Johann Gottfried Herder
Briefe zu Beförderung der Humanität
Johann Gottfried Herder

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Neunte Sammlung

(1797.)

 

108.

In den Fragmenten über die Poesie der neueren Völker als einer Fördrerin der HumanitätS. Brief 81, 82, 84, 87. 89, 91, 95, 97. 107. – H. fanden unsre Freunde Manches bedenklich. A. glaubte, daß seiner Lieblingsnation, den Franzosen, B., daß seinem begünstigten Volk, den Briten, im Anschlage ihres Verdienstes nicht Gnüge geschehen sei. C. meinte, daß die Poesie der Trobadoren sich anderswoher leite, und daß man auch dem Reim nicht gnug Gerechtigkeit widerfahren lassen; er sei wirklich ein Zuwachs des Wohlklanges und der Schönheit. D. E. F. sind der Meinung, daß die Verdienste unsers Vaterlandes gegen andre Völker viel zu hoch gesetzt seien, und daß ein unverdientes Lob dieser Art nur den Bettel- und Bauernstolz unsrer Landsleute nähre. Sie hätten, meinte F., bei der ungeheuren Gutmüthigkeit, die Sie den Deutschen als einen Grundzug ihres Charakters zuschreiben, auch die ihnen angeborne Lust zu dienen, gefällige Sclaven und mit ganzer Gutmüthigkeit freudige Werkzeuge der Gewaltthätigkeit, des Uebermuths zu sein, nicht vergessen sollen. Da er Europa durchreist hat, so führt er ein langes Register der Ehrennamen an, die alle civilisirte und uncivilisirte Nationen, nah und fern, Italiener, Spanier, Franken, Briten, Dänen, Schweden, selbst Russen, Wenden, Liven, Esthen und Polen, den Deutschen geben. Worüber ganz Europa einig sei, meint er, müsse doch wol etwas Wahres in sich enthalten. Geschichte, Sprichwörter, selbst der Staatskalender zu Peking standen ihm dabei zu Hilfe, in welchem letzten die Deutschen als ein Volk charakterisirt sein sollen, das in aller Völker Diensten ist und zwischen zwei Federbetten schläft. G. wunderte sich, warum Sie die Politik von der Poesie ausgeschlossen haben wollten, da dem, was die Menschen humanisire, jedes Feld offen, jede Materie zu Gebot stehen müsse. H. begriff nicht recht, wohin Sie für die Poesie mit Ihrer Einfalt und Wahrheit wollten, so daß es noch lebendige, abwechselnd reiche Poesie bliebe. Und I. fragte, woher unsern Dichtern diese Einfalt und Wahrheit kommen solle. Antworten Sie Ihren Freunden!


109.

Kein Vorwurf ist drückender als der, fremden Nationen Unrecht gethan zu haben, zumal wenn sie in Werken des Geistes unsre Wohlthäterinnen waren; er muß also zuerst abgewälzt sein.

Daß es schwer sei, eine Nation in einem so vielumfassenden, feinen und vielseitigen Geschäft, als das Humanisiren durch Sprache und Werke des Geschmacks ist, mittelst einiger Worte zu charakterisiren, haben Fragmente und Briefe gern und oft gestanden. Eher könnte man alle Gestalten Proteus' in ein Wort, alle Verwandlungen Ovid's in ein Bild fassen, als mit ein paar Worten den Geist der verschiedensten Völker, wie er sich Jahrhunderte hinab erwiesen, darstellend zu zeichnen. In dieser Verlegenheit zeichnet man eine Außenlinie von innen mit wenigen Zügen und überläßt es dem Gemüth des Anschauenden, dieses Sbozzo zu ergänzen. Die Geschichte des Volks, seine Geistesproducte müssen ihm bekannt sein, sonst war für ihn der Umriß vergebens gezeichnet.

Was man bei solchen Charakterzeichnungen nicht angiebt, leugnet man deshalb noch nicht. Vielleicht ward es vorausgesetzt, vielleicht folgt's; nur als der erste hervorspringende Charakterzug konnte es nicht angeführt werden, weil es dieser – nicht war.

Wenn z. B. der französischen Nation eine vorzügliche Ausbildung ihrer Sprache zur Klarheit, zur Präcision, zur Politesse als ein Lob angerechnet wird, sollte damit gesagt sein, mit dieser hellen, präcisen, politen Sprache könne sie nicht rühren? In eines jeden großen Schriftstellers Händen ist die Sprache ein eigenes Ding: er braucht und formt sie nach seinem Gefallen; sein Charakter, sein Geist, sein Herz belebt sie. Montaigne's und Rousseau's, Pascal's und Diderot's, Voltaire's und Fénélon's Schreibart ist dem Charakter nach gewiß nicht dieselbe; und doch schrieben sie in der auch zu Corneille's und Bossuet's Pracht, zu des Racine empfindlichen Zartheit, zu Fontenelle's witzigen Nettigkeit ausgearbeiteten Sprache. Kann man der Rede überhaupt ein größeres Lob beilegen, als daß sie sich der Klarheit und Präcision, der Gewandtheit und Artigkeit befleißigt? In einer solchen Sprache wird sich Alles ausdrücken lassen. Wie sie zu unserm Verstande spricht, wird sie auch zu unserm Herzen zu sprechen wissen und dies, als wäre es der Verstand, sanft überreden, verständig rühren.

Als aus der alten romanischen Sprache die französische sich mit ihren Schwestern, der italienischen, castilianischen, gallicischen u. s. w., bildete, zeigte sich bald ihr Charakter. Nach dem Verfall des römischen Reichs, unter den Königen des ersten und zweiten Stammes war sie jenen ihren Schwestern noch sehr ähnlich; allmählig aber legte sie die Fesseln, selbst der Harmonie, des italienisch-castilianischen Wohllauts ab, wo er ihr eine schwere Rüstung dünkte; sie warf Buchstaben, Silben, ganze Worte hinweg und flog leicht in die Lüfte. Man erzählte, sang, sprach, lachte, gesticulirte. Als die Scholastik aufkam, disputirte man; die Abstractionen des lateinischen Schulgeistes gingen in die verwandte Sprache des Landes und Volks unvermerkt über. Einer Sprache, die Zweideutigkeiten unablässig ausgesetzt ist, mußte man, als sie sich regelte, durch eine desto genauere Construction und Wortordnung helfen. Keinem Volk wäre dies eingefallen, dem nicht schon eine Art sprechender Vernunft zur Regel geworden war; und so wurde die französische Sprache, was sie ist, eine an leichten Abstractionen reiche Sprache, die sich durch Ordnung, durch Wendungen helfen mußte und zur Ehre des Geistes der Nation tausendfach geschickt aushalf. Welch einen bedächtigern Gang nahmen die italienische, spanische, und welchen schwereren die deutsche Sprache! Man entnimmt einer Nation nichts, wenn man ihr das Eigentümliche ihrer Ausbildung zum Ruhme anrechnet.

Dahin gehört auch, daß sie gern repräsentire. »Was heißt hier repräsentiren?« fragt unser Freund. Ich antworte: aus sich selbst etwas machen, sich werth halten und ein natürliches Bestreben äußern, daß auch der Andre unsern Werth anerkenne; mit einem Wort, sich ihm vorstellen, vorspiegeln. Wenn diese Selbstschätzung auf etwas Wahres und Gutes geht, ist sie nicht verwerflich; mancher andern Nation möchte man wünschen, daß sie sich selbst mehr anerkenne und ehre. Auch die Tendenz, in Andrer Augen zu sein, was man gern sein möchte, ist aufmunternd, ein Sporn zu vielem auszeichnend Guten und Edeln. Nenne man's Eitelkeit, Selbstliebe; diese Eitelkeit, die uns mit Andern bindet, sie zum Spiegel unsrer Vorzüge macht, ist, ohne Aufdringlichkeit und Arroganz, ein sehr verzeihlicher Fehler. Wer kann es leugnen, daß die französische Nation, so oft sie konnte, der Welt ein Schauspiel gab,daß sie immer gern die zündende Lunte vortrug und aufregte? War sie es nicht, die unter Karl dem Großen die alte Römermacht in gothischer Form zurückbringen wollte und auf kurze Zeit wirklich zurückbrachte? War sie es nicht, die mit ihrem Rittergeist ganz Europa zum heiligen Grabe trieb? Französische Familien waren es, die zu Jerusalem und eine Zeit lang in Constantinopel herrschten. Ein französischer König war es, der siebenzig Jahre lang Rom nach Avignon verlegte und durch diesen Zug im Schachspiel die Päpste zu seinen folgsamen Dienern machte. Nach Frankreich wanderten Jahrhunderte lang Edle und Fürsten, um dort die Rittersitte, das Hofcerimoniel, die leichteste und beste Lebensart zu lernen, bis endlich von Paris und Versailles aus der französische Ton, die französische Sprache als Mode sich über die Welt ausgoß. Sein Kleinstes hat Frankreich bemerkbar zu machen gesucht; in allen Staatsveränderungen und Unterhandlungen hatte lange es die Hand und trat gern hervor, zu sagen: »Seht, daß ich da bin, und wie ich's treibe!« Hieße dies nicht repräsentiren? Der Ton der guten Erziehung, des Unterschiedes der Stände, der anständigen Lebensart, des höflichen Ausdrucks, der ganze Charakter der französischen Sprache ist eine Art Repräsentation. Selbst wenn der Franzose mit Gott spricht, er repräsentirt.

Aber auch diese Eigenheit ist kein Vorwurf. Denn bei dem Scheinen kann man ja auch sein, beim Repräsentiren auch leisten. Außer den Griechen ist mir kein Volk der Geschichte bekannt, das beide Eigenschaften so leicht zu verbinden, so unvermerkt zu verschmelzen wußte, als dieses. Das Sprichwort sagt: »Der Franzose scheint oft klüger, als er ist; der Spanier ist oft klüger, als er scheint.«

Mit dem Wort Repräsentation auf dem Theater, in Gesellschaften, bei Aufzügen, Feierlichkeiten sollte gar nichts Nachtheiliges gesagt sein. Einmal sind die Helden des Corneille und Racine keine römische Helden; das französische Theater sollte kein griechisches, sondern ein französisches Theater sein: wer hätte etwas dagegen? Die Nation war über die Regeln des Geschmacks, der guten Lebensart, des Ausdrucks der Empfindungen mit sich selbst übereingekommen; welcher Ausländer hätte Recht, dies zu tadeln? Er dürfte ja nicht hingehen, um jene Repräsentation des Hofes, der Akademien, des Theaters, der Oper, der Parlamente, der Lustschlösser und Gärten zu bewundern. An ihnen, auch in ihren Fehlern zu lernen, blieb ihm ein weites Feld.

Eben nun in dies Feld lockt die allgemeine Charakteristik der Völker. Daß jede Nation zu ihrer Zeit, auf ihrer Stelle nur das war, was sie sein konnte, das wissen wir Alle; damit aber wissen wir noch wenig. Was jede in Vergleich der andern war, wie sie auf einander wirkten und fehlwirkten, einander nutzten oder schadeten, aus welchen Zügen nach und nach das Bild zusammengeflossen sei, das wir als die Tendenz unsers gesammten Geschlechts, als die höchste Blüthe der Schönheit, Wahrheit und Güte unsrer Natur verehren, das ist die Frage.


110.

Da wendet sich nun freilich das Blatt. Germanus fragt nicht, was Nachbar Gallus ihm, dem Gallus, sondern ihm, dem Germanus gewesen sei, sein könne und sein dürfe. Und hierüber giebt die Geschichte klare Auskunft.

Die alten Gallier und Germanen wollen wir ruhen lassen. Sie waren gegen einander bald Freunde, bald Feinde, die Germanen das rohere Volk, beide aber nicht von einerlei Stammesart, Sprache, Sitten und Gebräuchen. Von Karl dem Großen fängt die unglückliche Vereinigung an, die Deutschland Leides genug gebracht hat, ob Karl gleich selbst ein Frank und Deutscher war und in bester Absicht seine Anstalten machte. Ihm sind wir die dreißigjährigen blutigen Kriege und Verheerungen des damaligen Sachsenlandes, ihm die Unterjochung Deutschlands bis über die Elbe zur ungrischen Grenze hin, ihm die erste Zerstörung der alten germanischen Verfassung, die den Römern nie hatte gelingen wollen, die Einführung des römisch-gallischen Christenthums, ihm und seinen Nachkommen die Pflanzung so vieler Bischofssitze, Domcapitel und Abteien längs dem Rhein und der Donau, ihm und ihnen die Sündfluth von Uebeln schuldig, unter denen Germanien endlich zum stehenden und abgestandenen, verwachsenen Teich ward. Die kurze Verbindung Germaniens mit der fränkischen Monarchie hat Deutschland in ein Labyrinth gezogen, aus welchem es der Lauf tausend folgender Jahre nicht hat erretten mögen. Sobald beide Reiche getrennt wurden, suchte Frankreich sich zu consolidiren; Deutschland blieb von außen und innen im ewigen Streit mit einer furchtbaren, der geistlichen Macht, die es im Namen der Christenheit in Schranken halten sollte, wenn es darüber auch selbst zu Grunde ginge und sich ganz und gar vergäße. Dies Amt hatte ihm das gallische Christenthum, die fränkische Monarchie aufgebürdet; ein deutscher Kopf hätte schwerlich nach solchem gefährlichen Diadem gestrebt.

An den Ritter- und Kreuzzügen, die Frankreich ausbrachte, hat kein Land so viel Theil und so viel Schaden genommen als Deutschland. Jene Cultur, die man Blüthe des Rittergeistes nennt, ließ sich durch Kreuzzüge nicht erringen, wenn der Same dazu nicht in den Menschen selbst vorhanden war; leider aber haben der französische und deutsche Ritter sich immer wesentlich unterschieden. Was in dem einen Lande zur Verfeinerung der Sitten, zur Veredlung gereichte, ging in dem andern auf Plünderung und Unterdrückung, zuletzt aufs rohe Faustrecht hinaus. Um französische Ritter auf den Thronen Palästina's aufrecht zu erhalten, zogen deutsche Kaiser mit gewaltigen Heeren gerade in einem Zeitalter aus, da ihre Anwesenheit in Deutschland am Nöthigsten war; denn nachdem andre Länder in ihrer inneren Verfassung und Consolidation stark vorgeschritten waren, sollte eben die Zeit der schwäbischen Kaiser für Deutschland entscheiden. Sie entschied so, daß nach dem Tode des letzten kreuzziehenden Kaisers Friedrich II. das deutsche Reich dreiundzwanzig Jahre lang öffentlich ausgeboten ward und fast Niemand eine so drückende Krone annehmen wollte.

Wie oft zog auch in den folgenden Zeiten Frankreichs trügender Glanz die Deutschen an sich, um sie angenehm zu vergolden! Wer will uns eine Geschichte der Fürsten, Prinzen, Grafen und Ritter geben, die Jahrhunderte hinab in Frankreich Bildung, Fortkommen, Ehre suchten und getäuscht zurückkamen?»Die den Deutschen ohnehin seit langer Zeit eigne Nachahmungssucht erhielt ungemeine Nahrung durch das immer mehr zur Gewohnheit werdende Reisen. Man wird kaum die Lebensbeschreibung eines etwas bedeutenden Mannes vom Adel der damaligen Zeiten finden, wo nicht seiner gethanen Reisen Erwähnung geschähe. Fremde Sprachen, Sitten und Moden waren dasjenige, woraus ihre Landesleute nach der Heimkunft schließen sollten, was sie für einen Mann vor sich hätten. Selbst die Vielen vom Adel sowol als dem Volk, die wegen der Kriegsdienste so häufig nach Frankreich und den Niederlanden zogen, brachten meistens, anstatt des fremden Geldes, das sie zu erhaschen geglaubt, nichts zurück als fremde Moden und Grimassen. Dadurch ward der Abstand von den vorigen Sitten in kurzer Zeit so groß, daß mehrere deutsche Fürsten selbst in ihren Testamenten ihre Söhne vor fremder Pracht warnten.« Schmidt's Geschichte der Deutschen, Th. 9. S. 129 f. – H. Die Universität zu Paris, zu der man ebenso gewaltig hinströmte, hat in Vielem eben also die Welt getäuscht.

Als endlich die Sonne des französischen Hofes in ihrem Mittage strahlte, als die Sprache, die Sitten, die Verhandlungen desselben fast allenthalben in Europa den Ton angeben wollten: wer ist, insonderheit seit dem westphälischen Frieden, dadurch mehr zu kurz gekommen als Deutschland? Jeder kleine Hof sollte ein Versailles, jede adlige Gesellschaft ein Cirkel französischer Ducs et Marquis, Princesses et Comtesses werden. In Erziehung, Sitten, Sprache, Lebenszweck und Lebensführung trennten sich die Stände. Was diese über ein Jahrhundert fortdauernde französische Propaganda und Propagata den Deutschen für Unheil geboren, davon soll ein andrer Brief reden. Beschämt und verwirrt lege ich die Feder nieder; spreche darüber ein Franzose selbst.


Prémontval gegen die Gallicomanie
oder den falsch-französischen Geschmack.Gelesen in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1759. – H. [Die sieben Abhandlungen von A. P. Le Guay Prémontval, der mit den Berliner Gelehrten in genauer Verbindung stand: »Préservatif contre la corruption de la langue Française en Allemagne«, waren in zwei Bänden 1759–1764 erschienen. Prémontval starb am 3. September 1764 als Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Berlin, wohin er 1752 gekommen war. – D.]

Die Gallicomanie oder der falsch-französische Geschmack, worauf hat er sich nicht heut zu Tage fast durch ganz Europa verbreitet? Sitten, Gebräuche, Moden, Kleider, Manieren, Phantasien, Capricen, in alle diesem wie viel ungeschickte Affen, wie viel schlechte Copien von leidlichen Originalen giebt's nicht allenthalben? Man hat nicht ohne Grund gesagt, daß der Franzose meistens nur lächerlich sei, indeß der Fremde, der ihn in seinem Lächerlichen nachahmt, aufs Aeußerste widrig und abgeschmackt werde. Wollte ich diese Wahrheit verfolgen und die zahllosen Porträte zeichnen, die sie sehr sinnlich machen, welch ein weites Feld läge vor mir! Ich will mich aber nur an die französische Sprache und Literatur halten.

1. Woher der französische Geschmack in Deutschland?

Unter allen europäischen Nationen ist's ohne Widerrede die deutsche Nation, die sich am Meisten bestrebt, unsern Geschmack nachzuahmen; bei ihr hat sich unsre Sprache am Allgemeinsten verbreitet. Und das aus verschiedenen Ursachen. Die erste ist ihr gemeinschaftlicher Ursprung. Beide Nationen können sich als Schwestern ansehen, oder die deutsche kann sogar mit einigem Wohlgefallen die französische als eine Tochter betrachten, die ihr oft Ehre gemacht hat. Die zweite Ursache ist die nahe Nachbarschaft beider Nationen. Keine unersteiglichen Berge, kein gefahrvolles Meer trennt sie, sondern ein bloßer Strom, mit Städten besetzt, in welchen man zum Theil schon beide Sprachen redet. Auch giebt es drittens keine Rivalität und Eifersucht zwischen beiden Völkern. Nie haben sie so lange, grausame und große Angelegenheiten betreffende Kriege gegen einander geführt, als z. B. Frankreich mit England und Spanien. Dazu kommt viertens, daß unsre Armeen entweder als Freunde oder als Feinde zu verschieden Zeiten in alle Theile von Deutschland gedrungen sind und die Völker mit unsern Gebräuchen und mit unsrer Sprache bekannt gemacht haben. Auch findet die deutsche Nation Geschmack am Reisen und reist gewöhnlich zuerst nach Frankreich. Fünftens hat die Auswanderung der refugiés unsre Bücher, unsre Manufacturen, unsre Künste, unsern Geschmack, unsre Gebräuche, unsre Sprache nirgend so leicht verbreitet, nirgend so viel und so zahlreiche Colonien gestiftet, als in Deutschland.

Darf ich noch hinzusetzen, daß die große Anzahl von Höfen und Souveräns, die den deutschen Staatskörper theilen, auch eine der Ursachen gewesen, die zu Verbreitung des französischen Geschmacks in Deutschland mächtig gewirkt? Nichts ist gewisser als dieses.

In Deutschland giebt's große und kleine Höfe, diese in einer großen Anzahl, von jenen acht oder neun. Beide haben hiebei auf verschiedne Art mitgewirkt. Die kleinen Souveräns, Prinzen, Grafen, Barons sehen eine Ehre darin, wie Personen von niederm Range zu reisen, ja mehr als diese gereist zu sein. Fast Alle gehen nach Frankreich, fast Alle bringen ganze Jahre zu Paris oder am Hofe zu, mit einem ansehnlichen Gefolge. Werden sie nicht ihren dort angenommenen Geschmack in ihre Residenzen, d. i. in hundert und hundert Orte in Deutschland, mitnehmen? Diesen theilen sie sodann zuerst ihren kleinen Höfen und Unterthanen durch den Einfluß mit, den jeder Souverän, groß oder klein, über die Geister Derer hat, die in seiner Dependenz sind. Von da aus verbreitet sich dieser Geschmack mit Hilfe des Triebes, den alle Menschen zur Nachahmung haben, allmählig weiter. Das Alles wäre nicht so, wenn diese kleinen Souveräns nur reiche Hofleute (grands Seigneurs) wären, die nach ihrer Rückkunft aus Frankreich sich in einer Hauptstadt, wie Madrid, London u. s. w., sich in einer Menge verlören. An einem Hofe, wo ein Einzelner für seine Person wenig bedeutet, im Ganzen aber ein festgesetzter, bestimmter Ton und Charakter herrscht, wird ein englischer Lord, ein spanischer Grand den Firniß, den er nachahmend auf Reisen an sich gezogen hatte, bald wegthun, und zwar aus ebendemselben Principium der Nachahmung. Er wird sich mit Andern, die ihn umgeben, in Unison setzen, oder wenigstens wird sein Restchen fremder Farbe keinen großen Einfluß haben. Glückes gnug, wenn man ihn nicht lächerlich findet!

2. Folgen der Gallicomanie in Deutschland

Der erste Mißbrauch, der aus diesem verbreiteten französischen Geschmack entspringt, ist, daß man seine eigne Sprache vernachlässigt – woran man gewiß Unrecht hat; ich kann es nicht gnug wiederholen – ein schreiender Mißbrauch. Mit einem Wort, es geht so weit, daß eine ungeheure Menge von Personen sich piquirt, nur französisch zu lesen, und daß sie es endlich so weit bringen, ihre eignen Schriftsteller nicht mehr verstehen zu können. Ich habe, ja, ich habe Deutsche gekannt, Leute von Geist und Verdienst, die das Beste, das wir in unsrer Sprache prosaisch und poetisch haben, mit Nutzen lasen und gestanden, daß sie die Dichter ihrer eignen Sprache durchaus nicht verstünden, sogar behaupteten, daß die Schuld hiebei an den Dichtem, nicht an ihnen selbst liege. Ich mußte ihnen zeigen, daß an ihrer Seite die Schuld sei, da ihnen alle Uebung und Bekanntschaft mit einer Sprache fehle, die sich über die gemeine Volkssprache nur etwas erhebt. Sie verwunderten sich, wenn ich ihnen versicherte, daß mich diese Sprache nicht abschreckte, daß sie mir vielmehr leichter würde als die platte, schwatzhafte Prose der Zeitungsschreiber. Diese völlige Unbekanntschaft mit den Dichtern ihrer eignen Nation ist in Deutschland der Fall bei so vielen Personen, daß es ein wahres Wunder ist, daß man in diesem Lande dennoch die Musen cultivirt. Sehr wenige Deutsche also wissen ihre Sprache, außer einem gewissen Geschwätz des täglichen gemeinen Lebens; denn man weiß eine Sprache nicht, deren Dichter man nicht versteht. Und da der ausschweifende Geschmack an der französischen Literatur daran Schuld ist, so wundert mich der Verdruß und Unwille nicht, mit dem ihm mehrere Gelehrte Deutschlands begegnen.

Ein andrer nicht weniger empfindlicher Mißbrauch, der die Deutschen von Einsicht aufbringt, ist die tolle Wuth, jeden Augenblick französische Worte und Redarten im Deutschen anzubringen – eine Raserei, die auch die besitzt, die selbst kein Französisch wissen. Unsre Sprache, wer sollte es glauben? die Sprache eines Volks, das der Pedanterei so feind ist, ist zur andringlichsten, unausstehlichsten Pedanterei selbst bei der deutschen Nation worden.

Alles dies ist bizarr und dient zu nichts Gutem. Beide Sprachen leiden dabei, selbst wenn man die eine und die andre Sprache vollkommen inne hat; meistens fährt eine von beiden dabei sehr übel. Ein jargon wird daraus, unwürdig jedes verständigen und vernünftigen Wesens! In Wahrheit, der Geschmack für die französische Sprache hat der deutschen Nation einen übeln Dienst gethan, und zum Unglück darf man kaum hoffen, einem so tief eingewurzelten Uebel abzuhelfen. Ich sage dies Alles gegen meinen Privatvortheil; denn ich verstehe das Deutsche nur in Büchern.

Die beiden Mißbräuche, deren äußerstes Uebermaaß ich bemerkt habe, gereichen beiden Sprachen, der erste der deutschen, der zweite der deutschen und französischen, unendlich zum Schaden; sie sind aber nichts gegen einen dritten Nachtheil, der auf nichts Geringeres ausgeht, als den Geist und Geschmack der Nation selbst im Grunde zu verderben. Und dies geschieht unfehlbar durch die Wahl einer üblen Lectüre und durch den schlechten Gebrauch der besten Schriften. Glaube man doch nicht, daß diese übertriebnen Liebhaber der französischen Sprache, die sie radebrechen, ihre wahren Schönheiten und die in ihr geschriebenen schätzbarsten Werke je gekannt haben! Sind sie dazu fähig? Guter Gott! Die Geistesgestalt, die ihnen die Schönheiten ihrer eignen Sprache so ganz und gar mißkenntlich macht, daß sie sie vernachlässigen und auf die erbärmlichste Art verderben, diese Geistesbildung, oder vielmehr diese für jede Sprache, für jede Literatur mißgebildete Schiefheit und Unform bringt zu unsern Schriftstellern eine Grundlage von Pedanterei, die ein wahrer Antipode von aller Delicatesse des wahren französischen Geschmacks ist. Oder sie bringen einen Leichtsinn zu ihnen, der nur den Namen des schlechtesten, eines falschen französischen Geschmacks verdient. Wissen sie nur einmal, was es sei, gute Schriftsteller lesen? Wissen sie, daß es nicht zu viel ist, sie zehn-, zwanzig-, dreißigmal mit Geschmack, mit Fleiß und Anstrengung lesen, um sie zu verdauen, um ihren Inhalt in Blut und Saft zu verwandeln? Nichts weniger als dieses. Eine einmalige flüchtige Lectüre. Und wessen? Einer kleinen Zahl von Werken, die den meisten Ruf hat, die man sich rühmen will gelesen zu haben; ein zwanzig vielleicht, von denen ihnen nichts blieb, selbst die bekanntsten Anspielungen nicht, die in der Gesellschaft oder in den Schriftstellern vorkommen.Viele große Liebhaber der französische Lectüre wußten nicht, wer Cotin sei, und verwandelten ihn sehr gelehrt in Catin. – Prémontval. Endlich nur neue Bücher, nur Zeitschriften!

In Frankreich unterscheidet man gute und schlechte Bücher; man tadelt den falschen Geschmack und seufzt über den Verfall der Wissenschaft, indeß in Deutschland die Verfechter der französischen Literatur weit entfernt sind, so etwas auch nur zu vermuthen. Leute von Geschmack wissen es und schweigen; man schwimmt nicht gern gegen den Strom. Und ich, der ich es zuerst wage, welchen Widersprüchen und Tracasserien setze ich mich aus! Welch eines Muths, welcher Geduld habe ich nöthig!

Woher kommt's, daß in England der falsch-französische Geschmack die bösen Wirkungen nicht hervorgebracht hat wie in Deutschland? Die Ursache ist klar. Die Neigung für unsre Literatur und Sprache war da viel gemäßigter. Der Nationalhaß erregte Mitbewerbung; man las nicht sinnlos, man starrte nicht bewundernd an, sondern eiferte nach und voran. Diese Eifersucht, so ungerecht sie manchmal war, hatte für die Nation eine gute Wirkung. Man ließ sich nicht unterjochen, am Wenigsten so weit, daß man seine eigne Sprache aufgegeben, die Werke seiner Mitbürger verachtet und diese durch den Mangel an Aufmerksamkeit für ihre Bemühungen ganz muthlos gemacht hätte, wie man es in Deutschland gethan hat, und am Ende wozu gethan hat? Um eine fremde Sprache schlecht zu verstehen, sie noch schlechter zu sprechen und in ihr nichts als Thorheiten zu lesen. Schöner Gewinn dafür, daß man in seinem Lande ein doppelter Barbar wird! Lohnte dies der Mühe, sich mit unsrer Literatur zu überstopfen, gesetzt, diese hätte auch tausendmal mehr Verdienst, als man ihr zugesteht, um solchen Preis?

Verhehlen kann man sich's also auch nicht, daß der Fortgang beider Nationen, der englischen und deutschen, sich wie ihr verschiedenes Betragen verhalte. Hier entscheidet die That; ich will und kann nicht entscheiden. Daß die englische Literatur die deutsche an Verdienst übertreffe, erweist sich augenscheinlich dadurch, daß man in Deutschland, wie in ganz Europa, englische Werke sucht und liest, dahingegen England sowol als ganz Europa um deutsche Werke sehr unbekümmert ist. Gegen diesen Beweis läßt sich nichts einwenden; die deutsche Nation giebt hier ihre Stimme wider sich selbst. Uebrigens bin ich weit entfernt, zu glauben, daß es zwischen den Nationen wesentliche Verschiedenheit, unabhängig von ihrer Geistescultur, gebe. Der Deutsche wird Delicatesse zeigen wie der Franzose, Tiefsinn und Erhabenheit wie der Engländer, wenn er auf dem rechten Wege sein wird; er ist aber noch nicht darauf. Und die Ursache davon liegt, wie ich glaube, in seiner Leidenschaft nicht für die französische allein, sondern für jede Sprache, sobald sie nur nicht die seinige ist. Nur in dieser falschen und schiefen Neigung liegt es. Seine Sprache ist jedes Ausdrucks empfängig; warum baut er sie nicht an, wie er sollte? Meinethalb lerne er auch Französisch; nur auf eine Art, die ihm Ehre bringe und nicht gar lächerlich macht. Er halte sich in ihr an die unsterblichen Werke, die den Ruhm Frankreichs ausmachen, und nähre sich in ihnen mit Geschmack. Geistige wie körperliche Nahrung, wenn sie gedeihen soll, will gekostet, genossen werden. Man muß zu ihr von einer Begierde, einem Hunger getrieben werden, der nicht erkünstelt, nicht der Appetit einer verdorbenen Gesundheit sei. Die deutsche Nation, im Grund eine Nation von festem und edeln Sinn (ein fester Sinn aber haßt Frivolität, so wie ein edler Sinn jedes Niederträchtigen Feind ist); um diesen lobenswürdigen Eigenschaften treu zu bleiben, lasse der Deutsche fortan und immer sowol jene nichtswürdige, falsch schimmernde französische Schöngeisterei, als jene unförmlichen Plattheiten, deren vieljährige Geltung ihm gnugsam zeigt, in welchem Irrthum er sei, und mit welchem Uebel, von welchem er nicht die geringste Ahnung hat, er behaftet gewesen.

So weit Prémontval.Lange vor Prémontval hatten Deutsche über diesen Mißbrauch geklagt; eine Bibliothek von Beschwerden der Deutschen und Spöttereien der Ausländer wäre hierüber anzuführen. Piccart,ein ebenso gescheiter als gelehrter Mann (Observationes historico-politicae, Decas III. Cap. 10), zeigt, wie anders Griechen und Römer über den Gebrauch fremder Sprachen in ihrem Vaterlande gedacht haben. [Michael Piccart war bereits 1620 gestorben. – D.] Desgleichen viele Andre. Was half aber Alles dieses? »Gens peregrinandi avida et exterorum morum, dum se receperit domnum, aut simulatix aut retinens«, sagt Barclai in seinem Icon animorum (c. 5), wo er die Deutschen seiner Zeit in mehreren Zügen treffend schildert. – H. [Diese Stelle führt Schmidt an dem auf S. 484 in der Note angegebenen Orte an. – D.]


111.

Eine viel tiefere Wunde hat uns die Gallicomanie (Franzosensucht müßte sie deutsch heißen) geschlagen, als der gute Prémontval angiebt. An seinem Ort konnte er nicht mehr sagen und hatte gewiß schon zu viel gesagt.

Wenn Sprache das Organ unsrer Seelenkräfte, das Mittel unsrer innersten Bildung und Erziehung ist, so können wir nicht anders als in der Sprache unsers Volks und Landes gut erzogen werden; eine sogenannte französische Erziehung, wie man sie auch wirklich nannte, in Deutschland muß deutsche Gemüther nothwendig mißbilden und irre führen. Mich dünkt, dieser Satz stehe so hell da als die Sonne am Mittage.

Von wem und für wen ward die französische Sprache gebildet? Von Franzosen für Franzosen. Sie drückt Begriffe und Verhältnisse aus, die in ihrer Welt, im Lauf ihres Lebens liegen; sie bezeichnet solche auf eine Weise, wie sie ihnen dort jede Situation, der flüchtige Augenblick und die ihnen eigne Stimmung der Seele in diesem Augenblick angiebt. Außer diesem Kreise werden die Worte halb oder gar nicht verstanden, übel angewandt, oder sind, wo die Gegenstände fehlen, gar nicht anwendbar, mithin nutzlos gelernt. Da nun in keiner Sprache so sehr die Mode herrscht als in der französischen; da keine Sprache so ganz das Bild der Veränderlichkeit, eines wechselnden Farbenspiels in Sitten, Meinungen, Beziehungen ist als sie; da keine Sprache wie sie leichte Schatten bezeichnet und auf einem Farbenclavier glänzender Lufterscheinungen und Strahlenbrechungen spielt: was ist sie zur Erziehung deutscher Menschen in ihrem Kreise? Nichts oder ein Irrlicht. Sie läßt die Seele leer von Begriffen oder giebt ihr für die wahren und wesentlichen Beziehungen unsers Vaterlandes falsche Ausdrücke, schiefe Bezeichnungen, fremde Bilder und Affectationen. Aus ihrem Kreise gerückt, muß sie solche, und wäre sie eine Engelssprache, geben. Also ist es gar nicht vermessen, zu sagen, daß sie unsrer Nation in den Ständen, wo sie die Erziehung leitete oder vielmehr die ganze Erziehung war, den Verstand verschoben, das Herz verödet, überhaupt aber die Seele an dem Wesentlichsten leer gelassen hat, was dem Gemüth Freuds an seinem Geschlecht, an seiner Lage, an seinem Beruf giebt. Und sind dies nicht die süßesten Freuden? Haben Sie je den Cours einer deutsch-französischen Erziehung kennen gelernt? Für Deutsche eine schöne Einöde und Wüste!

Und doch besteht der ganze Werth eines Menschen, seine bürgerliche Nutzbarkeit, seine menschliche und bürgerliche Glückseligkeit darin, daß er von Jugend auf den Kreis seiner Welt, seine Geschäfte und Beziehungen, die Mittel und Zwecke derselben genau und aufs Reinste kennen lerne, daß er über sie im eigensten Sinn gesunde Begriffe, herzliche, fröhliche Neigungen gewinne und sich in ihnen ungestört, unverrückt, ohne ein untergelegtes fremdes und falsches Ideal, ohne Schielen auf auswärtige Sitten und Beziehungen übe. Wem dies Glück nicht zu Theil ward, dessen Denkart wird verschraubt, sein Herz bleibt kalt für die Gegenstände, die ihn umgeben; oder vielmehr von einer fremden Buhlerin wird ihm in jugendlichem Zauber auf lebenslang sein Herz gestohlen.

Hat Ihnen das Glück nie einen deutsch-französischen Liebesbriefwechsel zugeführt? Vielleicht die schönste Blumenlese auswärtiger Empfindungen; auf deutschem Boden dürres Heu mit verwelkten Blumen. Jetzt muß man lachen, jetzt sich verwundern, am Ende aber möchte man über die nicht ausgebrannte, sondern so früh ausgespülte, flache Sentimentalität weinen.

Kennen Sie Swift's Tea-table Miscellanies? Gehen Sie in die galanten Cirkel der deutsch-französischen Conversation und suchen Gedanken, suchen wahre und angenehme Unterhaltung: Sie werden den alten Swift in Leerheit sowol als anmuthigen Fortleitungen des Gesprächs übertroffen finden. »Deutsch spreche ich nicht in dieser Gesellschaft; im Deutschen sagt man immer zu viel, und hier will ich nichts sagen. Wir zählen einander Zahlpfennige zu; die deutsche Sprache will wahre Münze. Sie ist so ehrlich, so herzlich wie eine Bauerdirne. Wir sind hier in guter, d. i. leerer Gesellschaft.« Ein solches Leben, ein solcher Ton der Seele, eine Gewohnheit dieser Art, von Kindheit auf sich zur Form gemacht, sind sie nicht traurig?

Was haben wir denn in der Welt Schätzbareres als die wahre Welt wirklicher Herzen und Geister? Daß wir unsre Gedanken und Gefühle in ihrer eigensten Gestalt anerkennen und sie Andern auf die treueste, unbefangenste Art äußern, daß Andre dagegen uns ihre Gedanken, ihre Empfindungen wiedergeben, kurz, daß jeder Vogel singe, wie die Natur ihn singen hieß? Ist dies Licht erlöscht, diese Flamme erstickt, dies ursprüngliche Band zwischen den Gemüthern zerrissen oder verzaust: statt des Allen sagen wir auswendig gelernte, fremde, armselige Phraseologien her. O des Jammers! der ewigen Flachheit und Falschheit! Eine Geist und Herz austrocknende Dürre und Kälte! Den eigentlichen Besitzern dieser Sprache genügt solche; denn sie leben in ihr; sie beleben sie mit ihrer fröhlichen Leichtigkeit und sprachseligen Anmuth. Wir Deutsche aber, mit unsrer Leichtigkeit, mit unserm französischen Scherz! O alle Grazien und Musen!

Jedermann muß bemerkt haben, daß es im ganzen Europa keine verschiedenere Denk- und Mundarten gebe als die französische und deutsche, so nachbarlich sie wohnen. Aus keiner Sprache ist so schwer zu übersetzen als aus der französischen, wenn der deutschen Sprache ihr Recht, ihre ursprüngliche Art bleiben soll; vollends das Eigenste derselben, ihr Geist und Scherz, ihre flüchtigen Malereien und Bezeichnungen, Spiele der Phantasie und der leichtesten Bemerkung sind uns ganz fremde. Wie schwerfällig geht die französische Komödie auf unsern Theatern einher! wie hölzern klingen im Deutschen ihre fröhlichsten Gesellschaftslieder! Und ihre Versification, der Ton ihrer Contes à rire, ihre tausend Uebereinkommnisse über das Schickliche und Unschickliche im Ausdruck, welches Alles sie Regeln des Geschmacks zu nennen belieben: wem ist es fremder als der deutschen Sprache und Denkart? Viel leichter können wir uns unter Griechen und Römer, unter Spanier, Italiener und Engländer versetzen, als in ihren Kreis anmuthiger Frivolitäten und Wortspiele. Geschieht dies endlich, zwingen wir uns von Jugend an diese Form auf, gelangen wir mit saurer Mühe zu der Vortrefflichkeit, wozu Wenige gelangen, französisch zu denken, zu scherzen und zu amphibolisiren: was haben wir gewonnen? Daß der Franzose den deutschen Ungeschmack, die »Tudeske Muse«Vgl. Klopstock's Oden: »Die Verkennung« und »Die Rache«. – D. lobend verhöhnt, und wir unsre natürliche Denkart einbüßten. Schwerlich giebt es eine schimpflichere Sclaverei als die Dienstbarkeit unter französischem Witz und Geschmack, in französischen Wortfesseln.

Und sie macht uns andrer, stärkerer Eindrücke so unfähig, so in uns selbst erstorben! Sagen Sie einer flachen Seele von deutsch-französischer Erziehung das Stärkste, das Beste in einer andern Sprache: man versteht sie französisch. Lassen Sie es Sich wiedersagen, und Sie werden Sich vor Ihrem eignen Gedanken oft schämen. Die sprachrichtigsten Franzosen, wie interpretiren sie die Alten? wie übersetzen sie aus neueren Sprachen? Läse sich Horaz in einer französischen Uebersetzung, was würde er sagen? Da nun die deutsche Sprache, ohne alle Ruhmredigkeit sei es gesagt, gleichsam nur Herz und Verstand ist und statt seiner Zierde Wahrheit und Innigkeit liebt, so zerstäubt ihr Nachdruck einem gemeinen französischen Ohr wie der fallende Strom, der sich in Nebel auflöst. Wie manchen hohen Begriff, wie manches edle Wort auch der alten Römersprache hat die gallische Eitelkeit geschminkt, entnervt, verderbt!

Wenn sich nun, wie offenbar ist, durch diese thörichte Gallicomanie in Deutschland seit einem Jahrhunderte her ganze Stände und Volksclassen von einander getrennt haben; mit wem man Deutsch sprach, der war Domestique (nur mit denen von gleichem Stande sprach man Französisch und forderte von ihnen diesen jargon als ein Zeichen des Eintritts in die Gesellschaft von guter Erziehung, als ein Standes-, Ranges- und Ehrenzeichen); zur Dienerschaft sprach man, wie man zu Knechten und Mägden sprechen muß, ein Knecht- und Mägdedeutsch, weil man ein edleres, ein besseres Deutsch nicht verstand und über sie in dieser Denkart dachte; wenn dies ein ganzes reines Jahrhundert ungestört, mit wenigen Ausnahmen, so fortging: dürfen wir uns wol wundern, warum die deutsche Nation so nachgeblieben, so zurückgekommen und ganzen Ständen nach so leer und verächtlich worden ist, als wir sie leider nach dem Gesammturtheil andrer Nationen im Angesicht Europa's finden? Bis auf die Zeiten Maximilian's war die deutsche Nation, so oft auch ihre Ehrlichkeit gemißbraucht ward, dennoch eine geehrte Nation, standhaft in ihren Grundsätzen, bieder in ihrer Denkart und Handlungsweise. Seit fremde Völker mit ihren Sitten und Sprachen sie beherrschten, von Karl V. an, ging sie hinunter. Die Reformation trennte, das politische Interesse trennte. Zuerst kam spanisches Cerimoniel zu uns; bald schrieben die Fürsten, Prinzen, Generale italienisch, bis seit dem glorreichen dreißigjährigen Kriege nach und nach fast das ganze Reich an Höfen und in den obern Ständen eine Provinz des französischen Geschmacks ward. Hinweg war jetzt in diesen Ständen der deutsche Charakter! Frankreich ward die glückliche Geburtsstätte der Moden, der Artigkeit, der Lebensweise. An Höfen bekam Alles andre Namen; in manchen Ländern ward die ganze Landesverwaltung französisch eingerichtet. Den Landesherrn, die voreinst deutsche Fürsten und Landesverwalter waren, ward jetzt wohl, wenn sie sich unter Ihresgleichen durch eine fremde Sprache in einem andern Lande finden konnten und an Geschäfte nur von einer abgesonderten Classe Menschen (der Nation, die sie nährte) in grobem Deutsch erinnert werden durften. Die Edeln und Ritter folgten ihnen; der weibliche Theil unsrer, nicht mehr unsrer, Nation (denn von den Müttern hängt doch fast aller gute oder schlechte Geschmack der Erziehung ab) übertraf beide. So geschah, was geschehen ist; Adel und französische Erziehung wurden Eins und Dasselbe; man schämte sich der deutschen Nation, wie man sich eines Fleckens in der Familie schämt. Deutsche Bücher, deutsche Literatur in diesen obern Ständen – wie niedrig, wie schimpflich! Der mächtigste, wohlhabendste, einflußreichste Theil der Nation war also für die thätige Bildung und Fortbildung der Nation verloren; ja, er hinderte diese, wie er sie etwa hindern konnte, schon durch sein Dasein. Denn wenn man nur mit Gott und mit seinem Pferde deutsch sprach, so stellten sich aus Pflicht und Gefälligkeit auch Die, mit denen man also sprach, als Pferde.

Werden Sie nicht müde, meine Jeremiade auszuhören; ich schreibe sie nicht aus Haß und Groll, wozu ich persönlich nie die mindeste Ursache gehabt habe, sondern mit reinem Gemüth, aus dem weltbekannten Buch der Zeiten, und – sie ist bald zu Ende.

Nachdem also der Theil der Nation, der sich das Haupt und Herz derselben nennt, ihr entwendet war, was sollten die armen Schriftsteller thun? Sie betrugen sich auf verschiedene Weise. Ein Theil fuhr fort, lateinisch zu schreiben; und wiewol der deutschen Sprache hiedurch ihr Beitrag zur Cultur abging, so gewann die Wissenschaft dennoch mehr, als wenn sie damals, in der seit Luther sehr verfallenen Sprache, deutsch geschrieben hätten. Auch anmuthige Sachen, auch Gedichte schrieben sie lateinisch, deren wir aus den beiden letztvergangnen Jahrhunderten viele gute, einige vortreffliche haben. Andre, edle Gemüther, suchten die deutsche Sprache empor zu bringen; sie ahmten aus fremden Sprachen nach, was sich nachahmen ließ; so erschienen Opitz, Logau und andre Schlesier, die wenigstens verhinderten, daß die deutsche Sprache nicht ganz und gar zum pöbelhaften Streitgewäsch damaliger Zeit oder zur erbärmlichen Kanzleisprache herabsank. Einige FürstenZ. B. von Anhalt, von Weimar, von Braunschweig, von Liegnitz u. s. w. Einige derselben übersetzten selbst, und zwar sehr gute Bücher, aus dem Italienischen, Französischen, Spanischen. Mehrere Fürstinnen sahen das Uebel und flehten und warnten. S. Moser's »Patriotisches Archiv der Deutschen«, und seine andern Schriften hin und wieder. – H. hatten ein Ohr für sie und suchten ihr durch Gesellschaften, sogar durch eigne Arbeiten aufzuhelfen. Andre, schlechtere Gesellen, ahmten den französischen Witz nach, und so entstand jene Zunft Schulfüchse, die nicht nur beide Sprachen erbärmlich mengten, sondern auch, um sich ihren altern Brüdern gefällig zu machen, galant wie Boiture, affectirt wie Balzac, erhaben wie Corneille schrieben. Wie schämt sich ein Deutscher, der, nicht französisch erzogen, altdeutscher Scham noch fähig ist, wenn er die deutsch-französischen witzigen Schriften dieses Zeitraums mit der Denk- und Schreibart Kaisersberg's, Luther's, Hans Sachs' (in seinen prosaischen Aufsätzen!)Es wäre zu wünschen, daß diese Aufsätze, kurze Gespräche, von Häslein oder von einem andern Kenner der Sprache gesammelt, oder im »Bragur« wieder erschienen. Sie sind's werth. – H. [J. H. Häslein, Mitherausgeber von Gräter's »Bragur«, hatte 1781 einen Auszug aus dem ersten Buche der Gedichte, Fabeln und Schwänke von Hans Sachs mit Anmerkungen, Wörterbuch und einer Abhandlung von dessen Leben und Schriften erscheinen lassen. Er war bereits am 24. Oktober 1796 gestorben. – D.] überhaupt mit Allem, was vor dem Ausgange des sechzehnten Jahrhunderts geschrieben ward, vergleicht! Endlich blieb uns nichts als die Flüssigkeit; und noch jetzt rühmen sich alle deutsche Kanzleien, die Regensburgische nicht ausgenommen, daß sie, der wahren Courtoisie getreu, außerordentlich einnehmend, kurz und flüssig schreiben. Wer sollte es glauben? Unsre Kanzleicourtoisie, meinen wir, ist ächt französisch.

Da that sich endlich (denn die Barmherzigkeit wollte, daß es mit uns nicht gar aus würde), ferne vom Hof- und Schulgeschmack, hie und da Einer hervor, der glaubte, daß auch in Deutschland die Sonne scheine und die Natur regiere. Brockes wählte den Garten zu seinem Hofe; Bodmer stahl sich über die Alpen und kostete einen Athemzug italienischer Luft; kurz, man wagte den kühnen Gedanken, daß Deutschland auch außer den französirenden Höfen Etwas sei, und schrieb und stritt und dichtete, so gut man konnte. Für wen? darauf ward anfangs nicht gerechnet; es schloß sich aber bald ein Kreis von Freunden und Feinden. Die ächten Gottschedianer waren jetzt hinter Neukirch, Heräus und König der Hofgeschmack; sie schrieben flüssig; was irgend mystère und Tibère reimen konnte, war für sie. Gewiß, wir sind undankbar gegen den unbelohnten und unbelohnbaren Eifer, von dem damals einige bessere Köpfe für einen besseren Geschmack brannten. Welche Mühe übernahmen sie! welchen Befehdungen setzten sie sich aus! Und wie wenige Lust, wie wenig äußere Vortheile sie dabei eingeerntet haben, erweist die Privatgeschichte ihres Lebens.

 

Nachschrift. Neulich sind mir einige Blätter zu Händen gekommen, der Auszug aus den Schriften eines Mannes, der von 1729 bis 1781 lebte und gewiß mehr als Jemand dazu beigetragen hat, daß Deutschland sich einst (wir wollen es hoffen) rühmen kann, einen eigenen Geschmack gewonnen zu haben. Die Blätter nennen sich Funken, wahrscheinlich weil Der, den sie redend einführen, eine seiner Schriften selbst fermenta cognitionisSchütz, »Ueber Lessing's Genie und Schriften«, S. 86, 117, bedient sich des Ausdrucks in Bezug auf Lessing. – D. nannte; überdem war der Name Funken (scintillae) in den mittleren Zeiten sehr gewöhnlich. Mir sind sie gewesen, was sie dem Sinn des Sammlers nach sein sollten, ein Charakterbild vom Leben des vielverdienten Mannes, und ich stelle mir einen Jüngling des neunzehnten Jahrhunderts vor, der, mit classischen Kenntnissen in der Schule ausgerüstet, ehe er die Akademie beschreitet, diese Funken, nachher auch mit Ordnung und Wahl die mannichfaltigen Schriften dieses vielverdienten, gewandten Schriftstellers selbst liest; was wird er sagen? »Wie?« wird er sagen; »lebte dieser Mann in einer Wüste? Bei seinem mühsamen, für sein Vaterland rühmlichen, gleichsam allbestrebenden Gange, war denn Niemand, der ihm half, der seinen Ideen, deren Nützlichkeit Jedermann lobpries, einen Spielraum, seinen Fähigkeiten, die Jedermann anerkannte, Wirksamkeit und ihm nur einige Bequemlichkeit verschaffte, diese Ideen auszubilden, auszuführen?« Ich wage es nicht, diese Fragen zu beantworten; mir ist's gnug, den männlichen Verstand, die biedere Denkart zu bemerken, die sich in jedem seiner Lebenszeichen äußert. Heil dem Jünglinge, der sich diese Bogen zum Kanon seines Geschmacks wählt und zugleich frühe lernt, was er zu thun und zu vermeiden, endlich auch, was er von seinem Vaterlande zu erwarten habe!


Funken
aus der Asche eines Todten.


1.

»Theophrast, Plautus und Terenz waren meine Welt, die ich in dem engen Bezirke einer klostermäßigen Schule mit aller Bequemlichkeit studirte. Wie gerne wünschte ich mir diese Jahre zurück, die einzigen, in welchen ich glücklich gelebt habe!«Lessing's sämmtliche Schriften, Berlin 1792. Th. 8. S. 44. – H. [In der Vorrede zu den beiden ersten Theilen seiner vermischten Schriften von 1753. –D.]

2.

»Ich komme jung von Schulen, in der gewissen Ueberzeugung, daß mein ganzes Glück in den Büchern bestehe. – Stets bei den Büchern, nur mit mir selbst beschäftiget, dachte ich ebenso selten an die übrigen Menschen als vielleicht an Gott. – Doch es dauerte nicht lange, so gingen mir die Augen auf. – Ich lernte einsehn, die Bücher würden mich wol gelehrt, aber nimmermehr zu einem Menschen machen. Ich wagte mich von meiner Stube unter Meinesgleichen. Guter Gott! was für eine Ungleichheit wurde ich zwischen mir und Andern gewahr! – Ich empfand eine Scham, die ich niemals empfunden habe, und die Wirkung derselben war der feste Entschluß, mich hierin zu bessern, es koste, was es wolle.«Lessing's Leben nebst seinem noch übrigen litterarischen Nachlasse. Herausgegeben von K. G. Lessing, Th. I. S. 82, – H. [Aus einem Briefe an seinen Vater vom 20. Januar 1749. – D.]

3.

»Mein Körper war durch Leibesübungen ein Wenig geschickter geworden, und ich suchte Gesellschaft, um nun auch leben zu lernen. Ich legte die ernsthaften Bücher eine Zeit lang auf die Seite, um mich in denjenigen umzusehen, die weit angenehmer und vielleicht ebenso nützlich sind. Die Komödien kamen mir zuerst in die Hand. Es mag unglaublich vorkommen, wem es will; mir haben sie sehr große Dienste gethan. Ich lernte daraus eine artige und gezwungene, eine grobe und natürliche Aufführung unterscheiden. Ich lernte wahre und falsche Tugend daraus kennen und die Laster ebenso sehr wegen ihres Lächerlichen als wegen ihres Schändlichen fliehen. – Ich lernte mich selbst kennen, und seit der Zeit habe ich gewiß über Niemanden mehr gelacht und gespottet als über mich selbst.«Daselbst, S. 84. – H.

4.

»Man darf mich nur in einer Sache loben, wenn man haben will, daß ich sie mit mehrerem Ernste treiben soll. Ich sann daher Tag und Nacht, wie ich in einer Sache eine Stärke zeigen möchte, in der, wie ich glaubte, noch kein Deutscher sich sehr hervorgethan hat.«Daselbst, S. 85. – H.

5.

»Wenn man nicht versucht, welche Sphäre uns eigentlich zukommt, so wagt man sich öfters in eine falsche, wo man sich kaum über das Mittelmäßige erheben kann, da man sich in einer andern vielleicht bis zu einer bewunderungswürdigen Höhe hätte schwingen können. – Meine Neigung war, mich in allen Arten der Poesie zu versuchen, und ward müde, mich blos in Kleinigkeiten zu üben.«Lessing's Leben, Th. I. S. 95. – H. [Aus einem spätern Briefe an seinen Vater. Der letzte Satz geht zum Theil dem vorigen vorher und ist anders gewendet. – D.]

6.

»Seneca giebt den Rath: »Omnem operam impende, utte aliqua dote notabilem facias»Wende alle Mühe an, daß Du Dich in Etwas merkbar machest.« – H. Aber es ist sehr schwer, sich in einer Wissenschaft notabel zu machen, worin schon allzu Viele excellirt haben. Habe ich denn also sehr übel gethan, daß ich zu meinen Jugendarbeiten etwas gewählt, worin noch sehr Wenige meiner Landsleute ihre Kräfte versucht haben? Und wäre es nicht thöricht, eher aufzuhören, als bis man Meisterstücke von mir gelesen hat?«Lessing's Leben, S. 96. – H.

7.

»Man darf nicht glauben, daß ich meine Lieder Kleinigkeiten nennte, damit ich der unerbittlichen Kritik mit Höflichkeit den Dolch aus den Händen winden möchte. Ich erklärte schon damals, daß ich der Erste sein wolle, dasjenige mit zu verdammen, was sie verdammt; sie, der zum Verdruß ich wol einige mittelmäßige Stücke könnte gemacht haben, der zum Trotze ich aber nie diese mittelmäßige Stücke für schön erkennen würde. – Ich habe geändert, ich habe weggeworfen. – Das Elende streicht sich selbst durch, und schlechte Verse, die Niemand lieset, sind so gut, als wären sie nicht gemacht worden.«Sämmtliche Schriften, Th. 8. S. 30 f. – H. [Vorrede der beiden ersten Theile seiner »Schriften« von 1753. – D.]

8.

»Den wenigen Oden gebe ich nur mit Zittern diesen Namen. Sie sind zwar von einem stärkern Geiste als die Lieder und haben ernsthaftere Gegenstände; allein ich kenne die Muster in dieser Art gar zu gut, als daß ich nicht einsehen sollte, wie tief mein Flug unter dem ihrigen ist. Und wenn zum Unglücke gar etwa nur das Oden sein sollte, was ich der schmalen Zeilen ungeachtet für Lehrgedichte halte, die man anstatt der Paragraphen in Strophen eingetheilt hat, so werde ich vollends Ursache mich zu schämen haben.«[Sämmtl. Schr., Th. 8. S. 35. – D.] Meines Erachtens verdienen Lessing's wenige Oden diesen Namen sehr wohl; sie haben ihren eignen Gang und Charakter. In die vollständige Sammlung seiner Schriften ist ein neues schätzbares Stück gekommen, »Der Eintritt des Jahres 1754 in Berlin« (Th. 2. S. 31), und vier »Entwürfe zu Oden« (S. 202–214), durch die man den Geist der Horazischen Ode, »den Flug, der irrt und sich nicht verirrt,« vielleicht besser kennen lernt, als durch lange Commentare über den römischen Dichter. – H.

9.

»Ich habe in Sinngedichten keinen andern Lehrmeister als den Martial gehabt und erkenne auch keinen andern; es müßten denn die sein, die er für die seinigen erkannt hat, und von welchen uns die Anthologie einen so vortrefflichen Schatz derselben aufbehalten. – Daß ich zu beißend und zu frei darin bin, wird man mir wol nicht vorwerfen können, ob ich gleich beinahe in der Meinung stehe, daß man Beides in Sinnschriften nicht genug sein kann.«Sämmtl. Schr., Th. 8. S. 37. – H. [In der S. 501, Note † erwähnten Vorrede. – D.]

10.

»Man nenne mir doch diejenigen Geister, auf welche die komische Muse Deutschlands stolz sein könnte! Was herrscht auf unsern gereinigten Theatern? Ist es nicht lauter ausländischer Witz, der, so oft wir ihn bewundern, eine Satire über den unsrigen macht? Aber wie kommt es, daß nur hier die deutsche Nacheiferung zurückbleibt? Sollte wol die Art selbst, wie man unsere Bühne hat verbessern wollen, daran Schuld sein? Sollte wol die Menge von Meisterstücken, die man auf einmal, besonders den Franzosen abborgte, unsere ursprünglichen Dichter niedergeschlagen haben? Man zeigte ihnen auf einmal, so zu reden, Alles erschöpft und setzte sie auf einmal in die Notwendigkeit, nicht blos etwas Gutes, sondern etwas Besseres zu machen. Dieser Sprung war ohne Zweifel zu arg; die Herren Kunstrichter konnten ihn wol befehlen, aber Die, die ihn wagen sollten, blieben aus.«Geschrieben im Jahr 1754. Sämmtl. Schr., Th. 8. S. 47 f. – H. Vorrede zum dritten und vierten Theile der »Schriften« von 1754. – D.

11.

»Wenn ich von den allweisen Einrichtungen der Vorsehung weniger ehrerbietig zu reden gewohnt wäre, so würde ich keck sagen, daß ein gewisses neidisches Geschick über die deutschen Genies, welche ihrem Vaterlande Ehre machen könnten, zu herrschen scheine. Wie viele derselben fallen in ihrer Blüthe dahin! Sie sterben reich an Entwürfen und schwanger mit Gedanken, denen zu ihrer Größe nichts als die Ausführung fehlt. Sollte es aber wol schwer sein, eine natürliche Ursache hiervon anzugeben? Wahrhaftig, sie ist so klar, daß sie nur Derjenige nicht sieht, der sie nicht sehen will. Nehmen Sie an . . ., daß ein solches Genie in einem gewissen Stande geboren wird, der, ich will nicht sagen der elendeste, sondern nur zu mittelmäßig ist, als daß er noch zu der sogenannten goldenen Mittelmäßigkeit zu rechnen wäre. Und Sie wissen wol, die Natur hat einen Wohlgefallen daran, aus eben diesem immer mehr große Geister hervorzubringen als aus irgend einem andern. Nun überlegen Sie, was für Schwierigkeiten dieses Genie in einem Lande als Deutschland, wo fast alle Arten von Ermunterungen unbekannt sind, zu übersteigen habe. Bald wird es von dem Mangel der nöthigsten Hilfsmittel zurückgehalten, bald von dem Neide, welcher die Verdienste auch schon in ihrer Wiege verfolgt, unterdrückt, bald in mühsamen und seiner unwürdigen Geschäften entkräftet. Ist es ein Wunder, daß es nach aufgeopferten Jugendkräften dem ersten starken Sturme unterliegt? Ist es ein Wunder, daß Armuth, Aergerniß, Kränkung, Verachtung endlich über einen Körper siegen, der ohnedem schon der stärkste nicht ist, weil er kein Körper eines Holzhackers werden sollte? Und glauben Sie mir . . ., in diesem Falle war unser Mylius, oder es ist nie Einer darin gewesen.Daselbst, S. 56 ff. Wie viele, viele Andre! – H. [Aus einem Briefe vom 20. März 1754 in der Vorrede zu den »Vermischten Schriften« von Mylius. – D.]

»Das ist sein Lebenslauf. Ein Lebenslauf, ohne Zweifel, in welchem das Ende das Unglücklichste nicht ist. Und doch behaupte ich, daß er mehr darin geleistet hat, als tausend Andere in seinen Umständen nicht würden geleistet haben. Der Tod hat ihn früh, aber nicht so früh überrascht, daher keinen Theil seines Namens vor ihm in Sicherheit hätte bringen können. – Er gewinnet im Verlieren und ist vielleicht eben jetzt beschäftiget, mit erleuchteten Augen zu untersuchen, ob Newton glücklich gerathen und Bradley genau gemessen habe. – Er weiß ohne Zweifel schon mehr, als er jemals auf der Welt hätte begreifen können.Sämmtl. Schr., Th. 8. S. 60 f. – H. [In dem S. 503, Note **) erwähnten Briefe, – D.]

12.

»Ein gutes Genie ist nicht allezeit ein guter Schriftsteller, und es ist oft ebenso unbillig, einen Gelehrten nach seinen Schriften zu beurtheilen, als einen Vater nach seinen Kindern. Der rechtschaffenste Mann hat oft die nichtswürdigsten, und der klügste die dümmsten; ohne Zweifel weil dieser nicht die gelegensten Stunden zu ihrer Bildung, und jener nicht den nöthigen Fleiß zu ihrer Erziehung angewendet hat. Der geistliche Vater kann oft in eben diesem Falle sein, besonders wenn ihn äußerliche Umstände nöthigen, den Gewinnst seine Minerva, und die Nothwendigkeit seine Begeisterung sein zu lassen. Ein solcher ist alsdann meistentheils gelehrter als seine Bücher, anstatt daß die Bücher Derjenigen, welche sie mit aller Muße und mit Anwendung aller Hilfsmittel ausarbeiten können, nicht selten gelehrter als ihre Verfasser zu sein pflegen.«Daselbst, S. 62 f. – H. [Im zweiten Briefe derselben Vorrede. – D.]

13.

»Warum giebt es gewisse schwer zu vergnügende ekle Kunstrichter, die zum Lustspiel eine anständige Dichtung, wahre Sitten, eine männliche Moral, eins feine Satire, eine lebhafte Unterredung und, ich weiß nicht, was noch sonst mehr verlangen? – Und ich weiß überhaupt nicht, was ich von der Satire halten soll, die sich an ganze Stände wagt. – Doch Galle, Ungerechtigkeit und Ausschweifung haben nie ein Buch um die Leser gebracht, wohl aber manchem Buche zu Lesern verholfen.«Sämmtl. Schr., Th. 8. S. 76 f. – H. [Im vierten Briefe derselben Vorrede. – D.]

14.

»Den schönen Wissenschaften sollte nur ein Theil unsrer Jugend gehören; wir haben uns in wichtigern Dingen zu üben, ehe wir sterben. Ein Alter, der seine ganze Lebenszeit über nichts als gereimt hat, und ein Alter, der seine ganze Lebenszeit über nichts gethan, als daß er seinen Athem in ein Holz mit Löchern gelassen: von solchen Alten zweifle ich sehr, ob sie ihre Bestimmung erreicht haben.«Th. 28. S. 245. – H. [Im Briefe an Mendelssohn aus dem December 1757, wo unmittelbar vorhergeht: »Denn Sie haben in der That Recht.« – D.]

15.

»Auch Freunde sind Güter des Glücks, die ich lieber finden als suchen will.«Th. 27. S. 4. – H. [Im Briefe Lessing's an Ramler vom 11. December 1755. Die Stelle heißt wörtlich: »Ueber meine eigensinnige Denkungsart, auch die Freunde als Güter des Glücks anzusehen, die ich . . . will.« – D.]

16.

»Gesegnet sei Ihr Entschluß, Sich selbst zu leben. Um seinen Verstand auszubreiten, muß man seine Begierden einschränken. Wenn Sie leben können, so ist es gleichviel, ob Sie von mäßigen oder von großen Einkünften leben. – Wie viel lieber wollte ich künftigen Sommer mit Ihnen und unserm Freunde zubringen als in England! Vielleicht lerne ich da weiter nichts, als daß man eine Nation bewundern und hassen kann.«Daselbst, S. 429. – H. [Aus einem Briefe an Nicolai vom 29. November 1756. – D.]

17.

»O was ist unser GrenadierVerfasser der »Preußischen Kriegslieder«. Die Vorrede, mit der Lessing diese Lieder gesammelt herausgab, ist ein Muster von Bestimmung des Werths und des Charakters dieser Gedichte als einer neuen individuellen Gattung, die sie auch sind. Die ganze Vorrede verdient hergesetzt zu werden; sie trägt den Charakter der Lieder selbst. S. Lessings's Schriften, Th. 8. S. 98 ff. – H. für ein vortrefflicher Mann! – Zu einer solchen unanstößigen Verbindung der erhabensten und lächerlichsten Bilder war nur er geschickt! Nur er konnte die Strophen:

»Gott aber wog bei Sternenklang« etc.

und:

»Dem Schwaben, der mit einem Sprung« etc.

machen und sie beide in ein Ganzes bringen. Was wollte ich nicht darum geben, wenn man das ganze Lied ins Französische übersetzen könnte! – Aber hören Sie, wollen wir unsern Grenadier nicht nun bald avanciren lassen? – Versichern Sie ihn, daß ich ihn von Tag zu Tag mehr bewundere, und daß er alle meine Erwartung so zu übertreffen weiß, daß ich das Neueste, was er gemacht hat, immer für das Beste halten muß. Ein Bekenntniß, zu dem mir noch kein einziger Dichter Gelegenheit gegeben hat.«Sämmtl. Schr., Th. 29. S. 24, 30. – H. [Aus den Briefen an Gleim vom 12. December 1757 und vom 6. Februar 1758. – D.]

18.

»Der Grenadier erlaubt es doch noch, daß ich eine Vorrede dazu machen darf? Ich habe Verschiedenes von den alten Kriegsliedern gesammelt; zwar ungleich mehr von den Kriegsliedern der Barden und Skalden als der Griechen.Das bekannte Heldenlied der Spartaner:
        »Streitbare Männer waren wir,
        Streitbare Männer sind wir« u. s. w.,
von Lessing übersetzt, steht jetzt in dieser vollständigen Sammlung seiner Schriften. Th. 2. S. 195. – H.
– Der alten Siegeslieder wegen habe ich sogar das alte Heldenbuch durchgelesen, und diese Lectüre hat mich hernach weiter auf die zwei sogenannten Heldengedichte aus dem schwäbischen Jahrhunderte gebracht, welche die Schweizer jetzt herausgegeben haben. Ich habe verschiedene Züge daraus angemerkt, die . . . wenigstens von dem kriegerischen Geiste zeugen, der unsere Vorfahren zu einer Nation von Helden machte. – Die griechische Grabschrift, die ich dem Grenadier . . . gesetzt habe,Am Schluß der Vorrede der »Kriegslieder«. – H. sind zwei alte Verse, die bereits Archilochus von sich gesagt hat: Ich bin ein Knecht des enyalischen Königs (des Mars) und habe die liebliche Gabe der Musen gelernt. – Würden sie nicht auch vortrefflich unter das Bildniß unsers Kleist's passen?Sämmtl. Schr., Th. 29. S. 31, 55. – H. [Aus den Briefen an Gleim vom 6. Februar und vom 5. September 1758. – D.]

19.

»Vielleicht zwar ist auch der Patriot bei mir nicht ganz erstickt, obgleich das Lob eines eifrigen Patrioten nach meiner Denkungsart das allerletzte ist, wonach ich geizen würde; des Patrioten nämlich, der mich vergessen lehrte, daß ich ein Weltbürger sein sollte. – Ich habe überhaupt von der Liebe des Vaterlandes (es thut mir leid, daß ich Ihnen vielleicht meine Schande gestehen muß) keinen Begriff, und sie scheint mir aufs Höchste eine heroische Schwachheit, die ich recht gern entbehre.«Daselbst, S. 65, 77. – H. [Aus den Briefen an Gleim vom 19. October 1758 und vom 14. Februar 1759. – D.]

20.

»Der Krieg hat seine blutigste Bühne unter uns aufgeschlagen, und es ist eine alte Klage, daß das allzu nahe Geräusch der Waffen die Musen verscheucht. Verscheucht es sie nun aus einem Lande, wo sie nicht recht viele, recht feurige Freunde haben, wo sie ohnedem nicht die beste Aufnahme erhielten, so können sie auf eine sehr lange Zeit verscheucht bleiben. Der Friede wird ohne sie wiederkommen; ein trauriger Friede, von dem einzigen melancholischen Vergnügen begleitet, über verlorene Güter zu weinen.«Literaturbriefe, Brief 1. – H.

21.

»Man behauptet, der Kunstrichter müsse nur die Schönheiten eines Werkes aussuchen und die Fehler desselben eher bemänteln, als bloßstellen. In zwei Fällen bin ich selbst der Meinung. Einmal, wenn der Kunstrichter Werke von einer ausgemachten Güte vor sich hat; die besten Werke der Alten zum Exempel. Zweitens, wenn der Kunstrichter nicht sowol gute Schriftsteller als nur blos gute Leser bilden will.Sollte dies bei der ganzen Kunstrichterei nicht das erste Erforderniß sein? Der Schriftsteller schreibt für Leser; sind diese verdorben, so schreibt jener und der Verleger verlegt für ihren verdorbenen Geschmack. Die vielen schlechten Schriftsteller Deutschlands schreiben alle für ihr Publicum und kennen es sehr gut, ebenso auch die Verleger. Leser zu bilden, muß also der Kunstrichter erste Bestrebung sein; die Schriftsteller werden selbst wider Willen folgen. In den höheren Wissenschaften wird jeder Stümper ausgezischt und verachtet; denn sein kleines, aber bestimmtes Publicum ist der Sache verständig. – H. – Die Güte eines Werks beruhet nicht auf einzelnen Schönheiten; diese einzelne Schönheiten müssen ein schönes Ganze ausmachen, oder der Kenner kann sie nicht anders als mit einem zürnenden Mißvergnügen lesen. Nur wenn das Ganze untadelhaft befunden wird, muß der Kunstrichter von einer nachtheiligen Zergliederung abstehen und das Werk so wie der Philosoph die Welt betrachten.Wann ist dies? Hier schleicht sich eben die schädlichste Parteilichkeit ein. Will man ein Werk schön finden, so singt man Theodiceen und bemäntelt die Fehler. Ueberhaupt ist das Gleichniß von der Welt, wie sie der Philosoph betrachtet, auf Werke der Menschen, zumal auf Kunstwerke, unanwendbar. Ist das Ganze schön, so kann die strengste Zergliederung ihm keinen Nachtheil bringen; denn ein lebendiges Ganze besteht nur in Theilen; und daß bei diesem schönen Ganzen die mangelhaften Theile mit strenger Unparteilichkeit bemerkt werden, ist um so nothwendiger, weil in ihnen das Fehlerhafte und Uebertriebene gewöhnlich zuerst Nachahmer findet. Zwiefaches Maaß und Gewicht ist, wie allenthalben so auch in der Kritik, der Gerechtigkeit ein Gräuel und der Sache des Ganzen äußerst verderblich. – H. [Die Stelle ist aus dem sechzehnten Literaturbriefe, wo sie beginnt: »Sie (die Herren der »Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freien Künste«) behaupten«, und weiter statt »der Meinung« »ihrer Meinung« steht. – D.]

22.

»Kömmt es denn bei unsern Handlungen blos auf die Vielheit der Bewegungsgründe an? Beruhet nicht weit mehr auf der Intension derselben? Kann nicht ein einziger Bewegungsgrund, dem ich lange und ernstlich nachgedacht habe, ebenso viel ausrichten als zwanzig Bewegungsgründe, deren jedem ich nur den zwanzigsten Theil von jenem Nachdenken geschenkt habe?«Aus dem neunundvierzigsten Literaturbriefe, der Beurtheilung des »Nordischen Aufsehers«. – D.

23.

»Die edelsten Worte sind eben deswegen, weil sie die edelsten sind, fast niemals zugleich diejenigen, die uns in der Geschwindigkeit und besonders im Affecte zuerst beifallen. Sie verrathen die vorhergegangene Ueberlegung, verwandeln die Helden in Declamatores und stören dadurch die Illusion. Es ist daher sogar ein großes Kunststück eines tragischen Dichters, wenn er besonders die erhabensten Gedanken in die gemeinsten Worte kleidet und im Affecte nicht das edelste, sondern das nachdrücklichste Wort, wenn es auch schon einen etwas niedrigen Nebenbegriff mit sich führen sollte, ergreifen läßt. Von diesem Kunststücke werden aber freilich Diejenigen nichts wissen wollen, die nur an einem correcten Racine Geschmack finden und so unglücklich sind, keinen Shakespeare zu kennen.«Sämmtl. Schr., Th. 26. S. 184. – H. [Aus dem einundfunfzigsten Literaturbriefe, der Beurtheilung des »Nordischen Aufsehers«. – D.]

24.

»Ueberhaupt glaube ich, daß der Name eines wahren Geschichtschreibers nur Demjenigen zukömmt, der die Geschichte seiner Zeiten und seines Landes beschreibet. Denn nur Der kann selbst als Zeuge auftreten und darf hoffen, auch von der Nachwelt als ein solcher geschätzt zu werden, wenn alle Andere, die sich nur als Abhörer der eigentlichen Zeugen erweisen, nach wenig Jahren von Ihresgleichen gewiß verdrungen sind. – Die süße Ueberzeugung von dem gegenwärtigen Nutzen, den sie stiften, muß sie allein wegen der kurzen Dauer ihres Ruhmes schadlos halten. Und kann ein ehrlicher Mann mit dieser Schadloshaltung auch nicht zufrieden sein?«Literaturbrief 52. – H. [Aus der Beurtheilung von Gebauer's »Geschichte Portugals«. – D.]

25.

»Krank will ich wol einmal sein; aber sterben will ich deswegen noch nicht. – Alle Veränderungen unsers Temperaments, glaube ich, sind mit Handlungen unserer animalischen Oekonomie verbunden. Die ernstliche Epoche meines Lebens nahet heran! ich beginne, ein Mann zu werden, und schmeichle mir, daß ich in diesem hitzigen Fieber den letzten Rest meiner jugendlichen Thorheiten verraset habe. Glückliche Krankheit! Ihre Liebe wünschet mich gesund! Aber sollten sich wol Dichter eine athletische Gesundheit wünschen? Sollte der Phantasie, der Empfindung nicht ein gewisser Grad von Unpäßlichkeit weit zuträglicher sein? – Wünschen Sie mich also gesund . . ., aber wo möglich mit einem kleinen Denkzeichen gesund, mit einem kleinen Pfahl im Fleische, der den Dichter von Zeit zu Zeit den hinfälligen Menschen empfinden lasse und ihm zu Gemüthe führe, daß nicht alle Tragici mit dem Sophokles neunzig Jahr werden; aber, wenn sie es auch würden, daß Sophokles auch an die neunzig Trauerspiele, und ich erst ein einziges gemacht. Neunzig Trauerspiele! Auf einmal überfällt mich ein Schwindel!«Sämmtl. Schr., Th. 27. S. 23 f. – H. [Aus dem Briefe an Ramler vom 5. August 1764. – D.]

26.

»Ihnen gestehe ich es am Allerungernsten, daß ich bisher nichts weniger als zufrieden gewesen bin. Ich muß es Ihnen aber gestehen, weil es die einzige Ursache ist, warum ich so lange nicht an Sie geschrieben habe. – »Nein, das hätte ich mir nicht vorgestellt!« aus diesem Tone klagen alle Narren. Ich hätte mir es vorstellen sollen und können, daß unbedeutende Beschäftigungen mehr ermüden müßten als das anstrengendste Studiren; daß in dem Zirkel, in welchen ich mich hineinzaubern lassen, erlogene Vergnügen und Zerstreuungen über Zerstreuungen die stumpf gewordene Seele zerrütten würden; daß – Ach, bester Freund, Ihr Lessing ist verloren. In Jahr und Tag werden Sie ihn nicht mehr kennen. Er sich selbst nicht mehr. O meine Zeit, meine Zeit, mein Alles, was ich habe – sie so, ich weiß nicht was für Absichten aufzuopfern! Hundertmal habe ich schon den Einfall gehabt, mich mit Gewalt aus dieser Verbindung zu reißen. Doch kann man einen unbesonnenen Streich mit dem andern wieder gut machen?«Sämmtl. Schr., Th. 28. S. 292 f. – H. [Aus dem Briefe an Mendelssohn vom 30. März 1761. – D.]

27.

»Meine werthesten Eltern betrachten mich, als wenn ich hier in Breslau schon etablirt wäre; und dieses bin ich doch so wenig, daß ich gar leicht meine längste Zeit hier gewesen sein dürfte. Ich warte nur noch einen einzigen Umstand ab, und wenn dieser nicht nach meinem Willen ausfällt, so kehre ich zu meiner alten Lebensart wieder zurück. – Ich habe mit diesen NichtswürdigkeitenDen »elenden Beschäftigungen de pane lucrando«, welche Lessing unmittelbar vorher in dem von Herder nicht mitgetheilten Satze erwähnt. – D. nun schon mehr als drei Jahr verloren. Es ist Zeit, daß ich wieder in mein Geleise komme. Alles, was ich durch meine jetzige Lebensart intendirte, das habe ich erreicht: ich habe meine Gesundheit so ziemlich wieder hergestellt, ich habe ausgeruht. – Ich bin über die Hälfte meines Lebens, und ich wüßte nicht, was mich nöthigen könnte, mich auf den kürzeren Rest desselben noch zum Sclaven zu machen. – Wie es weiter werden wird, ist mein geringster Kummer. Wer gesund ist und arbeiten will, hat in der Welt nichts zu fürchten. Langwierige Krankheiten und, ich weiß nicht was für Umstände befürchten, die außer Stand zu arbeiten setzen können, zeigt ein schlechtes Vertrauen auf die Vorsehung. Ich habe ein besseres und habe Freunde.«Lessing's Leben und Nachlaß, Th. I. S. 250 ff. – H. [Aus Briefen an seinen Vater vom 30. November 1763 und vom 13. Juni 1764. – D.]

28.

»Fragen Sie mich nicht, auf was ich nach Hamburg gehe. Eigentlich auf nichts. Wenn sie mir in Hamburg nur nichts nehmen, so geben sie mir ebenso viel, als sie mir hier gegeben haben. Doch Ihnen brauche ich nichts zu verhehlen. Ich habe allerdings mit dem dortigen neuen Theater und den Entrepreneurs desselben eine Art von Abkommen getroffen, welches mir auf einige Jahre ein ruhiges und angenehmes Leben verspricht. Als ich mit ihnen schloß, fielen mir die Worte aus dem JuvenalVII. 89. – D. bei:

»Quod non dant proceres, dabit histrio»Was die Großen nicht geben wollen, möge das Schauspiel geben.« – H.

Ich will meine theatralischen Werke, welche längst auf die letzte Hand gewartet haben, daselbst vollenden und aufführen lassen. Solche Umstände waren nothwendig, die fast erloschene Liebe zum Theater wieder bei mir zu entzünden. Ich fing eben an, mich in andre Studien zu verlieren, die mich gar bald zu aller Arbeit des Genies würden unfähig gemacht haben. Mein Laokoon ist nun wieder die Nebenarbeit. Mich dünkt, ich komme mit der Fortsetzung desselben für den großen Haufen unserer Leser auch noch immer früh genug. Die Wenigen, die mich itzt lesen, verstehen von der Sache ebenso viel wie ich, und mehr.«Sämmtl. Schr., Th. 29. S. 141. – H. [Aus dem Briefe an Gleim vom 1. Februar 1767. – D.]

29.

»Und hat es nicht das Publicum in seiner Gewalt, was es an Geschmack und Einsicht mangelhaft finden sollte, abstellen und verbessern zu lassen? Es komme nur, und sehe und höre, und prüfe und richte! Seine Stimme soll nie geringschätzig verhöret, sein Urtheil soll nie ohne Unterwerfung vernommen werden! Nur daß sich nicht jeder kleine Kritikaster für das Publicum halte und Derjenige, dessen Erwartungen getäuscht werden, auch ein Wenig mit sich selbst zu Rathe gehe, von welcher Art seine Erwartungen gewesen. Nicht jeder Liebhaber ist Kenner; nicht Jeder, der die Schönheiten eines Stücks, das richtige Spiel eines Acteurs empfindet, kann darum auch den Werth aller andern schätzen. Man hat keinen Geschmack, wenn man nur einen einseitigen Geschmack hat; aber oft ist man desto parteiischer. Der wahre Geschmack ist der allgemeine, der sich über Schönheiten von jeder Art verbreitet, aber von keiner mehr Vergnügen und Entzücken erwartet, als sie nach ihrer Art gewähren kann. Der Stufen sind viel, die eine werdende Bühne bis zum Gipfel der Vollkommenheit zu durchsteigen hat; aber eine verderbte Bühne ist von dieser Höhe natürlicherweise noch weiter entfernt, und ich fürchte sehr, daß die deutsche mehr dieses als jenes ist. Alles kann folglich nicht auf einmal geschehen. Doch was man nicht wachsen sieht, findet man nach einiger Zeit gewachsen. Der Langsamste, der sein Ziel nur nicht aus den Augen verliert, geht noch immer geschwinder, als der ohne Ziel herumirret.«Ankündigung der »Dramaturgie«, des reichsten kritischen Werks Lessing's. Aus dem reichsten Vorrathe sind hier nur wenige Stellen gewählt, die Lessing's Charakter näher zeigen; seinen durchdringenden, schneidenden Verstand sowie seine Billigkeit und Schonung beweist die Dramaturgie von Anfange bis zum Ende. – H.

30.

»Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stücke Pomp und Majestät geben; aber zur Rührung tragen sie nichts bei. Das Unglück Derjenigen, deren Umstände den unsrigen am Nächsten kommen, muß natürlicherweise am Tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen und nicht als mit Königen. Macht ihr Stand schon öfters ihre Unfälle wichtiger, so macht er sie darum nicht interessanter. Immerhin mögen ganze Völker darein verwickelt werden; unsere Sympathie erfordert einen einzelnen Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstracter Begriff für unsere Empfindungen.«Dramaturgie, Stück 14. – H.

31.

»Wenn es dieses StückEin bekanntes Drama die [»Belagerung von Calais«] von Du Belloy. – H. nicht verdiente, daß die Franzosen ein solches Lärmen damit machten, so gereicht doch dieses Lärmen selbst den Franzosen zur Ehre. Es zeigt sie als ein Volk, das auf seinen Ruhm eifersüchtig ist, auf das die großen Thaten seiner Vorfahren den Eindruck nicht verloren haben, das, von dem Werthe eines Dichters und von dem Einflusse des Theaters auf Tugend und Sitten überzeugt, jenen nicht zu seinen unnützen Gliedern rechnet, dieses nicht zu den Gegenständen zählt, um die sich nur geschäftige Müßiggänger bekümmern. Wie weit sind wir Deutsche in diesem Stücke noch hinter den Franzosen! Es gerade herauszusagen: wir sind gegen sie noch die wahren Barbaren! Barbarischer als unsere barbarischsten Voreltern, denen ein Liedersänger ein sehr schätzbarer Mann war, und die, bei aller ihrer Gleichgiltigkeit gegen Künste und Wissenschaften, die Frage, ob ein Barde oder Einer, der mit Bärfellen und Bernstein handelt, der nützlichere Bürger wäre, sicherlich für die Frage eines Narren gehalten hätten. Ich mag mich in Deutschland umsehen, wo ich will, die Stadt soll noch gebaut werden, von der sich erwarten ließe, daß sie nur den tausendsten Theil der Achtung und Erkenntlichkeit gegen einen deutschen Dichter haben würde, die Calais gegen den Du Belloy gehabt hat. Man erkenne es immer für französische Eitelkeit: wie weit haben wir noch hin, ehe wir zu so einer Eitelkeit fähig sein werden! Was Wunder auch? Unsere Gelehrte selbst sind klein genug, die Nation in der Geringschätzung Alles dessen zu bestärken, was nicht geradezu den Beutel füllt. Man spreche von einem Werke des Genies, von welchem man will; man rede von der Aufmunterung der Künstler; man äußere den Wunsch, daß eine reiche, blühende Stadt der anständigsten Erholung für Männer, die in ihren Geschäften des Tages Last und Hitze getragen, und der nützlichsten Zeitverkürzung für Andere, die gar keine Geschäfte haben wollen (das wird doch wenigstens das Theater sein?), durch ihre bloße Theilnehmung aufhelfen möge: – und sehe und höre um sich.«Dramaturgie, Stück 18. – H.

32.

»Es ist einem Jeden vergönnt, seinen eigenen Geschmack zu haben, und es ist rühmlich, sich von seinem eigenen Geschmacke Rechenschaft zu geben suchen. Aber den Gründen, durch die man ihn rechtfertigen will, eine Allgemeinheit ertheilen, die, wenn es seine Richtigkeit damit hätte, ihn zu dem einzigen wahren Geschmacke machen müßte, heißt aus den Grenzen des forschenden Liebhabers herausgehen und sich zu einem eigensinnigen Gesetzgeber aufwerfen. – Der wahre Kunstrichter folgert keine Regeln aus seinem Geschmacke, sondern hat seinen Geschmack nach den Regeln gebildet, welche die Natur der Sache erfordert.«Der Anfang von Stück 19. – H.

33.

»Ich weiß einem Künstler, er sei von meinem oder dem andern Geschlechte, nur eine einzige Schmeichelei zu machen, und diese besteht darin, daß ich annehme, er sei von aller eiteln Empfindlichkeit entfernt, die Kunst gehe bei ihm über Alles, er höre gern frei und laut über sich urtheilen und wolle sich lieber auch dann und wann falsch als seltner beurtheilt wissen. Wer diese Schmeichelei nicht versteht, bei dem erkenne ich mich gar bald irre, und er ist es nicht werth, daß wir ihn studiren. Der wahre Virtuose glaubt es nicht einmal, daß wir seine Vollkommenheit einsehen und empfinden, wenn wir auch noch so viel Geschrei davon machen, ehe er nicht merkt, daß wir auch Augen und Gefühl für seine Schwäche haben. Er spottet bei sich über jede uneingeschränkte Bewunderung, und nur das Lob Desjenigen kitzelt ihn, von dem er weiß, daß er auch das Herz hat, ihn zu tadeln.«Dramaturgie, Stück 25. – H.

34.

»Wie schwach muß der Eindruck sein, den das Werk gemacht hat, wenn man in eben dem Augenblicke auf nichts begieriger ist, als die Figur des Meisters dagegen zu halten.Mit Bezug auf die Vorstellung von Voltaire's »Merope« zu Paris, nach welcher das Publicum nicht ruhte, bis der Dichter selbst vor ihm erschienen war. – D. Das wahre Meisterstück, dünkt mich, erfüllt uns so ganz mit sich selbst, daß wir des Urhebers darüber vergessen; daß wir es nicht als das Product eines einzelnen Wesens, sondern der allgemeinen Natur betrachten. Young sagt von der Sonne, es wäre Sünde in den Heiden gewesen, sie nicht anzubeten. Wenn Sinn in dieser Hyperbel liegt, so ist es dieser: der Glanz, die Herrlichkeit der Sonne ist so groß, so überschwänglich, daß es dem rohern Menschen zu verzeihen, daß es sehr natürlich war, wenn er sich keine größere Herrlichkeit, keinen Glanz denken konnte, von dem jener nur ein Abglanz sei; wenn er sich also in der Bewunderung der Sonne so sehr verlor, daß er an den Schöpfer der Sonne nicht dachte. Ich vermuthe, die wahre Ursache, warum wir so wenig Zuverlässiges von der Person und den Lebensumständen des Homer's wissen, ist die Vortrefflichkeit seiner Gedichte selbst. Wir stehen voller Erstaunen an dem breiten rauschenden Flusse, ohne an seine Quelle im Gebirge zu denken. Wir wollen es nicht wissen, wir finden unsere Rechnung dabei, es zu vergessen, daß Homer, der Schulmeister in Smyrna, Homer, der blinde Bettler, eben der Homer ist, welcher uns in seinen Werken so entzückt. Er bringt uns unter Götter und Helden; wir müßten in dieser Gesellschaft viel Langeweile haben, um uns nach dem Thürsteher so genau zu erkundigen, der uns hereingelassen. Die Täuschung muß sehr schwach sein, man muß wenig Natur, aber desto mehr Künstelei empfinden, wenn man so neugierig nach dem Künstler ist.«Dramaturgie, Stück 36. – H.

35.

»Kann es nicht ebensowol sein, daß erEs ist von Weiße's »Richard III.« die Rede. – D. das, was ich für dergleichen Flecken halte, für keine hält? Und ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß er mehr Recht hat als ich? Ich bin überzeugt, daß das Auge des Künstlers größtentheils viel scharfsichtiger ist als das scharfsichtigste seiner Betrachter. Unter zwanzig Einwürfen, die ihm diese machen, wird er sich von neunzehn erinnern, sie während der Arbeit sich selbst gemacht und sie auch schon sich selbst beantwortet zu haben. Gleichwol wird er nicht ungehalten sein, sie auch von Andern machen zu hören; denn er hat es gern, daß man über sein Werk urtheilet; schal oder gründlich, links oder rechts, gutartig oder hämisch, Alles gilt ihm gleich; und auch das schalste, linkste, hämischste Urtheil ist ihm lieber als kalte Bewunderung. Jenes wird er auf die eine oder die anders Art in seinen Nutzen zu verwenden wissen; aber was fängt er mit dieser an? Verachten möchte er die guten ehrlichen Leute nicht gern, die ihn für so etwas Außerordentliches halten, und doch muß er die Achseln über sie zucken. Er ist nicht eitel, aber er ist gemeiniglich stolz; und aus Stolz möchte er zehnmal lieber einen unverdienten Tadel als ein unverdientes Lob auf sich sitzen lassen.«Dramaturgie, Stück 73. – H.

36.

»Der Gedanke ist an und für sich selbst gräßlich, daß es Menschen geben kann, die ohne alle ihr Verschulden unglücklich sind. Die Heiden hätten diesen gräßlichen Gedanken so weit von sich zu entfernen gesucht als möglich, und wir wollten ihn nähren? wir wollten uns an Schauspielen vergnügen, die ihn bestätigen? wir, die Religion und Vernunft überzeugt haben sollte, daß er ebenso unrichtig als gotteslästerlich ist?«Dramaturgie, Stück 82. – H.

37.

»Ich bin weder Schauspieler noch Dichter. Man erweiset mir zwar manchmal die Ehre, mich für den Letztern zu erkennen; aber nur weil man mich verkennt. Aus einigen dramatischen Versuchen, die ich gewagt habe, sollte man nicht so freigebig folgern. Nicht Jeder, der den Pinsel in die Hand nimmt und Farben verquistet, ist ein Maler. Die ältesten von jenen Versuchen sind in den Jahren hingeschrieben, in welchen man Lust und Leichtigkeit so gern für Genie hält. Was in den neueren Erträgliches ist, davon bin ich mir sehr bewußt, daß ich es einzig und allein der Kritik zu verdanken habe. Ich fühle die lebendige Quelle nicht in mir, die durch eigene Kraft sich empor arbeitet, durch eigene Kraft in so reichen, so frischen, so reinen Strahlen aufschießt; ich muß Alles durch Druckwerk und Röhren aus mir heraufpressen. Ich würde so arm, so kalt, so kurzsichtig sein, wenn ich nicht einigermaßen gelernt hätte, fremde Schätze bescheiden zu borgen, an fremdem Feuer mich zu wärmen und durch die Gläser der Kunst mein Auge zu stärken. Ich bin daher immer beschämt oder verdrießlich geworden, wenn ich zum Nachtheil der Kritik etwas las oder hörte. Sie soll das Genie ersticken: und ich schmeichelte mir, etwas von ihr zu erhalten, was dem Genie sehr nahe kömmt. Ich bin ein Lahmer, den eine Schmähschrift auf die Krücke unmöglich erbauen kann.Sollte diese bescheidne Aeußerung Lessing's nicht etwas ungerecht gegen ihn selbst sein? Jeder muß sich am Besten kennen, und Lessing war kein Demüthiger, der durch eine falsche Bescheidenheit ein größeres Lob zu erjagen suchte, noch ein Fauler, der Talente in sich ableugnete, um sie nicht brauchen zu dürfen. Nichts aber ist trüglicher als die Meinung, die wir von uns selbst in einzelnen Lebensperioden fassen und hegen; wir bringen die Umstände außer uns oft zu wenig, oft zu viel in Anschlag. Setzt Lessing in ein Land, an einen Ort, in Umstände, unter denen die lebendige Quelle von Jugend auf sich emporarbeiten konnte, wo ihr tausend lebendige Kräfte, ungesehen und unbemerkt, halfen: er hätte weniger des Druckwerks, der Röhren nöthig gehabt, aus sich herauszupressen, was von selbst mit reichen, frischen, reinen Strahlen aufgeschossen wäre. Nicht die Kritik, sondern der leere Luftraum erstickt und tödtet. Er preßt unter Bedürfnissen, unter Verhältnissen, die dem Geist keinen Tropfen Erquickung (pabulum vitae) geben, und jagt zuletzt den Verzweifelnden hie- und dorthin, allenthalben an flache Wände. Lessing's Lebensumstände dringen dem Verwundernden die Frage ab, nicht, warum er nicht mehr hervorgebracht, sondern wie er in seinen Lagen das und so viel und so kräftig habe hervorbringen können, was er geleistet. Dazu half ihm, wie er sagt, Kritik; aber Kritik kann Kräfte nicht geben, sondern nur regeln, ordnen. Also war die Kenntniß der Alten, die Bekanntschaft mit fremden Sprachen, mit glücklichern Genies unter lebhaftern Völkern in bessern Zeiten das Feuer, daran er sich wärmte, das künstliche Glas, wodurch er sein Auge stärkte. Und wehe dem besten deutschen Kopf, der sich nicht aus seiner in diese alte oder fremde Welt zuweilen zu setzen weiß! Er wird und muß in die Zunft jener Geschöpfe gerathen, die (s. Dramaturgie, Stück 22) in deutscher Alltagskleidung, in einer engen Sphäre kümmerlicher Umstände innerhalb ihrer vier Pfähle herumträumen. Alle wissen wir, welche Witterung es sei, die die Senne des besten Bogens erschlafft und die gefüllteste Maschine ihrer elektrischen Kraft sanft entladet. – H. Doch freilich, wie die Krücke dem Lahmen wol hilft, sich von einem Orte zum andern zu bewegen, aber ihn nicht zum Läufer machen kann, so auch die Kritik. Wenn ich mit ihrer Hilfe etwas zu Stande bringe, welches besser ist, als es Einer von meinen Talenten ohne Kritik machen würde, so kostet es mich so viel Zeit, ich muß von andern Geschäften so frei, von unwillkürlichen Zerstreuungen so ununterbrochen sein, ich muß meine ganze Belesenheit so gegenwärtig haben, ich muß bei jedem Schritte alle Bemerkungen, die ich jemals über Sitten und Leidenschaften gemacht, so ruhig durchlaufen können, daß zu einem Arbeiter, der ein Theater mit Neuigkeiten unterhalten soll, Niemand in der Welt ungeschickter sein kann als ich.

»Was Goldoni für das italienische Theater that, der es in einem Jahre mit dreizehn neuen Stücken bereicherte, das muß ich für das deutsche zu thun folglich bleiben lassen. Ja, das würde ich bleiben lassen, wenn ich es auch könnte. Ich bin mißtrauischer gegen alle erste Gedanken, als De la Casa und der alte Shandy nur immer gewesen sind. Denn wenn ich sie auch schon nicht für Eingebungen des bösen Feindes, weder des eigentlichen noch des allegorischen, halte:Life and Opinions of Tristram Shandy, Vol. V. p. 74. (Anm. Lessing's). – D. so denke ich doch immer, daß die ersten Gedanken die ersten sind. – Meine erste Gedanken sind gewiß kein Haar besser als Jedermanns erste Gedanken; und mit Jedermanns Gedanken bleibt man am Klügsten zu Hause.«Dramaturgie, Stück 101–104. – D.

38.

»Seines Fleißes darf sich Jedermann rühmen; ich glaube die dramatische Dichtkunst studirt zu haben, sie mehr studirt zu haben als Zwanzig, die sie ausüben. – Ich verlange auch nur eine Stimme unter uns, wo so Mancher sich eine anmaßt, der, wenn er nicht dem oder jenem Ausländer nachplaudern gelernt hätte, stummer sein würde als ein Fisch. Aber man kann studiren und sich tief in den Irrthum hineinstudiren. Was mich also versichert, daß mir dergleichen nicht begegnet sei, daß ich das Wesen der dramatischen Dichtkunst nicht verkenne, ist dieses, daß ich es vollkommen so erkenne, wie es Aristoteles aus den unzähligen Meisterstücken der griechischen Bühne abstrahirt hat. – Indeß steh' ich nicht an, zu bekennen (und sollte ich in diesen erleuchteten Zeiten auch darüber ausgelacht werden!), daß ich sie für ein ebenso unfehlbares Werk halte, als die Elemente des Euklides nur immer sind. Ihre Grundsätze sind ebenso wahr und gewiß, nur freilich nicht so faßlich, und daher mehr der Chicane ausgesetzt als Alles, was diese enthalten. – Ich wage es, hier eine Aeußerung zu thun, mag man sie doch nehmen, wofür man will! Man nenne mir das Stück des großen Corneille, welches ich nicht besser machen wollte. Was gilt die Wette? – Man merke also wohl, was ich hinzusetze: Ich werde es zuverlässig besser machen und doch lange kein Corneille sein, und doch lange noch kein Meisterstück gemacht haben. Ich werde es zuverlässig besser machen und mir doch wenig darauf einbilden dürfen. Ich werde nichts gethan haben, als was Jeder thun kann, der so fest an den Aristoteles glaubt wie ich.«Dramaturgie, Stück 101-104. – H.

39.

»Ich gehe künftigen Februar von Hamburg weg. Und wohin? Geraden Weges nach Rom. – Was ich in Rom will, werde ich Ihnen aus Rom schreiben.O, daß er gegangen wäre! damals gegangen wäre! Er lebte vielleicht noch. – H. Von hier aus kann ich Ihnen nur so viel sagen, daß ich in Rom wenigstens ebenso viel zu suchen und zu erwarten habe als an einem Orte in Deutschland.Herder hat die Worte weggelassen: »Hier kann ich des Jahres nicht für 800 Thaler leben, aber in Rom für 300 Thaler.« – D. – So viel kann ich ungefähr noch mit hinbringen, um ein Jahr da zu leben; wenn das alle ist, nun, so wäre es auch hier alle, und ich bin gewiß versichert, daß es sich lustiger und erbaulicher in Rom muß hungern und betteln lassen als in Deutschland.«Th. 27. S. 159 f. – H. [Aus dem Briefe an Nicolai vom 28. September 1768. – D.]

40.

»Noch erwartet man vielleicht vom Verfasser der »Antiquarischen Briefe«, daß er sich über den Ton erkläre, den er in ihnen genommen. »Vide, quam sim antiquorum hominum!«»Siehe, wie sehr ich ein Mann aus der alten Welt bin!« – H. antwortete Cicero dem lauen Atticus,Ad Att., IX. 15. – D. der ihm vorwarf, daß er sich über etwas wärmer, rauher und bitterer ausgedrücket habe, als man von seinen Sitten erwarten können. Der schleichende süße Complimentirton schickte sich weder zu dem Vorwurfe, noch zu der Einkleidung. Auch liebt ihn der Verfasser überhaupt nicht, der mehr das Lob der Bescheidenheit als der Höflichkeit sucht. Die Bescheidenheit richtet sich genau nach dem Verdienste, das sie vor sich hat; sie giebt Jedem, was Jedem gebühret. Aber die schlaue Höflichkeit giebt Allen Alles, um von Allen Alles wieder zu erhalten. Die Alten kannten das Ding nicht, was wir Höflichkeit nennen. Ihre Urbanität war von ihr ebenso weit als von der Grobheit entfernt. Der Neidische, der Hämische, der Rangsüchtige, der Verhetzer ist der wahre Grobe, er mag sich noch so höflich ausdrücken. Doch es sei, daß jene gothische Höflichkeit eine unentbehrliche Tugend des heutigen Umganges ist. Soll sie darum unsere Schriften ebenso schal und falsch machen als unsern Umgang?«Vorrede zu den »Antiquarischen Briefen«. – H.

41.

»Die wahre Bescheidenheit eines Gelehrten besteht . . . darin, daß er genau die Schranken seiner Kenntnisse und seines Geistes kennet, innerhalb welchen er sich zu halten hat; daß er für jeden Schriftsteller so viel Achtung hegt, ihm nicht eher zu widersprechen, als bis er ihn verstanden; – daß er in den Streitigkeiten, die er sich selbst zuzieht, rund zu Werke geht, nicht tergiversiret. – Mit solchen Wendungen macht sich nur die beleidigte Eitelkeit aus dem Staube, und ein eitler Mann ist zwar höflich, aber nie bescheiden.«Antiquarische Briefe, Brief 51. – H. [Herder hat hier mehreres Bedeutende weggelassen. – D.]

42.

»Jeder Tadel, jeder Spott, den der Kunstrichter mit dem kritisirten Buche in der Hand gutmachen kann, ist dem Kunstrichter erlaubt. Auch kann ihm Niemand vorschreiben, wie sanft oder wie hart, wie lieblich oder wie bitter er die Ausdrücke eines solchen Tadels oder Spottes wählen soll. Er muß wissen, welche Wirkung er damit hervorbringen will, und es ist nothwendig, daß er seine Worte nach dieser Wirkung abwäget. Aber sobald der Kunstrichter verräth, daß er von seinem Autor mehr weiß, als ihm die Schriften desselben sagen können; sobald er sich aus dieser nähern Kenntniß des geringsten nachtheiligen Zuges wider ihn bedienet: sogleich wird sein Tadel persönliche Beleidigung. Er höret auf, Kunstrichter zu sein, und wird – das Verächtlichste, was ein vernünftiges Geschöpf werden kann – Klätscher, Anschwärzer, Pasquillant.«Antiqu. Briefe, Brief 57. – H. [Der Anfang des Briefes. – D.]

43.

Es thut mir leid, wenn mein Stil irgendwo blos satirisch ist. Meinem Vorsatze nach soll er allezeit mehr als satirisch sein. Und was soll er mehr sein als satirisch? Treffend. – »Aber die Höflichkeit ist doch eine so artige Sache.« Gewiß! denn sie ist eine so kleine! Aber so artig, wie man will; die Höflichkeit ist keine Pflicht, und nicht höflich sein, ist noch lange nicht grob sein. Hingegen, zum Besten der Mehrern freimüthig sein, ist Pflicht; sogar es mit Gefahr sein, darüber für ungesittet und bösartig gehalten zu werden, ist Pflicht. Wenn ich Kunstrichter wäre, wenn ich mir getraute, das Kunstrichterschild aushängen zu können, so würde meine Tonleiter diese sein: Gelinde und schmeichelnd gegen den Anfänger, mit Bewunderung zweifelnd, mit Zweifel bewundernd gegen den Meister, abschreckend und positiv gegen den Stümper, höhnisch gegen den Prahler, und so bitter als möglich gegen den Cabalenmacher. Der Kunstrichter, der gegen Alle nur einen Ton hat, hätte besser gar keinen. Und besonders der, der gegen Alle nur höflich ist, ist im Grunde, gegen die er höflich sein könnte, grob.«Daselbst. – H.

44.

»Gewisse Dinge verdienten freilich nie gesagt zu werden, und doch müssen sie wenigstens einmal gesagt werden. Die persönlichen Verhältnisse der Schriftsteller gegen einander interessiren nur kaum den kleinsten Theil des zeitverwandten Publici. Welcher wünscht, daß sein Buch auch bei den Nachkommen nicht ganz vergessen sei (und welcher sollte es nicht wünschen?), muß über nichts streiten, was nur ihn selbst angeht.«Sämmtl. Schr., Th. 12. S. 169. – H. [Aus der Fortsetzung der »Antiquarischen Briefe«. – D.]

45.

»Er sei ein Deutscher oder ein Wale, oder was er will, gewesen,Von Adelmann ist die Rede. – D. er war Einer von den ganz gemeinen Leuten, die mit halboffnen Augen, wie im Traume ihren Weg so fortschlendern. Entweder weil sie nicht selbst denken können oder aus Kleinmuth nicht selbst denken zu dürfen vermeinen oder aus Gemächlichkeit nicht wollen, halten sie fest an dem, was sie in ihrer Kindheit gelernt haben, und glücklich genug, wenn sie nur von Andern nicht verlangen, mit Gutem und Bösen verlangen, daß sie ihrem Beispiele hierin folgen sollen. – Das Ding, was man Ketzer nennt, hat eine sehr gute Seite. Es ist ein Mensch, der mit seinen eigenen Augen wenigstens sehen wollen. Die Frage ist nur, ob es gute Augen gewesen, mit welchen er selbst sehen wollen. Ja, in gewissen Jahrhunderten ist der Name Ketzer die größte Empfehlung, die von einem Gelehrten auf die Nachwelt gebracht werden können, noch größer als der Name Zauberer, Magus, Teufelsbanner; denn unter diesen läuft doch mancher Betrüger mit unter.«»Berengarius Turonensis«, Sämmtl. Schr., Th. 13 S. 11 f. – H.

46.

»Ich weiß nicht, ob es Pflicht ist, Glück und Leben der Wahrheit aufzuopfern; wenigstens sind Muth und Entschlossenheit, welche dazu gehören, keine Gaben, die wir uns selbst geben können. Aber das, weiß ich, ist Pflicht, wenn man Wahrheit lehren will, sie ganz oder gar nicht zu lehren; sie klar und rund, ohne Räthsel, ohne Zurückhaltung, ohne Mißtrauen in ihre Kraft und Nützlichkeit zu lehren, und die Gaben, welche dazu erfordert werden, stehen in unserer Gewalt. Wer die nicht erwerben oder, wenn er sie erworben, nicht brauchen will, der macht sich um den menschlichen Verstand nur schlecht verdient, wenn er grobe Irrthümer uns benimmt, die volle Wahrheit aber vorenthält und mit einem Mitteldinge von Wahrheit und Lüge uns befriedigen will. Denn je gröber der Irrthum, desto kürzer und gerader der Weg zur Wahrheit; dahingegen der verfeinerte Irrthum uns auf ewig von der Wahrheit entfernt halten kann, je schwerer uns einleuchtet, daß er Irrthum ist. – Der Mann, der bei drohenden Gefahren der Wahrheit untreu wird, kann die Wahrheit doch sehr lieben; und die Wahrheit vergiebt ihm seine Untreue um seiner Liebe willen. Aber wer nur darauf denkt, die Wahrheit unter allerlei Larven und Schminke an den Mann zu bringen, der möchte wol gern ihr Kuppler sein, nur ihr Liebhaber ist er nie gewesen. Ich wüßte kaum etwas Schlechtes als einen solchen Kuppler der WahrheitSämmtl. Schr., Th. 13. S. 26 f. – H. [Aus »Berengar. Turon.« – D.]

47.

»Wozu diese fruchtlosen Untersuchungen, wenn sich über die Vorurtheile unserer ersten Erziehung doch kein dauerhafter Sieg erhalten läßt? wenn diese nie auszurotten, sondern höchstens nur in eine kürzere oder längere Flucht zu bringen sind, aus welcher sie wiederum auf uns zurückstürzen, eben wenn uns ein andrer Feind die Waffen entrissen oder unbrauchbar gemacht hat, deren wir uns ehedem gegen sie bedienten? Nein, nein! einen so grausamen Spott treibet der Schöpfer mit uns nicht. Wer daher in Bestreitung aller Arten von Vorurtheilen niemals schüchtern, niemals laß zu werden wünschet, der besiege ja dieses Vorurtheil zuerst, daß die Eindrücke unserer Kindheit nicht zu vernichten wären. Die Begriffe, die uns von Wahrheit und Unwahrheit in unsrer Kindheit beigebracht werden, sind gerade die allerflachsten, die sich am Allerleichtesten durch selbsterworbene Begriffe auf ewig überstreichen lassen, und Diejenigen, bei denen sie in einem spätern Alter wieder zum Vorschein kommen, legen dadurch wider sich selbst das Zeugniß ab, daß die Begriffe, unter welchen sie jene begraben wollen, noch flacher, noch seichter, noch weniger ihr Eigenthum gewesen als die Begriffe ihrer Kindheit. Nur von solchen Menschen können also auch die gräßlichen Erzählungen von plötzlichen Rückfällen in längst abgelegte Irrthümer auf dem Todbette wahr sein, mit welchen man jeden kleinmüthigern Freund der Wahrheit zur Verzweiflung bringen könnte. – Freilich muß ein hitziges Fieber aus dem Spiele bleiben; und was noch schrecklicher ist als ein hitziges Fieber, Einfalt und Heuchelei müssen das Bette des Sterbenden nicht belagern und ihm so lange zusetzen, bis sie ihm ein paar zweideutige Worte ausgenergelt, mit welchen der arme Kranke sich blos die Erlaubniß erkaufen wollte, ruhig sterben zu können.«Sämmtl. Schr., Th. 13. S. 46 f. – H. [Aus »Berengar. Turon.« – D.]

48.

»Was ich Ihnen . . . nicht verzeihe . . ., ist, daß Sie nicht vergnügt sind. – Alles in der Welt hat seine Zeit, Alles ist zu überstehen und zu übersehen, wenn man nur gesund ist. – Wahrlich, ich spiele eine traurige Rolle in meinen eignen Augen. Und dennoch, bin ich versichert, wird sich und muß sich Alles um mich herum wieder aufheitern; ich will nur immer vor mich weg und so wenig als möglich hinter mich zurücksehen. Thun Sie ein Gleiches! – Vergnügt wird man unfehlbar, wenn man sich nur immer vorsetzt, vergnügt zu sein.«Freundschaftlicher Briefwechsel zwischen G. E. Lessing und seiner Frau. Herausgegeben von K. G. Lessing, Th. 1. S. 26, 37. – H. [Aus den Briefen an Madame König vom 8. und 20. September 1770. – D.]

49.

»Sie werden sagen, daß ich eine besondere Gabe habe, etwas Gutes an etwas Schlechtem zu entdecken. Die habe ich allerdings, und ich bin stolzer darauf als auf Alles, was ich weiß und kann. – Nichts kann uns mit der Welt zufriedner machen als eben diese Gabe. – Fast fange ich an zu zweifeln, ob man eben in Wien mehr als an andern Orten Gelegenheit hat, die nur gedachte Gabe . . . in Ausübung zu bringen. – Wie ich hier lebe, wundern sich mehr Leute, daß ich nicht vor Langerweile und Unlust umkomme, als sich wundern würden, wenn ich wirklich umkäme.«Freundschaftl. Briefw., Th. 1. S. 52, 100. – H. [Aus den Briefen an Madame König vom 25. October 1770 und vom 12. Februar 1771. – D.]

50.

»Was kann ich für Lust haben, an Leute zu schreiben, mit denen ich nur sehr selten Lust haben würde, zu sprechen? – Sie wissen . . ., was ich Ihnen oft gestanden habe, daß ich es auf die Länge unmöglich hier aushalten kann. Ich werde in der Einsamkeit, in der ich hier leben muß, von Tag zu Tag dümmer und schlimmer. Ich muß wieder unter Menschen, von denen ich hier so gut als gänzlich abgesondert bin. – Besuche sind kein Umgang, und ich fühle es, daß ich nothwendig Umgang, und Umgang mit Leuten haben muß, die mir nicht gleichgiltig sind, wenn noch ein Funken Gutes an mir bleiben soll.«Daselbst. Th. 2. S. 15. – [H. Aus den Briefen an Madame König vom 12. Mai 1771 und vom 26. October 1772. – D.]

»Ich kann mir es leider nicht länger bergen, daß ich hypochondrischer bin, als ich jemals zu werden geglaubt habe. – Sobald ich aus dem verwünschten Schlosse wieder unter Menschen komme, so geht es wieder eine Weile. Und dann sage ich mir: »Warum auch länger auf diesem verwünschten Schlosse bleiben?« Wenn ich noch der alte Sperling auf dem Dache wäre, ich wäre schon hundertmal wieder fort.«Daselbst, Th. 2. S. 49. –H. [Aus dem Briefe an Madame König vom 8. Januar 1773. – D.]

51.

»Ich habe über keine Zeile meiner neuen Tragödie eine Seele, weder hier noch in Hamburg können zu Rathe ziehn; gleichwol muß man wenigstens über seine Arbeit mit Jemand sprechen können, wenn man nicht selbst darüber einschlafen soll. Die bloße Versicherung, welche die eigene Kritik uns gewährt, daß man auf dem rechten Wege ist und bleibt, wenn sie auch noch so überzeugend wäre, ist doch so kalt und unfruchtbar, daß sie auf die Ausarbeitung keinen Einfluß hat.«Sämmtl. Schriften, Th. 30. S. 167 f. – H. [Aus dem Briefe an seinen Bruder Karl vom 25. Januar 1772. – D.[

52.

»Wer wird durch Mitteilung und Freundschaft die Sphäre seines Lebens auch zu erweitern suchen, wenn ihm beinahe des ganzen Lebens ekelt? Oder wer hat auch Lust, nach vergnügten Empfindungen in der Ferne umherzujagen, wenn er in der Nähe nichts um sich sieht, was ihm deren auch nur eine gewähren könnte? – Ich habe gearbeitet, mehr als ich sonst zu arbeiten gewohnt bin. Aber lauter Dinge, die, ohne mich zu rühmen, auch wol ein größerer Stümper ebenso gut hätte machen können. – Solche trockne Bibliothekararbeit läßt sich so recht hübsch hinschreiben, ohne alle Theilnehmung, ohne die geringste Anstrengung des Geistes. Dabei kann ich mich noch immer mit dem Troste beruhigen, daß ich meinem Amte Genüge thue und Manches dabei lerne, gesetzt auch, daß nicht das Hundertste von diesem Manchen werth wäre, gelernt zu werden. Doch ich will mich gern noch weit mehr aller Gesellschaft entziehen, um hier in der Einsamkeit zu kahlmäusern und zu büffeln, wenn ich nur sonst von einer andren SeiteWegen seiner Schulden. – D. meine Ruhe wieder damit gewinnen kann.«Daselbst, Th. 30. S. 214 ff. – H. [Aus dem Briefe an seinen Bruder Karl vom 28. October 1772 – D.]

53.

»Daß ich etwas wieder für das Theater machen sollte, will ich wohl bleiben lassen. Kein Mensch unterzieht sich gern Arbeiten, von welchen er ganz und gar keinen Vortheil hat, weder Geld, noch Ehre, noch Vergnügen. In der Zeit, die mir ein Stück von zehn Bogen kostet, könnte ich gut und gern mit weniger Mühe hundert andre Bogen schreiben. Zwar habe ich, nach meinem letzten Ueberschlage, wenigstens zwölf Stücke, Komödien und Tragödien zusammengerechnet, deren jedes ich innerhalb sechs Wochen fertig machen könnte. Aber wozu mich für nichts und wieder für nichts sechs Wochen auf die Folter spannen? – Jeder Künstler setzt sich seine Preise, jeder Künstler sucht so gemächlich von seinen Werken zu leben als möglich: warum denn nun nicht auch der Dichter? Wenn meine Stücke nicht hundert Louisd'or werth sind, so sagt mir lieber gar nichts mehr davon; denn sie sind sodann gar nichts mehr werth. Für die Ehre meines lieben Vaterlandes will ich keine Feder ansetzen, und wenn sie auch in diesem Stücke auf immer einzig und allein von meiner Feder abhangen sollte. Für meine Ehre aber ist es mir genug, wenn man nur ungefähr sieht, daß ich allenfalls in diesem Fache etwas zu thun im Stande gewesen wäre. Also Geld für die Fische – oder beköstigt Euch noch lange mit Operetten! Es wäre auch närrisch, wenn ich den einzigen Weg, Geld zu verdienen, mir wenigstens nicht offen halten und das Publicum erst mit meinen Stücken sättigen wollte. Das Geld ist gerade das, was mir fehlt, und mir mehr fehlt, als es mir jemals gefehlt hat. Ich will schlechterdings in Jahr und Tag keinem Menschen mehr etwas schuldig sein, und dazu gehört ein besserer Gebrauch meiner Zeit als für das Theater.«Sämmtl. Schriften, Th. 30. S. 223 ff. – H. [Aus dem Briefe an seinen Bruder. Karl vom 5. December 1772. – D.[

54.

»Mein Stillschweigen hat noch immer die nämliche Ursache . . . Ich bin ärgerlich und arbeite, weil Arbeiten doch das einzige Mittel ist, um einmal aufzuhören, jenes zu sein. – Ich bin in meinem Leben schon in sehr elenden Umständen gewesen, aber doch noch nie in solchen, wo ich im eigentlichen Verstande um Brod geschrieben hätte. Ich habe meine »Beiträge«Beiträge zur Geschichte und Literatur aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. 1773. – H. blos darum angefangen, weil diese Arbeit fördert, indem ich nur einen Wisch nach dem andern in die Druckerei schicken darf und ich doch dafür von Zeit zu Zeit ein paar Louisd'or bekomme, um von einem Tage zum andern zu leben. – Wer nun noch daran zweifelt, daß es die absolute Unmöglichkeit ist, warum ich gewisse Pflichten nicht erfülle, mein Versprechen in gewissen Dingen nicht halte, den bin ich sehr geneigt, ebenso sehr zu verkennen, als er mich verkennt.«Sämmtl. Schr., Th. 30. S. 236 f. – H. [Aus dem Briefe an seinen Bruder Karl vom 8. April 1773. – D.]

»Vor einiger Zeit ließ es sich hier an, als ob man mir glücklichere Aussichten machen wollte. – Aber ich sehe wol, daß man mir nur das Maul schmieren wollen. – Denkt man aber gar nicht oder nicht so bald darauf . . ., so können sie sehr versichert sein, daß ich für nichts in der Welt mich hier halten lasse, und in Jahr und Tag längstens schreibe ich Dir aus einem andern Orte als aus Wolfenbüttel! Es ist ohnedies zwar recht gut, eine Zeitlang in einer großen Bibliothek zu studiren, aber sich darin vergraben, ist eine Raserei. Ich merke es so gut als Andere, daß die Arbeiten, die ich jetzt thue, mich stumpf machen. Aber daher will ich auch je eher je lieber mit ihnen fertig sein und meine »Beiträge« ununterbrochen bis auf die letzte Armseligkeit, die nach meinem ersten Plan hineinkommen soll, fortsetzen und ausführen. Dieses nicht thun, würde heißen, die drei Jahre, die ich nun hier zugebracht, muthwillig verlieren wollen.«Sämmtl. Schr., Th. 30. S. 237 f. – H. [Aus demselben Briefe. – D.]

55.

»Hier haben Sie einen ganzen Mistwagen voll Moos und Schwämme.Ebengenannte »Beiträge«. – H. Eine Frage fällt mir dabei ein, die Sie mir gelegentlich beantworten können. Ist es die Eiche oder ist es der Boden, worin die Eiche stehet, welcher das Moos und die Schwämme um und an der Eiche hervorbringt? Ist es der Boden, was kann die Eiche dafür, wenn endlich des Mooses und der Schwämme so viel wird, daß sie alle Nahrung an sich ziehen und der Gipfel der Eiche darüber verdorret? Doch er verdorre immerhin! Die Eiche, so lange sie lebt, lebt nicht durch ihren Gipfel, sondern durch ihre Wurzeln.«Sämmtl. Schr., Th. 29. S. 385 f. – H. [Brief an Ebert vom 12. Januar 1773. – D.]

56.

»Mit dem FergusonWahrscheinlich »Ueber die bürgerliche Gesellschaft«. – H. will ich mir nun ein eigentliches Studium machen. Ich sehe schon aus dem vorgesetzten Inhalte, daß es ein Buch ist, wie mir hier gefehlt hat, wo ich größtenteils nur solche Bücher habe, die über lang oder kurz den Verstand sowie die Zeit tödten. Wenn man lange nicht denkt, so kann man am Ende nicht mehr denken. Ist es aber auch wol gut, Wahrheiten zu denken, sich ernstlich mit Wahrheiten zu beschäftigen, in deren beständigem Widerspruche wir nun schon einmal leben und zu unsrer Ruhe beständig fortleben müssen? Und von dergleichen Wahrheiten sehe ich in dem Engländer schon manche von Weitem, wie auch solche, die ich längst für keine Wahrheiten mehr gehalten. Doch ich besorge es nicht erst seit gestern, daß, indem ich gewisse Vorurtheile weggeworfen, ich ein Wenig zu viel mit weggeworfen habe, was ich werde wiederholen müssen. Daß ich es zum Theil nicht schon gethan, daran hat mich nur die Furcht verhindert, nach und nach den ganzen Unrath wieder in das Haus zu schleppen. Es ist unendlich schwer zu wissen, wenn und wo man bleiben soll, und Tausenden für Einen ist das Ziel ihres Nachdenkens die Stelle, wo sie des Nachdenkens müde geworden.«Sämmtl. Schr., Th. 28. S. 329. – H. [Aus Lessing's Brief an Mendelssohn vom 9. Januar 1771. – D.]

57.

»Die Ode an die KönigeVon Ramler. – H. will ich mir dreimal laut vorsagen, so oft ich werde Lust haben, an meiner antityrannischen Tragödie zu arbeiten. Ich hoffe mit Hilfe derselben aus dem »Spartacus« einen Helden zu machen, der aus andern Augen sieht als der beste römische. Aber wenn! wenn!«Sämmtl. Schr., Th. 27. S. 36. – H. [Aus dem Briefe an Ramler vom 16. December 1770. – D.]

»Kritik, will ich Ihnen nur vertrauen, ist das einzige Mittel, mich zu Mehrerem aufzufrischen oder vielmehr aufzuhetzen. Denn da ich die Kritik nicht zu dem kritisirten Stücke anzuwenden im Stande bin; da ich zum Verbessern überhaupt ganz verdorben bin . . .: so nutze ich die Kritik zuverlässig zu etwas Neuem. Also . . . wenn auch Sie es wollen, daß ich wieder einmal etwas Neues in dieser Art machen soll, so sehen Sie, worauf es dabei mit ankömmt: mich durch Tadel zu reizen, nicht dieses Nämliche besser zu machen, sondern überhaupt etwas Besseres zu machen. Und wenn auch dieses Bessere sodann nothwendig noch seine Mängel haben muß, so ist dieses allein der Ring durch die Nase, an dem man mich in immerwährendem Tanze erhalten kann.«Sämmtl. Schr., Th. 27. S. 39 f. – H. [Aus dem Briefe an Ramler vom 21. April 1772. – D.]

58.

»Die öftere Abänderung der Arbeit ist noch das Einzige, was mich erhält. Freilich wird so viel angefangen und wenig vollendet. Aber was schadet das? Wenn ich auch nichts in meinem Leben mehr vollendete, ja, nie etwas vollendet hätte, wäre es nicht eben das? Vielleicht wirst Du auch diese Gesinnung ein Wenig misanthropisch finden, welches Du mich in Ansehung der Religion zu sein im Verdacht hast. Ohne nun aber zu untersuchen, wie viel oder wie wenig ich mit meinen Nebenmenschen zufrieden zu sein Ursache habe, muß ich Dir doch sagen, daß Du . . . mein ganzes Betragen in Ansehung der Orthodoxie sehr unrecht verstehst. Ich sollte es der Welt mißgönnen, daß man sie mehr aufzuklären suche? Ich sollte es nicht von Herzen wünschen, daß ein Jeder über die Religion vernünftig denken möge? Ich würde mich verabscheuen, wenn ich selbst bei meinen Sudeleien einen andern Zweck hätte, als jene große Absichten befördern zu helfen. Laß mir aber doch nur meine eigne Art, wie ich dieses thun zu können glaube. Und was ist simpler als diese Art? Nicht das unreine Wasser, welches längst nicht mehr zu brauchen, will ich beibehalten wissen; ich will es nur nicht eher weggegossen wissen, als bis man weiß, woher reineres zunehmen; ich will nur nicht, daß man es ohne Bedenken weggieße, und sollte man auch das Kind hernach in Mistjauche baden. Und was ist sie anders, unsere neumodische Theologie, gegen die Orthodoxie als Mistjauche gegen unreines Wasser. Mit der Orthodoxie war man, Gott sei Dank, ziemlich zu Rande; man hatte zwischen ihr und der Philosophie eine Scheidewand gezogen, hinter welcher eine jede ihren Weg fortgehen konnte, ohne die andere zu hindern. Aber was thut man nun? Man reißt diese Scheidewand nieder und macht uns unter dem Vorwande, uns zu vernünftigen Christen zu machen, zu höchst unvernünftig Philosophen. Ich bitte Dich . . ., erkundige Dich doch nur nach diesem Punkte genauer und siehe etwas weniger auf das, was unsere neuen Theologen verwerfen, als auf das, was sie dafür in die Stelle setzen wollen. Darin sind wir einig, daß unser altes Religionssystem falsch ist; aber das möchte ich nicht mit Dir sagen, daß es ein Flickwerk von Stümpern und Halbphilosophen sei. Ich weiß kein Ding in der Welt, an welchem sich der menschliche Scharfsinn mehr gezeigt und geübt hätte als an ihm. Flickwerk von Stümpern und Halbphilosophen ist das Religionssystem, welches man jetzt an die Stelle des alten setzen will, und mit weit mehr Einfluß auf Vernunft und Philosophie, als sich das alte anmaßt. Und doch verdenkst Du es mir, daß ich dieses alte vertheidige? Meines Nachbars Haus drohet ihm den Einsturz. Wenn es mein Nachbar abtragen will, so will ich ihm redlich helfen. Aber er will es nicht abtragen, sondern er will es, mit gänzlichem Ruin meines Hauses, stützen und unterbauen. Das soll er bleiben lassen, oder ich werde mich seines einstürzenden Hauses so annehmen als meines eigenen.«Wie nimmt man sich seines eignen baufälligen Hauses an? Man bessert es ernstlich oder reißt es nieder und baut ein andres; in beiden Fällen aber erkundigt man sich, was denn eigentlich Schadhaftes an ihm sei. Der Ungenannte gab Vieles dafür aus, was es nicht ist; Lessing nahm Vieles, was er dafür erkannte, gewandsweise, gymnastisch in seinen Schutz. Dies ist nicht der reine Weg zur Wahrheit, obgleich darauf sehr viel Scharfsinn, hie und da unnöthig, angewandt worden ist. Ich kann also den Weg, den Lessing in Führung dieser Streitigkeit nahm, nicht ganz billigen, wie er denn auch seine eigentliche Absicht nicht erreicht hat. – H. [Die Stelle ist aus Lessing's Brief an seinen Bruder Karl vom 2. Februar 1774. Sämmtl. Schr., Th. 30. S. 284 ff. – D.]

59.

»Da ich es nur allzu sehr empfinde, wie viel trockner und stumpfer ich an Geist und Sinnen diese vier Jahre, trotz aller meiner sonst erweiterten historischen Kenntniß, geworden bin, so möchte ich es um Alles in der Welt willen nicht noch vier Jahre thun. Aber ich muß es auch nicht ein Jahr mehr thun, wenn ich noch sonst etwas in der Welt thun will. Hier ist es aus; hier kann ich nichts mehr thun. Du wirst diese Messe auch nichts von mir lesen; denn ich habe den ganzen Winter nichts gethan und bin sehr zufrieden, daß ich nur das eine große Werk von Philosophie (oder Poltronnerie) zu Stande gebracht – daß ich noch lebe. Gott helfe mir in diesem edlen Werke weiter, welches wohl werth ist, daß man alle Tage darum ißt und trinkt. – Ich hasse alle die Leute, welche Secten stiften wollen, von Grund meines Herzens. Denn nicht der Irrthum, sondern der sectirische Irrthum, ja sogar die sectirische Wahrheit machen das Unglück der Menschen, oder würden es machen, wenn die Wahrheit eine Secte stiften wollte.«Sämmtl. Schr., Th. 30. S. 309 f. – H. [Aus dem Briefe an seinen Bruder Karl vom 20. April 1774. – D.]

60.

»Fast könnte ich Sie beneiden, daß Sie noch Blumen lesen,Mit Bezug auf Ramler's »Blumenlese«. – D. da ich verdammt bin, nichts als Dornen zu sammeln. »Das ist Ihre Schuld;« werden Sie sagen. Ich sollte nicht meinen. Ich sehe auf meinem ganzen Felde nichts als Dornen; und einmal ist es nun mein Feld. Umsonst erinnern Sie mich unserer gemeinschaftlichen Entschlüsse, ein blumenreicheres anzubauen. Es hat nicht sein sollen! Mit mir ist es aus, und jeder dichterische Funken, deren ich ohnedies nicht viel hatte, ist in mir erloschen. – Leisten Sie allein, was wir zusammen leisten wollten. – Ich, der ich die ganze Welt ausreisen wollte, werde allem Ansehen nach in dem kleinen Wolfenbüttel unter Schwarten vermodern.«Sämmtl. Schr., Th. 27. S. 42 f. – H. [Aus dem Briefe an Ramler vom 12. November 1774. – D.]

61.

»Von gewissen Dingen läßt sich gar nicht sprechen . . .; sprechen zwar wohl, aber nicht schreiben. Man schreibt immer zu wenig, oder zu viel, wenn man bei sich selbst noch kein Resultat gezogen; im Sprechen aber kann man sich alle Augenblicke corrigiren, welches im Schreiben nicht angeht. So viel dürfte ich Dir im Vertrauen doch fast sagen, daß auch die Mannheimer ReiseIn Mannheim wollte man ihn für das dortige Nationaltheater gewinnen. – D. noch bis jetzt unter die Erfahrungen gehört, daß das deutsche Theater mir immer fatal ist; daß ich mich nie mit ihm, es sei auch noch so wenig, bemengen kann, ohne Verdruß und Unkosten davon zu haben. Und Du verdenkst es mir noch, daß ich mich dafür lieber in die Theologie werfe? Freilich, wenn mir am Ende die Theologie ebenso lohnt als das Theater.«Daselbst, Th. 30. S. 391 f. – H. [Aus dem Briefe an seinen Bruder Karl vom 20. März 1777. Die folgenden enge damit zusammenhängenden Worte: »Es sei! Darüber würde ich mich weit weniger beschweren« sind von Herder weggelassen. – D.]

62.

»Will es denn eine Classe von Leuten nie lernen, daß es schlechterdings nicht wahr ist, daß jemals ein Mensch wissentlich und vorsätzlich sich selbst verblendet habe? Es ist nicht wahr, sag' ich, aus keinem geringern Grunde, als weil es nicht möglich ist. Was wollen sie denn also mit ihrem Vorwurfe muthwilliger Verstockung, geflissentlicher Verhärtung, mit Vorbedacht gemachter Plane, Lügen auszustaffiren, die man Lügen zu sein weiß? Was wollen sie damit?Daß es leichtsinnige sowie muthwillige Verblendungen aus gewohnten Vorurtheilen, ja aus mancherlei Leidenschaften, einen bittern Haß gegen die Wahrheit oder gegen ernste Untersuchungen der Wahrheit nicht nur geben könne, sondern wirklich gebe, hat Lessing nicht leugnen wollen und auf seinem Lebenswege selbst erfahren. – H. Was anders, als – – Nein; weil ich auch ihnen diese Wahrheit muß zu Gute kommen lassen, weil ich auch von ihnen glauben muß, daß sie vorsätzlich und wissentlich kein falsches verleumdrisches Urtheil fällen können: so schweige ich und enthalte mich alles Wiederscheltens. Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Werth des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz. Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren,D. i. der Wahrheit immer zu nahen; denn das schließt der Trieb nach Wahrheit und ihr Begriff selbst ein. – H. verschlossen hielte und spräche zu mir: »Wähle!« ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke und sagte: »Vater, gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für Dich allein!««Sämmtl. Schr., Th. 5. S. 145 ff. – H. [Aus der Schrift: »Eine Duplik« (1778). – D.]

63.

»Wann wird man aufhören, an den Faden einer Spinne nichts weniger als die ganze Ewigkeit hängen zu wollen?Er spricht von kleinen historischen Umständen der Geschichte des Christenthums im Anfange derselben. – H. [Diese Stelle, die sich auf die Wunder bezieht, steht bei Lessing nach der folgenden. – D.] – Welcher Thor wühlet neugierig in dem Grunde seines Hauses, blos um sich von der Güte des Grundes seines Hauses zu überzeugen? Setzen mußte sich das Haus freilich erst an diesem und jenem Orte. Aber daß der Grund gut ist, weiß ich nunmehr, da das Haus so lange Zeit steht, überzeugender, als es Die wissen konnten, die ihn legen sahen. – Ich lobe mir, was über der Erde steht, und nicht, was unter der Erde verborgen liegt! Vergieb es mir, lieber Baumeister, daß ich von diesem weiter nichts wissen mag, als daß es gut und fest sein muß; denn es trägt, und trägt so lange. – An der Schönheit des Ganzen will ich meine Betrachtungen weiden; in dieser, in dieser will ich Dich preisen, lieber Baumeister!«Sämmtl. Schr., Th. 5. S. 165, 160 f. – H. [Aus »Eine Duplik«. – D.]

64.

»Luther, Du! Großer, verkannter Mann! – Du hast uns von dem Joche der Tradition erlöset, wer erlöset uns von dem unerträglichen Joche des Buchstabens!Lessing wollte damit nicht sagen, daß wir den Buchstaben, d. i. den literaren Sinn nach seiner wahren, zeitmäßigen, ungezweifelten Bedeutung, nicht kennen lernen sollten. Eben diesen, mithin den Geist der Schriften des Christenthums, sollten wir kennen lernen. – H. Wer bringt uns endlich ein Christenthum, wie du es itzt lehren würdest, wie es Christus selbst lehren würde! Wer –«

»Der wahre Lutheraner will nicht bei Luther's Schriften, er will bei Luther's Geiste geschützt sein; und Luther's Geist erfordert schlechterdings, daß man keinen Menschen in der Erkenntniß der Wahrheit nach seinem eigenen Gutdünken fortzugehen hindern muß. Aber man hindert Alle daran, wenn man auch nur Einem verbieten will, seinen Fortgang in der Erkenntniß Andern mitzutheilen. Denn ohne diese Mittheilung im Einzeln ist kein Fortgang im Ganzen möglich.«Sämmtl. Schr., Th. 6. S. 23, 162. – H. [In den Schriften »Eine Parabel« und »Anti-Goeze« I (1778). – D.]

65.

»Jeder Mensch hat seinen eignen Stil . . . Was kann ich dafür, daß ich nun einmal keinen andern Stil habe? Daß ich ihn nicht erkünstle, bin ich mir bewußt. – Es kömmt wenig darauf an, wie wir schreiben, aber viel, wie wir denken. Und Sie wollen doch wol nicht behaupten, daß unter verblümten, bilderreichen, Worten nothwendig ein schwanker, schiefer Sinn liegen muß? daß Niemand richtig und bestimmt denken kann, als wer sich des eigentlichsten, gemeinsten, plattesten Ausdruckes bedienet? daß, den kalten symbolischen Ideen auf irgend eine Art etwas von der Wärme und dem Leben natürlicher Zeichen zu geben suchen, der Wahrheit schlechterdings schade? Wie lächerlich, die Tiefe einer Wunde nicht dem scharfen, sondern dem blanken Schwerte zuschreiben! Wie lächerlich also auch, die Ueberlegenheit, welche die Wahrheit einem Gegner über uns giebt, einem blendenden Stile desselben zuschreiben! Ich kenne keinen blendenden Stil, der seinen Glanz nicht von der Wahrheit mehr oder weniger entlehnet. Wahrheit allein giebt ächten Glanz und muß auch bei Spötterei und Posse, wenigstens als Folie, unterliegen. Also von der, von der Wahrheit lassen Sie uns sprechen und nicht vom Stil. Ich gebe den meinen aller Welt preis.«Sämmtl. Schr., Th. 6. S. 174 f. – H. [Anti-Goeze II. – D.]

»Ich suche allerdings durch die Phantasie mit auf den Verstand meiner Leser zu wirken. Ich halte es nicht allein für nützlich, sondern auch für nothwendig, Gründe in Bilder zu kleiden und alle die Nebenbegriffe, welche die einen oder die andern erwecken, durch Anspielungen zu bezeichnen. Wer hiervon nichts weiß und verstehet, müßte schlechterdings kein Schriftsteller werden wollen; denn alle gute Schriftsteller sind es nur auf diesem Wege geworden. – Der Begriff ist der Mann; das sinnliche Bild des Begriffes ist das Weib, und die Worte sind die Kinder, welche beide hervorbringen. Ein schöner Held, der sich mit Bildern und Worten herumschlägt und immer thut, als ob er den Begriff nicht sähe! oder immer sich einen Schatten von Mißbegriff schafft, an welchem er zum Ritter werde!«Daselbst, Th. 6. S. 261 ff. – H. [Anti-Goeze VIII. – D.]

66.

»Meine Frau ist todt; und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht. Ich freue mich, daß mir viele dergleichen Erfahrungen nicht mehr übrig sein können zu machen, und bin ganz leicht. – Wenn ich noch mit der einen Hälfte meiner übrigen Tage das Glück erkaufen könnte, die andre Hälfte in Gesellschaft dieser Frau zu verleben, wie gern wollt' ich es thun! Aber das geht nicht; und ich muß nur wieder anfangen, meinen Weg allein so fortzuduseln.«Sämmtl. Schr., Th. 27. S. 74 f. – H. [Aus den Briefen an Eschenburg vom 10. und 14. Januar 1778. – D.]

67.

»Vor allen Dingen laß mich Deinen Erstgebornen mit meinem besten Segen hienieden bewillkommen! Er werde besser und glücklicher als Alle seines Namens! – Itzt ist man hier auf meinen »Nathan« gespannt und besorgt sich davon, ich weiß nicht was. – Es wird nichts weniger als ein satirisches Stück, um den Kampfplatz mit Hohngelächter zu verlassen. Es wird ein so rührendes Stück, als ich nur immer gemacht habe, und Herr MosesMendelssohn. – D. hat ganz recht geurtheilt. daß sich Spott und Lachen zu dem Tone nicht schicken würde, den ich in meinem letzten Blatte angestimmt . . . Er soll schon sehen, daß ich meiner eigenen Sache durch diesen dramatischen Absprung im Geringsten nicht schade.«Daselbst, Th. 30. S. 463 ff. – H. [Aus dem Brief an seinen Bruder Karl vom 20. October 1778. – D.]

68.

»Mein »Nathan« – ist ein Stück, welches ich schon vor drei Jahren . . . vollends aufs Reine bringen und drucken lassen wollen. – Mein Stück hat mit unsern jetzigen Schwarzröcken nichts zu thun, und ich will ihm den Weg nicht selbst verhauen, endlich doch einmal aufs Theater zu kommen, wenn es auch erst nach hundert Jahren wäre. – Nur mit dem Pränumeriren möchte ich gern nichts zu thun haben. Denn wenn ich nun plötzlich stürbe? So bliebe ich vielleicht tausend Leuten einem Jeden einen Gulden schuldig, deren Jeder für zehn Thaler auf mich schimpfen würde. – Nach meinem ersten Anschlage sollte noch ein Nachspiel dazu kommen, genannt »Der Derwisch«, welches auf eine neue Art den Faden einer Episode des Stücks selbst wieder aufnähme und zu Ende brächte. Aber auch das mußWie die beabsichtigte Vorrede. – D. wegbleiben.«Daselbst, Th. 30. S. 471 ff., 490. – H. [Aus den Briefen an seinen Bruder Karl vom 7. November 1778 und vom 15. Januar 1779. – D.]

69.

»Wenn man . . . sagen wird, daß ein Stück von so eigner Tendenz nicht reich genug an eigner Schönheit sei, so werde ich schweigen, aber mich nicht schämen. Ich bin mir eines Ziels bewußt, unter dem man auch noch viel weiter mit allen Ehren bleiben kann. Noch kenne ich keinen Ort in Deutschland, wo dieses Stück schon itzt aufgeführt werden könnte. Aber Heil und Glück dem, wo es zuerst aufgeführt wird!«Lessing's Leben und Nachlaß, Th. 1. S. 410. – H. [Aus dem Entwurf einer Vorrede zum »Nathan«. – D.]

70.

»Mein UngenannterDie von ihm als »Fragmente eines Ungenannten« herausgegebenen Angriffe auf die christliche Ueberlieferung, von Reimarus. – D. scheint ein Wenig Luft zu bekommen. – Und nun wird sich der Ungenannte schon selbst so weit helfen, als er sich nach den Gesetzen einer höhern Haushaltung helfen soll. Auf mein eignes Glaubensbekenntniß habe ich mich bereits eingelassen, wenigstens mich darüber ausgelassen; denn zum Einlassen gehören Zwei; und nachdem ich es als ein ehrlicher Mann gethan, hat Niemand davon etwas weiter zu wissen verlangt. Vermutlich weil es noch zu orthodox war und hierdurch weder der einen noch der andern Partei gelegen kam. »Ist er noch so weit zurück?« dachten die Einen. »Wenn er nur das will,« dachten die Andern, »was haben wir denn für einen Lärmen über ihn angefangen?« – Die Versatilität des Geistes verliert sich, glaube ich, von seinen Eigenschaften am Ersten. Es kostet so viel Arbeit, mich umwälzen zu lassen, daß es kaum mehr der Mühe verlohnt, wenn ich nicht eine geraume Zeit in der neuen Lage wieder verweilen kann.«Sämmtl. Schr., Th. 29. S. 496 ff. – H. [Aus dem Briefe an Herder vom 25. Juni 1780. – D.]

71.

»Der Reisende, den Sie mir vor einiger Zeit zuschickten,Alexander Davison. – D. war ein neugieriger Reisender. Der, mit dem ich Ihnen itzt antworte, ist ein emigrirender. Diese Classe von Reisenden findet sich unter Yorick's Classen nun zwar nicht, und unter diesen wäre nur der unglückliche und unschuldige Reisende, der hier allenfalls paßte. Doch warum nicht lieber eine neue Classe gemacht, als sich mit einer beholfen, die eine so unschickliche Benennung hat. Denn es ist nicht wahr, daß der Unglückliche ganz unschuldig ist. An Klugheit hat er es wol immer fehlen lassen. – Dieser Emigrant will von Ihnen nichts . . ., als daß Sie ihm den kürzesten und sichersten Weg nach dem europäischen Lande vorschlagen, wo es weder Christen noch Juden giebt. Ich verliere ihn ungern; aber sobald er glücklich da angelangt ist, bin ich der Erste, der ihm folgt. An Ihrem Briefchen . . . kaue und nutsche ich noch. Das saftigste Wort ist hier das edelste. Und wahrlich, . . . ich brauche so ein Briefchen von Zeit zu Zeit sehr nöthig, wenn ich nicht ganz mißmuthig werden soll. Ich glaube nicht, daß Sie mich als einen Menschen kennen, der nach Lobe heißhungrig ist. Aber die Kälte, mit der die Welt gewissen Leuten zu bezeugen pflegt, daß sie ihr auch gar nichts recht machen, ist, wenn nicht tödtend, doch erstarrend.Auf Lob der Journale zielt dieses nicht, sondern auf die ganze Wirkung, die Lessing mit seinen letzten Bemühungen zu machen hoffte, und die er freilich zu kurz nahm. Alles hat seine Wirkung gethan, und wird sie thun, seine »Beiträge«, seine Schriften über die »Fragmente«, sein »Nathan«; in der Hand der Vorsehung ist nichts verloren. Nur seine Laufbahn war vor der Zeit zu Ende; er verlechzte. – H. Daß Ihnen nicht Alles gefallen, was ich seit einiger Zeit geschrieben, das wundert mich gar nicht. Ihnen hätte gar nichts gefallen müssen; denn für Sie war nichts geschrieben. Höchstens hat Sie die Zurückerinnerung an unsre besseren Tage noch etwa bei der und jener Stelle täuschen können. Auch ich war damals ein gesundes, schlankes Bäumchen und bin jetzt ein so fauler, knorrigter Stamm! Ach, lieber Freund, diese Scene ist aus! Gern möchte ich Sie freilich noch einmal sprechen!«Geschrieben den 19. December 1780 (Sämmtl. Schr., Th. 28. S. 355 f.) [An Mendelssohn. – D.] Der letzte seiner gedruckten Briefe ist vom 26. Januar 1781 (a. a. O., Th. 29. S. 498). [An Breitkopf. – D.] Er starb den 15. Februar 1781. – H.

Lessing.

* * *

Und so fiel er, der edle Hirsch, viel verwundet und unüberwunden. Da, wo er erstarrte, sagt man, stehe sein Bild in Stein.


112.

Die »Funken aus der Asche eines Todten« haben mich wie ein stummes Trauerspiel im Innersten gerührt. Das also war Lessing's Privatleben! so leitete es sich fort! so hat es geendet!

Dank seinem Bruder und dessen Gehilfen, daß sie uns eine Sammlung Lessing'scher Schriften gegeben, wie wir sie noch von keinem deutschen Schriftsteller gehabt haben! Wünschten wir nicht Alle, daß Leibniz einen solchen Herausgeber gehabt hätte? Ueber die Art der Herausgabe hat er sich, meinem Bedünken nach, gnugsam gerechtfertigt.S. Vorrede zum zweiten Theil Lessing'scher Schriften, Berlin 1784. – H. [Die von Lessing selbst 1771 begonnene Sammlung seiner »Sämmtlichen Schriften« setzte Karl Lessing in Verbindung mit Eschenburg und Nicolai fort. – D.] Die Wahl der Männer. die ihm beistanden, ganz und völlig endlich rechtfertigt ihn die oft und frei bekannte Denkart seines Bruders. »Einmal,« sagt dieser,Anti-Goeze VI; Lessing's Schr., Th. 6. S. 233. – H. »habe ich nun eine ganz abergläubische Achtung gegen jedes geschriebene und nur geschrieben vorhandene Buch, von welchem ich erkenne, daß der Verfasser die Welt damit belehren oder vergnügen wollen. Es jammert mich, wenn ich sehe, daß Tod oder andere dem thätigen Manne nicht mehr und nicht weniger willkommene Ursachen so viel gute Absichten vereiteln können, und ich fühle mich sofort in der Befassung, in welcher sich jeder Mensch, der dieses Namens noch würdig ist, bei Erblickung eines ausgesetzten Kindes befindet. Er begnügt sich nicht, ihm nur nicht vollends den Garaus zu machen, es unbeschädigt und ungestört da liegen zu lassen, wo er es findet; er schafft oder trägt es in das Findelhaus, damit es wenigstens Taufe und Namen erhalte. – Gerade so wünschte ich wenigstens (denn was wäre es nun, wenn auch darum noch so viel Lumpen mehr dergestalt verarbeitet werden müßten, daß sie Spuren eines unsterblichen Geistes zu tragen fähig würden?), wünschte ich wenigstens alle und jede ausgesetzte Geburten des Geistes mit eins in das große für sie bestimmte Findelhaus der Druckerei bringen zu können; und wenn ich deren selbst nur wenige wirklich dahin bringe, so liegt die Schuld gewiß nicht an mir allein. Ich thue, was ich kann, und Jeder thue nur ebenso viel.«

So dachte Lessing, und so habe er's denn seiner eignen Nemesis Dank, daß nach dem Maaß, nach dem er fremde Handschriften hervorzog, die seinigen auch ans Licht gestellt werden. Ehre gnug für Jeden, Schriftsteller oder nicht, dessen kleinstes Blättchen, dessen eiligster Brief mit so viel Ehre ans Licht treten darf!

Gens sui tantum similis,Ein anders gemeintes Wort des Tacitus (Germ. 4). – D. ein gar absonderliches Volk sind wir Deutsche. Unsre Nachbarn rühmen sich ihrer Schriftsteller; sie sammeln ihre Werke, Aufsätze, Briefe, Fragmente mit größtem Fleiß und setzen darin ein edles Eigenthum, eine Nationalehre. So sind (nur wenige anzuführen) in Frankreich die Werke nicht etwa nur der Corneille, Racine, Molière, Voltaire, Rousseau, Fénélon, Bossuet, sondern auch der Motte le Bayer, Motte Houdart u. s. w., in England Shakespeare's, Bacon's, Milton's, Swift's, Pope's, Hume's Werke zum Theil mit einer Pracht erschienen, mit welcher der eitelste Schriftsteller selbst zuweilen unzufrieden sein würde; und wo irgend ein Brief, ein Einfall, eine Anekdote von Diesem oder Jenem aufgegriffen ward, wird er bekannt gemacht und verherrlicht. Unsre deutschen Journale sagen nach, rühmen und preisen. Nur gegen unsre eigensten Verdienste sind wir undankbar, verachten, was nach der sorgfältigsten Bearbeitung in der bescheidensten Tracht vor uns tritt, und entziehen selbst dem Todten, was ihm gebührt.

Für Höfe schrieb Lessing nicht, auch nicht für den großen Maaßstab alles Geschmacks, den Geschmack der Franzosen. Gegen diesen schreibt man ihm vielmehr (obwol meines Erachtens mit Unrecht) einen ungerechten Widerwillen zu; sie mögen ihn also nicht lesen.Ueber das Mikrologische mancher seiner Untersuchungen so wie überhaupt über die Bildung seines Stils hat Lessing sich frank und frei erklärt. S. Sämmtliche Schriften, Th. 13., Vorrede, IX u. S. 390; Th. 6. S. 174 f. – H. Wir Deutsche wollen ihn lesen; theoretisch und praktisch war er der Sprache Meister. Wenn es auch keine deutsche Nation gäbe, die sich um Dies oder Jenes, worüber er geschrieben hat, kümmerte, so sollte es, dünkt mich, deutsche Gelehrte geben, denen Dies und Jenes nicht gleichgiltig sein darf, und der verständige Mann in seiner Sinnes- und Denkart ist für einen gebildeten Mann bei jedem Schriftsteller das Wichtigste, das Beste.

Auch ich stelle mir Ihren Jüngling vor, der, »mit klassischen Kenntnissen in der Schule ausgerüstet, ehe er die Akademie beschreitet,«Vgl. oben Brief 111 (S. 498). – D. eben auf diese Sammlung Lessing'scher Schriften geriethe. Natürlich wird er Vieles in ihnen überschlagen; wobei er aber verweilt, an den Werken seines Genius, an den Grundsätzen und Urtheilen seiner Kritik, an seinen unvollendeten Entwürfen, an seinen hie und da kaum genannten Vorsätzen, an seinen Meinungen über das, was ihm leicht und schwer, nothwendig oder erläßlich schien, an seiner Wage des Billigen und Rechten, des Zweckmäßigen, Edlen und Schönen, an seiner Kunst zu disputiren, nach Ort und Zeit zu reden, Wahrheit zu verhüllen, ohne sie zu beleidigen, sie nicht immer unmittelbar, sondern auf gewählten Umwegen geschickt zu befördern, vor Allem an seinem festen und bescheidnen Charakter, der nie mehr von sich hielt, als sich gebührt zu halten, der auch im Spiele ernst, auch gegen Feinde gerecht, über die menschliche Bestimmung rein und sicher, über das menschliche Wissen und Bestreben demüthig und bescheiden, seinen Grundsätzen treu blieb und in den widrigsten Fällen des Lebens den herben Apfel oft mit Scherz, immer aber mit männlicher Heiterkeit kostete: an diesem Mann und Schriftsteller wird er viel zu lernen finden! Seine Winke, seine Fehler werden ihn das Wichtigste lehren; er wird ihn hochschätzen und bedauern. Hochschätzen, daß er sich in so Vieles wohlgerüstet, muthig und glücklich warf, wo es ihm mißlang, sich am Ziel selbst nicht irre machen ließ, sondern es auf andern Bahnen suchte. Bedauern wird er ihn.

Doch wozu die nutzlose Wiederholung? Mit Lessing ist das Problem abermals aufgelöst. Gebt diesem reinen Stahl in dephlogisirter Luft nur einen Funken, welch Schauspiel einer herrlichen Flamme an Glanz und Farbe werdet Ihr erblicken bis zum letzten Moment der Erscheinung. Bringt diese helle Flamme dagegen – Der bescheidne Lessing erwartete von seinem Vaterlande nichts; das schmerzlichste aller Gefühle, das Gefühl der Kränkung, mäßigte er, selbst wenn man ihn täuschte. »Noch sind mir,« sagte er,Sämmtl. Schr., Th. 25. S. 376. – H. [Dramaturgie, Stück 101–104. – D.] »in meinem Leben alle Beschäftigungen sehr gleichgültig gewesen; ich habe mich nie zu einer gedrungen oder nur erboten, aber auch die geringfügigste nicht von der Hand gewiesen, zu der ich mich aus einer Art von Prädilection erlesen zu sein glauben konnte.« Seine erste Jugendrede (1743) handelte von der Gleichheit eines Jahrs mit dem andern;Lessing's Leben und Nachlaß, Th. 2. S. 103. – H. in Ansehung seiner Erwartungen scheint er dieser Jugendphilosophie zeitlebens treu geblieben zu sein. Kurz, das Trauerspiel »Spartacus«, das er uns auf der Bühne nicht geben konnte, hat er uns durch seinen Lebenslauf gegeben. – Fahren Sie mit Ihrer Geschichte der französischen Propaganda in Deutschland fort. Was ist zu thun? Was wird werden?


113.

»Was ist zu thun? Was wird werden?« Da wir die sieben Weisen Griechenlands nicht aufrufen können, so dünkt mich:

1. Laßt geschehen sein, was geschehen ist; es ist geschehen. Hätten die obern Stände Deutschlands sich in den Kopf gesetzt, statt Französisch Kalmukisch zu sprechen (das Mongolische ist auch eine sehr ausgebildete Sprache): was wolltet Ihr dagegen? Die Jahrhunderte sind verloren, und nicht Ihr, sondern sie tragen die Schuld.

2. Ihr seht, daß die Zeit das Blatt wendet. Ein Theil des französischen Geschmacks, der Hofgeschmack nämlich, ist bei den Franzosen selbst antiquirt. Wartet, ob ihn die Deutschen beibehalten, oder ob sie gar aus Mode Republikaner werden. Deutsch-französische Republikanerinnen und Republikaner!

3. Schmäht nicht, sondern bemitleidet, schweigt, ehrt, und wenn Ihr es könnt, belehrt! Es ist ein pöbelhafter Wahn, daß wir der obern Stände nicht bedürfen; wir bedürfen ihrer, wie sie unser bedürfen. Wir sollen ihr Auge, wir müssen ihre Hand sein; sie hingegen sind's, von deren Willen und Meinung im Guten und Bösen fast Alles abhängt. Zum Wohl des Ganzen sind sie unentbehrlich. Ebenso falsch ist die andre Behauptung, daß es Deutschland vorteilhaft sei, wenn Schriftsteller blos für Schriftsteller schreiben. Der Koch kocht für Gäste, nicht für Köche; und wenn Köche sich in Deutschland zu Häuptern einer gelehrten Republik aufwerfen und statt der von ihnen verachteten Höfe schmähende Jahrs- und Monatsbuden errichten, so ist die öffentliche Kritik, die jeder Nation ein Palladium des guten Geschmacks, des gesunden und redlichen Urtheils sein sollte, in Deutschland dazu geworden, wozu sie Weltleute mit verachtendem Spott aus innrer Abneigung gegen alles deutsche Bücherwesen nur wünschen mochten. Welcher Mann, ich will nicht sagen, von Stande, sondern nur von Achtung für seinen Namen wird sich in eine Gesellschaft mischen, die auf solche Art für sich selbst schreibt?

4. Glaube man nicht, daß die untersten Stände die obern ersetzt haben, sobald irgend nur das Product abgeht. Der größte Theil deutscher Schriftsteller schreibt jetzt für Lesegesellschaften, und manche derselben scheinen sich an diesen das Gesinde der deutschen Nation zu denken, für welches ihre Producte gewiß auch die unterhaltendsten sind. Dadurch bessern wir unsern Geschmack nicht; dadurch erwerben wir keine Ehre. Der Namenlose, der solche Werke schrieb, schämte sich ihrer zuerst selbst, bis er (denn man gewöhnt sich an jedes Handwerk) in Kurzem auch die Scham ablegte. Er weiß, daß er die Nation mit seinen Hefen der Aufklärung verderbe; die Hefenfabrik aber bringt ihm Geld und ist gut zu Leihbibliotheken, der großen Gesindstube des deutschen Witzes und Unraths.

5. Wir haben Gäste um uns, deren manche endlich schon sich entschließen, das barbarische Deutsche zu lernen, die also (bei Franzosen kann es nicht fehlen) uns bald in die Schule nehmen werden. Schon hat Einer den Anfang gemachtHumaniora, Stück 2 oder 3 des Jahrs 1796. – H. und uns verwiesen, daß wir »so gern Originale und Fürstensclaven« sein mögen, daß es uns an Wörterbüchern, an einer richtigen Orthographie und an lateinischen Lettern mangle; solcher Belehrer werden sich mehrere finden. Und mit Verehrung werden die deutschen Zeitschriften diese Seltenheiten aufnehmen, nicht gnug zu rühmen wissen, wie sehr unsre Literatur dadurch in Aufnahme komme, indem sogar Ausländer sich endlich um sie bekümmern. Jeder, dem sein Vaterland lieb ist, hüte sich vor ihren beschämenden Schmeicheleien und mache sich ebenso viel aus dergleichen längst bekannten Rathschlägen. Was von Franzosen über unsre Literatur gesagt werden kann, ist hundertfach gesagt; wir aber wissen selbst am Besten, wo uns der Schuh drückt, woran das Uebel liege. Ich schämte mich, wenn die besten deutschen Schriftsteller sich aus einem Lobe wie z. B. im Journal étranger so viel machten und die Reservationen nicht bemerkten, mit denen jedes Lob gesagt war. Behüte Gott jeden Deutschen, daß er nicht um französischen und englischen Ruhm schreibe! Wo die Natur durch Sprache, Sitten und Charakter die Völker geschieden, da wolle man sie doch nicht durch Artefacta und chemische Operationen in Eins verwandeln.

6. Mich dünkt, wir bleiben auf unserm Wege und machen aus uns, was sich machen läßt. Sage man über unsre Nation, Literatur und Sprache Böses und Gutes; sie sind einmal die unsern. Mit der französischen Sprache wollen wir nicht tauschen, ihr auch nicht beneiden, daß sie die Sprache der Welt sei. Büsch hat die Frage: »Gewinnt ein Volk in Absicht auf seine Aufklärung, wenn seine Sprache zur Universalsprache wird?« scharfsinnig und meinem Bedünken nach wahr beantwortet.Berlin 1787. – H. Als demüthige Deutsche wollen wir das gesammte Universum noch nicht lehren, sondern von jeder Nation, von der wir lernen können, lernen. Von den Altfranzosen sowol als von den Neufranken wollen wir fortfahren zu lernen; denn eben von jenen ist uns ihrer bösen Einführung wegen, unparteiisch betrachtet, noch Vieles zu lernen übrig. Der eine Theil unsrer Nation nahm sie, ohne alles Verhältniß zu unserm Dasein, mit blinder Verehrung auf und gewann an ihnen gerade das lieb, was für uns nicht diente, Plaisanterienen über die Religion und Zoten; der andere verabscheute sie um so mehr und betrug sich überhaupt etwas pedantisch. Vielleicht waren wir zum richtigen Empfang und zu Beurtheilung dieser mannichfaltigen Zeit- und Geistesproducte an beiden Theilen noch zu sehr im Nebel. Jetzt hat sich die Wolke zertheilt; Frankreich selbst hat die Folgen vom Mißbrauch mehrerer Grundsätze Rousseau's, Voltaire's, Helvetius' gekostet; die Zeit hat über sie gerichtet und der Zuschauer Urtheil gereift. Selbst über Montesquieu sind wir noch in Schulden; denn mir ist kein deutsches Werk bekannt, das das französische für uns brauchbar oder entbehrlich gemacht hätte. Die ganze ältere französische Literatur erwartet zur Anwendung für uns noch ein ruhiges Auge.

7. Bei allen Mißleitungen einer so vielfach zerteilten Nation, wie die deutsche ist, bei Verirrungen, die Jahrhunderte lang gedauert haben und sich noch jetzt fast in jedes Urtheil mischen, müssen wir am Meisten auf die große Alliirte, die weise Lenkerin menschlicher Thorheiten, die Providenz, rechnen. Ihr wollen wir's zuglauben, daß auch die Gallicomanie der Deutschen, die lächerlichste Thorheit, deren sich ein ernsthaftes Volk bewußt sein kann, ihr Gutes haben werde; wäre es auch kein anderes, als Fehler zu entblößen, die man noch lange verschleiert hätte, und gegen welche kein Salz der Komödie wirksam gewesen wäre. Die Mutter Zeit hat entschleiert; das Salz ist gekostet; thue es die beste Wirkung! Den ganzen Gallicismus unsrer oberen Stände gelinde abzuführen und den kalten, besonnenen Deutschen den Satz begreiflich zu machen, daß wir nirgend anders als in unserm UlubräMit Beziehung auf Horaz' Epist., I. 11. 30. – D. nach deutscher Weise, mit der Nation, die die unsrige ist, wo nicht witzig, so doch vernünftig und glücklich sein sollen. Jedes Andre, fremde Alfanzerei, ist vom Dämon.

Noch sollte ich mich über den Vorwurf, als ob wir Deutsche die Engländer nicht gnug geehrt hätten, rechtfertigen; der aber widerlegt sich selbst. Mit den Briten stehen wir in reinerem Verhältniß; wir ehren sie aus Neigung über Gebühr, von ihnen keine Ehre erwartend. Unser Herz sagt uns nämlich, »auch wir hätten in den vorigen Jahrhunderten einen Bacon, Shakespeare, Milton haben können;« wir fühlen sie als Gebein von unserm Gebein, als Menschen unsrer Art; sie sind die auf eine Insel verpflanzten Deutschen. Daher sind von den Engländern selbst ihre trefflichsten Schriftsteller kaum mit so reger, treuer Wärme aufgenommen worden, als von uns Shakespeare, Milton, Addison, Swift, Thomson, Sterne, Hume, Robertson, Gibbon aufgenommen sind. Richardson's drei Romane haben in Deutschland ihre goldne Zeit erlebt; Young's »Nachtgedanken«, »Tom Jones«, »Der Landpriester« haben in Deutschland Secten gestiftet; in englischen Zeitschriften haben wir bewundert, selbst was wir nicht verstanden, was für uns nicht geschrieben war. Und wer wäre es, der die Schotten Ferguson, Smith, Stewart, Millar, Blair nicht ehrte? Auf diesem demüthigen Wege wollen wir bleiben und nicht erwarten, daß man uns verstehe und ehre. Der Nationalruhm ist ein täuschender Verführer. Zuerst lockt er und muntert auf; hat er eine gewisse Höhe erreicht, so umklammert er den Kopf mit einer ehernen Binde; der Umschlossene sieht im Nebel nichts als sein eigenes Bild, keiner fremden neuen Eindrücke mehr fähig. Behüte der Himmel uns vor solchem Nationalruhm; wir sind noch nicht und wissen, warum wir noch nicht sind! Wir streben aber und wollen werden.


Der deutsche Nationalruhm

Eine Epistel

Bist Du, Geliebter, noch so neu und jung,
Daß ein Gespenst, der Nationenruhm,
Dich äffet und betrübt? O sage mir,
Wo ist denn unsre Nation? Und Du,
Ich, er und wir, wir Alle, sind wir sie?
»Da,« sagst Du, »lies im Briefe Winckelmann's,An den Baron von Riedesel, vom 30. März 1765. – D.
Des Deutschen, wie der deutsche Reichsbaron
In Rom sich stolz und dumm geberdet!« – Gut!
So der Baron; das sind gottlob nicht wir,
»Da,« sagst Du, »lies, wie ein Tanzmeister einst
(Helvetius erzählt's) den Deutschen anfuhr:
»Ihr ein Engländer, Herr? das seid Ihr nicht;
Ein deutscher Fürstendiener seid Ihr. Das
Seh' ich an Eurem Gang, an Eurem Blick.«« –
Und jedem Deutschen, der sich in Paris
Für einen kecken, stolzen Briten giebt,
Und jedem Unverschämten in der Zunft
Der Fürstendiener wünsch' ich den Marcel.A la démarche, à l'habitude du corps se danseur Marcel prétend connoître le caractère d'un homme. Un étranger se présente un jour dans la salle. »De quel pays êtes-vous?« lui demande Marcel. »Je suis Anglois.« »Vous Anglois?« lui réplique Marcel. »Vous seriez de cette Isle où les citoyens ont part à l'administration puplique et sont une portion de la puissance souveraine? Non, Monsieur! ce front baissé, ce regard timide, cette démarche incertaine ne m'annoncent que l'esclave titré d'un Electeur.« (Helvetius, De l'esprit. Disc. II. Chap. 1. Note a.) – H. [Aus dieser Anekdote erklärt sich auch »der Tanz-Marcell« im Gedichte »An den Genius von Deutschland« (Herders Werke, I. S. 283). – D.]
Doch was soll uns das? – »Wie? Gelüstet nicht
Den Deutschen stets, der Vorderste zu sein?
Und weil es ihn gelüstet, dünkt er sich
Voran. Ein Shakespeare, Milton, Swift und Young –
O hier ist mehr als Shakespeare, Milton, Young
Und Swift und Thomson! Lies einmal!« – Du thust
Den Deutschen Unrecht. Wenn ein Thor so spricht,
Spricht darum so die deutsche Nation?
Doch wenn ein armer Wicht das Präparat
Von Lieberkühn, von MeckelBerühmte Anatomen. – D. sieht und murrt
Bescheiden traurig: »Ach, das könnt' ich auch!
Mir fehlet's nur am Besten!« – wolltest Du
Den Jüngling tadeln, daß er in sich fühlt,
Was er sein könnte und wol nie sein wird,
Weil's ihm am Besten fehlet? Wolltest Du
Den Knaben schelten, der: »Das kann ich auch!«
Mit kühner Freude ruft, indeß der Arm
Ihm schwach versaget? Denn er kann noch nicht
Den Bogen spannen. »Knabe!« rufet ihm
Der Vater zu, »noch sieben Jahre, und
Du spannest ihn; sei wacker! übe Dich!«
Wir Deutsche sind der arme Jüngling, wir
Der schwache Knabe. Ach, wir könnten wohl!
Du weißt, woran es liegt; wir können nicht.
Doch nicht verzweifelt! giebt es Zeit und Glück,
So können wir dereinst. Sieh rings umher!
Wer sind die Fleißigen, die Künstler in
Britannien und Rußland, Dänemark
Und Siebenbürgen, Pensylvanien
Und Peru und Granada? Deutsche sind's,
Nur nicht in Deutschland. Vor dem Hunger flohn
Sie nach Saratow, in die Tatarei.Vgl. Klopstock's Oden »Wir und Sie« und »Mein Vaterland«. – D.
Du sahest Augsburg, Nürnberg; blutete
Dein Herz Dir nicht, wenn Du aus alter Zeit
Die Dürers und Sanct Sebald, Sanct Johann,
Die alten Drucke, Holz- und Kupferstich',
Und Fensterscheiben und so manche Kunst
Der Nürenberger, der Augsburger sahst
Und dann die hungernd Arbeitseligen
Der jetz'gen Zeit besuchtest?Vgl. Herder's Reise nach Italien, S. 18 f. – D. Lies einmal
Mit Winckelmann's auch Lambert's Briefe,In dessen »Vermischten Schriften«. – D. was
In Deutschland die Erfindung gilt! In Rom
Sah ich den Fleißigsten der Deutschen; »Ah,
Il povero Tedesco!
« sprach zu mir
Der Römer. »Warum povero?« »Warum?
Santa Maria! dieser junge Mann,
So fleißig (und er lebet fast von nichts!),
Kommt er mit aller seiner Kunst dereinst
Dort über die Gebirge, spricht zu ihm
Sein Landesherr: »Ich mag des Zeugs nicht mehr!«
So muß er betteln!« – Ah, il povero!
Du kennst doch unsern Luther, Freund, und hast
Den armen Bettelbrief gelesen, den
Bald nach dem Tode des großmüthigen,
Wohlthät'gen Mannes seine Ehefrau,
Die Mutter vieler Kinder, dürftig schrieb.
Wohin? Nach Deutschland? Nein, nach Deutschland nicht!
An Seine Majestät von Dänemark
Schrieb sie demüthig: da doch auch sein Reich
Lutherisch heiße, möchte gnädigst er
Des Luther's armer Wittwe und den Kindern
Etwas verleihen. Und der König that's.
Du kennst auch Keppler's Leben? Lies, o Freund!
Es ist merkwürdig: er verhungerte!
Dann lies auch Newton's Leben zum Vergleich!
Willst Du noch mehr der Leben? – »Warum schrei'n
Die Deutschen nicht?« – Ja, schrei und schrei und schrei!
Der Wald hat keine Ohren. Kennst Du nicht
Das Epigramm: »Dem unglücksel'gen Pan
Ist Echo selbst auch in der Welle stumm?«Vgl. Herders Werke. VII. S. 117. – D. –
»Und doch sind sie in ihrer Herren Dienst
So hündisch treu! Sie lassen willig sich
Zum Missisippi und Ohiostrom,
Nach Candia und nach dem Mohrenfels
Verkaufen. Stirbt der Sclave, streicht der Herr
Den Sold indeß, und seine Wittwe darbt;
Die Waisen ziehn den Pflug und hungern. Doch
Das schadet nicht; der Herr braucht einen Schatz.« –
Grausam genug! Doch sollten darum denn
Die Väter treulos werden? Liegt das Ach,
Der Wittwen und der Waisen Seufzer, liegt
Des Vaters Leben und sein Seufzen denn
Nicht auch in seines Herren Schatz? Geduld! –
»Armselig Volk! Wie's Einer macht, so hat er's!« –
Nicht also, Freund! »Wie Einer ist, so thut er
So heißt's. Der gute Deutsche thue Guts!
Was sollte Rache? Und was hälfe sie?
Stockprügel und die Kugel vor den Kopf!
Er lasse Gott es über. – »Gott! Der hat
Was Anderes zu thun, als für den Deutschen
Zu sorgen, der die Sache nicht versteht.« –
So muß sie Gott verstehen! O, es flammt
Kein brennender Altar wie dieser! Sieh,
Der Wittwen Angstgebet ist Weihrauch; sieh,
Des Vaters und der Waisen Seufzer fachen
Die Gluth an. Wie die Flamme steigt! Sie sprüht!
Die Kohlen glühn auf des Verkäufers Haupt. –
»Moral der alten Zeiten! Doch wohin
Sind wir verirrt? Vom Nationenruhm
Zu deutschen Negern!« – Wohl, der erste Ruhm
Der Nation ist Unschuld; nie die Hand
Im Blut zu waschen, auch gezwungen es
So zu vergießen als sein eignes Blut.
Der zweite Ruhm ist Mäßigung. Es ruft
Der Hindus und der Peruaner Noth,
Die Wuth der Schwarzen und der Mexicaner
Gebratner MontezumaHerder verwechselt Montezuma mit Guatimozin. Vgl. Werke, I. S. 82 f. – D. rufen noch
Zum Himmel auf und flehn Entsündigung!
O glaube, Freund, kein Zeus mit seinem Chor
Der Götter kehrt zu einem Volke, das,
Mit solcher Schuld- und Blut- und Sündenlast
Und Gold- und Demantlast beladen, schmaust!
Er kehrt bei stillen Aethiopiern
Und Deutschen ein, zu ihrem armen Mahl.
Der dritte Nationalruhm ist Weisheit;
Nicht schlaue Truglist, schöne Worte nicht.
Die Welt mit Worten äffen, ist ein Dunst
Des Dämons, der den Blendenden erstickt.
Wer alle Welt zum Thoren hat, ist selbst
Der größte Thor; er spielt die blinde Kuh.
Aufrichtigkeit ist Weisheit, Billigkeit
Und Rechtthun ist Verstand. – »Doch Du verschweigst
Die Grazien des Lebens. Gilt die Kunst,
Witz
und Genie für nichts?« – Für Vieles, Freund,
Doch nicht für Alles. Kunst, Genie und Witz
Ist nicht der Nationen einziger
Und höchster Ruhm, es sei denn jene Kunst,
Die Kunst der Künste, Weisheit. Daß ein Narr
Mit angeborner Kunst sich vor mir spielt,
Und Jene singt und Diese liebend tanzt,
In Ohnmacht sinket und mit Reiz erwacht;
Daß auf der Bühne Jener, auf dem Seil
Das Herz der Weiber regt, ein Andrer dort
Den Brummbaß streichet und durch Löcher bläst,
Und Dieser Verse drechselt, Jener Punsch
Zu Eis bereitet: gut mag es zwar sein,
Doch nicht das Beste, das Nothwendigste.
Pythagoras, Confuz und Sokrates,
Sie wußten nichts davon und rechneten
Auch nicht darauf. Ein gar armselig Volk,
Das sein Verdienst nur auf der Bühne, nur
Auf Brettern hat und es aus Löchern bläst! –
»Und dennoch ist's Verdienst!« – Ein örtliches!
Der Himmel theilt die Gaben, wie er will.
Nicht jedes Klima, jeder Boden giebt
Dieselben Früchte; nicht auch jede Zeit,
Noch jeder Baum und Wurzel, Halm und Strauch
Dieselben. Wer vom Baume Most, vom Eis
Die Ananas begehret, ist – »Ereifre
Dich nicht, o Freund! Es bleibet Ananas
Und Schlehbeer' unterschieden. Shakespeare,
Homer
und Ossian und Raphael
Sind doch wol Nationenruhm?« – Mit nichten!
Dem Menschengeist gehören sie, und nicht
Der Nation. Mir ist es Gräuel, wenn
Der gröbste Brite Shakespeare's sich rühmt,
Als sei er's selbst, als hätt' er ihn gezeugt
Und zimmern helfen. Ihn geschmähet hat
Die Nation durch manche Aefferei
Und blinden Stolz. Des Dichters Auge, das
In schönem Wahnsinn über Meer und Land
Und Erd' und Himmel flog und jede Welt
In ihrer Schönheit sah – dies Auge war
Nicht in Cambridge, auch von Dollond nicht
Geschliffen; Auge war es der Natur.
Die göttliche Idee, die Raphael
Begeisterte, war eines Engels Traum,
Kein Urbinat'sches Töpferwerk.Urbino, Raphael's Vaterstadt, hatte große Töpfereien. – D. Und ist
Urbino denn Italien? Der Ruhm,
Der auf den Farbenreiber überging
Vom Maler, ist ein wahrerer als der,
Wenn hundert Jahre drauf der Römer ruft:
»Wir hatten einen Raphael!« Warum,
Ihr guten Römer, habt Ihr ihn nicht mehr?
Der Glanz, o Freund, der von dem göttlichsten
Genie die Nation bestrahlet, ist
Ein Götterglanz, der nur die Würdigsten
Erleuchtet und verklärt; dem Schwachen nimmt
Er seiner Augen Licht, dem Thoren, oft
Der Nation enthüllt er wie ein Blitz
Nur ihre Niedrigkeit. Verschmachtete
Der Kanzler Baco nicht und lechzete
Umsonst im Sterben nur nach besserm Bier? Wilson in his life of the King James says: Though Lord Bacon had a pension lowed him by the King, he wanted to his last; living obscurely in his lodgings at Gray's Inn, where his loneless and desolate condition wrought upon his igenious and therefore then more melancholy temper, that he pined away. And he had this unhappiness after all his height of plentitude, to be denied beer to quench his thirst. For having a sickly tast, he did not like the beer of the house, but sent to Sir Folk Greville, Lord Brook in his neighbourhood (now and then) for a bottle of his beer, and after some grumbling, the butler had order to deny him. »Lord Chancellor Bacon,« says Howell in his letters, »is lately dead of a long languish illness. He died so poor, that scarce left money to bury him, which did argue no great wisdom, it being me of the essential properties of a wise man to provide for the main chance.« Die Niederträchtigkeiten im Factum und Urtheil sind der Uebersetzung unwürdig. – H.
Der vierte Nationenruhm ist That
Zum Wohl der Menschen. Was ein ganzes Volk
Gezwungen und in Trunkenheit gethan,
Das that es nicht. Und was die Königin
Titania, die Zeit, durch ihren Puck
Im Scherz hinspielte,Anspielung auf Shakespeare's »Sommernachtstraum«. – D. noch viel weniger.
Das Werk der Einzelnen zum Wohl der Welt,
Jetzt in Erfindung, auch im Willen nur –
Heil ihnen, wenn es einst die Nation
Mit dankendem Gefühl begrüßet, bis
Es allen Völkern zum Gedeihen kommt!
Wer diesen Aether des Verdienstes trinkt,
Wie schwinden ihm die Namen! Hoch aufgehn
Läßt er die Sonn' auf eine halbe Welt
Und regnet allen Nationen Heil. –
Mich wundert, daß Du nicht die Druckerei
Der Deutschen rühmest; sie sind stolz darauf!« –
Nicht stolz, nur dankbar. Giebt sie nicht dem Wort
Allgegenwart, Gemeinnutz, Ewigkeit?
An Zeiten bindet sie die Zeiten, knüpft
Gedanken an Gedanken, Fleiß an Fleiß!
Ein Genius der wachsenden Vernunft,
Das Band getrennter Seelen, sie, die Schrift
Der Schriften, einigt aller Menschen Herz
Und Sinn und Geist; sie wehrt der Barbarei
Und spottet des Naturgesetzes, das
Jedweden Einzelnen so bald begräbt.
In Schriften lebt von ihm der bessre Theil,
Durch sie unsterblich. Aber hör, o Freund,
Das Alles ist im Nationenruhm
Das Höchste nicht. – »Und gäb's ein Höheres?« –
Ein Höchstes: nützende Verborgenheit!
Wenn Dein Verdienst der leichte Nachbar Dir
Entwendet und der reichere genießt;
Wenn bettelnd Du zu ihm hinwandern mußt
Und flehen ihn, daß er Dein Gutes doch
Als seines nütze; wenn Dein Weib und Kind
Zu Hause darbt, und Du mit Leibsgefahr
Dich aus dem Lande stahlest, das Dir nichts
Als eine rothe Binde zum Geschenk
Zu geben hatte, dennoch Dir das Herz
Vor Freude schlägt zu Deinem Werk und Du
Den kalten Hohn der Thoren trägest, liebst
Dein Vaterland, in ihm die tausend guten
Mitduldenden; Du liebst das deutsche Weib,
Den deutschen Mann und Freund und Unterthan
Und Bürger und Arbeiter, liebest selbst
Die deutsche Dumpfheit und Verlegenheit,
Und Treu' und Einfalt mehr als jeden Stolz
Begüterter Barbaren: bleibe Der!
So wohnt in Dir die deutsche Nation. –
»Da wohnt sie eng und sehr incognito.
Ich merk', es geht aufs alte Sprichwort aus:
So Ihr, doch nicht für Euch!«Sic vos, non vobis! – H. [Virgil hatte ein schönes Distichon an die Thüre des Augustus ohne seinen Namen geschrieben. Da ein anderer Dichter, Bathyllus, behauptete, das Distichon sei von ihm, schrieb er darauf an dieselbe Thüre: »Sic vos, non vobis.« Niemand wußte diesen Vers auszufüllen. Als endlich Virgil darüber befragt wurde, sprach er die Verse:
    Hos ego versiculos feci, tulit alter honores.
    Sic vos, non vobis nidificatis, aves.
    Sic vos, non vobis vellera fertis, oves.
    Sic vos, non vobis mellificatis, apes.
    Sic vos, non vobis fertis aratra, boves

 
        Ich schrieb dieses Gedicht, einem Anderen wurde die Ehre.
        So Ihr, doch nicht Euch machet Ihr, Vögel, das Nest.
        So Ihr, doch nicht Euch traget Ihr Schafe, das Vließ.
        So Ihr, doch nicht Euch schaffet Ihr, Bienen, den Seim.
        So Ihr, doch nicht Euch traget Ihr, Stiere, den Pflug.« – D.]
– Ein hohes Wort,
Wenn uns die Schickung werth hält, nicht für uns,
Für Andere zu sein. Es wendet sich
Der Zeiten Blatt. Was sinket, ist darum
Das Schlechtre nicht! Wir lernen jetzt und stets;
Stets laßt uns lernen! Laßt uns fröhlich sä'n
Im Nebel auch! Die Ernte kommt gewiß.

 


 


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