Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5

»Bindet die Klingen! – Los! – – Halt!«

Immer wieder dieselbe helle Befehlsstimme. Immer wieder dasselbe leise Sirren der Stahlklingen und ihr hartes Aufdröhnen auf dem schweißfeuchten Filzdeckel.

»Was, ihr Füchse? Das treibt den Kneipendunst besser aus den Schädeln als die schönste Knetkur beim Herrn Hofbarbier. Auf die Mensur – los! Terz! Quart! Mit der Klinge fangen, nicht mit dem Kopf! Der Hieb ist die beste Deckung! Allemal! – Halt!«

Prustend schälte sich Martin Opterberg aus dem wulstigen Fechtzeug. »Den Donner auch,« raunte er Christoph Attermann zu, der in der Ecke des Fechtsaals neben ihm stand und sich aus der Halsbinde löste, »da sing' noch einer: ›Frei ist der Bursch!‹ Mit den Eulen ins Bett und mit den Hühnern heraus. Ich hab' keine drei Stunden Nachtruhe gehabt.«

»Ging's mir anders, Martin? Aber der Fechtwart hat Recht: der Dunst von der gestrigen Kneipe ist 'raus aus dem Schädel. Saufen kann jeder, aber Freiheit heißt doch wohl: frei werden durch Pflichtenerfüllung.«

»Rechnest du den Frühschoppen nachher und den Mittagsbummel und die Nachmittagsspritzfahrt und die Abendkneipe ebenso zu den Pflichtenerfüllungen wie in der Frühe den Fechtboden?«

Christoph Attermann lachte gutmütig.

»Martin, wenn ich's noch wär', der so sprechen wollt'. Dir wächst ja alles von selber zu. Den Schläger handhabst du schon wie ein alter Fechter, daß sie dich sicher schon vor Ende des Semesters auf die Fuchsenmensur herausstellen werden, und beim Bechern und Singen wirst du nicht müd', bis der letzte nach Hause strebt. Ich muß mir das alles mühsam erlernen und schimpf' doch nicht.«

»Hei, weshalb schimpfst du nicht?«

»Weil ich mir denk', die Verbindungserziehung ist vonnöten, damit man zu jeder Stund' sich zusammenreißen lernt und nie außer Rand und Band kommt. Wer einmal befehlen will, muß sich selber gehorchen können. Und das weiß keiner besser als der Martin Opterberg, und wenn er erst gewaschen und gestriegelt ist und die Mütz' auf dem Kopf hat und das Band um und zieht durch die Straßen Freiburgs, ›fast als wollt' er eine suchen, die die Allerliebste wär,‹ wer jubelt da am lautesten sein ›Frei ist der Bursch‹?«

»Ach, Christoph,« sagte Martin Opterberg und legte dem Freund den Arm um die Schulter, »es ist doch wunderschön ...« Sie zogen über die Straße und kamen an der Universität vorbei.

»Gehen wir einen Augenblick hinein, Martin?«

»Hinein? Schau dir einmal den festen Bau an. Der läuft uns nicht so leicht weg.«

»Aber wir laufen ihm weg, weil wir gar so lose gebaut sind, und das säh' doch weiß Gott aus wie blasse Angst und Kneiferei. Hält's dein Hirn nicht aus nach dem bißchen Kneipen?«

»Also komm schon herein, du Quälgeist. Mein Hirn hält sämtliche Herren Professoren aus, aber ich mein', ein Kolleg genügt für heut, um ihnen die Ehre zu erweisen.«

So zogen sie ein und drückten sich in die Bänke, und als sie wieder in die Frühlingssonne traten, grüßten sie erst ein Rudel frischer Studentinnen und ließen die lachenden Mädel an sich vorüberstolzieren, bevor sie den Frühschoppen aufsuchten.

»Prachtmädel darunter, Christoph. Mit denen müßte sich gut in den Schwarzwaldbergen wandern lassen.«

»Du wärst imstande dazu.«

»Du vielleicht nicht? Wer redete denn vorhin so hoch daher von blasser Angst und Kneiferei, als es galt, mich ins Kolleg zu schleppen? Umschichtig, Christoph. Jetzt ist die Reihe an mir, und du bist mein.«

»Es sind Medizinerinnen, Martin. Man trifft sich kaum.«

»Was sonst noch? Von morgen an schieben wir medizinische Kollegs ein. Ohne Beleggelder. Selbstverständlich. Der Professor wird sich freuen, zwei Hörer mehr um seine Weisheit versammelt zu sehen. Ach, Brüderlein, stachle du noch mal meinen wissenschaftlichen Eifer an.«

Auf dem Franziskanerplatz plätscherten die Wasser des roten Sandsteinbrunnens. Vom Säulenschaft sann ein steinerner Mönch. Berthold Schwarz war's, der Freiburger Franziskaner.

»Wenn der nicht gelebt hätt', wär' die Menschheit glücklicher,« lenkte Christoph Attermann das Gespräch ab.

»Du meinst, wenn der Berthold Schwarz nicht das Pulver erfunden hätte. Ach Christoph, die Menschheit würd' sich nur auf andere Weis' umbringen. Entweder sie balgen sich um eine schöne Helena, oder um den lieben Gott, oder um einen verprügelten Grenzaufseher. Die Hauptsache ist, daß sie die Windklappe öffnen und sich balgen können. Und wenn der Fuchs da drüben in seiner stolzen Farbenpracht sich noch ein einziges Mal erdreistet, mich anzuäugen, während ich hier vor Weisheit triefe, so werde ich ihn sofort einmal ansegeln und – –«

»Jedenfalls hätten die Schulmeister ihr schönstes Sprüchlein weniger, wenn der Berthold Schwarz nicht das Pulver erfunden hätte,« lenkte Christoph Attermann in Gemütsruhe nochmals ab. »Links schwenkt, Martin. Wir sind die letzten zum Frühschoppen, wie immer.«

»Natürlich!« rief Martin Opterberg und betrat hochaufgerichtet die Wirtschaft. »Wenn du mich Tag für Tag ins Kolleg verschleppen mußt!«

Die Burschenschaft saß beim zweiten Glas. Man ließ die Zuspätkommenden das erste Seidel restlos leeren. »Zur Dämpfung lasterhafter Streberei vor Mitternacht,« erklärte der Fuchsmajor Tillmann, ein großer und schöner Mensch, der sich der Kunstgeschichte verschrieben hatte. »Sah ich euch nicht mit nüchternem Magen ins Kolleg schlüpfen, während ich am Fenster die Morgenpfeife reinigte? Auf trockenem Boden wird der Halm zu Stroh, und die Hähne, die allzufrüh krähen, sind schon um Mittag heiser. Laßt ab von der Überheblichkeit gegen eure Mitmenschen.«

»Die Junker vom Opterberghof wünschen beizeiten Minister zu werden,« lobte ein narbenbedeckter Bursch in ausgezeichneter Haltung, »Ich halte mich Euren Gnaden sehr empfohlen.«

»Der Grüters,« bemerkte sein Nachbar, ein hoch und breitgewachsener Student mit ruhigem Blick, »schlägt überall seine Nägel ein und denkt in seinem schönen Sinn: irgendwo und irgendwie muß der Hut mal hängen bleiben.«

»Lieber Broich, wenn du dich mit mir unterhalten möchtest, so sorge, daß Stoff im Glase ist.«

»Erbarmen,« rief der Fuchsmajor Tillmann. »Werdet doch nicht schon geistreich, wenn die Menschheit noch den Schlaf in den Augen hat. Ich bitte um einige Rücksichtnahme.«

»Wer waren denn die Töchter in Apoll, die ihr so angelegentlich grüßtet?« fragte Grüters obenhin über den Tisch.

»Studentinnen,« erwiderte Christoph Attermann.

»Habe ich nach dem Gewande gefragt?« belehrte ihn Grüters. »Studentinnen ist ein Herdenname. Ich meine, ob in der Schale eine süße oder eine bittere Mandel steckt?«

»Hübsche Mädel sind's,« rief Martin Opterberg und sprang dem verlegenen Freund rasch zur Hilfe. »Wer etwas vom Kern wissen will, muß sich schon selber bemühen und die Nüsse knacken. Das Ergebnis scheint mir Frage des Geschmacks.«

»Du bist keck, Füchslein von neunzehn Lenzen. Sei dankbar, wenn dich erfahrene Männer lehren.«

»Was, deucht euch, ist dieses?« rief der Fuchsmajor Tillmann und stieß seinen Zeigefinger durch einen Sonnenkringel.

»Das ist eine Bierbretzel, Leibbursch.«

»Jüngling, du trägst noch die Eierschale des Materialismus am Steiß. Ich mahne dich zu einem tiefen Trunk der Erkenntnis. Rest weg. Danke. Nun? Ist es immer noch eine Bierbretzel?«

»Wahrhaftig – jetzt seh' ich's klarer. Es ist ein goldner Sonnenkringel.«

»Frühlingssonne,« rief Tillmann. »Allererste, golden lockende Frühlingssonne. Wie ein Bräutigamsreif legt sie sich um meinen Finger und ruft hinaus aus den engen Mauern in die blauenden Weiten. He, ihr Füchse, wißt ihr ein passend Verlobungslied?«

»Der Herr Professor – liest heut kein Kollegium,
Drum ist es besser – man trinkt eins 'rum«

sangen die Füchse.

»Es ist notwendig,« bemerkte Tillman, »daß ich euch einigen Fuchsenunterricht in der freien Natur gewähre. Das geht ja nur ums Fressen und Saufen, und der heilige Geist kommt zu kurz. Punkt drei Uhr antreten zum Marsch auf den Schloßberg und wohin uns die Füße tragen. Gesegnete Mahlzeit.«

Um drei Uhr sammelte sich ein Trüpplein Farbentragender am Martinstor, dem die Jugendsonne aus dem alten Steingequader lachte. In der langen Straßenzeile sprangen tänzelnd die Brunnen und flüsterten von ihrer Mutter, der Dreisam, und den Schwarzwaldbergen ringsumher. Das Trüpplein zog die geborstene Stadtmauer entlang und schwenkte am lustigen Schwabentor singend ins knospende Rebgelände ein, das den Trümmerberg der einst so trutzenden Schlösser selig lächelnd überzog. Und der Gesang brach ab, als das Trüpplein die erste Höhe erstiegen hatte und aus wundertrunkenen Jugendaugen hinunterschaute auf das Gewirr der grauen Dächer und altertümlichen Giebel, aus dem der schlanke Turm des Münsters wie ein veilchenfarbener Traum der Vergangenheit sehnsüchtig gen Himmel ragte.

»Das ist die einzige Blüte der Gotik, die sich noch im Mittelalter voll zur Blume entfaltet hat,« lehrte aus tiefem Schauen heraus der kunstbefreundete Tillmann. Seine Augen tranken sich satt und schweiften über die andachtsvollen Gesichter der Jüngeren.

»Nun, wie wär's denn jetzt mit dem schönen Lied vom Herrn Professor, der heut' kein Kollegium liest?«

Aber keine Stimme erhob sich zum übermütigen Saufauslied.

»Sag uns noch ein paar Wörtel von dem da drunten,« bat Martin Opterberg, und Christoph Attermann bat wie er, und die übrigen sprachen es mit. Und während sie standen und schauten und weiter hinanstiegen und oft Rückschau hielten, erzählte der Führer aus uralten Zeiten, vom Zähringer Herzog, dem zweiten Berthold, der um das Jahr 1090 die Stadt gegründet, und von den sagenhaften Baumeistern, die mit dem romanischen Querschiff den Bau des Münsters begonnen hatten, um ihn in siegreicher Kühnheit in die erwachende Welt der neuen deutschen Gotik hinüberzuführen. Ein Gestaltenheer tauchte auf und zog vorüber, während der Erzähler sprach. Bernhard von Clairvaux reckte im noch dachlosen Kirchenbau das Kreuz über den Häuptern des Volkes und entflammte ihm Hirn und Herz und Hand zum Kampf gegen die Ungläubigen. Das Erzhaus Österreich nahm Besitz, und Vorderösterreich hieß der Breisgau. Kaiser und Könige und Erzherzöge aus dem Hause Habsburg schritten funkelnd wie die Sonne durch die Stadt und die Jahrhunderte, und die Sonne verschwand unter den Stürmen des Dreißigjährigen Kriegs, der das Gift säete statt des deutschen Heils und den mörderischen Haß erntete statt der Bruderliebe. Den Franzosen fiel die Stadt zur Beute und wieder Österreich, und aufs neue den französischen Scharen, die von der Freiheit sangen und das Fallbeil mit sich schleppten, und wiederum Österreich, dem geschwächten, um endlich den Kreis zu beschließen in der Rückkehr zum Zähringerhause Badens im Jahre 1806.

Auf hohem Gipfel, den Schloßberg wie eine liebliche Erhebung tief unter sich, stand das Trüpplein, den grünen Kranz der Schwarzwaldberge zur Rechten, weit hinaus vor sich das silbrige Geglitzer des Rheintales bei Breisach und jenseits in ungeheuren Nebelformen die Kette der Vogesen. Frankreich lugte über den Berg.

Der Führer Tillman riß die Mütze vom Scheitel.

»Deutsch allzeit und allwege!« jauchzte er in das Sonnenland, und die anderen taten wie er und schwenkten die Mützen über den heißen Köpfen, und einer begann zu singen, und alle fielen ein, mit entblößten Häuptern und begeisterungflammenden Jugendaugen:

»Es braust ein Ruf wie Donnerhall,
Wie Schwertgeklirr und Wogenprall:
Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!
Wer will des Stromes Hüter sein?
Lieb Vaterland magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein!«

Christoph Attermann hatte den Arm um den Hals des Freundes und Bruders geschlungen. »Weißt du das Wort, Martin, das in schwerster Deutschlandszeit der alte Arndt geprägt hat?«

Martin Opterberg reckte vom Schwarzwaldgipfel den Arm gegen das Vogesenland.

»Der Rhein, Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze!« rief er, und von neuem begannen sie den Vaterlandsgesang. Die Stimmen klangen ab. Ein Lauschen blieb.

Aus dem Walde kam es hervor. Ein silbernes Singen und Klingen. Lautenklang und singende Mädchenstimmen.

»Der Mai ist auf dem Wege, der Mai ist vor der Tür;
Im Garten, auf den Wiesen, ihr Blümlein kommt herfür!«

Und die Blümlein kamen. Ein Quartettlein frischer Mädchengestalten. In weißen Kleidern und über die junge Brust das bunte Lautenband gezogen, traten sie aus dem Waldesdunkel auf die sonnenüberschüttete Bergeskuppe, schauten nicht links und rechts nach den staunenden Studentlein und sangen ihr Frühlingswanderlied in den unendlichen Maientag bis zum Ende.

»Da hab' ich den Stab genommen, da hab' ich das Bündel geschnürt.
Zieh' weiter und immer weiter, wohin die Straße mich führt.
Und über mir ziehen die Vögel, sie ziehen in lustigen Reih'n,
Sie zwitschern und trillern und flöten, als ging's in den Himmel hinein.

Der Wandrer geht alleine, geht schweigend seinen Gang;
Das Bündel will ihn drücken, der Weg wird ihm zu lang.
Ja, wenn wir allzusammen so zögen ins Land hinein!
Und wenn auch das nicht wäre: Könnt eine nur mit mir sein!«

Martin Opterberg hatte sich aus seinem Lauschen und Staunen gelöst. Er tat einen Schritt vor, auf die singenden Mädchen zu und Christoph Attermann griff nach seiner Hand, als wollte er sagen: Nimm mich mit, Martin.

Vor den Mädchen stand Martin Opterberg, den Freund an der Hand, und sang ihnen die letzte Strophe wie einen Kehrreim zu:

»Ja, wenn wir allzusammen so zögen ins Land hinein!
Und wenn auch das nicht wäre: Könnt eine nur mit mir sein!«

Lachend nickten die Mädchen den beiden zu, singend und klingend schritten sie über die Bergkuppe, Sonne im Haar, Sonne in den Augen, und ihre weißen Kleider schwanden im Dunkel des Waldes.

»Wollen wir nach, Christoph? Sie waren's, die Kolleginnen von der anderen Fakultät!«

»Jetzt nicht. Heute nicht. Nicht alle Freud' miteinand haben wollen.«

»Alle, alle, alle miteinand!«

»Dann gäb's kein Freuen mehr für morgen und übers Jahr.«

Martin Opterberg schlug sich gegen die Brust, die das Fuchsenband überspannte.

»Hier ist Platz für hundert Jahr Freud', und Hunger und Durst für tausend.«

Der Führer rief sie an.

»Daß mir keiner ausbricht! Wollt ihr ein Lämmerhüpfen spielen, so spiel' ich den Schäferhund. Das Ganze Kehrt! Ich gedenk' heute abend eine Männerkneipe mit euch abzuhalten und keine Familienschokolade.«

Am Abend saßen sie auf ihrer Freiburger Kneipe. Kein Fuchs war üppiger als Martin Opterberg. Sein Blut glühte und wallte und riß ihn von Übermut zu Übermut.

»Prosit, Christoph. Die mit der Laute!«

»Prosit, Christophel. Die mit dem Sonnenkrönlein im braunen Haar! Menschenskind, und die mit dem Herzausschnitt im weißen Kleidel! Und die mit der schlanken Fessel am Fuß!«

»Und das hast du alles mit einem Blick gesehen?«

»Mehr, viel mehr! Vier rote Herzlein hab' ich gesehen, und ich hab' nur eins, und du hast nur eins. Was sollen wir tun als trinken? Auf aller schönen Mädchen Wohl!«

»Eine ist mehr, Martin. Vielleicht ist sie darunter. Müh' muß man sich geben und warten können.«

»Was warten! Heute scheint die Sonne! Morgen kann's regnen! Heute ist heut!«

Wohlgefällig schauten die älteren Burschen auf den flammenden Fuchsen. Sie tranken ihm zu. Sie lobten seine gute Haltung beim heißen Becher und seine Sicherheit und Gewandtheit beim kalten Schlägereisen. Man besprach den Tag seiner ersten Mensur und nahm ihn in nahe Aussicht. Ein Hinreißendes ging von Martin Opterberg aus, das die Jüngeren mit hinein in die Begeisterung trieb und die Älteren freundlich lächeln machte, und Christoph Attermann ging es durch den Sinn: Da schlägt Arnold Opterberg, der Vater, die Augen auf, während Frau Christiane schaffensmüde schlummert ...

Am Tage, nachdem Martin Opterberg zur Freude der Burschenschaft siegreich seine erste Mensur geschlagen hatte, gelang es ihm, sich mit den jungen Studentinnen bekannt zu machen. Er hatte im Kolleg seinen Platz neben ihnen gefunden, und da sein Verband, der eine kleine Stirnverwundung deckte, ins Rutschen gekommen war, so hatte ihm seine Nachbarin, Therese Baumgart, nach Schluß der Vorlesung den Wickel neu befestigt. Er hielt ganz still, während die kühle Mädchenhand über seine Stirn glitt, bedankte sich wohlerzogenerweise und bat darum, auch den anderen Kameradinnen vorgestellt zu werden. Christoph Attermann schaute atemlos zu. Er tat eine Verbeugung, wie vor einem Heiligenbild, als er aufgerufen und frischweg in den Kreis eingegliedert wurde.

Heute wanderten sie nur hinaus in die Anlagen der Stadt, denn die Mädchen hatten den frühen Nachmittag mit Vorlesungen belegt. Aber es war bald so viel lustiges Wortgefecht und Jugendlachen zwischen ihnen, daß die Stunde sie vertrauter machte als lange Wochen, sonderlich, weil Martin Opterberg in den schattigen Baumgängen immer wieder den Verband verschob und von den seinen Mädchenhänden Therese Baumgarts Hilfe heischte.

»Sie wollen nur zeigen, daß Sie ein wundenbedeckter und ritterbürtiger Mann sind.«

»Warum haben Sie so stille, mütterliche Hände, Fräulein Baumgart?«

»Die kleine Schmarre lohnt wirklich kaum das Nachsehen.«

»Auf der nächsten Mensur in acht Tagen werde ich mir den halben Kopf wegsäbeln lassen, nur um Ihre größere ärztliche Zufriedenheit zu erlangen.«

»Steht Ihnen die Zufriedenheit der Ärztin über der Zufriedenheit der Mutter, Herr Opterberg? Sie müssen doch sicherlich eine ausgezeichnete Mutter gehabt haben.«

Da sprach Christoph Attermann sein erstes Wort.

»Wir haben sie noch, Fräulein Baumgart, und sie ist die beste und größte aller Mütter.«

Das junge Mädchen blickte ihn aus großen Augen an. »Sie sind Brüder?«

»Meine Mutter starb bei meiner Geburt. Mein Vater ist tot. Aber Frau Christiane Opterberg hat uns zu Milchbrüdern gemacht, zu zwei Brüdern und zwei Söhnen. So reich ist sie.«

Therese Baumgart reichte ihm die Hand.

»Das war schön. Was sie tat, und wie Sie es sagten. Und nun will ich auch den Verband noch einmal wickeln.«

Und Martin Opterberg drückte den Kopf in ihre Hände ...

Acht Tage darauf focht Martin Opterberg seine zweite Mensur. Auch diesmal siegreich, wenn er auch einen schlankgeführten Durchzieher auf der Wange heimzutragen hatte.

»Christoph,« fragte er, »ob wir zum Theresel laufen?«

»Narr du. Wenn du so fortmachst, gründest du allein ihr die Praxis.«

»Sag, Christophel, gefällt sie dir nicht auch? Oder ist's die andere mehr, die im Walde das Sonnenkrönlein im braunen Haar trug, oder die mit dem Herzausschnitt im weißen Kleidel, oder die mit der schlanken Fessel am Fuß? Siehst du, ich hab' alles wohl behalten, aber von Namen hab' ich nur den einen der Therese Baumgart behalten.«

»Sie trug die Laute,« sagte Christoph Attermann, »aber sie trug auch ein Sonnenkrönlein im braunen Haar und einen Herzausschnitt im weißen Kleidel und die schlanke Fessel am Fuß. Du hast sie alle für eine genommen.«

»Ach, wer das könnte, Christoph, und das Leben allweil für einen Freiburger Sommer nehmen.«

»Die andere mit dem braunen Haar,« sagte Christoph Attermann, »heißt Hilde Falkenroth und ist bei Koblenz gebürtig, und die beiden Blonden sind Schwestern, Elfriede und Gerda Klarenbach aus Düsseldorf. Nun verwechsel's nimmer.«

»Wenn ich Glück hab', verwechsel' ich's, Christophel. Sie sind miteinander hübsch.«

Und wieder eine Woche, da gab's ein groß Hallo in der Burschenschaft. Christoph Attermann hatte auf der Straße einem Studenten die Mütze vom Kopf gefegt, als der frech eine Studentin angeredet und behelligt hatte. Eine Forderung auf Säbel war gekommen, und Christoph Attermann hatte noch nicht auf der ersten Mensur gestanden. Trotzdem beharrte er darauf, die Partie sofort auszutragen. Vierzehn Tage Einpaukzeit wurden hüben und drüben bewilligt.

Alle Überredungskünste bot Martin Opterberg auf, um den Freund zu bestimmen, ihn vorzulassen. »Du sagst, es sei die Therese Baumgart gewesen, und ich bin im Säbelfechten weiter als du.«

»Aber ich hab' den größeren Zorn, Martin.«

»Wie kannst du das meinen, Christoph. Ich mag das Theresel so gut leiden wie du.«

»Alldieweil hab' ich den Zorn für euch beide und für mich dazu.«

Kaum kamen sie noch vom Fechtboden herunter. Martin Opterberg hatte es nach heißem Bitten und Drängen durchgesetzt, daß er dem Freund und Bruder als Sekundant zur Seite stehen dürfe. Da er auf dem Fechtboden einen glänzenden Beweis seiner Säbelfertigkeit lieferte, hatte es ihm die Burschenschaft zugestanden.

Beim ersten Gang klaffte Christoph Attermann die Stirn, Er ließ ruhig das Blut stillen und trat, trotz Abratens, von neuem an. Martin Opterberg hatte ihm mit zusammengebissenen Zähnen zugenickt; er hatte des Freundes Gegner zu leicht gewertet und brannte darauf, die Scharte auszuwetzen. Er riß sich zusammen. Er bekam den klaren, blanken Blick der Mutter. Jeden gefährlichen Hieb fing er mit der Klinge weg, ruhig und kalt, jeder Bewegung des Freundes schaffte er Raum, jedem schweren Atemzug. Fast war die Partie zu Ende gekämpft, da erfaßte er blitzschnell eine Blöße des Gegners und blitzschnell das Auge des blutüberströmten Freundes. Wie eine Gedankenübertragung war's von Bruder zu Bruder im Bruchteil der Sekunde. Und Christoph Attermanns Klinge schnitt tief hinein in des Gegners Schwertarm, daß er den Säbel lassen mußte.

»Den Sieg dank' ich dir, Martin. Ich war zu End'. Im nächsten Augenblick hätt's mich gehascht.«

Am nächsten Tage geschah etwas Lustiges. Mädchenfüße huschten die Treppe hinauf zur Wohnung der Brüder, Madchenfinger klopften an die Stubentür. Und auf ein zweistimmiges »Herein« trat Therese Baumgart mit ihren Freundinnen ins Zimmer.

»Bleiben Sie liegen, Herr Attermann. Wir kommen nur im Husch. Aber ich mußt' unbedingt selber sehen, was mit Ihnen ist, denn ich bot die Ursache.«

Sie drückte ihn, da er sich erheben wollte, auf das lederne Kanapee zurück und blickte nach dem Verband. »Ist es arg bös?« fragte sie den lachenden Martin Opterberg.

»Geblutet hat er wie ein Öchslein, aber geschlagen hat er sich wie ein wütender Eber.«

»Der Martin hatt's geschafft, Fräulein Baumgart. Er hat mir beigestanden wie der Erzengel Michael mit dem Schwert, und ohne seine überlegene Fechtkunst hätt' ich mit Ihrer schönen Sach' am Boden gelegen.«

»Der Christoph hat's Fieber und faselt. Fassen Sie seinen Puls.«

Sie faßte Christoph Attermanns Hand und hob dabei die Augen zu Martin Opterberg.

»Es ist wohl gleich, wem ich den Puls fühl'. Bei Ihnen beiden scheint mir alles wie mit Rädchen ineinander zu greifen. Aber ich bitt' Sie herzlich, machen Sie nicht wieder solche Dummheiten wegen meiner. Wenn's mich auch diesmal arg gefreut hat. Das sag' ich ehrlich.«

»Es wird Sie schon keiner wieder behelligen, Fräulein Baumgart,« knurrte der Wunde.

»Keiner außer uns,« rief der übermütige Freund. »Sie und die Kameradinnen. Sie müssen uns schon ein ganz klein wenig zu gute halten, weil Sie gar so hübsch sind.«

Da lachten die Mädchen wie fröhliche Kinder, und die Therese Baumgart drückte Christoph Attermanns Hand und sagte: »Ich danke Ihnen recht, recht sehr, und wir sind Freunde.«

Aus einem Seidenpapier nestelte sie ein paar Rosen und bot sie ihrem Ritter dar. Christoph Attermann aber bestand darauf, daß die eine der Martin erhalten müsse, ohne den er's nicht zu Ende geführt hätte, und Martin Opterberg küßte der Spenderin in jungenhafter Freude die Hand. Da wagte es auch der Christoph.

»Also so leben wir alle Tage! Die schönsten Mädchen und die rotesten Rosen! Und bei all der Sonne draußen keine Spur von Bücherstaub drinnen! So lob ich's mir, so lob ich's mir in Ewigkeit. Amen. Willst du mich erwürgen, Junge?«

»Vater!« hatte Martin Opterberg geschrieen und sich dem Mann, der in strahlendem Vergnügen im Türrahmen stand, an den Hals geworfen. »Der Vater ist gekommen, der Vater –«

Und schon war auch Christoph Attermann auf den Beinen und bemächtigte sich der Hände des lachenden Mannes, und Arnold Opterberg rief ihnen zu: »Nette Herren Söhne, das muß ich bekennen. Außerordentlich erkenntliche Jünglinge. Wer war's, der mich einmal zur Kneipe einladen wollte? Versunken und vergessen, der alte Eulenvogel im Turm. Und als er dennoch den Flug wagt, findet er verbundene Köpfe, an die kein Becher heranreicht.«

»Sag das nicht, Vater! Die Kruste auf der Backe ist mir nicht mehr hinderlich, und der Christoph hat auch den Mund frei!«

»Allemal!« rief Christoph Attermann. »Und wenn ich auf dem Kanapee angebunden würd', heut ging's hinaus! Gelt, Fräulein Baumgart, von Fieber keine Spur.«

»Gestatten Sie, meine Damen,« sagte Arnold Opterberg mit einer ritterlichen Verneigung, »daß ich mich Ihnen selber vorstelle. Ich bin der Vater dieser aus Rand und Band geratenen Jünglinge. Sie sind, wie ich sehe, auf einem Krankenbesuch. Dem zerschlagenen Kopf schadet es nicht. Aber wird es das Herz aushalten?«

Hastig nannte der Sohn die Namen. »Studentinnen der Medizin, Vater, und liebe und verehrte Freundinnen dazu.«

»Lieb – und verehrt,« wiederholte Arnold Opterberg, ließ seine aufleuchtenden Augen in die Runde gehen und drückte jedem der erglühenden Mädchen kräftig die Hand. »Gut, daß die Buben die erlösenden Worte sprachen. Ich hätte sie sonst vom Fleck weg in die Augenklinik geschafft.«

»Wir wollten uns verabschieden und dürfen es jetzt,« sagte Therese Baumgart und blickte aus ruhigen und unbefangenen Augen auf den Vater ihrer Freunde. »Es war eine große Ehre für mich, Herr Opterberg.« Und sie knixte in verehrungsvoller Achtung.

»Reißausnehmen? Weil der alte Sturmvogel seine Jungen besucht? Seh' ich wirklich so zerzaust und zerfleddert aus, daß die holdeste Jugend vor mir von dannen stiebt? Oder schämen Sie sich des Bäuerleins vom Lande?«

Da lachten die vier Mädchen hellauf und schauten voll Bewunderung an dem kraftvollen Mann empor und in das braune, kühne Gesicht. Und Arnold Opterberg zog mit jedem Arm zwei der schlanken Mädchengestalten an sich und befahl: »Wir bleiben zusammen, bis es Sturm läutet zur Männerkneipe. Auf in den Stadtgarten! Es soll eine Kuchenschlacht geschlagen werden, als gält' es dem Erbfeind.«

»Ihr lieben und schönen Kinder,« sagte Arnold Opterberg, als es Abend wurde nach dem fröhlichen Schmausen im Freien, »es ist Sommer geworden, und das Semester neigt sich dem Ende. In wenig Wochen sind die Ferien da. Ferien! Wie das klingt! Nach blauen, glückseligen Tagen klingt es, nach rauschenden Wäldern und springenden Quellen, nach einer wunderbaren Wanderfahrt durch die Schwarzwaldberge und dem gastlich winkenden Ziel – dem Opterberghof. Seid meine und meiner Frau Christiane Gäste, ihr lieben, schönen Kinder.«

Die Mädchenaugen weiteten sich. Wanderseligkeit sprang in ihnen auf. Winkende Fernen. Glücksstaunen und Jugendlust. In Therese Baumgarts Augen schimmerte es ein wenig feucht. Sie beugte sich über die Hand des frohspendenden Mannes. »Wir kommen gern.«

Am Abend desselben Tages – oder war es die Sommernacht – oder war es der Jungmorgen – mußten auf dem Kneiphaus selbst die unverzagtesten Burschen, die Tillmann, Broich und Grüters die Waffen strecken. Christoph Attermann, der wunde, hatte das Feld um Mitternacht geräumt. Arnold Opterberg schritt mit seinem Sohne als Sieger in den Morgen.

»Eine gute Kur, trotz deiner Medizinerinnen. Um zwanzig Jahre hat's verjüngt. Das machen wir öfter, Martin. Gleich alt sind wir. O Jugend, Jugend –!«

Die drei unverzagtesten, die Tillmann, Broich und Grüters, hatte Herr Arnold auch auf den Opterberghof geladen. Professor Barthelmeß war mit den Seinen in den Rheingau hinübergesiedelt, wohin er zu langjähriger und lohnender Arbeit berufen war, und Herr Arnold Opterberg ertrug die Einsamkeit des Zechertisches nur mit Widerstreben.

Wohl hatte Frau Christiane zunächst verwundert den Kopf geschüttelt, als sie durch den heimgekehrten Gatten von dem Massenbesuch erfuhr, dann aber bald eine Kiste mit Mundvorrat für neun hungrige Wanderer gepackt und nach Freiburg gesandt, damit die Studenten und Studentinnen ihren Rucksack daraus füllten, denn sie sollten sich vom Tage ihres Abmarsches an als Opterbergsche Gäste fühlen. Das rief einen großen Jubel in der Musenstadt hervor.

Und hinaus ging's an einem silbrigen Frühmorgen, hinaus und hinauf auf den Schauinsland, immer der Sonne entgegen. In Kniehosen und leinenem Hemd marschierten die Burschen, in hellen, fußfreien Kleidern die Mädchen, den Lodenmantel für die Berg- und Waldesrast über den Rucksack geschnallt. Jeder trug das seine, und die Therese Baumgart trug dazu am breiten Band die Laute. Da schwangen die Füße von selbst zum Marschklang der Saiten, und federnd wie zum Tanze ging's auch die steilsten Hänge hinan. Vom Schauinsland glitt der Blick noch einmal rückwärts in die Ebene. Zwischen den Hügeln träumte Freiburg. Grüß dich Gott, du alte, liebe Stadt. –

Weiter, weiter! Wer schaut rückwärts, wenn Jugend marschiert? Eine halbe Stunde noch, und sie fielen im Gasthaus auf der Halde ein, ließen sich von dem trefflichen Wirtspaar einen Kaffee kochen und verzehrten unter Jubelausbrüchen über Frau Christianes Gaben das Frühstück. Und wieder in den rauschenden Tannenwald, der immer dichter, immer geheimnisvoller seine bärtigen Stämme aneinanderschob, und auf schmalen Fußwegen im Einzelmarsch hintereinander bergauf, die Lautenspielerin voran. Scherzworte und Neckrufe flogen die Reihe hinauf und hinab, bis der Zug noch einmal umgeordnet war, hinter jedem Mägdlein ein übermütig Bürschlein, und da eins sich zuviel erwies, machte Martin Opterberg ritterlich den Führer. Über den waldesdunklen Notschrei führte er durch die tiefe, smaragdene Bergwälderpracht, bis in praller Mittagssonne der Riesenrücken des Feldbergs sich vor ihnen reckte und dehnte.

»Atempause,« bat Grüters, der Staatswissenschaftler.

»Abgelehnt!« rief Broich, der Jurist.

»Der Damen wegen,« verteidigte sich der Diplomat.

»Den Damen den Arm! Nachher steigt sich's noch einmal so schön.«

Schon hatte Broich den Arm Hilde Falkenroths, der Koblenzerin, in dem seinen und stieg bequem pfadan. Grüters und Tillmann folgten mit den beiden Düsseldorferinnen, den Schwestern Klarenbach. »Wen wähle ich?« fragte Therese Baumgart. »Uns beide,« sagte Christoph Attermann, »denn es ist das gleiche.« Und die Buben vom Opterberghof nahmen sie in die Mitte. Martin Opterberg aber erhob trotz des Anmarsches seine helle Stimme:

»Schöne Mädel führt der Bursch zum – Hastdunichtgesehn –
Schöne Mädel führt der Bursch zum Tanz!«

Droben standen sie auf dem Feldbergturm, und all das nahe und ferne Märchenland der Schwarzwaldberge, der Alpenwelt und der Vogesenkette schlug seinen Bann um sie. In atemlosen Schauen standen sie und tranken die Schönheit der deutschen Welt.

»Nicht reden. Nicht reden.«

Sie lasen es sich noch an den Augen ab, als sie schon weiter wanderten, den kahlen, langgestreckten Feldbergrücken entlang, und auf vorgeschobener Platte lagerten, den staunenden Blick hinabgesenkt in die einsamen Schluchten, aus deren einer fernher der Zauberspiegel des Titisees aufblitzte wie ein Irrlicht. Und wortlos fast und doch innerlich flüsternd und singend wanderten sie weiter, und ein jeder Bursch führte, als wäre es nun ein selbstverständliches, sein Mädchen weiter am Arm, und die Lautenspielerin schritt zwischen den Opterbergbuben. Abwärts den Feldberg und hinauf zur Schutzhütte des Herzogenhorns.

Am Lagerfeuer hatten sie abgekocht. Die Mädchen boten die Speisen, und die Burschen kredenzten in zinnernen Bechern den Wein vom Kaiserstuhl. Dann wob der Sommerabend sein seltsam durchsichtig Blau, und sie all zogen sich zu einem engeren Kreis zusammen und lagerten im Moos um einen Eichenstumpf, von dem das weiße Kleid der Therese Baumgart im Mondlicht leuchtete. Ihre Mädchenwange koste den Lautenhals, als sie sang und spielte.

Jugendlieder. Sehnsuchtslieder. Und die Hörer lagerten Hand in Hand.

»Noch ein letztes,« bat Martin Opterberg, der als einziger aufrecht an einem Baum lehnte und nicht wußte, wie er einer nie gekannten Ergriffenheit Herr werden sollte.

»Du bist die Ruh', der Friede mild,
Die Sehnsucht du und was sie stillt ...«

sang der Mädchenmund in die schweigende Bergnacht. Und Martin Opterberg spürte es wie einen Nachtschauer über seine Glieder gehen, daß er hätte aufschreien mögen, ohne zu wissen, warum?

Die Mädchen traten allein in die Schutzhütte und begaben sich in ihre Kammer. Die Freunde saßen rauchend am Feuer. Therese Baumgart wandte sich in der dunklen Tür der Hütte um.

»Therese ...« hatte eine heiße und scheue Stimme geflüstert.

»Gute Nacht, Martin,« sagte sie.

Und er küßte sie. –

Weiter, weiter. Im jubilierenden Morgenerwachen, in sengender Sommersonne. Durch endlose Wälder, die dennoch viel zu klein, hinauf auf die steilen Höhen, die dennoch viel zu nieder. Jetzt führte Christoph Attermann, denn Martin Opterberg bildete mit der Freundin den Schluß. Nur an den Fingerspitzen hielten sie sich beim Wandern, und doch war ihm, als fühlte er die Freundin an der Brust. Der steile Blößling, der hohe Zinken, der Hochkopf – Christoph Attermann rief die Berge aus, die sie im Auf und Ab erstiegen – für Martin Opterberg waren sie nichts als Namen. Er sah nichts anderes als das eine Bild: das weiße Kleid in der blauen Sommernacht und die Madchenwange kosend am Lautenhals. Und er hörte nichts als das eine, das letzte Lied.

»Theresel,« sagte er tiefaufatmend, als im leuchtenden Abendrot die erste Menschensiedlung zu ihren Füßen lag.

»Wie heißt der Ort?«

»Todtmoos.«

»Der Name macht traurig ...«

Am nächsten Tage stiegen sie durch das wilde Wehratal zur Rheinebene hinab, und das Brausen der stürzenden Wasser, die durch Granit den Weg erkämpfen mußten, betäubte noch ihre Sinne, als sie sich dem Opterberghof näherten.

Da stand das weiße Haus auf dem Felsen, der auf blumenbunten, baumbeschatteten Gartenstufen zum jungen, hastenden Rheine führte, und auf der Schwelle stand Arnold Opterberg und schüttelte den jungen Männern die Hand und zog die Mädchen in seine Arme. Und Frau Christiane stand auf der Schwelle und tat aus den klaren Augen, die die Farbe des jungen Rheines hatten, einen Umblick über die Gesichter der Ankömmlinge, streckte die Hände aus zum Willkomm und verteilte die Schar der jungen Gäste auf Stuben und Kammern.

»Mutter,« sagte Christoph Attermann, als Frau Christiane zurückkehrte, »du hast einen unbestechlichen Blick. Welche gefällt dir am besten?«

»Das Mädchen mit der Laute, Christoph.«

Da lachte Christoph Attermann in sich hinein und war fröhlich die ganzen Ferien über.

*

 


 << zurück weiter >>