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Jakob Brockmann kauerte im verschnürten Schlafrock in den Kissen seines Krankensessels. Sein spitz gewordener Greisenkopf lugte zwischen den hochgezogenen Schultern ein wenig ängstlich hervor. Aus geröteten Augen huschte der Blick scheu und ehrerbietig zugleich durch das in peinlicher Sauberkeit erstrahlende Wohnzimmer und tastete die Wände ab, die mit vielen Bildnissen, gerahmten Schauspielzetteln, Kränzlein und Schleifen geschmückt waren wie das Heim eines erfolgreichen Bühnenkünstlers. Nur die Zahl und blendende Weiße der Decken und Deckchen, der Schoner, Spitzenflecke und zierlichen Scheibenbehänge widersprach dem Gedanken an die Heimstatt eines himmelstürmenden Künstlers. Und widersprach mit Recht. Denn der kleine Rentner Jakob Brockmann war wohl zeit seines Lebens ein rühriger Weißwarenhändler gewesen, solange er persönlich noch mit Ellenmaß und Schnittschere gewirtschaftet hatte, aber der Kunst hatte er stets so fern gestanden, wie es ihm seine große Hochachtung vorschrieb. Seine große Hochachtung vor der Kunst, die er nicht verstand, oder die noch größere Hochachtung vor seiner Frau Barbara Brockmann, die er noch weniger verstand, – das war ihm selber nie ganz klar geworden, trotz einer vierzigjährigen einträchtigen Ehe.
Scheu und ehrerbietig zugleich betrachtete der Greis aus den Kissen seines Ohrenklappensessels heraus den aufgeputzten Rahmen seines schlichten Daseins. Ein verlegenes Lächeln glitt um seinen Mund und verlor sich in den Bartstoppeln seines nickenden Köpfchens. Aber es war dennoch ein kindlich glückliches Lächeln voll geheimer Freude, daß sein Leben eine Stufe zu einer höheren Welt aufwies, eine Stufe, die er selber zwar nicht betreten hatte, aber für ihn Frau Barbara, und mit schwärmenden Augen in dem altjüngferlich gebliebenen Gesicht. Jakob Brockmann aber war als Zuschauer zugelassen worden, und das hatte seinem Alltagsleben eine feine Bestrahlung gegeben, feiner, als sie sonst seinesgleichen erfuhren. Dessen war er sich in stiller Dankbarkeit bewußt.
Das müde Greislein sann ein wenig in sich hinein. Wenn er es so recht bedachte, hatten sie immer zu dritt gelebt, er und Frau Barbara und der gefeierte Heldendarsteller Adalbert Ott, dem die begeisterungsfreudige Jugend der benachbarten Hauptstadt die Pferde aus den Deichseln schirrte und sich selbst hinein, wenn er im Hoftheater den Wallenstein gespielt hatte oder den Macbeth oder den Mohren von Venedig. Nicht doch, nicht doch! Nicht zu dritt gelebt! Das müde Greislein schrak in sich hinein über seine Anmaßung. Nie hatte Adalbert Otts Fuß auch nur die Schwelle seines Hauses betreten, nie war ein Wort, nie ein Brieflein nur zwischen dem Künstler und dem Kleinstadthaus gewechselt morden. Aber Adalbert Otts Geist hatte mit ihnen gelebt oder war doch oft und oft zu Besuch gekommen und hatte ihnen verbindlich zugewinkt. Das war immer, wenn die Zeitungen von einer neuen Rolle des stürmischen Künstlers berichteten, von neuen Erfolgen daheim oder auf beifallumtosten Gastspielreisen. Dann reckte sich Frau Barbara in all ihrer Hagerkeit auf, ihr altjüngferliches Gesicht war mit dem Purpur der Freude und Genugtuung übergossen, und ihre Augen leuchteten in eine weite Ferne, die rückwärts gelegen war.
»Der Adalbert,« murmelte sie und nickte stolz ihrem Manne zu. Und Jakob Brockmann nickte und murmelte: »Ja, ja, ja – der Adalbert!«
Als sie noch das Weißwarengeschäft geführt hatten, mußten sie immer bis zum Feierabend warten, bevor Frau Barbara die Stufe zur anderen Welt besteigen konnte und Jakob Brockmann zuschauen durfte. Dann las Frau Barbara dem horchenden Gatten das Zeitungslob vor und griff sich ans Herz oder beschattete die Augen vor dem Strom von Licht, der in ihr sonst so gemächliches Dasein brach. Dann griff Frau Barbara zur Feder und bestellte beim Kunsthändler der Hauptstadt Adalbert Otts neuestes Rollenbild, schnitt auch aus den Zeitschriften die Szenenbilder heraus, die Adalbert Ott im Kampfgedränge oder in überlegener geistiger Abwehr zeigten, und ließ alles säuberlich rahmen. Dann faßte – alljährlich einmal – Frau Barbara den Hauptentschluß ihres Lebens, den Entschluß, eine Reise nach der Hauptstadt zu unternehmen und Adalbert Ott in einer Glanzrolle zu sehen, und führte diesen Entschluß auch im Laufe des Jahres aus. Das erstemal war auch Jakob Brockmann mitgefahren, aber als es beim zweitenmal das Geschäft nicht erlaubte, das man doch nicht ohne Bedienung im Stich lassen durfte, hatte Frau Barbara allein die Reise unternommen und noch spät in der Nacht nach der Heimkehr dem Gatten im Schlafgemach ein so ergreifendes Abbild des Erlebten in Wort, Haltung und Gebärde geliefert, daß Jakob Brockmann sofort beschloß, fernerhin das Geld für den zweiten Wagenplatz wie für den zweiten Theaterplatz zu ersparen, da die Wiedergabe der Rolle durch seine Frau seinen bescheidenen Ansprüchen vollauf genügte. Frau Barbara aber ließ die heimgebrachten Theaterzettel – den Namen »Adalbert Ott« rot unterstrichen – nicht minder säuberlich rahmen und zu den Heldenbildern hängen. Kränzlein und Schleifen aber kündeten den Haupttag des Jahres, Adalbert Otts Geburtstag an.
Jakob Brockmanns Greisenaugen zählten an den Wänden umher. Es waren viele Kränzlein und Schleifen geworden, und wenn man sie zusammenrechnete, so mußte, so konnte... Jakob Brockmann weitete erstaunt die Augen. Mein Gott, das war nun gleich: der Adalbert Ott war auch nicht jünger geworden.
Und mit einem Male kam ein kleines Kichern und steigerte sich, bis er husten mußte.
›Laß doch sehen,‹ dachte das zusammengefallene Männchen, ›laß doch einmal genauer nachsehen. Ich bin nun siebzig geworden, ja, das bin ich, und die Barbara war zehn Jahre jünger als ich, als ich sie heiratete, und der Adalbert Ott hat mit ihr zusammen die Kinderschule besucht. Also muß er jetzt rund seine sechzig Jahre zählen. Sechzig Jahre – du lieber Himmel! Wer spielt mit sechzig Jahren noch den Liebhaber?‹ Das wußte er besser, denn er hatte sich mit sechzig Jahren zur Ruhe gesetzt in seinem hübschen kleinen Häuschen und mit seinem Ersparten, das ihm jährlich an die dreitausend Mark Zinsen trug, um einen geruhigen Abend zu verleben. Wohlverstanden: einen geruhigen Lebensabend und keine lustigen Liebhabertage. Die Zeiten deuchten ihm mit sechzig Jahren vorbei. Und Kinder, die ihn hätten stören oder ihn um das sauer Verdiente hätten bringen können, hatte ihm Frau Barbara nicht geschenkt. Nun war er siebzig und – ja, das mußte gesagt werden – krank und hinfällig, dicht vor dem letzten Stündlein vielleicht. Aber der Adalbert Ott, mit dessen stürmischem Heldengeist er vierzig Jahre zu dritt gelebt hatte, zu dritt hatte leben müssen, daß er sich doch manches liebe Mal recht klein und an die Wand gepreßt vorgekommen war, der Adalbert Ott zählte nun auch sechzig Jahre, wie die Frau Barbara, und war wirklich nicht mehr gefährlich. Selbst wenn er selber nun dahin mußte und Frau Barbara die Erbin blieb. Der Adalbert Ott war sechzig. Die schweren Augenlider des Alten senkten sich. Das wochenlange Zubettliegen hatte seiner eingeklemmten Brust den Atem benommen und das nie sonderlich feurige Herz geschwächt. In der Nacht war ihm die Luft so knapp geworden, daß der schleunig herbeigeholte Arzt ihn mit Hilfe Frau Barbaras aufrecht in den Krankensessel gebettet hatte, um ihm die Herztätigkeit und das Atmen zu erleichtern. Der schräge Blick aber, mit dem ihn der Arzt beim Abschied gemessen hatte, hätte in Worten wohl lauten können: »Dich seh' ich auch nicht wieder, Alterchen. Gute Fahrt.« Jakob Brockmann hatte den Blick nicht gesehen und hätte ihn wohl auch nicht zu deuten vermocht. Aber er machte sich auf die Fahrt. Und er hatte ein merkwürdig sicheres Bewußtsein davon, daß er im Begriffe stehe, eine weite Reise anzutreten. Die lederfarbigen Augendeckel sanken noch tiefer herab, so, als könne er durch Aussperren der Umwelt sein Denken verschärfen. Denn zu denken hatte er noch mancherlei, wie ihm plötzlich scheinen wollte, nur was er noch zu denken hatte, was, was, das war nicht so leicht an den abgespulten Fäden heranzuziehen, die ihm immer wieder entglitten. Wie im Halbschlaf hörte er nebenan in der Küche Frau Barbara wirtschaften. Sie kochte ihm den stärkenden Fleischsaft ein. ›Gute Seele,‹ dachte er und ergriff den Faden. Vierzig Jahre einträchtiger Ehe. Nur – ja nur, daß er gern nach Feierabend mit Frau Barbara über Weißwaren gesprochen hätte, über spiegelnden Damast und derbes handgesponnenes Leinen, über alle die vielen Muster im Hemdenbesatz und die gestickten Kanten, und statt dessen zuhören mußte, wie Frau Barbara sprach, von Goethe, Schiller und Shakespeare, den großen Dichtern, und ihrem noch größeren Dolmetsch, von Adalbert Ott.
Jetzt hatte Jakob Brockmann den Faden fest. Und als er ihn hatte, kam mit einem Schlage eine so große, helle, durchsichtige Klarheit über den siebzigjährigen Kopf, wie er sie in gesunden Tagen niemals verspürt hatte, und er riß mit Gewalt die schweren Augendeckel hoch und starrte erstaunt in sein Zimmer hinein und auf die Wände mit dem liebevoll gepflegten Schmuck. In dieser späten Sekunde wurde es Jakob Brockmann klar, daß er eigentlich zeitlebens im Schatten gestanden hatte, im Schatten eines Unangreifbaren, der räumlich nicht vorhanden gewesen war und nur durch die künstlich erhitzten Einbildungen seiner Frau gespukt hatte. Aber in einem Schatten, der seinem eigenen Lebenspflänzchen Luft und Licht genommen und es zu einem dürren Stengelchen gemacht hatte, das gar nicht einmal auf der Welt hätte zu sein brauchen.
Wie wohl er sich dabei befunden hatte, wie demütigend wohl. Sein ganzes Leben hatte er danach eingerichtet, das von Haus aus auf die kleinen Freuden und Belustigungen des ehrsamen Bürgers gestellt gewesen war, auf einen gemütlichen Tratsch beim Schöppchen Bier, auf einen Kegelschub oder einen Skat mit vieren, und wenn es hoch kam, auf eine Landpartie mit Sang und Scherz und den fröhlich quieksenden Weibsen. O nein, das war kein Tanzplatz für Frau Barbaras Kleidersäume. Der Tanzschritt Frau Barbaras forderte eine erhabenere Welt. Das Weißwarengeschäft war nur ein notwendiges Absteigequartier der unerlösten Seele. Und wenn Jakob Brockmann es fleißiger in Benutzung genommen hatte als seine Frau, so war es nur geschehen, um baldmöglichst von ihm erlöst zu sein und als Rentner leben zu können. Aber es hatte doch dreißig Jahre gedauert. Und dann war er verbraucht gewesen und – und – ganz im Schatten.
Jakob Brockmann fühlte sein Herz ganz heftig schlagen. Das durfte sich das schlaffgewordene Herz nicht erlauben, aber Jakob Brockmann erlaubte es ihm. Eine hitzige Röte kroch über den dürren Hals und durch die Stoppeln seines Gesichtes. Die Scham zog sie hoch, und der Zorn hielt sie fest. Wie ein Jüngling war Jakob Brockmann anzusehen. Und Frau Barbara, die aus der Küche ins Wohnzimmer trat und auf den hageren, aber zierlich gespreizten Fingern die Tasse Fleischsaft trug, wunderte sich hellauf: »Jakob, du blühst in die Gesundung hinein!« rückte ihm auf einem Tischchen die Tasse zurecht und entfaltete, zum Vorlesen bereit, das mitgebrachte Zeitungsblatt. »Königliches Hof- und Residenztheater,« las sie mit singender Stimme.
»Trink, Jakob.«
Aber Jakob Brockmann trank nicht. Er war noch röter geworden.
»Nun, es wird noch zu heiß sein. Ich lese dir vor, bis es abgekühlt ist. Königliches Hof- und Residenztheater. Der Abschied Adal – Gott im Himmel, was ist das? – der Abschied Adal – Adalbert Otts? Der Abschied Adalbert Otts, der sich als königlicher Pensionär ins Privatleben zurückzieht?«
Das Blatt sank in ihren Schoß. Ganz benommen schloß sie die Augen.
Und aus dem Ohrenklappensessel drangen zwei hastige Atemstöße in die Stille hinein.
»Sechzig Jahre – der Adalbert ...«
Und das hastige Geraun ging in ein luftiges Gekicher über. Und jäh brach es ab.
»Hast du gelacht, Jakob?«
Ja, Jakob Brockmann hatte gelacht.
»Ah,« rief Frau Barbara und sprang von ihrem Stuhle auf, »ich verstehe dich, ich verstehe dich! Du lachst und freust dich, daß Adalbert der Bühne entsagt und auf der Höhe seiner künstlerischen Kraft sich ins Privatleben zurückzieht. Ins Privatleben! Was heißt es? Du hast es sofort erfaßt. In die Heimat, in die alte, liebe Heimatstadt! Mein Gott, vielleicht trifft er heute schon ein oder ist schon eingetroffen? Er wird uns besuchen. Er wird es ganz gewiß! Seine älteste Kindheitsfreundin. Nein, wie seh' ich denn aus? Ganz rot im Gesicht. Und auch du, Jakob, und voller weißer Bartstoppeln. Gleich mußt du dich rasieren lassen, Jakob!« Aber Jakob Brockmann ließ sich nicht rasieren. Jetzt nicht und nie wieder. Blaurot stak sein Greisenköpfchen zwischen den Kissen des Ohrenklappensessels. Ein milder Schlagfluß hatte ihn mitten aus seinem vergnügten Lachen hinweggenommen und ihn ein für allemal des Zuhörens enthoben.
Frau Barbara legte das Zeitungsblatt auf den Tisch und drückte ihrem geduldigen Weggesellen weinend die Augen zu.
*
Schneller, als sie es in ihrem ersten überlauten Schmerz für möglich gehalten hätte, hatte sich Frau Barbara Brockmann in ihr Witwentum hineingefunden. Ganz leise erst ließ sie sich vom Leben anstoßen und zu einem Lächeln bringen. Das war, als sie sich überwand und die Verhältnisse prüfte, in denen Jakob Brockmann sie zurückgelassen hatte. Sie waren reichlich und auskömmlich. Was früher für zwei hatte langen müssen und immer ohne besondere Einschränkung gelangt hatte, das brauchte von jetzt an nur noch für einen zu reichen. Dieser Gedanke überwältigte sie fast in seinem Reichtum, aber er gab ihr auch neue Anregungen. Das Testament war auf den Längstlebenden gemacht. Sie war alleinige Erbin, und ob auch einige entfernte Vettern und Basen ihres Mannes scheel dazu blickten, sie vermochte über die Hinterlassenschaft zu verfügen, wie sie wollte.
Zunächst brachte sie das hübsche kleine Wohnhaus in Ordnung. Sie tat es unter einem höheren Gesichtswinkel, indem sie nach und nach alles entfernte, was an Jakob Brockmanns frühere Tätigkeit als Weißwarenhändler erinnerte und somit an ihn selbst. Das war für ein Witwenherz gewiß nicht leicht, aber sie gewann dadurch Raum und bessere Verteilungsmöglichkeiten an den Wänden und konnte den paar Stuben und Stübchen endlich den einheitlichen Stil geben, nach dem sie seit Jahren strebte. Wenn sie jetzt ihrer kleinen Bücherei ein schön gebundenes Buch entnahm und damit zum Fensterplatz schritt, war es ihr selbst, als schritte eine geweihte Priesterin durch den Raum, und in ihren Augen entzündeten sich Bilder, daß sie des Buches kaum noch bedurfte.
Der neuen Anregungen kamen mehr und mehr. Sie begann mit der Matthäuspassion, die in der Osterwoche vom Konzertverein zur Aufführung gebracht wurde, in die Welt zurückzukehren, denn infolge des Ausscheidens Jakob Brockmanns erübrigte die Wirtschaftskasse das Eintrittsgeld. Sie ging zu einem musikalischen Vortrag des Parsifal und gelangte über die Musik zum gesprochenen Wort, zu bildenden Vorlesungen über die Kunst und den ergreifenden Darbietungen großer Vortragsmeister, die nach Abschluß der eigentlichen Wintervortragszeit um Lebens oder Sterbens willen nunmehr die abseits gelegenen Städtchen beehrten. Sie trug ein enganliegendes schwarzes Kleid, das sie bald mit einem kleinen weißen Spitzenkragen schmückte, und das Witwenhäubchen mit einer leuchtend weißen Kante. Ihr braungebliebenes Haar kräuselte sich an den Schläfen in seinen Löckchen, und auf den ein wenig eingesunkenen Wangen brannten immer ein paar rote Flecke der Erregung, die einen letzten Rest von Jugendlichkeit vortäuschten. Da sich Frau Barbara sorglich von ihrem Kreise zurückhielt, so konnte es nicht ausbleiben, daß sie in den Ruf einer nicht alltäglichen und eigenartigen Frau geriet, die nicht mit dem Einheitsmaß gemessen werden dürfe. Und das schuf ihr eine neue Freude.
Die Zeitung der benachbarten Haupt- und Residenzstadt las sie mit derselben Begier, solange die Spielzeit des Hoftheaters währte. Freilich, über Adalbert Otts wuchtige Leistungen vermochte sie nichts mehr zu entdecken, um so mehr aber tat es ihr im Herzen wohl, wenn sein Nachfolger im Rollenfach von der Kritik gebeutelt und ihm Adalbert Ott als nachstrebensweites Vorbild empfohlen wurde. Dann entkorkte sie wohl ein halbes Fläschchen Wein und trank mit weitausholender Gebärde seine Gesundheit. Es war Sommer geworden, das Hoftheater geschlossen, und von seinen Mitgliedern las man nur noch als von kühnen Bergsteigern und schnellentschlossenen Lebensrettern. Das aber war zu wenig, um Frau Barbaras Mitempfinden auszufüllen, und mehr als sonst griff sie am Abend zu dem frisch gedruckten städtischen Blättchen, las den Roman und studierte die Anzeigenseite. Und als sie wieder einmal bis zum Anzeigenteil gekommen war, ging ein Ruck durch ihre überschlanke Gestalt, und das Blatt knisterte in ihren fliegenden Händen. Unter der Überschrift »Neuangekommene Gäste« brachte der »Gasthof zum Römischen Kaiser« schwarz auf weiß den Namen »Adalbert Ott, Hofschauspieler a.D.«
Minutenlang starrte sie auf den geliebten Namen. Tiefatmend und mit heftig pochendem Herzen. Dann aber fuhr sie auf und durch die Wohnräume hindurch, und ein Fegen, Klopfen, Staubwischen hub an, als hätte der Kalender einen Sprung gemacht und der große Herbsthausputz müsse nun über Nacht geschafft werden. Gegen Morgen erst legte sie sich nieder, fand den Schlaf nicht, erhob sich nach wenigen Stunden wieder und saß, sorgsam gekleidet und in hübsch gewelltem Haar, ein schön gebundenes Buch in Händen, am Fenster, um erregt aufzuschrecken, wenn sich ein Schritt in ihre abseits gelegene Gartenstraße verlor. Die Besuchsstunden gingen vorüber. Sie wartete bis in den Nachmittag hinein. Und dann kam ihr der Gedanke, daß Adalbert Ott gar nicht ihren Frauennamen kennen würde, und sie kochte sich schnell eine Tasse Kaffee und machte sich auf den Weg in die Stadt.
Dreimal umkreiste sie den großmächtigen Gasthof zum Römischen Kaiser. Der Platz lag wie ausgestorben. Die Sommerhitze meinte es noch zu gut. Von der Stirn perlten ihr die Schweißtröpfchen und rannen ihr über die Wangen. Sie hatte ihrer nicht acht. Sie hatte nur acht auf das große Eingangstor mit dem steingehauenen Bild eines sagenhaften römischen Kaisers, und jetzt – jetzt – wo die erste leise Abendkühlung einsetzte – öffnete sich das Tor, und ein Mann trat heraus, kräftig gebaut, mit der Brust eines Löwen und dem Nacken eines Stieres, prallem Bauch und prallen Beinen, die, dem bequemen Lodenanzug entsprechend, in derbgestrickten Wadenstrümpfen staken, während auf dem mächtigen angegrauten Haupt mit flottem Schwung nach links ein steirisch Hütchen saß. Jetzt wendete der starke Mann den Kopf, einmal nach links, einmal nach rechts, als ob er die Luftwärme prüfe, und Frau Barbara sah sein Gesicht.
Es war nicht der Idealkopf, den sie in Dutzenden von Bildnissen an den Wänden ihres Wohngemaches hängen hatte. Beinahe wäre sie erschrocken. Aber dann prüfte sie genauer und empfand: es war mehr, es war wohl anders, aber mehr, mehr. Es war ein gewaltiges Manneshaupt von rostbrauner Farbe, die an die alten Wikingerkönige gemahnte, mit großen, blitzenden Augen, in denen das Weiße vorherrschend war wie bei großen, sinnenfrohen Menschen, und einem Knebelbart, einem graugesprenkelten, den sie in den Kauf nahm, obwohl er eine unnötige Ähnlichkeit mit dem lustigen Ritter Falstaff hervorrief. Es ging etwas Atembenehmendes und Erdrückendes von dem Riesen aus.
Nun hatte er mit Befriedigung die eintretende Kühlung festgestellt und begab sich dröhnenden Schrittes auf einen Spaziergang. Er strebte, die Häuserzeilen zu verlassen, und bog bald in die kleinen Anlagen ein, in deren Nähe auch Frau Barbaras Gartenhäuslein lag. Und jetzt faßte sich Frau Barbara ein Herz, trat ihm in den Weg und streckte ihm die Hände hin.
»Adalbert ...«
Der Riese blieb stehen, kniff die Augen ein und griff nach seinem Steirerhut.
»Meine Gnädige ...?«
»Erkennst du mich nicht wieder, Adalbert? Deine alte Kindheitsfreundin ist es. Barbara ...« »Ah,« machte Adalbert Ott und wußte nichts von einer Kindheitsfreundin und von einer Barbara. »Ah, sieh einmal an. Die Überraschung. Ja, und wie geht's denn all die Zeit? Gut, gut natürlich. Besser als so einem alten Possenreißer und Fratzenschneider. Wie sich das gehört.«
»O Adalbert, wie kannst du nur so sprechen? Es wäre Undankbarkeit, wenn es nicht ein Scherz wäre.«
Nun sah er sie sich genauer an. Nein, er kannte sie nicht, sie war ihm gänzlich unbekannt. Aber diese Augen kannte er, diesen Blick – von hundert anderen kannte er ihn. Blinde Schwärmerei, ein wenig altjüngferlich gefärbt, aber darum um so hitziger, zähe Anhänglichkeit und übertriebene Schätzung durch Verwechslung der Rolle und ihres Trägers. Dieser Blick war ihm nicht unbekannt.
»Barbara,« sagte er, und seine Stimme schwang in nachdenklichen Tiefen. »Das Bärbchen meiner Jugendzeit, die ich in diesem glücklichen Neste verbrachte. Mir ist, als müsse ich mit Chamisso sprechen – und auch er hieß Adalbert –: ›Ich träum' als Kind mich zurücke‹ ... Grüß dich Gott, alte Kindheitsfreundin.«
Sie wandelte mit ihm unter den Bäumen der stillen Anlagen.
»Weißt du es noch, Adalbert?« »Ich weiß, ich weiß. Wo war es doch noch? Im Schlafen und Wachen seh' ich die Stätte leibhaftig vor mir. Nur der Name ist mir entfallen. ›Was ist ein Name? Was uns Rose heißt – Wie es auch hieße, würde lieblich duften,‹ sagt der große Menschenkenner Shakespeare in ›Romeo und Julia‹, und ich spreche es ihm nach.«
»In der Zwerchfellgasse war es,« sagte Frau Barbara mit einem munteren Lächeln. »Fällt dir jetzt der Name wieder ein? Wir hatten als Kinder schon unseren Spaß daran. Und das Haus, in dem deine Eltern und meine Eltern wohnten, beherbergte unten einen Bäckerladen, und wir kauften uns jeden Morgen unsere Morgenbrezeln darin, wenn wir zur Kinderschule abmarschierten.«
»Beim lebendigen Gott,« murmelte der Riese, »der Brezeln entsinn' ich mich.«
»Und wenn wir heimkehrten, beschütztest du mich vor den bösen Metzgerhunden an der Ecke und vor den wüsten Nachbarskindern, das hab' ich dir bis heute nicht vergessen, Adalbert, und zum Dank brachte ich dir nachmittags meinen Vesperapfel.«
»Damals, ja damals. Würdest du es heute wieder tun? Doch sprich weiter, sprich weiter. Ich höre deine Stimme so gern. Sie ruft mir wie eine Glocke aus versunkener Kinderzeit. Ich habe den Faust gespielt, oft, oft, und wahrlich nicht schlecht, aber heute erst verstehe ich die Verse des Dichters im ›Vorspiel auf dem Theater‹:
Gib ungebändigt jene Triebe,
Das tiefe, schmerzenvolle Glück,
Des Hasses Kraft, die Macht der Liebe,
Gib meine Jugend mir zurück!
Sprich weiter, Barbara, mein altes Bärbchen. Laß unsere gemeinsame Jugend vor mir auferstehen.«
»Ach,« sagte Frau Barbara, »wie wunderbar schön die Goetheschen Verse klingen. Mögen sie in deinem Munde eine Vorbedeutung gewinnen. Mögen sie dich der Heimat wiederschenken.«
»Mögen sie, mögen sie,« kopfnickte bedeutungsvoll der Riese.
Frau Barbaras Wangen glühten. Eine echte und rechte Verzückung glomm in ihren Augen. Sie schritt, der Erde weit entrückt, an der Seite des seltenen Mannes, der an Dichters Statt zu Millionen Menschen gesprochen, Millionen hingerissen und zu seinen Füßen niedergezwungen hatte und jetzt für sie allein die Stimme hob, die Kette der Gedanken und Bilder entwickelte, den Augen stillen Erinnerungsglanz verlieh. Sie plauderte wie ein junges Mädchen von der kleinen Gasse, dem gemeinsamen Elternhaus, den gemeinsamen Leiden und Freuden mit der alten Lehrerin und den Nachbarsleuten, putzte die geringsten Erlebnisse heraus, vergoldete sie und ließ sie im Nachstrahl einer großen Kindheitsliebe wie Kleinodien funkeln. Der Mann an ihrer Seite hörte aufmerksam zu, prüfte sie oft mit einem staunenden Seitenblick, und da ihm nichts mehr von der großen Kindheitsliebe und ihrem zarten Flittergold bewußt war, so nickte er nur immer wieder aus einer schönen Ergriffenheit heraus und murmelte in den grauen Knebelbart: »Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit klingt ein Lied mir immerdar.«
»Ja,« sagte Frau Barbara, und sie sagte es eifrig, »das Lied klingt, aber nicht wehmütig, gar nicht wehmütig, denn als du wiederkamst, fandest du nicht Kisten und Kasten leer, sondern angefüllt bis zum Rand mit Erinnerungen und heißen Danksagungen für alle die Taten, die du bis zur Stunde draußen vollführt hast. Immer warst du der Gebende, Adalbert, und wir konnten nur nehmen und nehmen und es zu dem übrigen legen und reich und immer reicher durch dich werden.«
»Genug, genug,« wehrte der Riese, haschte nach ihrer Hand und preßte sie stumm in der seinen.
»Wie müde die Luft macht,« begann er nach einer Weile. »Oder sind es die Erinnerungen, die einem den Wandertrieb lähmen und den Fuß an die Heimatscholle fesseln wollen? Denn das Alter kann es doch noch nicht sein,« lachte er stolz und wegwerfend, wie ein Unsterblicher lacht, und schlug sich dröhnend auf die mächtige Brust. »Und einen Durst hab' ich, mein Bärbchen, einen Durst!«
»O Gott,« sagte sie kleinlaut, »und ich denke nur an mich und schleppe dich hier spazieren.«
Er lehnte mit einer schönen Handbewegung ihre Entschuldigungen ab.
»Nie ist mir eine Stunde angenehmer vergangen als eben diese. Ein Augenblick, zu dem ich sagen möchte: Verweile doch, du bist so schön! Und er soll verweilen. Ist das nicht ein Wirtshaus, das so freundlich aus den Stämmen hervorlugt? Ein Forsthaus nur? Daß es der Teufel...! Aber es wird doch in dieser gesegneten Landschaft noch einen Wirtshaustisch geben mit Tellern und Krügen und einer Bank, geräumig für zwei? Ah, daß ich nicht zaubern kann.«
Und er rückte den Steirerhut in den Nacken, zog ein großes Schnupftuch und wischte sich Gesicht und perlende Glatze, währenddes die Augen ringsumher eine scharfe Umschau hielten.
In Frau Barbara wogte ein Kampf. Aber Adalbert Otts Güte hatte sie übermütig gemacht.
»Adalbert – ich wüßte dir, was du suchst. Und ganz in der Nähe dazu.«
»Einen Weinschank? Führe mich hin, mein Bärbchen. Dich hat mir Gott gesandt.« »Es ist vielleicht anmaßend von mir und aufdringlich, Adalbert, dir mein eigenes Haus zu empfehlen. Aber es liegt dafür auch nur wenige Minuten von hier.«
»Bist du eine Wirtin?« fragte er, streckte das Kinn vor und stand mit lauschenden Ohren.
»Nicht doch,« sagte sie beschämt. »Ich lebe als Rentnerin in meinem Gartenhaus.«
»Du lebst – als Rentnerin? Den Stand lobe ich mir. Und – im eigenen Hause? So muß ich wohl annehmen, daß du allein in der Welt stehst? Ah, verzeihe mir, ich sehe, ich habe einen schmerzlichen Punkt berührt.«
Sie schüttelte ein wenig wehmütig den Kopf.
»Es ist nichts zu verzeihen, Adalbert. Wie hättest du es wissen können, daß ich ein Menschenleben hindurch verheiratet war, du da draußen im Strom des Lebens. Und ich hatte ein ganzes Menschenleben Zeit, an dich zu denken und deinen Aufstieg zu verfolgen, und als mein Mann vor einem halben Jahre starb – er war ein Greis und auch schon früher um so viel älter als ich –, da habe ich es gewußt, daß ich noch ein Wiedersehen mit dir haben würde. Jetzt erst bin ich wirklich froh.«
»Und nun soll ich in dein Haus eintreten, mein gutes Bärbchen?«
»Ich weiß, du bist es besser gewöhnt, Adalbert, bei Fürsten und wohl auch Prinzessinnen. Aber der ältesten Kindheitsfreundin zuliebe, so dachte ich mir –«
»Sprich nicht weiter. Sprich kein Wort weiter. Und wenn ich beim Maharadscha von Lahore absagen müßte, dieser Abend gehört dir und ist mir nicht feil für die herrlichste Austernschüssel des Sultans.«
»Austern,« sagte sie zaghaft, »kann ich dir freilich keine bieten.«
»Es ist auch nicht die Zeit dafür,« tröstete er sie. »Laßt es erst mal kälter werden. Aber einen Humpen Wein werde ich bei meiner wiedergefundenen Freundin entgegennehmen, um auf die Freundschaft zu trinken, die einzige, die echte, die aus den Kinderschuhen hervorgehen muß, die durch die Zwerchfellstraße und mit durch die Kinderschule gelaufen sein muß, um Stand zu halten, Stand, Stand bis zum Letzten und Allerletzten. Führe mich in dein Haus. Mich gelüstet's, in deine Welt zu sehen, Bärbchen.«
»Es ist eine kleine Welt, aber« – und ein schelmisches Lächeln glitt über ihr erregtes Altjungferngesicht – »auch eine kleine Welt hält eine Küche und einen Keller.«
Adalbert Ott beugte sich zu ihr hernieder und bot ihr den Arm.
»Nun fordere ich mein Jahrhundert in die Schranken. Wo geht der Weg? Ich bin bereit.«
*
Vieles hatte Adalbert Ott im langen, sturmbewegten Leben schon erfahren, uferlose Begeisterung der Jugend, unbegrenzte Gunst der Frauen, schwärmerische Dankbarkeit der älteren Fräulein und manches schützende Dach, wenn ihm die unerbittlichen Gläubiger auf den Fersen waren. Dies aber hatte er noch nicht erfahren. Er trat in Frau Barbaras Haus, wie er Hunderte von Malen in ein Haus eingetreten war, von dem er sich einen leckeren Schmaus, eine gutgefüllte Weinkanne oder gar, den Umständen entsprechend, eine größere oder kleinere Anleihe versprach. Und stand, als Frau Barbara auf huschenden Füßen die Gaskrone entzündet hatte, in einem Heim, auf das eine hagere und alternde Frau ein ganzes Menschenleben verwandt hatte, um es auf einen einzigen Namen, den Name ›Adalbert Ott‹ zu stimmen. Von einer Säule grüßte ihn der Gipsabguß seiner Büste, die ein Münchener Meister von ihm gefertigt hatte, von einem Lorbeerkranz umwunden. Von den Wänden grüßten ihn seine Bildnisse, hier als Mortimer, als Max Piccolomini, als Marquis von Posa, als Faust und weiter und weiter. Dort – er war von den jugendlichen Helden zu den schweren Helden und Charakterrollen vorgedrungen – als Graf Leicester, als Wallenstein, als König Philipp, Macbeth, Mephisto. Und weiter, weiter und immer weiter. Nicht eine
Rolle fehlte. Und um ihn im vollen Glanze und der sieghaften Herrscherkraft seiner Rollen zu zeigen, Szenenbild an Szenenbild. Dazwischen aber Kränzchen und Schleifen, die in zierlicher Stickerei den Tag seiner Geburt aufwiesen oder einen besonders großen Siegestag. Und die gerahmten Theaterzettel, seinen Namen rot unterstrichen.
Er würgte den Hut in den Händen. Er gab schnaubende Atemzüge von sich. Und dann stürzte er, laut aufheulend, Frau Barbara um den Hals.
»Altes Mädchen, braves altes Mädchen – – Ich bin's ja gar nicht wert.«
»Freut es dich, Adalbert?« fragte sie hocherglühend. »Warte, nun sollst du auch deinen Wein haben.«
»Ich bin schon trunken,« murmelte er und gab sie frei, »ich bin schon trunken ohne Wein, und das hat mir mein bösester Feind noch nicht nachsagen können.«
»Nein,« sagte sie, »ein Mann wie du kann keine Feinde haben.«
Er sah ihr verblüfft nach, als sie den Schlüsselbund ergriff und zur Kellerstiege ging. »Großer Schiller, wenn du jemals im Leben recht hattest: ›Anders, begreif' ich wohl, als sonst in Menschenköpfen – malt sich in diesem Kopf die Welt.‹« Und er wischte sich das eilige Wasser aus den Zecheraugen und ging behutsam von Wand zu Wand, von Bild zu Bild. Kein Gegenstand im Zimmer, der nicht seine Beziehung zu Adalbert Ott gehabt hätte. Nichts anderes. Rein nichts.
»Mich soll der Teufel holen, wenn das nicht aussieht, als ob das alles nur auf mich gewartet hätte. Als ob ich hier zu Hause wäre. ›Nun ward der Winter unsres Mißvergnügens glorreicher Sommer durch die Sonne Yorks.‹ Barbara, Barbara, du bist die Schutzgöttin der Artilleristen. Und mich soll der Teufel nochmals holen, wenn ich nicht mein stärkstes Kaliber auffahre.«
Und er ging von Wand Zu Wand, von Bild zu Bild, den Kopf hintüber, und sein Knebelbart stach verwegen in die Luft. So traf ihn Frau Barbara, als sie mit einer Kanne guten Landweins aus dem Keller zurückkehrte, und sie freute sich der stolzen und selbstbewußten Haltung ihres Gastes.
Adalbert Ott wandte sich um. Sein gesammelter Blick lag groß und warm auf Frau Barbara. Langsam schritt er auf sie zu, und seine Hände streckten sich ihr entgegen.
»Ich danke dir, Barbara.«
»Wofür – wofür?« stammelte sie verwirrt und bewegt.
»Daß du mich wieder an Menschentreue glauben gemacht hast.«
»Adalbert – das sagst du, der soviel Liebe im Leben erfahren hat?«
»Liebe, was ist Liebe? Liebe ist eine Neugier, ein hin und her jagender Funke, eine nervöse Geschmacksveränderung. Treue aber ist Wunschlosigkeit, Herdflamme, ein redlich Dauermahl an Speise und Trank. Ich sehne mich nach der Treue, Barbara.«
In glücklicher Erregung füllte sie ein schönes Stengelglas mit Wein. »Leer' es darauf, Adalbert.«
»Trink es mir zu, liebe Freundin. Ich danke dir. Und so trinke ich deine Treue.«
Er stutzte. Das Bild schien ihm nicht glücklich gewählt. Aber er trank das Glas leer und hielt es zum neuerlichen Füllen hin. Und Frau Barbara schenkte es voll und hatte nur den schönen Klang der Worte im Ohr und nicht den verunglückten Sinn.
»Jetzt werde ich den Abendtisch decken,« sagte sie geschäftig, legte ein Leinen aus Jakob Brockmanns Nachlaß auf den Tisch und die feinen Mundtücher vom selben Muster, trug die hübschen Porzellanteller auf und die wenig benutzten Messer und Gabeln aus Christoffelmetall und suchte lange, um die zwei edelsten Weinrömer zu bestimmen. Aus dem Garten holte sie ein Körbchen mit Blumen, die sie mit zierlich gespreizten Fingern über das Tafeltuch streute, name="page 184" title="Monie/fs2005" id="page184">verschwand in der Küche und kehrte mit einem großen Lackbrett zurück, von dem sich der saftige gekochte Schinken, die braune Servelatwurst, der goldgelbe Kalbsbraten und die schneeweißen Hühnereier, Brot, Butter und Radieschen in lieblichem Farbenspiel abhoben. »Es ist nur kalte Küche,« sagte sie entschuldigend, aber der Stolz der Gebenden lag doch auf ihrem Gesicht, als Adalbert Ott mit einem Ruf des Entzückens auf das Lackbrett zutrat, es ergriff und eigenhändig, den Knebelbart vorgestreckt, auf den Tisch trug.
»Zu den Waffen! Zu den Waffen! Wie steht's im Macbeth geschrieben? ›Das reichste Mahl ist freudenleer, wenn nicht des Wirtes Zuspruch und Geschäftigkeit den Gästen zeigt, daß sie willkommen sind.‹ Ha, mir scheint, ich bin willkommen.«
»Zu jeder Zeit, zu jeder Zeit.«
»Ein Schinken, wie der Kuß der Circe. Ja, lege mir vor, du hast eine glückliche Hand. Ich aß ihn zuletzt im Schlosse zu Stuttgart, aber, beim göttlichen Schweinehirten Eumäos, an dieser rosa Schönheit gemessen, war es nur die verzweifelte Ähnlichkeit der Stiefmutter zur süßen Königstochter im Märchen. Ein zweites Stück? Und Eier? Nun wohl, auch der brave Schweppermann nahm zwei Eier.« Er schlug sie auf, senkte die Nase darüber und zog achtungsvoll die Augenbrauen hoch. »Frisch wie der Himmelstau. Ich habe eine böse Erinnerung. Das letzte Ei überreichte mir im bayrischen Hochwald die Prinzessin Klothilde nach einer Fuchsjagd. Nichts mehr davon. Es roch. Und Roß und Reiter sah man niemals wieder... Ja, wenn ich um eine Scheibe dieses köstlichen Kalbsbratens bitten dürfte? Halt, halt! Nun ja, so leg' die Scheibe nur noch hinzu. Ein Kalb ist ja Gott sei Dank kein ausgewachsener Ochse. Man müßte es essen können wie ein Spanferkel, samt den zarten Knochen. Ich sagte es beim Herrenessen im Hause des Marquis de la Tour dem englischen Gesandten, der mir zur Linken saß, und wies ihm mißbilligend ein Brustrippchen, hart wie ein Eselskinnbacken. Aber welcher Diplomat von heute übt noch die Kunst des Schweigens? Der Engländer, eifersüchtig auf gewisse Vorrechte, die ich bei der schönen Marquise genoß, berichtete es ihr brühwarm und gehässig entstellt. Da ließ sie es zum Bruche kommen. Einfältig – –«
Er schaute über den Tisch. Erschrocken haschte Frau Barbara nach seinem suchenden Blick.
»Ich habe doch nichts versäumt, Adalbert?«
»Nein, nein. Wie könntest du. Nur die Last des Einschenkens möchte ich dir ersparen. O, o, hab' tausend Dank.«
Er trank das frischgefüllte Glas in einem Zuge aus und griff dann selber nach der Kanne.
»Bitte, bitte, überlaß mir die Sorge um das Getränk. Sieh, ich fühle mich schon so heimisch hier. Laß es ein Zeichen sein, daß ich es darf, daß ich mich ganz zum Hause meiner Jugendfreundin zugehörig betrachten darf, als läge zwischen den glücklichen Zeiten in der Zwerchfellgasse und dem wiedererwachten Heute nicht mehr als ein Nebeltag. Reich mir dein Glas! Ich bediene dich, wie ich nur Königinnen bediente.«
Frau Barbaras Hand zitterte, als sie ihm das Glas entgegenhielt.
»Ich habe mich nicht getäuscht. Ich habe mich nicht getäuscht, Adalbert. Ich wußte, daß du an deiner ersten Jugendfreundschaft festhalten würdest, wie ich, ja, wie ich. Für mich war es leicht, an der Seite von Jakob Brockmann. Aber für dich, umgeben von Fürsten, Grafen und hochgeborenen Frauen –«
»Fort mit dem ganzen Plunder!« schrie Adalbert Ott und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Sie sollen es wagen, dir zu nahe zu treten. Was sag' ich? Sich nur mit dir zu messen! Lächerlicher Gedanke. Und nun trinke ich gerade dein Wohl. Und nur das deine.«
»Beleidigst du die hohen Herrschaften nicht?« fragte Frau Barbara verschüchtert. Adalbert Ott hob verächtlich die Achseln.
»Beleidigen? Die Herren und Damen? Was sind sie mir? Lies im Hamlet nach, da steht's: ›Mehr als befreundet, weniger als Freund‹. Beim Heiland, der blasse Dänenprinz trifft wie mit der Degenspitze mitten ins Schwarze. ›Mehr als befreundet‹ – jawohl, wenn sie mich zu ihren Lüsten brauchten und zur Hebung ihres jämmerlichen Geisteszustandes. ›Weniger als Freund‹ – ja, ja und tausendmal ja, wenn mir einmal der Atem, will sagen das elende Kleingeld ausgegangen war und der Jude so wenig meinen Geist als bare Münze nehmen wollte wie Gevatter Schuster, Schneider und Handschuhmacher. Ich frage dich, Barbara, die du ein vornehmes Gemüt besitzest: ist es vornehm, einen Freund in vorübergehender Not im Stiche zu lassen? ›O Königin, es ist gemein.‹«
Er versank in Sinnen, und noch ganz versonnen tastete er nach der Weinkanne und schenkte den Rest in sein Glas. Darüber erwachte er, wie aus dunkler Nacht staunend der Morgen erwacht.
»Barbara, und ich bin hier. Hier in deiner lieben, kleinen Wunderwelt. Und saß den ganzen Tag in diesem fürchterlichen, ganz und gar unpersönlichen, modrigdumpfen Mauerloch, das sich frech das Staatszimmer des Gasthofs zum Römischen Kaiser benennt. Darum wollte ich morgen meinen Stab weitersetzen und gedachte doch, nun ganz der Heimat zu leben und den Erinnerungen.«
»Du gedachtest in der Stadt – du gedachtest bei uns, bei uns zu bleiben, Adalbert? Das wolltest du wirklich? Ich kann es ja gar nicht fassen –«
»Es war ein Traum,« sagte Adalbert Ott.
»Nein, nein,« bedrängte sie ihn, »laß es nicht nur ein Traum gewesen sein. Was dir gestern noch Wirklichkeit schien, muß doch auch heute noch zu ermöglichen sein. Weshalb schüttelst du den Kopf? Sag' doch wenigstens deine Gründe!«
»Ich kann in dem verfluchten Wirtshauszimmer nicht wohnen bleiben.«
»O, wenn es nur das ist! Du mietest dir eine Wohnung – ein paar hübsch und freundlich möblierte Zimmer –«
»Zu spät,« sagte Adalbert Ott und strich sich die Schläfen.
»Zu spät? Weshalb soll es zu spät sein? Du bist doch königlicher Pensionär und Herr deiner Zeit. Weshalb sollte es da zu spät sein? Ich helfe dir suchen, gleich morgen, wenn du willst, und ich weiß es, ich fühle es, wir werden das Passende finden, trotz aller Fürsten und Gräfinnen der Welt.«
Und Frau Barbara sprach den Stand der hohen Personen mit einem Gemisch von Angst und Abscheu aus. Adalbert Ott hatte das Mundtuch abgebunden und säuberlich zusammengelegt wie ein Mann, der es noch öfters zu gebrauchen gedenkt. Über seine Stirn aber schob sich ein schweres Gerunzel.
»Es geht nicht. Vor einer Stunde wäre es noch gegangen. Vor einer Stunde wäre ich noch nicht wählerisch gewesen. ›Ein einziger Augenblick kann alles umgestalten,‹ lehrt schon Vater Wieland im Oberon. Und der größte der Weimaraner, Altmeister Goethe, findet in Hermann und Dorothea ein noch klareres und darum schicksalschwereres Wort: ›Der Augenblick nur entscheidet – über das Leben des Menschen und über sein ganzes Geschicke.‹«
Frau Barbara faltete die Hände und hob den Kopf nach ihm hin.
»Was war denn das für ein schrecklicher Augenblick, Adalbert?«
»Schrecklich?« rief Adalbert Ott, und seine Augen strahlten. »Himmlisch war er, himmlisch, und daher unerfüllbar, weil zu schön für diese Erde. Und dich, Barbara, dich müßte ich anklagen, weil du ihn mir vor die Augen zaubertest.«
»Ich habe noch nicht gelernt, deinen Worten immer zu folgen,« klagte sie.
»Ja, Barbara, altes Bärbchen, dich müßte ich anklagen. Hierher kam ich zurück, abgehetzt wie ein Wettläufer, müde wie ein Galeerensklave, hierher kam ich zurück, um auszuruhen, um mich lächelnd in das Abendrot zu setzen, hierher, in das stille Idyll der Heimat, das verlorene und wiedergefundene Paradies der Zwerchfellgasse vor Augen, durch die ich mich im Schlafen und im Wachen Hand in Hand mit Bärbchen Brock ... nicht doch, so ist dein Frauenname – wie war es doch –?«
»Bärbchen Schneiders –« half sie ihm atemlos ein.
»– mit Bärbchen Schneiders laufen sah,« fuhr er kaltblütig fort. »Meine Kräfte wollte ich sammeln, um sie noch einmal sprühen zu lassen, in einem zusammengefaßten Werke meines Lebens, in den ›Lebenserinnerungen des Hofschauspielers Adalbert Ott‹. Hier wollte ich sie schreiben und auch dir ein Denkmal darin setzen, dir vor allem, meiner Jugendgespielin, meinem hellen Stern am Kindheitshimmel, der mir im bösen Braus und trüben Wogenschwall so oft zum Leitstern ward. Denn ich stand in vielen Anfechtungen. Ganz anspruchslos kam ich des Wegs und traf auf dich, und du führtest mich in dein Reich. Das, Barbara, das war der Augenblick.«
»Es gefällt dir bei mir?« stieß sie hervor und saß in heißer Erwartung.
»Es ist,« sagte er langsam und schwer, »das Märchen vom Schutzengel. Ein Mannesleben lang hab' ich nicht daran geglaubt. Hier ist es mir offenbar geworden. Während ich durch die Welt gerannt bin, ohne Rückschau zu halten, ohne die wichtigsten Vorkommnisse meines Lebens mehr als eines Blickes zu würdigen, geschweige denn sie in fester Hand zu halten – während ich so durch die Welt gerannt bin, gingst du mir nach wie eine Sammlerin durch das gemähte Ährenfeld und bandest die Garben und flochtest die Erntekränze und trugst sie alle in dein Haus, damit ich sie wiederfände, wenn ich sie eines Tages nötig hätte. Und ich trete in dein Haus und sehe an den Wänden, wohin mein Auge fällt, den Inhalt meines ganzen Lebens, den Baustoff zu meinen Lebenserinnerungen vor mir ausgebreitet. Das war der Augenblick, der entscheidend war für mein Leben und sein Geschick. Wie soll ich nur noch eine Nacht im kahlen Wirtshaus, wie soll ich Jahre des Schaffens in einer fremden Heimstätte zubringen? Und doch – es muß sein.«
Frau Barbara hatte ihn unterbrechen, sie hatte ihm in die Rede fallen wollen. Nun kam sie zu Wort.
»Es muß nicht sein! Es muß nicht sein!«
Und es war Lachen und Weinen in ihrer Stimme.
»Es muß nicht sein? Nicht? Nicht? ›Die Hoffnung nenn' ich meine Göttin noch!‹ rief der alte Wallenstein. Nein, nein, ich will mich von dem alten Manne nicht beschämen lassen. Sprich, Barbara, sprich zu Ende.«
»Wenn du wirklich fürlieb nehmen willst –«
»Wenn ich wirklich – –?«
Adalbert Ott hatte sich erhoben, mit weitgeöffneten Augen und die Hand an die Schläfe gepreßt.
»Wenn du wirklich fürlieb nehmen willst und es nicht eine schnelle Laune ist, Adalbert – ich wäre ja so glücklich, wenn ich dir dieses Zimmer einräumen dürfte und ein Schlafstübchen dazu.«
Es war heraus. Und ganz blaß saß Frau Barbara und staunte über ihre eigene Kühnheit.
Adalbert Ott war auf sie zugetreten. Er beugte sich über ihre Hand und preßte lange seine bärtigen Lippen darauf.
»Mein guter Geist – mein besseres Ich.«
»Nimmst du es mir nicht übel, Adalbert?«
»Ich bin eine schlichte Natur, und alles theatralische Getue ist mir in der Seele verhaßt. Daher sage ich nicht: ›Dein Wunsch ist mir Befehl‹, sondern schlicht und brüderlich: ›Dein Wunsch ist mein Wunsch.‹«
»Und es macht dir nichts aus, einsam bei einer alternden Witwe zu wohnen?«
»Ich nehme das Gerede der Welt auf mich. Wir beide wissen, ob es auch ein schmerzliches Wissen ist, daß wir an die Sechzig gehen. Aber wir wissen auch, und das ist das freudigste Wissen, daß Treue mehr ist als die Neugier der Liebe, daß sie Wunschlosigkeit ist, Herdflamme und ein redlich Dauermahl an Speise und Trank. Füll' mir den Becher, mein altes Mädchen – Ah, die Kanne ist leer. Aber darauf müssen wir trinken, auf den Bruder und die Schwester und, und –« er nahm sie fest in die Arme – »ach, Barbara, wie bin ich so glücklich, so glücklich –«
Sie nickte ihm mit feuchten Augen zu, nahm die Kanne und zapfte am Fäßchen den Wein.
»Barbara,« sagte er, als sie zurückkehrte, »Barbara, ich bin zu alt geworden, um noch verschwenderisch mit meiner Zeit umzugehen. Tu mir noch eine Liebe an. Schick' einen Nachbarjungen in den Gasthof zum Römischen Kaiser. Nach dieser Feierstunde hier kann ich das verfluchte Loch nicht mehr betreten. Es ist nur ein Handkoffer und ein Rucksack. Leichtes Reisegepäck, und der Bengel kann es auf der Achsel tragen. Ja, Barbara, ich ergreife schon heute Besitz, ich ergreife den Augenblick, damit du meinen heiligen Ernst gewahrst, und aus diesem Paradiese soll mich das feurigste Schwert nicht mehr vertreiben.«
»Halt,« rief er ihr nach, als sie in freudiger Geschäftigkeit von dannen eilen wollte, »noch eins! Der Junge soll dem Römischen Kaiser-Wirt bestellen, er solle mir meine Rechnung morgen in der Frühe senden. Hierher! In meine Wohnung.«
Nach wenigen Minuten schon war Frau Barbara zurück. Ihr Gesicht glühte. Ihre Augen suchten, ob der angebetete Freund nicht auf einer Wolke entschwunden sei. Aber es war nur die Wolke einer schweren Brasilzigarre, in die Adalbert Ott sich eingehüllt hatte, während er im Ohrenklappensessel feierlich seinen Wein trank.
»Jetzt werde ich dein Schlafstübchen richten, Adalbert. Es ist bald geschehen.«
»Gut, sehr gut. Gestattest du auch, daß ich rauche?«
»Aber – du bist doch in deinem Zimmer, Adalbert.«
»Richtig. Ich bin in meinem Zimmer.«
Er hörte sie im Nebengemach die Betten schütteln und das Leinzeug glätten. Gemächlich schenkte er sich ein. Er hörte sie die Waschschüssel rücken und die Wasserflasche füllen. Er tat einen tiefen, dankbaren Zug aus dem Glase. Hochrot vom emsigen Schaffen kehrte sie zu ihm zurück.
»Nun setz' dich einmal zu mir, mein Bärbchen. Von morgen an wollen wir von höheren Dingen reden, aber heute haben wir noch Niederes in der abscheulichen Sprache des Alltags zu besprechen. Setze dich zu mir und sage mir den Preis.«
»Den – Preis?« Frau Barbara wußte nicht, wo sie ihre Augen verbergen sollte. »Können wir – können wir das nicht auf ein andermal verschieben?«
»Du Ärmste. Ich wollte dich doch nicht kränken. Aber auch dieses muß doch zur Sprache gebracht werden, denn wenn auch das Haus dein eigen ist und die Wohnung geräumig genug ist, Essen und Trinken kostet doch auch sein Geld, und du wirst mir nicht zumuten – Nicht diesen Blick. Schön, ich schweige. Ich werde, wenn du es nicht anders willst, nie wieder auf diesen gräßlichen Gegenstand zurückkommen. Aber eins lasse ich mir nicht verwehren: daß ich beisteure, ohne dich zu fragen. Du nickst und lächelst Gewährung? Hand her! Und da kommt ja auch endlich der Bengel mit allen meinen Siebensachen.«
Und auch diese Nacht lag Frau Barbara wach in ihren Kissen. Sie selbst trieb den Schlaf hinweg. Drückte ihr die Müdigkeit für wenige Minuten die Augen zu, so fuhr sie doch gleich wieder empor, ordnete ihr Gedächtnis und überzeugte sich in fiebernder Hast, daß sie nicht geträumt habe, daß sie in Wahrheit Adalbert Ott beherberge, Adalbert Ott, den verwöhnten Liebling der Fürstenhöfe und der großen Welt, der dennoch trotz allen Ruhms und aller Ehren so fest an der alten Kindheitsfreundschaft hielt und nun bei ihr bleiben wollte, um seine, Lebenserinnerungen eines Hofschauspielers‹ zu schreiben und ihr, ihr darin ein Denkmal zu setzen. Tausend Gedanken jagten und überreizten ihr Hirn, trieben in enger Haft ihr wunderlich Wesen, überspannten ihre Einbildungskraft und zeigten ihr in schwärmerischen Wahnbildern immer nur sie selbst, in ihrem seligen Glauben, in ihrer standhaften Treue und in einer beispiellosen Opferfreudigkeit in Not und Gefahren. Seinen Schutzengel, seinen guten Geist, seine Schwester hatte er sie genannt. Nun hatte ihr Leben den lang ersehnten Aufschwung in ein höheres Pflichtendasein genommen.
Und während Frau Barbara wachte, dachte und glückselig lachte, lag der mächtige Körper Adalbert Otts steif ausgestreckt unter Jakob Brockmanns feinstem Leinen. Nur der Knebelbart ragte steil in die Luft. Und der alte Rattenfänger schlief und schnarchte so gewissensruhig wie ein sündenloser Engel.
Es war um die zehnte Morgenstunde, als Frau Barbara zaghaft an seine Kammertüre pochte.
»Der Hausdiener vom Gasthof zum Römischen Kaiser ist da, Adalbert.«
»Hat man vor diesen Halunken selbst bei Nacht keine Ruhe?« »Du hast ihn bestellt, Adalbert. Mit der Rechnung. Soll er wiederkommen?«
»Natürlich soll er. Das heißt, warte, mein Bärbchen, es lohnt wohl nicht um der wenigen Groschen. Händige ihm den Bettel ein und drücke ihm ein fröhlichmachendes Trinkgeld in die Hand. Sage dazu: Vom Herrn Hofschauspieler Ott. Jawohl – ich danke dir. Und in zehn Minuten nehme ich den Kaffee bei dir ein.«
Darin hielt er Wort. Einmal aus dem Schlummer gerissen, saß er nach zehn Minuten behaglich und Wärme verbreitend hinter dem Kaffeetisch, bestrich sich die knusperigen Semmeln mit frischer Butter, legte eine Schicht Honig auf, kaute, schluckte und schwatzte zwischendurch, daß Frau Barbara nicht wußte, woran sie ihre größere Freude haben sollte. Nur nach dem Hausdiener fragte er nicht mehr.
Dann hielt ihn Frau Barbara sorglich zu einem kleinen Spaziergang an, und da er sich weigerte und an ihrer Seite zu bleiben begehrte, trieb sie ihn mütterlich in den hellen, lockenden Sommermorgen hinaus, um sich mit ungeteilter Inbrunst ihren Küchensorgen widmen zu können. Und jedesmal, wenn er zu Tische kam, saß sie tief gerührt von seinem dankbaren Staunen und der unermüdlichen Ehre, die er den Speisen antat. Dann war ihr, als hielte sie den kleinen Adalbert aus der Zwerchfellgasse an der Hand. In der Dämmerstunde aber, wenn das Hauswesen blitzblank unter Dach und Fach gebracht war, kam sie feierlich zu Besuch und klopfte an seine Tür, und Adalbert Ott rief nicht »herein«, sondern ging ihr entgegen, öffnete eigenhändig und mit einer tiefen Hofverbeugung, bot ihr den Arm und holte sie ein wie Königinnen auf dem Theater. Und ein jedes Mal flog ihr von neuem die Röte der Freude über das Gesicht, und sie mußte sich auf dem Kanapee erst wieder ein wenig sammeln, denn alles erschien ihr wie ein unverdientes Glück.
Adalbert Ott aber war ein prächtiger Unterhalter, ein Stimmungskünstler, der Ton und Gesprächsstoff den feinsten Schwingungen der Seele und allen Forderungen des Tages anzupassen vermochte. Strahlte die Sonne mit ihrem letzten sehnsüchtigen Schein ins Zimmer, so schuf er aus dem Raum einen verschwiegenen Park voll süßer Verführungskünste, eine köstliche Waldwiese mit tanzenden Damen und Herren, wohl auch den schimmernden Ozean, über den er dahinfuhr, von einem Erdteil zum anderen und von Erfolg zu Erfolg. Entzündete Frau Barbara die Gaskrone, so war es Theaterzeit. Schon saßen die hohen und höchsten Herrschaften in den Logen, grüßten ihn mit der Hand, wenn er dunkel und schicksalsschwanger die Bühne betrat, und die Galerie zerstampfte den Bretterboden, bis er aus großen Augen ihr einen verlorenen Blick gesandt hatte. Dann sprach Adalbert Ott glutdurchwühlte Verse ins Zimmer, und Frau Barbara spürte Siedehitze und Eiseskälte im Blut, vergaß Ort und Zeit, hing, im Innersten durchrüttelt, an seinen Lippen, seinen flammenden Augen und verstand den Regen von Veilchensträußchen und Liebesbriefen, der sich zum Schlüsse über den unvergleichlichen Mann ergoß.
Nach dem Abendessen aber, wenn die Gedanken stiller, die Gemüter weicher werden, sprach Adalbert Ott von den Härten seines Daseins. Vor allem, wenn draußen die Herbststürme tosten und den nahenden Winter kündeten. Das waren Frau Barbaras liebste Stunden. Dann hatte sie ihn ganz für sich, dann war sie ihm überlegen, dann wuchs sie auf zur Trösterin und zur Helferin.
Mit einer Erinnerung an die Zwerchfellgasse begann es, an die kleine Wohnung unter gemeinsamem Dach, an die Armut der Eltern Ott und die entbehrungsreiche Kindheit des sehnsüchtigen Jungen. »Du kannst es mir glauben, Barbara, oft war der Apfel, den du dir für mich vom Munde abspartest, meine einzige Nahrung.« Und Frau Barbara erschrak bis ins Herz, als ob sie schuldig sei an seinem Kinderelend, und fragte betroffen und in heißem Mitleid: »Weshalb hast du es mir nie gesagt?« Und er antwortete: »Wie konnte ich es dir sagen in meinem Stolz. Denn ich liebte dich doch.«
Dann weinte Frau Barbara oft in ihr Tüchlein. Aber es waren Freudentränen.
Und Adalbert Ott schilderte weiter seine entbehrungsreiche Jugend, die nun schon fern von der Zwerchfellgasse und bald in einer fremden Stadt sich mühte, ein wenig Sonne zu erhaschen, seine Anfänge als Laufjunge beim Theater, sein Aufrücken zum Choristen und die langen Winternächte im eisigkalten Dachzimmer, die er kaum noch verspürt habe, so glühendheiß habe er studiert. Rollen, Rollen, Rollen, und alles, was damit zusammenhing: Dichtkunst, Kunstgeschichte, Weltgeschichte. Und Hunger und Durst waren vergessen, und nur der Stolz blieb. Ah, dieser herrliche Stolz.
»Ich mußte Schulden machen, als ich endlich an das Hof- und Residenztheater kam. Ich war ja so bettelarm. Wer lieh mir? Keiner. Nur die Halsabschneider zu wucherischen Zinsen. Ich unterschrieb alles unbesehen. Für die Kunst hätte ich mit Blut unterschrieben und meine ewige Seele verpfändet. Wußte ich doch, wofür.
Im Fleiß kann dich die Biene meistern,
In der Geschicklichkeit ein Wurm dein Lehrer sein,
Dein Wissen teilest du mit vorgezognen Geistern,
Die Kunst, o Mensch, hast du allein.
Nun wohl, ich hatte sie.« Er stand auf, trat zu Frau Barbara und drückte ihr inbrünstig die Hand.
»Ich hatte sie. Wenn auch unter Blut und Wunden. Sie ergab sich mir. Und wenn ich auch heute noch unter den Wunden blute und die Sorgen mir die Nachtruhe rauben.«
»Du hast Sorgen?« fragte sie wie gehetzt.
»Nicht wie du es dir denkst, meine alte Jugendliebe. Keine Sorgen um elendes Geld. Ich bin Königlicher Pensionär und erhalte allvierteljährlich einen straffen Beutel mit Goldfüchsen. Nein, nicht wie du es dir denkst. Höchstens, nun ja, annähernd so. Ich hatte ein Rieseneinkommen, aber auch Riesenverpflichtungen gegen den Hof, die altadeligen Geschlechter, den heraufgekommenen Geldadel. Oder hättest du lieber gesehen, daß ich vor der ganzen hochwohlgeborenen Geistesplebs nur immerfort gekatzbuckelt und nach der Wurstpelle geschnappt hätte wie ein feiler Köter? O nein, so niedrig denkt meine Barbara nicht. Mit vollen Händen hab' ich das Geld verstreut, habe Diamanten und Perlen durch meine Hände gleiten lassen, habe wie ein Gott unter ihnen gestanden. War's recht so? Ha, du lachst, du jubelst, ich kannte doch meine Barbara. Und nun ist der königliche Ruhegehalt erst aufs neue wieder zum ersten Jänner fällig, und wir schreiben heute den ersten Dezember, und die Hunde von Wucherern aus meiner stolzen Entbehrungszeit wollen die vier Wochen bis dahin nicht warten und plagen meine arme Seele mit Briefen und unverschämten Andeutungen. Pfui Teufel, das Gesindel! Sprechen wir von was anderem.«
Aber Frau Barbara sprach nicht von was anderem. Sie entrüstete sich mit ihm, daß auf ihren Wangen kreisrunde Flecke brannten, und dann redete sie ihm mütterlich zu, bis er ihr die allernotwendigsten Summen nannte, und hielt sich straff und aufrecht dabei und meinte, ein solches Gesindel dürfe ihm nicht einmal den Staub von den Stiefeln küssen, so unwürdig sei es, und wofür sei sie denn da, doch wohl, um bei all den großen Freuden auch ein wenig an den kleinen Leiden teilzunehmen.
»Barbara,« sagte er und stand mit gefalteten Händen, »du bist größer als ich.«
An diesem Abend ging sie früher, als ihre Gewohnheit war, in ihre Kammer und schloß das eingemauerte eiserne Geldspind Jakob Brockmanns auf und nahm von den schöngedruckten Zinsbogen so viele, bis die Summe erreicht war, die Adalbert Ott ihr nur widerwillig genannt hatte. Und es war heller Jubel in ihr, daß sie ihm in seinem Kampfe beistehen konnte.
Adalbert Ott wühlte sich in das seine Linnen seines Bettes und dachte: ›Nun haben ein paar der Spürhunde doch die Fährte gefunden, und ich glaubte, in diesem Nest so wundervoll untergetaucht zu sein. Bin gespannt, wie lange nun die ganze Meute auf sich warten läßt.‹ Er gähnte. »Gute Nacht, Ott.«
Noch zweimal im Laufe des Winters ging Frau Barbara zur nächtlichen Zeit an Jakob Brockmanns eingemauertes Eisenspind. Wohl hatte zum Neujahrstag der Geldpostbote einen stattlichen Turm funkelnder Goldstücke für Adalbert Ott hingezählt, aber diese Goldstücke hatten Beine wie die Tausendfüßler und liefen unter den Fingern davon, und Adalbert Ott tröstete: »Zum ersten April geht ein neues Goldschiff in meinem Hafen vor Anker.« Und hatte nicht Adalbert Ott zu ihr gesagt: »Du bist größer als ich«? Nein, sie wollte nicht kleiner sein als der großzügige Freund, der das Geld verachtete, und sie wollte das Geld nur darum lieben, weil sie mit ihm die Blutsauger seiner schweren Entbehrungsjahre von der Schwelle jagen konnte. Das war ein köstliches Gefühl.
Als es wieder Sommer wurde, waren ihre Renten schon auf die Hälfte zurückgegangen. Davon war der Haushalt nicht mehr in der alten Form zu bestreiten. Sie grübelte einen halben Tag in der Küche darüber nach, und dann hatte sie die Lösung gefunden. Wer mit Adalbert Ott dieselbe Luft atmete, verlernte es, Bedrängnisse feierlich zu nehmen. Nur an den Freund durften sie nicht heran. Das war der Punkt ihrer täglichen und nächtlichen eifersüchtigen Sorge. Sie schützte ein altes Magenleiden vor, kochte nur noch für einen und verzehrte später in aller Heimlichkeit die Reste. Und Adalbert Ott wurde immer unwiderstehlicher, sein Geist blühte auf wie eine Rose und funkelte wie ein Diamant. Jetzt schrieb er tagsüber an seinem Buch, an seinen Lebenserinnerungen. Einmal schon hatte er ihr ein Stück daraus vorgelesen, ein märchenhaft schönes Stück von einem glücksuchenden Betteljungen in der Zwerchfellgasse, dem man Steine statt Brot gab, und einem elfenhaft kleinen Mädchen, seiner Gespielin und einzigen Freude, die die Steine segnete und zu ihm sprach: Glaube nur daran, und es werden Rosen sein, Rosen auf dem Pfade deines Lebens. Hier hatte wohl Adalbert Ott eine kleine Anleihe bei der »Legende der heiligen Elisabeth« gemacht, aber nicht auf den Baustoff, auf die Wirkung kam es an, und die Wirkung war eine überwältigende, denn er nannte das Mädchen mit ganzem Namen und nannte sie »die alleinseligmachende Jugendliebe«.
Frau Barbara saß bleich vor Erregung und fühlte in ihrer Verzauberung nicht, wie sich lange Tränenspuren über ihre Wangen zogen. Doch Adalbert Ott fühlte es beim Lesen, und er brach sofort ab und verschwor sich hoch und teuer, der geliebten Freundin fürs erste kein Wort mehr aus seinem Buche mitzuteilen, da es sie zu stark ergreife. Und er setzte sich an das alte Klavier und spielte und sang liebe stille Volkslieder und zuletzt auch das, das sie in ihrem empfindsamen Herzen am liebsten mochte und das er sie auf dem Klavier hatte lehren müssen:
»Ade, mein Schatz, ade!
Und wenn ich dich nicht wiederseh',
Es ist doch – schön gewesen.« – –
Und wieder hatte Frau Barbara größere Beträge beim Bäcker, beim Fleischer, beim Kaufmann stunden und anlaufen lassen. Es war ihr alles gleich. Aber die Lawine hatte sich in Bewegung gesetzt, und es gab ein untrügliches Zeichen dafür: Adalbert Ott wurde unruhig und spitzte die Ohren. Er kannte den Ton.
Und gerade in dieser Zeit brachte der Postbote eine gerichtliche Zustellung aus der Haupt- und Residenzstadt für den Hofschauspieler a.D. Adalbert Ott, und als Adalbert Ott die Unterschrift geleistet hatte, ging er still an Frau Barbara vorüber in seine Kammer. Alle noch unbefriedigten Gläubiger des einstmaligen Hofschauspielers, die Schuhmacher und Schneider, der Perückenmacher und der Pferdeverleiher, der Hauswirt und ein Dutzend Gastwirte, Juwelenhändler, Kürschner, Wein- und Austernhandlungen hatten sich zusammengeschlossen und – wie es im Gerichtsstil des Schreibens hieß – »die Königliche Pension bis auf weiteres mit Arrest belegt«.
Nach einer Stunde, nach zwei Stunden pochte Frau Barbara an die Tür. Vergeblich. Ihr wurde nicht aufgetan. Ihre Angst und ihre Aufgeregtheit stieg, und sie kam von Stunde zu Stunde und pochte bis zum Abend. »Adalbert! Hast du kein Vertrauen zu mir?« Und als die Dämmerung ins Zimmer fiel, trat er endlich hervor, mit zerwühltem Haar und Bart.
»Adalbert – was ist dir?«
»Sei stark, Barbara. Wir müssen uns trennen.«
»Was ist, was ist? Ich bin deine Freundin, deine Helferin. Es muß ein Mittel geben, auch das Furchtbarste zu überwinden. Vertrau' dich mir doch an, wie du es immer getan hast. So sprich doch endlich.«
Adalbert Ott hatte sich in den Sessel geworfen. »Es ist nicht furchtbar, es ist nur so furchtbar lächerlich. Verstehst du das? Lächerlichkeit tötet.« Und er murmelte allerlei Krauses und Queres von einem geheimen Kind, von dem seine Seele nichts wisse, und der Hof solle sich schämen, es ihm in die Schuhe zu schieben, noch mehr aber solle er sich schämen, eine blödsinnige Kammerjungfer an Stelle der Herrin vorzuschieben, nur um auf diese ausgeklügelte Weise sich um die bedeutenden Erziehungskosten herumzudrücken und für die Kammerjungfer ein billiges Schweigegeld zu erzielen. »Zwölftausend Mark Abfindungssumme. Oder eine öffentliche gerichtliche Verhandlung und Feststellung. Ah, das überleb' ich nicht. Das nicht.«
Nun war sie ganz ruhig. Geld? Nur Geld? Nichts weiter? Sie hatte an eine Herausforderung zum Zweikampf, an Sterben und Scheiden gedacht. Und es war nichts als Geld.
»Ich kann es von dir nicht annehmen,« lehnte er ab, bevor sie zum Sprechen gekommen war. »Ja, wenn ich mein Buch schon beendet hätte. Aber so? Das hieße bei Gott mit der Freundschaft Mißbrauch treiben.«
»Schweige,« sagte Frau Barbara streng. »In meine Auffassung der Freundschaft lasse ich mir von keinem hineinreden, selbst von dir nicht. Verzeihe mir den scharfen Ton, aber du zwingst mich dazu. Wie hoch beläuft sich die Summe? Zwölftausend Mark? Und das nennt sich ein Hof! Mein lieber Freund, du wirst größer als dieser Hof sein und dich nicht mit ihm vor Gericht herumstreiten.«
»Barbara – wie willst du es schaffen? Es ist weggeworfenes Geld.«
»Für dich ist kein Geld weggeworfen. Aber name="page 208" title="HannoS/mann" id="page208">du – du sollst es ihnen vor die Füße werfen. Rate mir, was ich tun soll.«
»Barbara – deine Zinspapiere sind dein Lebensbrot. An die letzte, die eiserne Ration darfst du nicht mehr heran. Das verbiete ich dir. Dein Lebensabend soll golden sein. Aber das Haus –? Das Haus ist für die lachenden Erben. Beim Himmel, so ist es. Nimm eine Hypothek auf das Haus, und ob deinen Erbschleichern das Lachen vergeht – wir haben es wiedergefunden, das Lachen!«
Und schon am anderen Tage wurde beim Bankherrn im Städtchen die Hypothek aufgenommen und bald gerichtlich eingetragen. Adalbert Ott fand mit der Summe den Rest seiner Gläubiger ab. Was er noch nie in seinem langen Leben gewesen war – er war schuldenfrei, arbeitsfrei und ein Königlicher Rentenempfänger bis ans Ende seiner Tage. Nun ließ es sich endlich leben. – –
Die Lawine aber rollte mit verdoppelter Schnelligkeit nieder. Heldenhaft begegnete Frau Barbara ihrem Anprall. Bäcker und Fleischer, Kaufmann und Geldleiher stürmten das schwer belastete Haus. Die Rollen waren ausgetauscht. Adalbert Ott war ein ehrenhafter Rentner, und sie trug Adalbert Otts Schicksal. Aber sie trug es kriegerisch und jede Stunde zum Fechten bereit. »Kommt nur heran! Keinen Pfennig name="page 209" title="HannoS/mann" id="page209">für euch! Habt ihr den berühmtesten Sohn eurer Stadt warten und warten lassen, so sollt ihr auch warten!«
Die Lawine sank zerschmetternd. Schwindelnd schnell ging alles seinen Lauf. Schon die ersten Hypothekenzinsen vermochte Frau Barbara nicht zu zahlen. Die Hypothek wurde ihr gekündigt, das Haus zum Zwangsverkauf gestellt. Die Vettern und Basen Jakob Beckmanns, die schon immer scheel geschaut hatten, rannten zum Richter und zum Vormundschaftsgericht und betrieben das Entmündigungsverfahren wegen Verschwendungssucht und Unvermögens der Frau, ihre Angelegenheiten zu verwalten. Sie suchten zu retten, was zu retten war. Das Haus kam zum Verkauf und erbrachte nur ein paar tausend Mark mehr als die Hypothek. »Schlag den Erbschleichern ein Schnippchen,« riet Adalbert Ott der Kampfeszornigen. »Heraus müssen wir hier doch. Nimm deine ganze Habe, kauf' dich ins Altfrauenstift ein, leg' dich zum Fenster hinaus und lach' die Verbrecherbande aus. So bleiben wir doch in derselben Stadt und sehen uns täglich.«
Das war ein Rat! Frau Barbaras Augen verloren das Funkeln nicht, als sie ihn befolgte. Und an einem Frühlingsmorgen holte Adalbert Ott selber eine Droschke und fuhr mit Frau name="page 210" title="HannoS/mann" id="page210">Barbara, ernst und stolz zurückgelehnt, zum Altfrauenstift. –
Im Städtchen aber hatte man in dieser Tage Schwere Frau Barbaras heftiges Wort vom berühmtesten Sohn der Stadt von Hand zu Hand gegeben. Die Weisen der Stadt steckten die Köpfe zusammen, sie gingen aufs Rathaus und schlugen in den standesamtlichen Registern nach. Und sie fanden in einem verstaubten Jahrgang die Geburtseintragung: »Adalbert Ott, Sohn des Arbeiters Albert Ott und seiner Ehefrau Therese geborene Schmidt.« Eine Rückfrage beim Hof- und Residenztheater der Hauptstadt bestätigte die Einheit der Persönlichkeit. Und als Adalbert Ott heimkehrte von dem Geleit, das er Frau Barbara wie ein echter Freund gegeben hatte, und in seinem bild- und kranzgeschmückten Heim nachdenken wollte, ob er wohnen bleiben könne oder umziehen müsse, fand er daheim eine Anzahl Herren in schwarzem Leibrock und Zylinder vor, die sich ihm als Vorstand der Kasinogesellschaft kundgaben und ihn auf den heutigen Abend zu einem »Adalbert-Ott-Abend« einzuladen sich die große Ehre gaben. Herr Gymnasialprofessor Breithaupt würde in einem ausführlichen Vortrag versuchen, den Bürgern der Stadt Wesen und Bedeutung dieses ihres größten Mitbürgers gebührend vor das geistige Auge zu rücken.
Adalbert Ott nahm mit Handschlag an. Und als am Abend Frau Barbara sich im Altfrauenstift zum erstenmal zur Ruhe streckte, war just das brausende Loblied des Herrn Professors in dreifachem Hoch auf Adalbert Ott, den »Bahnbrecher der Kunst und den bezwingenden Menschen« ausgeklungen, und der gefeierte Mann dankte durch eine seiner hinreißendsten Gaben: »An Schwager Kronos.«
Spute dich, Kronos!
Fort den rasselnden Trott!
– – – – – – – –
Töne, Schwager, ins Horn,
Raßle den schallenden Trab,
Daß der Orkus vernehme: wir kommen!
Daß gleich an der Türe
Der Wirt uns freundlich empfange. – –
An diesem Abend – es war weit nach Mitternacht – spannte man im Städtchen zum ersten Male einem Menschen die Pferde vom Wagen und zog ihn unter brausendem Gesang heimwärts. – –
Frau Barbara aber wurde im Altfrauenstift durch die heilige Dichtung, die sich um ihre und Adalbert Otts Jugendliebe und Altersfreundschaft spann, die bewundertste Persönlichkeit. Was ihr die alten Weibchen, die nach mancherlei Schiffbrüchen das Haus bevölkerten, an den Augen absehen konnten, das wurde ihr erfüllt, nur, um der Erlaubnis teilhaftig zu werden, in Frau Barbaras Stübchen sitzen und ihren Erzählungen lauschen zu dürfen von Liebe, Liebe, Liebe. Zu diesem Mann!
Den Kaffee brachten sie ihr täglich und Kuchen und Schokolade, strickten und nähten für sie, ließen sie an keine Arbeit heran, hatten sogar ein altersschwaches Spinett in ihr Zimmer geschoben, auf dem Frau Barbara zuweilen verträumt ein Volkslied spielte. Wenn aber die Stunde nahte, in der die Reckengestalt Adalbert Otts vorüberzuwandeln pflegte, so stand Frau Barbara am offenen Fenster. Und er grüßte sie tief und ehrerbietig, wenn er Bürger und Bürgerinnen auf der Straße gewahrte. Denn dann spielte er für die Logen. Und wenn es menschenleer auf der Straße war, so ließ er den Steirerhut kreisen und warf eine Kußhand. Denn dann spielte er für die Galerie und hatte die Schar der lauschenden alten Weibchen hinter den Fenstergardinen wohl gewahrt. Er war auf dringendes Bitten des neuen Hauskäufers gegen geringes Entgelt als Pächter des kleinen Anwesens wohnen geblieben und hielt sich eine noch junge und arbeitsfreudige Haushälterin.
Und Frau Barbara stand im offenen Fenster des Altfrauenstiftes, angesichts der ganzen Stadt, und fühlte sich beneidet vom jüngsten Mädchen bis zum ältesten Stiftsweiblein. Nie im Leben hatte sie sich so wahrhaft glücklich gefühlt.
Nun ging sie zum Spinett und suchte die oft gespielten Töne.
Und das brüchige Stimmchen des Spinetts sang es dem rüstig dahinschreitenden Recken nach:
»Ade, mein Schatz, ade!
Und wenn ich dich nicht wiederseh',
Es ist doch – schön gewesen.«