Theodor Herzl
Philosophische Erzählungen
Theodor Herzl

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Die Garderobe.

1887.

Man klopfte.

»Herein!« rief sie; blieb aber bewegungslos auf ihrem unbequemen, gradlehnigen Sessel sitzen. Sie wandte nicht einmal den Kopf; weder nach links, dem Eintretenden entgegen, noch auch nach rechts, wo sie ihn hätte im Spiegel erblicken können. Dennoch fragte sie zweimal ungeduldig: »Wer ist es?«

Er hatte nicht geantwortet, sondern war langsam und lautlos auf dem dicken Teppich dieses eleganten Ankleidezimmers an sie herangekommen. Nun stand er vor ihr und sagte: »Wie Sie heute wieder aussehen, Frau Käthe!«

»Ah, Sie sind es, Doktor! ... Warum blieben Sie nicht ganz ruhig auf Ihrem Parkettsitz, wenn ich Ihnen gefiel? Die Schminke sieht in der Nähe abscheulich aus. Sie werden sich noch alle Ihre Illusionen erkälten! ... Jetzt ist das Unglück geschehen. Sie dürfen da bleiben, ich habe im zweiten Akt nichts zu tun.«

Der Doktor saß ihr schon gegenüber und lachte. »Wissen Sie, was mich an Ihnen immer von Neuem betroffen macht? Sie werden es nicht erraten. Sie sind die größte Künstlerin und eine der schönsten Frauen, die ich kenne. Aber daran habe ich mich allmählich gewöhnt. Sie lächeln spöttisch – genau so wie jetzt – wenn man Ihnen eine Schmeichelei sagt. Das ist auch eine seltene Eigenschaft. Sie sind geistreich und dennoch wahrheitsliebend, in der Kunst wie im Leben. So merkwürdig diese Tatsache auch ist. sie überrascht mich bei Ihnen nicht mehr. Höchstens, daß mich irgend ein neuer Zug, eine Nuance, eine zitternde Feinheit entzückt. Wenn ich Ihnen eine Krankheit im Spital gezeigt habe, wissen Sie sie derart nachzumachen, daß ich oft von meinem Sperrsitz aufspringen und Ihnen zu Hilfe eilen möchte – um Gotteswillen, sie stirbt wirklich! ...«

»Werden Sie bald aufhören, mich zu loben, Doktor?«

»Wodurch Sie mich aber immer wieder bis zur Sprachlosigkeit verblüffen, Frau Käthe, ist, daß Sie sich so unglaublich schnell anziehen. Das wollte ich sagen.«

Sie lächelte. Dann wurde sie plötzlich ernst und starrte finster vor sich hin nach der Wand, die mit Lorbeerkränzen, Atlasschleifen, Bildern in reichem Rahmen farbig herausstaffiert war, von Seide und Gold strahlte.

Der Arzt fügte hinzu: »Ich habe die Garderobe mancher Künstlerin gesehen. Da ist ein so fahriges Getue, eine Unruhe und Aufregung, immer noch ein letzter, ein allerletzter Blick in den Spiegel, noch eine Stecknadel anzubringen unmittelbar vor dem Auftreten. Sie dagegen, obgleich Sie die wichtigste Person sind, sitzen längst fertig da, und vor der Tür Ihre Dienerin wie eine gelassene Schildwache.«

»Sagen Sie der Schildwache, daß ich jetzt keinen Besuch empfange, und ich werde Ihnen erzählen, wie ich das lernte, was Sie so außerordentlich bewundern. Vielleicht wäre ich nie geworden, was ich bin, wenn ich das nicht hätte erleben müssen.«

Der Doktor kam von der Türe zurück und setzte sich wieder hin: »Eine Geschichte?«

»Ja wohl,« sagte sie dumpf; »eine häßliche, kleine Geschichte. So wahr und abstoßend wie eine der Krankheiten, die Sie mir im Spital zeigten. Ich will Ihnen Revanche geben.

Das war vor vierzehn oder fünfzehn Jahren. Ich zog damals kreuz und quer durch die Provinz als Mitglied kleiner Schauspielertruppen. Heute da, morgen dort. Ich möchte das nicht noch einmal durchmachen ... Ich habe zuweilen Fieberträume, in denen ich angstvoll glaube, noch einmal übers Moor gehen zu müssen bei Nacht, oder daß ich abermals bei dem Herrn Direktor Lemke Engagement nehmen müsse, um nicht zu verhungern ... Unter einer »Schmiere« stellen Sie sich gewiß etwas recht Humoristisches vor, wie? Es ist ganz einfach entsetzlich, das Elend der Namenlosen, dieses namenlose Elend.

Wie tief man sich da für ein Stück Brot demütigen läßt, welche Gemeinheiten man begeht ... Nein, ich will mich nicht aufregen. Ich werde mir denken, daß eine andere Person diese Dinge erlebt habe. Das junge Mädchen, welches damals in zerrissenen, aufgebogenen Stiefletten die regenzerweichte Landstraße hinschritt, war ja auch eine ganz andere, als ich jetzt bin. Sie sehen mir heute nicht mehr an, wie häßlich und mager ich gewesen. Eine Vogelscheuche. Was man gegenwärtig mein »edles Profil« nennt, war zu jener Zeit eine ganz gewöhnliche krumme Nase. Der Kopf saß mir vorgeneigt auf schmalen, spitzen Schultern; diese Hände waren knochig und rot. Nie verirrte sich das Liebeswort eines Mannes zu mir, und Sie wissen vielleicht, wie schnell die Herren sich dazu entschließen, wenn sie nicht geradezu etwas Abstoßendes vor sich haben. Namentlich die Kollegen paaren sich überraschend leicht. Wenn das Engagement zu Ende ist, löst sich ja auch das Verhältnis zu Der oder Dem. Man hat seine Freiheit wieder, ohne daß man sich jedoch während der Dauer des Verhältnisses gar zu ängstlich für gebunden gehalten hätte.

Ich kann nicht sagen, daß ich der Verführung widerstanden habe; denn es nahm sich Keiner die Mühe. Ich war nur das Zielblatt kameradschaftlich roher Spässe, und das Gewieher jedes spottlustigen Publikums galt vor allem mir. Meine Häßlichkeit war wohl hauptsächlich schuld daran, aber ich spielte auch schlecht; schlechter noch als Jene, die kein Talent hatten. Ich besaß nämlich schon damals Ohr für meine eigene Rede und Augen für meine Bewegungen. Kaum war mir ein Ton entgleist oder eine Gebärde mißraten, so empfand ich es blitzartig, verlor alle Fassung und stockte. Schlimmer noch war meine Befangenheit, die nicht dem üblichen Lampenfieber glich. Denn ich trat immer unerschrocken hinaus, hielt mich sogar gelassen und aufrecht, wenn man zischte oder pfiff. Nur in den Liebesszenen, die ich zu spielen hatte, überwältigte mich diese Bangigkeit, die eigentlich – Schamhaftigkeit war. Ja, es klingt närrisch: ich schämte mich vor den Zuschauern, wie wenn sie Mitwisser eines zärtlichen Geheimnisses meines Herzens geworden wären; wie wenn die kaschierte Liebeserklärung meines jeweiligen ungeschlachteten Partners wirklich mir gegolten hätte.

Ich bekam ja außerhalb der Bühne nie solch einen heißen Blick oder ein leidenschaftliches Geständnis. Darum verwirrte mich das, verschlug es mir den Atem. Es war Mädchentum in diesem einfältigen Betragen oder, wenn Sie wollen: Keuschheit, Verschämtheit. Nun darf aber eine Schauspielerin brav und tugendhaft sein – und ich kenne genug, die es sind – verschämt darf sie nicht sein. Vom Kopf bis zu den Füßen ist sie immer den gierigen Blicken einer Menge preisgegeben, und wenn sie groß sein will, so genügt es nicht, daß sie eine Seele habe, sie muß diese auch entblößen. Wie weit war ich davon! Meine arme, verschüchterte Seele zog sich scheu zurück, und in einer Welt, wo nur das Geäußerte gilt, lebte ich träumerisch nach innen ... Bis endlich jener Vorfall eintrat, von dem die Wendung herdatiert ...«

»Eine Liebschaft?« warf der Arzt ein.

Sie lachte kurz und bitter. »Wenn es das gewesen wäre! Ich säße vielleicht heute als Souffleuse in irgend einem Nest. Nein, etwas Anderes.

Ich zog damals mit der Gesellschaft des Herrn Direktors Lemke. Dieser Lemke war ein gemütlicher Schuft. Daß er seine Leute übervorteilte und ihnen soviel Arbeit erpreßte, als er nur konnte, davon will ich nicht reden. Die eigentliche Lumperei bestand in seinen Nebengeschäften, von denen Sie eines kennen lernen sollen. Dabei hatte er ein rosiges, lächelndes Gesicht, von blonden Locken umwallt, der echte Künstlerkopf.

Wir waren in eine geringe Provinzstadt gekommen. Ich sehe sie noch vor mir. Helle, freundliche, leblose Gäßchen mit niedrigen Häusern. Der Hauptplatz mit runden, kleinen Steinen gepflastert, zwischen denen lustig das Gras wucherte. Die Sonnenstrahlen glänzten darauf. Nach zwei Tagen war man von der ganzen Einwohnerschaft gekannt und geringgeschätzt. Vor dem Wirtshause »zum roten Löwen«, wo wir spielten, standen, auf den Säbel gestützt, die Offiziere der kleinen Garnison und ließen gewählte Scherze hören, so oft wir vorübergingen. Die besseren Bürger maßen uns wegwerfend, wenn ihre Gattinnen sich in der Nähe befanden, und versengten uns mit verführerischen Blicken, wenn sie allein oder ledig waren. Ich spreche von meinen Kolleginnen; ich war auch denen zu schlecht. Die Männer in den kleineren Städten sind ärger als die in den großen. Sie werden vielleicht wissen, warum?

Wir gaben unsere Vorstellungen im großen Saale des »roten Löwen«. Es gab da eine hübsche Bühne für die durchreisenden Gesellschaften. Ferner zwei Ankleide-Logen: eine für uns, eine für die Herren; keine Garderobe wie diese da, aber man konnte sich doch aus- und anziehen. Das Ankleidezimmer! Ein wirres Durcheinander von Kostümen, Requisiten, Straßengewändern. Da ist ein Strumpf als Lesezeichen in ein Buch geklemmt, dort steckt das Lockenholz in einem lichten Atlasschuh, dessen Flecken man mit Seife zu putzen versucht hat. An der Wand weiße Unterröcke, die erst wochenlang auf der Szene getragen worden und noch zu gut sind für die Straße. Was da alles umherliegt an der ungehörigen Stelle, golddurchwirkte Gürtel, Lichtscheren, verwitwete Galoschen, leere Schminktöpfe, Notenrollen durch ein Strumpfband zusammengehalten, Unordnung, Schmutz. Die eine legt alle ihre Sachen über einander auf einen Sessel, der schließlich umfällt. Die andere verstreut gleich von vornherein das, was sie brauchen wird. Und über allem liegt eine feine Wolke von Staub und ein eigentümlich brenzlich schwerer, dumpfer Geruch.

Jene Garderobe war dann der Schauplatz dessen, was ich Ihnen erzähle. Vielleicht finden Sie, daß es keine so große Sache gewesen, daß sich das alle Tage ereigne. Ich selbst habe seither diesen anderen Standpunkt kennen gelernt, von dem aus dergleichen nur als grober, jedoch verzeihlicher Spaß erscheint. Dazumal sah ich darin eine Schändung und Brutalität; ich war ja mitten in der Gemeinheit jungfräulich geblieben. So war es. Eines Abends saß ich gleich meinen Kolleginnen kaum bekleidet, dicht an der Holzwand. Hatte ich ein verdächtiges Geräusch dahinter gehört oder war mir nur eines der zahlreichen Astlöcher aufgefallen, ich steckte gedankenlos den Finger durch die runde Oeffnung und – stieß in das Auge eines Menschen. Ein halbunterdrückter Ausruf. Ich selber war zu Tod erschrocken, die anderen hatten nichts gemerkt. Ich brachte kein Wort hervor, warf aber meinen langen Mantel über und eilte hinaus, um mir Gewißheit zu verschaffen, ob man uns wirklich belauschte ... Ja. Und nicht etwa nur ein einziger verwilderter Bengel, nein, mehrere Herren. An unsere Garderobe grenzte ein Holzverschlag, in dem sie sich aufgehalten hatten. Ich blieb, einen Augenblick im tiefsten Schatten des Hofes hinter einem Wagen stehen, bis ich in der Dunkelheit sah. Da kamen sie auch schon heraus. Ich zählte vier, fünf, ein halbes Dutzend. Einer davon ging unsicher und drückte sich das Taschentuch ans Auge. Offenbar der, den ich getroffen. Wer es war, konnte ich in der Finsternis nicht erkennen. Auch die andern Gestalten waren nicht zu unterscheiden. Da, der Letzte, der heraustritt und die Tür leise hinter sich zuzieht, den kenne ich an der runden Figur und dem großen Kopf. Es ist Lemke. Hat er denn nichts bemerkt? Ich eile geräuschlos auf ihn zu. »Herr Direktor!« flüstere ich hastig, »man sieht in unsere Garderobe hinein!« Er kichert halblaut; »Machen Sie sich nichts draus, Ihnen gilt's ja doch nicht!« Er wußte also davon. Ich war entsetzt, empört. Vielleicht erriet er meine Gedanken; denn er faßte nun meine Hand und sagte leise, drohend: »Es soll Ihnen nicht einfallen, Lärm zu machen oder es den Andern zu erzählen – sonst sind Sie augenblicklich entlassen.«

Ich kehrte in die Garderobe zurück. Ich schwieg. Was sollte ich denn tun? Ich mußte froh sein, das Unterkommen zu haben. Wo hatte ich die Aussicht, ein Engagement zu erhalten mit meiner körperlichen Erscheinung, die nicht einmal vor den Augen dieser verdorbenen kleinstädtischen Wüstlinge Gnade fand, wenn sie hereinspähten? Und obgleich es nicht mir galt, wie Lemke gespottet hatte, kam ich mir dennoch wie entehrt vor. Ich allein? Hatten nicht auch noch andere meiner Genossinnen Kenntnis von dem infamen Vorgang? Wenn eine kokett herumhüpfte oder sich zierlich gebärdete, hatte ich sie im Verdacht. Vielleicht fügte sie sich der gleichen Drohung, unter der ich verstummt war. Vielleicht paßte es ihr gar in den Kram? Zwar stieg mir der Ekel bis in den Hals, gern wäre ich auf und davon gelaufen, aber wohin, wohin? Ich blieb. Da haben Sie die versprochene Erklärung: damals lernte ich mich so schnell anziehen. Denn die Kerle hinter dem Verschlag waren alle Abende da, ich weiß nicht, ob es immer dieselben gewesen. Unser Direktor machte jedenfalls gute Geschäfte, wie ich bei Gelegenheit herausbrachte.

Denn er ließ sich dafür bezahlen.

Und sehen Sie, ich glaube, daß ich damals anfing, gut zu spielen. Psychologisch – das ist doch Euer Ausdruck? – kann ich es nicht genau erläutern. Hatte die große Erschütterung schlummernde Kräfte in mir ausgelöst, war meine Schamhaftigkeit in der Schande ertrunken? Kam die Leidenschaft meines Tones daher, daß ich immer unter dem Eindruck dieser revoltanten Dinge stand? Bewegte ich mich freier, weil ich den Zuschauern nichts mehr vor mir zu verbergen hatte? Denn ob ein halbes Dutzend oder die ganze Stadt an den Astlöchern des Holzverschlags gelauert hatte, das war im Grunde gleich.

Man hat mich dann eines Tages »entdeckt« wie eine neue Tierart oder Insel im Meer. Ich bin empor gekommen und freue mich meiner Erfolge. Ich habe es ziemlich weit gebracht, nicht wahr? Ich werde bewundert und beneidet. Nun denn, ich sage Ihnen, wenn ich zehnmal oder hundertmal höher kommen könnte – ich möchte dafür nicht noch einmal durchmachen, was hinter mir liegt. Genug ...«


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