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Über das Land lief die Erwartung des Friedensschlusses. Wie ein Wechselfieber liefen die angespannten Hoffnungen, die fassungslosen Niedergeschlagenheiten durch den siechen Körper.
Zu Versailles aber gaben die Sieger ihren Völkern ein Schauspiel. Die im Laufe zweier Jahrtausende verfeinerte Empfindungswelt war ausgebrannt wie ein Krater, in Schlacken türmte sich, was einstmals die Kultur der christlichen Nationen geheißen hatte. Bis zum rohen Kitzel der Heidenzeit mußte zurückgegriffen werden, um die Schaulust der Massen zu befriedigen. Und man führte ein Heldenvolk vor, das vier endlose Jahre hindurch mit malmenden Fäusten die ganze Welt zurückgeschlagen hatte, bis Heer und Heimat die Entkräftung des Leibes und der Seele übermannte und ein Heldenvolk auflöste in zusammenbrechende Haufen körperlich und geistig Entkräfteter. Man führte die Entkräfteten vor, die sich in der Qual einer halbjährigen, demütigenden, von Hunger und Mißtrauen gepeitschten Friedenserwartung selbst untereinander noch zerfleischt hatten, brach ihnen das Rückgrat und ließ sie wie erdefressendes Gewürm durch das kaudinische Joch kriechen. So waren die Tage beschaffen, die dem Sturm auf die Opterbergwerft folgten, und wie Hammerschläge fielen sie auf Martin Opterbergs Hirn und Herz. ›Schlagt zu, schlagt zu,‹ dachte er, ›das Eisen muß gestählt werden.‹ Aber wie die Schläge schmerzten, darüber sprach er zu keinem Menschen.
Der Tod der Sabine Barthelmeß und ihres Gefährten hatte ihn einige Tage in eine selbstgewählte Einsamkeit getrieben, die von den Freunden in schweigender Zurückhaltung geachtet wurde. Diese Einsamkeit war eine gesteigerte Arbeit vom Morgen bis in die Nacht. Die Feuerschäden der Werfthalle mußten in kürzester Frist ausgebessert sein. Die Spanten eines neuen Frachtschiffes wurden auf die Helling gelegt. Der schwimmende Frachtdampfer hatte klar zur Fahrt zu machen.
Wenn Martin Opterberg mit müden Gliedern in sein Haus heimkehrte, ließ er sich das Abendbrot in sein Arbeitszimmer bringen. »Hab ein wenig Geduld mit mir, Linde,« hatte er am ersten Abend des Werftüberfalls gebeten. »Es ist noch einiges in mir abzurechnen, und das kann ich nur allein.«
»Sprich nicht erst, Martin,« hatte Linde Baumgart geantwortet, »es wär' mir leid um mich, wenn ich erst der Worte bedürfen müßt',« und sie war mit einem stillen und freundlichen Blick aus dem Zimmer gegangen.
Auf ihrer Mädchenstube aber litt sie schwerer und heißer als der einsame Mann, von dem sie nicht wußte, wie heftig die Geschehnisse seine Gedanken bewegen mochten, und oft sprang sie in der Nacht empor, horchte ins Haus, schlüpfte die Treppen hinab und horchte an seiner Tür, immer bereit, auf den leisesten Schmerzenston hin bei ihm einzudringen und ihn von seinen Lasten zu erlösen.
Aber Martin Opterberg hatte sich nicht in die Einsamkeit begeben, um einen Schmerz niederzuringen oder einen Stachel aus seiner Seele zu ziehen. Die Schläge, die auf sein Hirn und Herz niedergefahren waren, hatten den Volksangehörigen in ihm getroffen. Der Mann in ihm, der vor langen Jahren von einer Sabine Barthelmeß gewußt hatte, fühlte keinen Schmerz. Und doch war es diese Schmerzlosigkeit, über die er zwei Nächte hindurch grübelte, die er durchleuchtete und durchwühlte. Er griff in eine Leere, er leuchtete in ein Nichts. Und in der dritten Nacht erst fand er.
Es war kein Erschrecken in ihm, als das Nichts sich erhellte und aus der Leere aufrecht und stark die Genugtuung trat. Die Genugtuung, befreit zu sein von seiner Lebensschmach. Die Genugtuung, zu leben und die Feinde dahin zu wissen. »Du oder ich?« hallte es ihm aus den Feldzugstagen in den Ohren. » Du!!« gellte es in ihm auf. Und er spürte aus grauen, altgermanischen Tagen das Blut der Voreltern in sich wogen. Er war Sieger.
Aber auch in Versailles wurde ein Schauspiel aus grauen, heidnischen Zeiten zu Ende gespielt. Die Friedensbedingungen, die das Siebzigmillionenvolk der Deutschen mit Keulen zu Boden schlugen, mußten von den Entwaffneten und Entnervten gegen eine Henkersfrist unterschrieben werden.
Nun galt es, in dieser Henkersfrist ein neues Deutschland zu schaffen oder sich in den Erbärmlichkeitstod durch den Strang zu schicken.
Als die Nachricht von der ungeheuren Schmach eintraf, die zu Versailles für das deutsche Volk und jeden Mann, jede Frau und jedes Kind in deutschen Landen ersonnen war, begaben sich die Freunde in Martin Opterbergs Haus. Es war ein Junisonntag von sehnsüchtiger Schöne.
Aber der Mann in tiefer Trauer, den sie vorzufinden dachten, war nirgend zu erspähen. Mit klarer Stirn und klaren Augen empfing Martin Opterberg seine Gäste, schüttelte ihnen die Hand und dankte ihnen für ihr Erscheinen.
»Das Urteil ist rechtskräftig. Ob wir es schelten, schimpfen und bestöhnen, es wird an uns vollzogen. Da scheint es mir besser für unser bißchen Kraft und würdiger für unser letztes völkisches Empfinden, wenn wir entschlossen den großen Querstrich ziehen. Dort die Vergangenheit – hier die Zukunft. Und die Gegenwartscholle, auf der wir heute stehen, muß für die Zukunft unter den Pflug genommen werden.«
»Gott sei gedankt,« sagte Christoph Attermann, »daß du aussprichst, was ich denke. Und daß deine Augen wieder so hell in die Welt schauen.«
»Lasset die Toten ihre Toten begraben, Christoph. So steht's schon in der Bibel. Und im Gesangbuch steht der alte, schöne Erkenntnisvers: Wir machen unser Kreuz und Leid – nur größer durch die Traurigkeit.«
Linde Baumgart stand am Tisch. Ihre Hände zitterten auf der Platte. So strömte die Freude in ihr. Therese Attermann gewahrte es. Sie trat neben die Schwester und legte den Arm um sie. »Jetzt ist er ganz gesundet, Lindele ...«
»Ja – jetzt marschiert er ins neue Leben.«
Und die Broichs, die sich in ihrem Zusammengehörigkeitsgefühl nicht vor dem alten und nicht vor dem neuen Leben gefürchtet hatten, lachten den nur finster sich zurechtfindenden Tillmann an, und Therese Attermann fragte, während sie im Kreise um den runden Tisch saßen: »Wo geht der Weg? Wir wollen ihn zusammen begehen wie die Jugendwege tief im Schwarzwald.«
»Ja, Schwesterherz,« sagte Martin Opterberg und sah ihr voll in die Augen, »dort wollen und dort müssen wir wieder beginnen: in der Einfachheit und der nie ausgeforschten Schönheit der Natur. Unser ganzes Volk müssen wir in die Kindheitstage, in die Jugendzeit zurückführen und es von Grund an zu einem neuen Leben erziehen. Wir sind durch den Krieg arm geworden und werden noch ärmer durch den Frieden werden, wenn wir erst seine Bedingungen erfüllen müssen. Was aber tut eine verarmte Familie, die sich nicht ihren Lebensmut und ihre Lebensfreude rauben laßt? Sie spricht: einst war die ganze Welt mein Haus – jetzt ist mein Haus die ganze Welt. Siehst du, Therese: hier, mein' ich, geht der Weg. In den Schoß der Familien müssen wir zurück, an die Mutterbrust der Schlichtheit und Gesundheit. Und mit unserem Wiedererstarken von unserem Hause, von der Familie aus Kreis um Kreis ziehen und nach den engeren Ringen die weiten.«
»Ja, Martin, echte und rechte Heimatmenschen müssen wir werden, wenn wir's Glück wollen.«
Linde Baumgarts Augen lachten, während die Schwester es sagte.
»Was freut dich denn so sehr, Lindele?«
»Mich freut trotz der Schwere der Zeit, daß es halt so und nicht anders werden muß in deutschen Landen. Daß die Menschen, weil's Geld nimmer langen wird für die teueren Prunkbäderstädte, hinauswandern müssen und hinauswandern werden in den deutschen Märchenwald und über die träumende Heide und durch die duftenden Ährenfelder, wenn sie eine Herzensfreud' haben und statt der Dachziegel Gottes Sonne und den funkelnden Sternenhimmel sehen wollen. Und weil der Deutsche, da ihm für seine Erholungsfahrten auf lange Zeit das Ausland gesperrt sein wird, weil der Deutsche nun endlich einmal sein wunderschönes liebes Deutschland kennen lernen wird.«
»Und auch die Spinnweben und Wespennester im wunderschönen lieben Deutschland,« knurrte Tillmann und rieb sich grimmig die Hände. »Ausgefegt werden müssen sie, soll frische Luft sein.«
»Und die Herren Weltbürger dazu,« rief Christoph Attermann, »diese Herren ›Überall zu Haus‹ und nur nicht im eigenen Vaterland. Wenn ich an diese knochenlosen Kurpfuscher denke, diese geschmeidigen Drückeberger in Deutschlands Not, spür' ich meine Galle.«
»Es gibt eben Menschen,« meinte Broich verächtlich, »die sich aus Angst, für Männer gehalten zu werden, lieber selbst entmannen.«
»Dem ungeduldigen Kranken hilft nur ein willensstarker Arzt,« sagte sinnend Therese Baumgart, »der, wenn's not tut, zum Chirurgenmesser greift. Vorläufig horcht daß Volk, das so ein ungeduldiger Kranker ist, noch auf das Marktgeschrei eines jeden geschwätzigen Quacksalbers, der ein Leibweh höchstens in ein ärgeres Kopfweh umzuwandeln vermag.«
»Und wann wird der Arzt kommen? Wo nehmen wir ihn her?« Und ein jeder sprach seinen Spruch.
»Es wird der größte Mann der deutschen Geschichte werden!«
»Nur wer im eigenen Hause Ordnung zu halten vermag, ist berufen, sich um die Ordnung auf den Märkten zu kümmern.«
»Klein beginnen, aber mit dem unbeugsamen Willen, in die Höhe zu wachsen. Vom eigenen Haus aus die Kreise ziehen, wie Martin Opterberg es sagt, und nach den engeren Ringen die weiten.«
»Eine geschichtliche Erlösung kann nur bringen, wer eine neue und größere Geschichte bringt.«
»Ich wollte,« sagte Martin Opterberg, »im ganzen deutschen Vaterland säßen sie in dieser Stunde Haus bei Haus und sprächen von den Lichtquellen der Zukunft und nicht von dem niedergebrannten Kerzenstumpf der Vergangenheit. Und schüfen an der neuen deutschen Welt, in der es nur noch zwei Parteien und zwei Klassen von Menschen geben dürfte, die Anständigen und die Unanständigen, und die letzten nur, weil wir keine Engel sind und des Sauerteigs bedürfen. Freunde, nie hat eine schwerere Stunde ein Volk der Erde betroffen, und dennoch wollen wir stolz sein, daß wir sie miterleben, daß wir an eine Aufgabe mit herandürfen, für die die Besten gerade gut genug sind. Daran wollen wir denken, wenn wir allein sind und die Einsamkeit fühlen.«
Die Freunde erhoben sich. Wortlos, aber mit klarblickenden Augen. Sie schüttelten sich zum Abschied die Hände und gingen heim, ein jeder, wohin er gehörte. Und der Juniabend schaute durch die Fenster in seiner sehnsüchtigen Schöne ...
Martin Opterberg war in sein Arbeitszimmer hinübergegangen. Er saß in der dunklen Ecke seines Ledersofas, und Linde Baumgart stand in der Tür und betrachtete ihn mit ihren warmen Blicken.
»Hast du noch einen Wunsch, Martin?«
»Ja, Linde, ich hätte noch einen Wunsch, und ich meine, die schweren Tage sind vor den anderen dazu geschaffen, um sich Wünsche zu erfüllen.«
»Nenn den deinen, Martin ...«
»Ich möchte, Linde – ich möchte, daß du die Laute nähmst und sängst. Gerade an diesem Tag der deutschen Schmach und Schande. Nur das eine Lied, Linde, das Heldenlied, das uns vier Jahre vorangezogen ist in die Schlacht. Hol deine Laute, Mädchen.«
Sie nickte ihm zu, ging und kehrte mit der Laute wieder.
In dem tiefen Sessel saß sie ihm gegenüber, die Wange an den Lautenhals geschmiegt, und aus dem dunklen Lederpolster leuchtete ihr Gesicht so weiß wie ihr Sommerkleid.
»O Deutschland, hoch in Ehren ...«
Martin Opterberg horchte auf, als riefen die Geister der Toten aus den fernen Gräbern in Frankreich, Flandern und Polen. Seine Augenlider röteten sich. Seine Wimpern wurden feucht. Aber sein Herz schlug nicht im Jammer um das Gewesene, es schlug im Stolz um die unvergänglichen Großtaten seines Volkes. O Deutschland, hoch in Ehren!
Die reine Mädchenstimme schwoll an, und die klingenden Saiten trugen sie hinauf zu den Höhen, von denen der Blick in die Weite geht.
»Haltet aus im Sturmgebraus!«
Und Martin Opterberg hörte nicht mehr die Geisterstimmen aus den Gräbern. Seine Augen hatten den alten Glanz zurückgewonnen. Kein Erinnerungstropfen hing mehr an seinen Wimpern. Vornübergebeugt saß er und schaute auf der Sängerin Lippen, als sähe er eine begeisterte Seherin sitzen und der neuen deutschen Welt den Zukunftglauben stählen in dieser Wind- und Wolfszeit, da der Wintersturm brauste im Junimond. Haltet aus! Wir sterben nicht! Wir erstehen! Haltet aus im Sturmgebraus ...
Die Mädchenstimme schwang sich hoch auf aus der grauen Zeitlichkeit zu den ewigen Sternen, und des Mannes Augen leuchteten still und strahlend in der Gewißheit deutscher Unsterblichkeit.
»Haltet aus im Sturmgebraus!«
So feierte Martin Opterberg den Friedensvertrag von Versailles, der ein atemlos gewordenes Volk mitten ins Gesicht schlug.
Die Sängerin hatte die Laute an den Sessel gelehnt. Sie stand und waltete, und ihre Brust bebte noch von dem Lied.
»Nun ist die Reihe, zu wünschen, an dir, Linde.«
»Ja, Martin ...«
»So sag auch du deinen Wunsch.«
Sie trat zu ihm hin. Auf scheuen Füßen. Und dann kauerte sie sich ganz dicht zu ihm und legte ihm die flachen Hände gegen die Brust.
»Hab mich lieb ...«
Wie ein letztes, silbernes Lautenschwirren glitt es durchs Zimmer.
Martin Opterberg blieb wie gebannt. Er rang nach einem Wort und fand nicht eins. Alles, was er in dieser Sekunde zu denken und zu fühlen vermochte, sammelte sich im Anblick dieser friedebringenden Mädchenaugen.
»Hab mich lieb ...« bat das Mädchen zum zweiten Male.
Da hob er die Arme und schlang sie um ihre Schultern und zog ihr Herz so fest an das seine, daß sie plötzlich alle Kraft verlor. Aber die weitgeöffneten Augen hielt sie standhaft auf die seinen gerichtet.
»Linde ... Linde ... das bittest du mich? Du – mich?«
»Ja, Martin ... Es ist ja eins ...«
»Gib mir deinen Mund, du –«
Sie hob ihr Gesicht ihm entgegen. –
Er blickte auf ihre Lippen ... Er spürte, wie ihm ein heißes, seliges Lachen aus fernen Jugendtagen in die Augen trat ... Und er fühlte, daß die Jugend wiedergekommen sei.
Irgend ein Wort stieß er hervor, von dem er selber nicht wußte, ob es ein Wort war, und nur, daß es einen Gruß bedeutete, einen Gruß des Wiederfindens, des Festhaltens, einen Glücksgruß wie auch immer.
Und während er ihr den Atem von den Lippen küßte, legte sie ihre Hände fest um seine Schläfen.
»Linde, Linde, ich hab' dich lieb. Weshalb fragst du mich?«
»Damit du weißt, wie sehr ich auf dich warte ...«
»Du hast gewartet? Warum? Warum?«
»Um dir zu bringen, was du brauchst, um als ein Junger ausfliegen und – heimfliegen zu können.«
»Als ein Junger ... Wo ist dein Mund? Wo sind deine Augen? Als ein Junger, o du ... Nun trink' ich aus dem Jugendbrunnen. Gib, gib ...«
Und es wurde Nacht, und sie sahen nur ihre Augen und spürten nur einer des anderen Herz.
»Es ist Johannisnacht,« sagte das Mädchen leise. »Das ist die Nacht der bräutlichen Paare.«
»Es ist Johannisnacht,« sagte Martin Opterberg, »auf den Bergen flammen die Johannisfeuer, und die Menschen, die sich lieben, schwingen sich Hand in Hand durch die Flammen wie durch ein läuterndes Bad. Das ist ein deutungstiefer Brauch.«
»In diesem Jahre,« fuhr das Mädchen fort, »brennen keine Johannisfeuer auf den deutschen Bergen. Drum wollen wir die Flammen in unseren Herzen schüren, daß sie unser ganzes Wesen reinbrennen zum bräutlichen Fest.«
»Mitsommerfest, Linde, Mitsommerfest! Nun erst steht die Sonne im Scheitelpunkt.«
»Ja, Martin. Nun erst beginnt das Leben und Erleben in der Reife.«
Sie standen am Fenster und blickten in den werdenden Johannistag, der die Nacht verdrängte, bevor sie sich ausgebreitet hatte. Schon zuckten die Vorboten der ersten Sonnenstrahlen fernhin über den Himmel.
»Das soll uns ein Zeichen sein für unsere Lebensfahrt, Martin. Schau hin. Nach kurzer Nacht ein langer Tag.«
»Und ein Zeichen für unser Vaterland, Linde. Zu Johanni stürzten uns die Feinde in die Nacht der Schmach. Aber die Johannisnacht ist die kürzeste des Jahres.«
Sie schmiegte sich in seinen Arm, als wären sie nur ein Leib und eine Seele.
Und das Johanniswunder eröffnete alles Land und alles Leben dem Licht. Über den Rhein blitzte es hin wie Funken, und in den dichtverzweigten Uferweiden erwachte hundertstimmiger Vogelgesang.
»Komm mit mir ins Licht, Linde,« sagte Martin Opterberg, und sie hing ihren Sommerhut über den Arm und schritt an seiner Seite durch den Garten an den Rhein und langsam rheinauf.
»Gingen wir so weiter und immer so weiter,« meinte das Mädchen sinnend, »so kämen wir an den Oberrhein, und am jungen Brauserhein zu unserer Frau Christiane – unserer Mutter.«
»Unserer Mutter ...,« wiederholte Martin Opterberg und zog ihren Arm fester an sich.
»Unser erstes Denken in dieser Frühe soll ihr gelten, Martin, die uns Tag und Nacht aus ihren Quellen speiste.«
»Wie ich sie kenne, Linde, ist sie uns schon mit ihrem Denken zuvorgekommen.«
Droben in Scheitelhöhe zogen zwei Falken ihre Kreise. Und wieder wies sie ihm das glückliche Mädchen als ein Zeichen.
»Als wir noch Knaben waren,« sagte Martin Opterberg, »der Christoph Attermann und ich, und mit der Mütter zu den Gletschern stiegen, aus denen die Rheinquellen springen, erspähten wir Buben ein Adlerpaar hoch im Blauen. Und die Mutter nannte sie die Könige der Einsamkeit und lehrte uns, daß just die Einsamkeit einen Gefährten verlangt.«
»Die Einsamkeit?« fragte nachsinnend das Mädchen.
»So fragten damals auch wir Buben. Und die Mutter lehrte uns: Gerade die Einsamkeit. Ohne einen Gefährten wäre sie eine große, leere Gebärde, ein Grab bei Lebzeiten. Mit einem Gefährten die Größe und Fülle des Lebens, aus einer stolzen Höhe betrachtet. Das haben wir Buben uns für alle Zeit gemerkt.«
»Du und der Christoph?«
»Ja, Linde, der Christoph und ich. Denn die Mutter nahm uns Wanderbuben in ein fröhlich Verhör, ob wir uns auch ein rechtes Bild zu machen vermöchten, und ich rief: Die Mutter meint, Einsamkeit und Tod sei noch lange nicht dasselbe. Und der Christoph rief: Und wer nicht tot ist, der hat zu leben, und aus der Höhe betrachtet, läuft's da drunten durcheinander wie Ameisen, die einen nicht schrecken.«
»Und die Mutter, Martin? Die Mutter?«
»Die Mutter rief: So mein' ich's. Und wenn du es dann droben in der einsamen Höh' einem gleichartigen Gefährten mitteilst und er es dir bejaht, dann wird euch euer ernstes Wissen zur fröhlichen Gewißheit, und ihr habt erst die rechte Freude am Leben, weil's nimmer ein Fürchten gibt.«
»Nun hast du es mir mitgeteilt, Martin ...«
»Und du mir.«
Sie wanderten immer noch den Rhein hinauf, über den die Frühsonne sich breitete wie ein blitzender Schild aus Silber und Gold. »Johannistag,« sang und klang es in ihren Seelen.
»Sag mir eins, Linde. Sag mir, wann du es wußtest, daß du mich lieb hattest.«
Sie ging eine Weile schweigend, als suche sie am Wegrand eine Blume. Dann hob sie den Kopf und blickte ihm offen in die Augen.
»Nein, Martin, das läßt sich nicht sagen, denn es muß wohl immer gewesen sein. Schon in der Mädchenfrühe, seit die Therese mir so warm von dir sprach. Aber überwältigt hat's mich und geschüttelt, daß ich den Schlaf nicht mehr fand, als ich wußt', du bist im Unglück, du bist mit dem Heer auf dem Rückzug, du schlägst dich durch die Feinde und wohl gar durch die eigenen Landsleut' durch nach dem Rhein und über den Rhein und kommst in dein kaltes, leeres Haus. Damals, Martin, damals hab' ich Nacht für Nacht mein Lämpchen in der Stub' brennen lassen, denn ich sagt' mir wohl: vom eigenen dunklen Haus kommt er zum Attermannschen Haus, Nachschau halten, und da soll er Licht und Leben finden, das, was er zumeist benötigt. Und so bin ich die Treppen hinabgesprungen, als es in der Dezembernacht an der Haustür läutete, und hab' nur ein Gewand über mein Nachtkleid geworfen, nur damit ich die Erste war, die dich begrüßen könnt' und –«
»Und –?« wiederholte Martin Opterberg und hielt den Schritt an.
»Und dich küssen,« vollendete sie hastig, umschlang ihn mit beiden Armen und drückte ihren Kopf an seine Brust.
Er erwiderte kein Wort. Er hielt sie ganz fest und sah auf ihrem braunen Haar das Sonnenkrönlein flimmern. Nun war das Krönlein der Baumgartschwestern doch noch sein.
Wieder wanderten sie weiter und bogen ab vom Rhein, und das Mädchen fragte: »Wohin gehen wir?«
»Zur Schwester,« antwortete Martin Opterberg. »Ich bring' dich der Therese.«
Es war erst fünf Uhr morgens, als sie das Attermannsche Haus erreicht hatten, und sie umschritten das Anwesen und gelangten durch ein Pförtchen in den Garten. Die Rosen glühten an den Stöcken und die Nelken auf den langgezogenen Beeten. Ein blühendes Jasmingesträuch war zu einer Gartenlaube geformt.
Nicht lange saßen sie in dem kleinen, verträumten Winkel, als sich die Haustür nach dem Garten auftat und Therese Attermann auf der Schwelle stand. Sie lugte in den Morgen hinein, hob den Fuß, um die Steinstufen hinabzusteigen, und blieb mit einem Male regungslos. Dann aber kam eilendes Leben in sie, und sie schritt schnell die Stufen hinab und in den Garten hinein. Die beiden in der Jasminlaube hatten sich erhoben und kamen ihr, sich fest bei der Hand haltend, auf halbem Wege entgegen.
»Ihr?« sagte Therese Attermann, und ihr Herz schlug hoch. »Ich hatt' doch das Glöckchen an der Gartenpforte anschlagen gehört und glaubt', es käm' einer, der schon in der Früh' meinen ärztlichen Beistand suchte.«
»Grüß Gott, Therese. Wir kommen zwar nicht zum Arzt, sondern zur Schwester, um ihren Beistand zu erbitten. Die Linde will nun für immer bei mir bleiben und mich nicht mehr lassen! Bist du's zufrieden?«
Therese Attermann streckte die Hände aus, und die beiden ergriffen die Schwesterhände und streichelten sie.
Ein tiefer Atemzug hob Therese Attermanns Brust. »Ich bin's zufrieden! Ob ich's zufrieden bin! Euch brauch' ich kein Glück zu wünschen. Denn ihr habt's und werdet's zu halten wissen.«
»Ich bring' dir meine Braut, Therese, Laß sie die wenigen Wochen bei dir bleiben, bis ich sie heimhol'. Ich will heut' noch unser Aufgebot bestellen.«
Da nahm Therese Attermann die Schwester an ihre Brust, mit einer starken, liebkosenden Gebärde.
»Mein Lindele du ...«
Und Linde Baumgart eilte, um Christoph Attermann herauszuklopfen, und Martin Opterberg stand mit der Schwester allein und sah ihr in die Augen.
»Du hast mir all mein blindes Jugendtreiben verziehen, Therese? Heute erst frag' ich dich danach.«
»Martin,« sagte sie leise, »als Christoph Attermann in seiner starken Treue kam, um mich zum Weib zu wünschen, da hab' ich ihm auf seine männliche Frage nach dir geantwortet: Ich könnt' für den Martin Opterberg zu jeder Stund' sterben, aber nicht mit ihm leben ... Und dann hast du mit dem Leben gerungen und bist längst ein anderer geworden, bevor das Leben ein anderes geworden war, und wie sehr ich mit dem anderen Martin Opterberg, dem, der vor mir steht, zusammen leben möcht' und will und werd' – ach Martin, das Lindele ist ja keine andere als ich, und ich bin das Lindele.«
»Ich bin ein glücklicher Mann,« erwiderte Martin Opterberg. »Ich danke dir.«
Und Christoph Attermann kam, von Linde geleitet, und fiel dem Pflegebruder stürmisch um den Hals.
»Nun sind wir erst eins, Martin, nun sind wir erst ganz eins. Als hätten sich die beiden Rheinquellen vereinigt und endlich auch zum breiten Strom gefunden.« –
In dem einen Monat, der Martin Opterberg blieb, gab es Arbeit die Fülle für ihn. Aus seinen alten Pionieren waren die Schiffer, die ein Schiffahrtszeugnis für den Rhein besaßen, ausgewählt worden, um mit ihnen den Frachtdampfer zu bemannen. Über die nahe Grenze nach Holland ging die Fahrt, Waren zu laden für den Oberrhein bis Basel, und in Gegenfracht kostbare Hölzer des Schwarzwaldes zu holen. Und als das Schiff den Rhein hinabgeschwommen war, war auch der Monat dahingegangen.
In den ersten Augusttagen legten Martin Opterberg und Linde Baumgart ihre Hände ineinander.
Und sie fuhren in selber Stunde hinaus in den deutschen Süden, dem Land ihrer Jugend entgegen, und fuhren die ganze Nacht und den neuen Morgen den Rhein entlang und sahen den Schwarzwald winken, stiegen aus und wanderten in ihn hinein.
In einem alten Städtchen am Murgufer hielten sie an, hielten sie ihre erste Rast – – –
Immer wieder mußten sie zurückschauen auf das alte, liebe Nest am lebenrauschenden Wasser, als sie anderen Tages die Berglehnen hinanstiegen, starrenden Fels und rauschenden Wald zu Häupten und zu Füßen.
»Du!«
»O du – – –«
Die langbärtigen Tannen flüsterten, die Quellen sangen, die Vögel redeten in hundert Zungen – es war alles verzaubert um sie her.
»So war's in der Jugend, Linde ...«
»So ist es heut, Martin.«
Hoch oben auf dunkler Waldeskuppe lag wie ein Krönlein ein kleines, altersgraues Jagdschloß. »Dort ist ein Blick ins Land, so zauberisch wie wenige nur,« wußte Martin Opterberg zu künden, und sie stiegen weiter und saßen doch mehr im Moos als daß sie wanderten.
Droben lehnten sie an der Mauerbrüstung und schauten mit glänzenden Augen hinaus in die sonnigen Nähen und goldenen Weiten, zu den mächtigen Bergrücken hinüber, von denen die grünen Matten wie Mäntel niederglitten, und hinunter zu den spielzeugkleinen Dörfern, an denen die silberne Murg in Freudensätzen vorübersprang. So klein war die Erde, so groß die unendliche Welt! Und beide waren sie schön in allen ihren Teilen.
Schwer nur lösten sie sich aus ihrem Schauen und riefen sich auf zum Weiterwandern.
»Erzähle mir, was hast du gesehen?« fragte Martin Opterberg, als sie in schweigender Freude die tannenumrauschten Höhenwege schritten.
»Wovon sprichst du?« fragte Linde Opterberg zurück.
»Von dem Jagdschloß auf der freien Schwarzwaldhöh' und dem Ausblick in Nähe und Ferne.«
»Schilt mich, Martin, denn ich hab' von all' dem nichts gesehen. Ich hab' nur dich gesehen, wie ich Ausschau und Einschau hielt. Dich, dich ...«
»Und ich hab' nur dich gesehen.«
Schulter an Schulter schritten sie durch den Wald und suchten Herberge.
Und jeder Morgen wurde ihnen lieber um des gemeinsamen Wanderns willen und jeder Abend ihnen lieber um des gemeinsamen Rastens willen.
So kamen sie nach Wochen des Glücks zu Frau Christiane und blieben in dem weißen Hause, das auf dem steilen Uferrücken über dem brausenden Jungrhein lag, weitere Wochen des Glücks.
In diesen Tagen sah man oft Frau Christiane auf der kleinen Bank im Felsgarten sitzen, die Hände im Schoß, als dürfe sie sich nun auch bei Tage einmal ruhen, obwohl sie Gäste habe, und auf den brausenden Jungrhein blicken, der nach mancher Meilenfahrt fernhin zum stark und ruhig flutenden Niederrhein wurde.
Und dann traf die Nachricht ein, daß der Frachtdampfer von Rotterdam angekommen und in Basel entladen sei. Vom Meere bis zum jungen Rhein war er die Wasserstraße gezogen, neue Lebenswerte, neue Arbeitswerte an Bord.
»Nun ist Opterbergwerft und Opterberghof einander so nahe gerückt, Mutter, daß du vom Turmzimmer aus mit dem Fernrohr zum Schiff und von Bord aus zum Opterberghof hinüberschauen kannst.«
»Ich hab's euch immer gesagt: der Rhein und seine Menschen gehören zusammen. Das müßt ihr halten wie ein Naturgesetz. Und die Natur kennt auf die Dauer keine Widernatürlichkeiten.«
Sie standen am Basler Landungsplatz. Der starke Schiffsrumpf war angefüllt mit Rohgarnballen für die niederrheinischen Spinnereien und Webereien, dazu mit Lebensmitteln aller Art, die dem freien Handel wieder zugängig gemacht waren nach der jahrelangen Sperre. Das breite Deck aber war aufnahmebereit für die Schiffsbauhölzer aus dem Schwarzwald, die weiter stromab geladen werden sollten. Der Kreislauf des Blutes hatte wieder begonnen.
Die Zollbeamten kamen von Bord. Die Pässe wiesen Martin Opterberg und seine Frau als die Schiffseigentümer aus. Der Anker konnte gelichtet werden.
Frau Christiane schüttelte den Abschiednehmenden die Hand.
»Das ist jetzt kein Abschied mehr. Das ist nur noch die Freud' auf das Wiedersehen. Wann tauft ihr euren Buben?«
»Übers Jahr, Mutter.«
»Recht so. Und bringt mir den Opterbergerben zu Schiff auf den Opterberghof. Er soll eine Heimat am Oberrhein und am Niederrhein haben. Wie es sich gebührt.«
»Mutter, und ich schick' dir jedes Jahr die Erholungsbedürftigen von der Werft. Du wirst ihnen Leib und Seel' auffrischen.«
»Mit Quellwasser, Bub. Grüßt die Attermanns. Fahrt wohl!«
»Fahr wohl, Mutter.« –
So fuhren sie dahin, das badische Ufer entlang, und sahen zur Linken die französische Grenze, herangerückt an den heiligen Strom. Und Straßburg tauchte auf, und vom deutschen Dome Erwins flatterte Frankreichs Dreifarbenbanner.
Martin und Linde Opterberg standen vorn am Bugspriet. »O Straßburg, o Straßburg, du wunderschöne Stadt ...« sang es in ihren Herzen, aber während sie den Blick von dem ragenden Denkmal vergangener Tage wandten und geradeaus richteten auf den festen Kurs ihres Schiffes, summten ihre Lippen das alte Heldenlied, das ein Gruß war an die Toten und ein Gruß war an die Lebenden: »O Deutschland, hoch in Ehren ...«
»Haltet aus! Haltet aus im Sturmgebraus!«
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