltenem Atem, um aus der Küche das Feuerzeug zu holen.

*

Als er zurückkam und den Docht der Hängelampe entzündet hatte, blickte er sich, noch immer keines Wortes fähig, nach den Zurückgebliebenen um. Und er sah Rosemaria auf dem Schoß, ihres Vaters, und die Gesichter waren dicht beieinander, und sie flüsterten erregt und lachend und gewahrten ihn nicht.

Wie schön das Bild war ... Und die Tonwellen spürte Vinzenz Torquist noch wie Weihrauch in der Luft.

»Ich danke dir, Amadeus. Und dir, Rosemarin. Ich danke euch beiden aus vollem Herzen. Denn es war eine Wohltat.«

Amadeus Torquist ließ seine Tochter vom Schoß gleiten. Und während Rosemaria vor Freude glühend aus dem Zimmer eilte, trat er zu dem Bruder und reichte ihm beide Hände. »Ich danke dir, Vinzenz. Du hast mein Vertrauen gerechtfertigt und der Kunst eine Wunderblume herangezogen. Dieses Mädchens Seele und die Beseeltheit ihres Spiels, das ist dein Werk. Die Welt wird dir mehr dafür danken, als ich es jetzt tue, mein Alter.«

»Was sind das nur für Geschichten, was sind das nur –« wehrte der Belobte ab. »Was geht mich der Dank der Welt an. Ich hab' einen besseren und den allerbesten, wenn ich sie täglich spielen höre.«

»Aber die Welt wird sie auch hören und dann nach dem Meister fragen.«

»Die Welt?« wiederholte Vinzenz Torquist. »Schon wieder die Welt?« Und plötzlich bekam er unruhige Augen. »Weshalb sprichst du mir davon, Amadeus?«

»Weil doch einmal davon gesprochen werden muß, und weil – so will mir scheinen – die Zeit jetzt da ist.«

»Amadeus! Tu mir das nicht an!«

»Aber, alter Knabe! Du willst sie doch nicht etwa heiraten?«

»Nein, nein! Scherze jetzt nicht. Nur vorhin – gelt, Amadeus – das – das war ein Scherz?«

Seine Augen lasen voll Angst im Gesicht des Bruders, und die langen, schlanken Finger spielten auf des Bruders Rock.

»Setzen wir uns, Vinzenz. So. Jetzt sprechen wir ruhiger. Nun halte auch die Hände still. Es geht doch nicht um dein Leben, sondern um Rosemarias Leben und – und vielleicht auch ein wenig um meins. Du hast nun das Mädchen acht Jahre bei dir gehabt und dich daran erfreut. Das war doch ein Geschenk. Und nun komme ich und fordere von dir ein Geschenk für mich, für die ganze Menschheit, die sich an ihrer Kunst erfreuen wird. Willst du geiziger sein?«

»Sie soll fort?« murmelte Vinzenz Torquist verstört. »Mit dem Licht in der Hand fort aus meinem Leben?«

»Du wirst das Licht sternenhell durch die Welt leuchten sehen und trotz deines Abschiedschmerzes stolz darauf sein, es der Welt angezündet zu haben.«

»Wie in dem ›Weihnachtskonzert‹,« murmelte Vinzenz Torquist. »Aber ich bin nicht so stark.«

»Du bist es, Vinzenz, wie du es so oft gewesen bist. Das macht ja gerade deine Größe aus: deine nie versagende Opferwilligkeit.«

Vinzenz Torquist schlug die Hände vors Gesicht und weinte. ...

»Ich weiß,« sagte Amadeus Torquist, »daß es nicht nötig ist, dich stärker zu beschwören. Sonst könnte ich von deiner Liebe zu mir reden und von deiner fast mütterlichen Freude, mich hochoben zu sehen. Ja, ja, Vinzenz, nimm nur die Hände herunter und blick' mich an, aber recht scharf. Der dichte Haarschopf ist noch da. Nur weiß, richtig weiß ist er geworden. Das hat so das Leben mit sich gebracht, das ein bißchen heiß glühte, und ich bin jünger als du mit deinem bloß angegrauten Haar. Man ist ja für das Weibsvolk nicht bloß Künstler. Nun lachst du.«

»O Amadeus, ich wollte, ich trüge einen so stolzen Kopf auf meinen Schultern. Die Augen sind so schwarz wie ehemals.«

»Gut. Wir wollen nicht davon reden. Auch im Schaffen, die Feder in der Hand und das Notenpapier vor mir, bin ich so jung geblieben. Nur auf der Bühne – als ausübender Künstler am Flügel – da spüre ich zuweilen ein leises Bergab. Das darf nicht sein. Das darf und soll nicht sein. Ich will Herr bleiben im Hause, das ich mir aufgebaut habe.«

»Sprich, Amadeus, sprich,« drängte Vinzenz Torquist.

»Das Mädel soll mir helfen. Nur die Rosemaria kann's. Wenn sie neben mir steht in ihrer reinen Mädchenschönheit und in ihrer ungeahnten Kunst, dann werden die Blicke Vater und Tochter in eins verschmelzen und die Ohren unser Spiel in eins. Das soll noch ein paar Jahre Sieg und wieder Sieg werden, bevor ich vom Bühnenbrett abtrete. Was meinst du, Vinzenz? Der Name Torquist hochoben?«

Der aber schlug nur lachend mit der Faust auf den Tisch.

Amadeus Torquist erhob sich. Er strich sich mit der Hand durch die dichten weißen Locken, und unter den dunkeln Brauen glänzten herausfordernde Augen. »Übermorgen spielt die Rosemaria in der Residenz mit mir gemeinsam mein ›Weihnachtskonzert‹.«

»Übermorgen?« Das Lachen verflog. »Übermorgen ...«

»Wir Künstler haben keine bleibende Statt. Deshalb dürfen mir auch keine Wehmut an uns heranlassen, Vinzenz. Mach' nicht solch ein entsetztes Gesicht. Wir sehen uns wieder. Und wer weiß, in wie kurzen Jahren du wieder neues Torquistsches Blut in die Lehre bekommst. Vielleicht unterstütze ich dich dann. Also, Alter. So wie es immer deine heitere Art war –: gib mir mein Weihnachtsgeschenk. Jetzt heißt es scheiden.«

Da ging Vinzenz Torquist still hinaus und in Rosemarias Kammer und fand das Mädchen fröhlich beim Packen des Koffers. Und ihre Fröhlichkeit schmerzte ihn nicht, denn er sagte sich, daß die Jugend wohl nicht anders könne, und er half ihr den Koffer schließen und rief selbst den Lenker des Kraftwagens, der breit und wuchtig auf der Straße seines Herrn wartete.

Der Koffer war hinabgeschafft. Rosemaria hielt den Geigenkasten in der Linken, und mit dem rechtes Arm hielt sie den Oheim umschlungen.

»Nicht sprechen, Rosemaria, nicht sprechen. Es ist deine Sendung, und das ist mehr als wir. Keinen Dank, mein Mädchen. Der gleicht sich aus zwischen uns, gelt? Und nun lebe wohl und Glück auf den Weg. Auf Wiedersehen, Kind.«

Dann schüttelten sich die Brüder die Hände, »Übermorgen, nach dem Konzert, erhältst du ein Telegramm. Wie das Mädel der Welt die Antrittsverbeugung gemacht hat.«

»Soll ein Wort sein. Soll ein Wort sein, Amadeus. Ich werde nicht schlafen bis dahin.«

Er stand am Fenster und horchte. Draußen ertönte das Trompetensignal des Kraftwagens. Und aus weiter Ferne schallte es noch einmal herüber. Vinzenz Torquist wandte sich um. Ein wenig müder als sonst schritt er langsam und verlorenen Blickes durch das Zimmer. Vor dem Flügel blieb er stehen und grübelte mit einem schmerzliches Jucken um den Mund. Da gewahrte er auf dem Notenhalter das ›Weihnachtskonzert‹. Er nahm das Notenheft herunter und trug es auf den Tisch. Unter der Hängelampe sah er bis tief in die Nacht und las und las und spielte das ganze Konzert im Kopf, und je länger er in seinen Sinnen musizierte, um so heller und glücklicher wurden seine Züge. »Es ist wunderschön,« murmelte er seinen alten Lieblingsspruch. – –

*

So früh, wie es nur der Anstand erlaubte, erschien am Festtagmorgen der Freund und Musikalienhändler.

»Fröhliche Weihnachten, Peterlein, aber du kommst umsonst. Das Konzert findet erst morgen statt, und du wirst dich in die Residenz bemühen müssen und in einen großen Lichtersaal, wenn du unsere große Geigerin Rosemaria vernehmen willst. Denn daß sie eine so große Geigerin ist wie wenige in der Welt, das hat mir der Amadeus in die Hand bestätigt.«

»Was? Fort ist das Mädel? Und du hast sie ohne weiteres hergegeben? Und wohl gar ohne Kostenrechnung, du Narr?«

Da lächelte Vinzenz Torquist sein Kinderlächeln. »Wer reich ist, gibt,« sagte er geheimnisvoll. »Nur der Gebende hat die reine Freude.«

Der Musikalienhändler aber bekam einen roten Kopf. »Hat dir dein berühmter Herr Bruder gegeben? Genommen hat er, immer nur genommen von dir, Dummkopf. Erst deine Zukunft, als er statt deiner aufs Konservatorium lief, dann dein Geld, als du dich für seine Studien abrackertest, dann deine Liebe, als er dir die Braut wegnahm, dann deine Arbeitskraft, als er dir für acht Jahre das Mädel brachte, und jetzt das Mädel selbst, damit es ihm seinen Glorienschein wieder aufputze. Ein Ichmensch ist dein gefeierter Herr Bruder, kalt, berechnend, herz- und gefühllos. – He, was soll das?«

Vinzenz Torquist saß längst auf seinem Klaviersessel und spielte. Spielte Amadeus Torquists »Weihnachtskonzert«. Und der Nebelvorhang riß vor dem Licht, und Maria rief ihren Mutterruf und schenkte doch ihr Kind an die Welt hinweg. »Weihnachtsgabe,« sagte der alte Musiklehrer. »Nimm dir ein Beispiel, Erdenmensch Peter.« Und er spielte weiter und weiter, bis das Leitmotiv in breiter Fuge ins Meer der Ewigkeit strömte. Dann wandte er sich mit glänzenden Augen nach dem Freund um.

»Wer das schrieb, weil er es so tief empfand, ist kein gewöhnlicher Mensch. Das ist eine reiche Seele, die uns alle beschenkt. Laß dein Einmaleins zu Hause, Peterlein. Hier reicht es nicht aus. Und meinen Glauben nimmt mir nun mal keiner.« Er lachte vor sich hin. »Du, und die Rosemaria – wart's ab – in ein paar Jahren heiratet die ein großer Künstler, und dann krieg' ich das Kind von den beiden und darf teilhaben als sein Lehrer und Meister. Der Amadeus hat's gesagt. Und dann wird auch der Amadeus bei mir bleiben. So lohnt sich alles, Peterlein. Und nun laß mir meine Freude.« – – –


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