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Neulich lernt' ich in der Gesellschaft unsrer Unsichtbar-SichtbarenDaß dieses keine Swedenborg'sche Geisterversammlung oder eine andre geheime Gesellschaft sei, ist aus dem letzten Briefe des zweitens Theils dieser Sammlung [Brief 26] klar. Die Sichtbar-Unsichtbaren und Unsichtbar-Sichtbaren sind nichts mehr und minder als gedruckte Schriften. – H. einen besondern Mann kennen, der sich Realis de Vienna nannte. Er nahm es als Deutscher mit allen Ausländern um den Preis der Wissenschaften und des Verstandes auf und tadelte mehrere Schriftsteller Deutschlands, daß sie die Ehre ihres Vaterlandes zu sehr verkannt, Fremde zu sehr gelobt, ihnen nachgeahmt, geschmeichelt haben. Doch Sie sollen seine Behauptungen selbst hören.
»Deutschlands Vorzug besteht in diesen vier Stücken: daß es nach der langen Nacht der dicken Unwissenheit die ersten, die meisten, die höchsten Erfinder gehabt und in 900 Jahren mehr Verstand erwiesen als die übrigen vier Meistervölker zusammen in 4000 Jahren. Man kann mit Wahrheit sagen, Gott habe die Welt durch zwei Völker klug machen wollen, vor Christi Geburt durch die Griechen, nach Christo durch die Deutschen. Die griechische Weisheit kann man das alte Vernunfttestament, die deutsche das neue nennen.
»Durch zwei Stücke wird vornehmlich ein Volk herrlich, durch Ehrliebe und Verstand zusammen; Tapferkeit und alles Andre, was dazu hilft, muß durch jene zwei eingerichtet werden; aus ihnen kommt Reichthum und Macht, aus allen mit einander endlich Ruhm, den alle Welt sucht. Die Deutschen sind aus Mangel der Großmüthigkeit und Landesliebe, die übrigen Europäer, außer den berühmten fünf Hauptvölkern, aus Mangel der Erfinder und großen Weltweisen zurückgeblieben.
»Verachtung kommt aus Feigheit, Niedertracht oder Dummheit; jede allein kann arm, ohnmächtig und verachtet machen. Verstand aber allein oder Großmüthigkeit allein machen nicht berühmt, sie müssen zusammen sein.
»Aus Wahn von der ausländischen Klugheit fließt die deutsche Niederträchtigkeit; oder ist sie schon in uns, so wird sie gräulich vermehrt und verhärtet. Hierauf folgt die unsinnige Aefferei; hieraus die Verstandesverfinsterung, Jugend- und Zeitverlust, die Schwindelreisen, die Geldverschleuderung und deutsche Armuth, fremder Nationen Reichthum, ihre Macht, Stolz, Trotz, ihre Verleumdungen und der Deutschen Verachtung, das Märchen von der deutschen Dummheit, unsre Bettelei, daß wir der Ausländer Lohnsoldaten heißen, stetiges Kriegen und Blutvergießen, da wir auf unsre eignen Unkosten gepeitscht werden, Verlust so vieler Länder und Städte, Verlust der deutschen Vertraulichkeit, Aufrichtigkeit, Glückseligkeit, mit Vertauschung der hochgeachteten fremden Sitten, Liederlichkeit und Blindheit. Alles dies hängt an einander am Märchen von der ausländischen Klugheit und deutschen Einfalt.
»Dies Märchen scheut man sich, ins Licht zu setzen wegen der angeerbten sclavischen Niedertracht, wegen Mangel der Wahrheitliebe, Seltenheit des gesunden Urtheils, endlich aus Mangel der Geschichtkenntniß. Man begnügt sich mit Widersprechen, Wehklagen, Seufzen und Betteln: »die Ausländer möchten uns doch mit in ihre Gesellschaft nehmen, wir gehörten auch unter die fünf klugen Jungfern« u. s. w. Dies beweist man, statt Erfinder anzuführen, mit Schulmeistern, Pfarrern, Sprachkünstlern und geduldig schwitzendem Volk, welche Fleiß für Verstand halten, mit Stopplern und Ausziehern, woraus eben die Ausländer unsre Dummheit beweisen wollen. Wir haben nicht einmal das Herz, unsre Erfindungen wider die Ausländer zu vertheidigen; sobald sich derselben eine einer zuschreibt, so ist's damit aus, sie ist verloren.
»Was geht mich ein hochbegabt Volk oder der tugendhafteste Mensch der Welt an, wenn er mich schändet? Ich habe die BriefeSo viel als »die Gewißheit«, nach dem französischen »avoir lettres«. – D. von seiner Tugend, wenn er mich verleumdet. Tugend muß man zwar auch am Feinde loben, wo es der Wahrheit Ehre fordert; sonst aber muß man von seines Feindes Tugend stillschweigen, sonderlich wo sein Lob uns Schaden bringt. Doch wird ein Tugendhafter hochbegabte Leute nimmer schimpfen.
»Bescheidenheit wird nur gegen ehrliche Leute erfordert; Irrende muß man unterrichten, nicht schimpfen mit harten Worten; Bosheit aber muß mit Beschämung gestraft werden, Unterricht hat da keine Statt. Will man vorsätzliche Bosheit ehrerbietig unterrichten, den Wolf bitten, die Schafe nicht zu fressen, so wird Bosheit durch die Ehre gestärkt und Andre zu gleicher Bosheit gereizt; »bonis nocet, malis qui parcit.«
»Wie unzeitige Barmherzigkeit der ärgste Grimm ist, so stiftet unzeitige Ehrerbietung weit mehr Unglück als unnöthiger, allzu großer Zorn. Der Päpstler mörderischer Eifer hat mit Geißeln, Martern, Brennen die Welt nicht so verderbt als die heimliche Herrschsucht der bescheidnen Höflichen, der heiligen Heuchler tückische oder dumme Sanftmuth. Wie die abgedroschne Predigt von der Freiheit eine Eitelkeit ist, so ist's mit dem Senf der Bescheidenheit ein herber Betrug, daran ein Aufrichtiger sich nicht kehrt. Den Betrüger einen Betrüger zu nennen, gehört nicht nur zur Aufrichtigkeit, sondern auch mit zur Freiheit; es ist eine nothwendige Sache.
»Unsre Ehrenretter, wenn sie am Eifrigsten sind, werfen den Franzosen die lächerlichsten Kindereien vor, die gar nichts bedeuten. Also, wenn sie ihnen heftig wehe thun und sie mit Vorhaltung grober Fehler recht demüthigen wollen, so zählen sie her, wie hie und da ein Franzos Wittenberg, Altorf, Rostock nicht gekannt und diese Städte für Personen gehalten. Nun ist zwar der Fehler grob genug; immittelst weil solche Unwissenheit aus Stolz und Verachtung unser herrührt, warum wollen wir damit ihre Dummheit beweisen? Ihre Sachen wieder verachten, nicht bewundern, anbeten, geschweige für Millionen kaufen, ihnen Urtheil- und Sinnigkeitfehler, Erfindungsmangel und Dieberei vorhalten, war die rechte Rache; diese kann demüthigen. Wie werden wir sie damit demüthigen, woraus sie Ehre suchen, nämlich aus Verachtung der deutschen Sachen, woran wir selbst Schuld sind, weil wir unsre Sachen selbst verachten?
»Die Ausländer halten's für den ärgsten Spott, uns etwas nachzuthun, das hernach an ihnen unser hieße; viel weniger werden sie es mit Prahlerei thun und uns dabei herausstreichen. Nehmen sie etwas von uns an, so thun sie es verstohlen, schämen sich der Annehmung und Nachahmung und leugnen, daß es unser sei, mit Zorn und Gift. Und der Deutschen Ehre soll die Affenkunst der Nachahmung sein und bleiben?
»Lernen ist eigentlich der Kinder Amt und Eigenschaft; daher Kinder der Strafe unterworfen sind; sie müssen gehorchen. Erwachsnen Leuten ist's gar unanständig, lernen sollen, was sie selbst können sollten; weit unanständiger aber ist einem ganzen Volk, einem andern Volk zu gehorchen. Nachahmen gehört entweder zum Lernen oder zur Knechtschaft. Der Schüler ist allezeit unterm Lehrmeister, der Erfinder hat die Ehre vorm Nachmacher; Erfindung macht Naturherrn, Nachahmung Naturknechte.
»Wenn ein ganz Haus mit allen Hausgenossen, Alt und Jung, sich gegen seinen Nachbar so anstellte: der Mann ahmte dem Nachbar, die Frau der Nachbarin, Töchter, Söhne, Knechte, Mägde ahmten den Töchtern, Söhnen, Knechten, Mägden des Nachbars nach, würde nicht die ganze Stadt sagen: »Das Haus ist voll Narren; die drin wohnen, sind alle unsinnig«? Und trieben sie die HasereiAlbernheit, wofür man auch »Haselei« braucht. – D. nur aus Unbedachtsamkeit, würden nicht alle Kinder auf der Gasse von diesen tollen Klugen als Nichtswürdigen zu reden wissen? Was würde man aber sprechen, wenn diese Nachahmer den Ersten noch Geld dazu geben, daß sie derselben Narren sein dürften? Von einem ganzen Lande nun ist es noch niedriger.«
In dem Ton sprach Realis de Vienna weiter. Er zeigte, daß die Nachahmung, zumal der Franzosen, den Deutschen schädlich und verderblich sei; durch sie versaure und verroste der Verstand; man versuche nichts und verzage an eignen Kräften. Mit Nachahmung seien die wälsch-französischen Laster zu uns gekommen. Wir hätten das Nachahmen nicht nöthig; ja, man müßte den Deutschen auch in nützlichen Dingen die Aefferei nicht zulassen, weil keine Grenze bestimmt werden könne, was, wie viel, wie weit nachzuäffen sei. Der Deutsche sei beim Nachahmen ungeschickt u. s. w. Was dünkt Ihnen zu diesem Autor?
Realis de Vienna ist keine erdichtete Person. Er lebte zu Anfange unsers Jahrhunderts, da die Cultur der höheren Wissenschaften durch Leibniz auch in Deutschland neuen Platz gewann; zugleich aber hatte sie damals mit dem elendesten Pedantismus der Hof- und Schulhasen, wie Realis sie nennt, zu streiten. An Höfen blühte eine französische Galanterie, von der wir uns kaum noch einen Begriff machen können; einige Schulpedanten wollten den Hofgecken nachahmen; so entstand die Talandrische, die Menantische, die Weisische Schreibart. Der verdienstreiche Christian Thomasius selbst konnte sich diesem sinkenden Boden nicht entziehen und ward in Manchem ein Hofphilosoph, allerdings nicht im besten Geschmack. Die Literargeschichte, die damals auch im Gange war, hinkte dem allgemeinen Geschmack nach, schmeichelte den Ausländern; der Schall von Ludwig XIV. hatte die Welt erfüllt, und in den deutschen Glocken sauste er in massiverem Ton um so länger nach.
Da erkühnte sich nun dieser Realis de Vienna, den Hof- und Schulfüchsen deutscher Nation entgegenzusprechen, und schrieb eine »Prüfung des europäischen Verstandes durch die weltweise Geschichte«. Er schrieb sie; ich zweifle, daß sie je gedruckt worden. Das Manuscript muß sonderbare Schicksale gehabt haben; denn in der vorliegenden Schrift: »Nachricht von Realis' de Vienna Prüfung« werden sonderbare Umstände lautbar. Die Handschrift, so sagt der Verfasser, sei einundzwanzig Jahre umhergegangen, seitdem sie Professor Adam Rechenberg in Leipzig, Christian Thomasens Schwager, dem Buchführer im Jahr 1693 entführt. Dieser habe sie unter seinen Bekannten herumgeschickt. Andre auch von dieser Sache zu schreiben angereizt, endlich sie Reimmannen übergeben, der den Kern seiner Literaturgeschichte DeutschlandesJ. Fr. Reimmann's »Versuch einer Einleitung in die historiam litterariam der Teutschen«. Halle 1709–1713. – D. ganz, aber äußerst kraftlos und unvollständig aus diesem Werk genommen und nur die elenden kindischen Schalen dazugethan habe u. s. w. Auch Kasimir's »Kanonik«, glaubt er, sei aus seiner sogenannten »Vernunfterstattung« gezogen u. s. w.
So anmaßend dies Alles klingt, um so mehr verdiente das Werk und die Behauptung des Verfassers Aufmerksamkeit und Prüfung. Was er über Reimmann's Geschichte, über Thomasius' »Hofphilosophie«, über den Streit zwischen Leibniz und Newton, über den Ursprung der Journale, die Sprachenmischerei, über die Nachahmungssucht und Demuth der Deutschen gesagt hat, ist jetzt unser Aller Urtheil. Die Zeit hat darüber entschieden, und dieser unbekannte Gabriel WagnerDies war Realis' wahrer Name. In Jöcher's Lexikon findet man ihn; die Anzeige der Unternehmungen des Mannes aber ist kaum berührt. – H. [Thomasius hatte sich gegen seine Angriffe vertheidigt. Eine besondere Schrift gegen ihn war unter dem Namen eines Jucundus de laboridus (1708–1710) erschienen. – D.], ein Magister der Philosophie aus Quedlinburg, der viele Universitäten besucht hatte und in seinem Leben zu nichts kommen konnte, ist in mehreren Urtheilen seiner Zeit so mächtig vorgeschritten, daß man es bewundert, wie sehr die Stimme der Wahrheit oft aufgehalten werden könne, und wie langsam die Zeit schleiche. Seine »Prüfung des europäischen Verstandes«, der Beschreibung nach ein ausführliches Werk, muß seinem Inhalt nach um so merkwürdiger sein, da er nicht etwa nur die Hof- und Schulfüchsereien verachtet, sondern auch den reellen Wissenschaften, der Mathematik, Philosophie, den höheren und nützlichen Erfindungen der Völker seine Aufmerksamkeit geschenkt zu haben scheint. Wenn also seine unterdrückte Handschrift sich irgendwo noch auffände – und ich zweifle daran um so weniger, da sie durch viele Hände gegangen ist und wahrscheinlich mehrere Abschriften veranlaßt hat –, so wäre, mit Auslassung Alles dessen, was für uns nicht mehr dient, eine geläuterte Bekanntmachung derselben zu wünschen. In der Nachricht, die vor mir liegt, wurde das Werk bei Frobösen in Greifswalde liegend angezeigt und Jedermann aufgefordert, es mit Verlag oder andrer Hilfe zu befördern; die damaligen Lichter Deutschlands mochten dieser Beförderung nicht hold sein, und so blieb es begraben. Mir wäre es kein unangenehmes Postpacket, wenn mir eine Fee dies irgendwo gewiß todt liegende Manuscript oder eine Nachricht davon zuschickte.
Denn außer dieser »Prüfung des europäischen Verstandes« gedenkt der Verf. noch einer andern Schrift: »Geheimstube oder Velledenblätter«, 1692 in vier Büchern entworfen, deren Inhalt in Manchem sonderbar genug ist.
I. Die Vernunfterstattung, die Europäer von der Viehheit, Quackerei und Aberglauben wieder zur Menschheit zu bringen und ihnen die fünf Sinne zu erstatten. Statt der Capitel zeichne ich blos einige Grundsätze aus.
1. Es giebt Gewißheit; der Mensch kann viel Wahrheit wissen.
2. Alle Gewißheit und Klarheit kommt aus rein mathematischem Grunde.
3. Zur Wahrheitforschung braucht's keiner ersten allgemeinen Wahrheitquelle, keines principii primi.
4. Wahrheit ist heilsamer als Erdichtungen. Diese Aufgabe (sagt Wagner) mit ihren Beifügungen zieht ungewöhnliche neue Sätze nach sich und ist der Grund fast einer neuen Weltweisheit, die den Descartes, Hobbes, Spinoza, Pufendorf, Leibniz verbessert.
5. Aus Wahrheit folgt nimmer Unwahrheit, aus dieser nimmer Wahrheit.
6. Alle Unwahrheit kann widerlegt werden, sie sei so subtil sie wolle.
7. Der Wahrheit Thür, Ursprung und Boten sind die Sinne.
8. Es ist nur eine Vernunft.
9. Vernunft irrt nimmer. Klugheit und Wahrheitfindung entspringen beide aus der Natur Gütigkeit und Uebung, nicht aus Lehrsätzen und Unterricht. Diese sind ein äußerlich geringer Vortheil und Erleichterung dazu, geben aber weder Wahrheit noch Verstand. Wenn man sie für unentbehrlich ausgiebt, sind sie der Schulfüchserei Merkmal.
10. Der Mensch ist nicht vernünftig, doch nicht ohne Vernunft.
11. Des Menschen Vorzug vorm Vieh ist allein die Vernunftdämmerung.
12. Der Wille beherrscht den Menschen in Allem, die Vernunftdämmerung in nichts.
13. Sinne verführen; Aufrichtigkeit und Vernunftdämmerung sind die innern Mittel zur Wahrheit.
14. Die Natur ist nicht verderbt, nicht Gottes Feindin; sie ist Gottes Buch, der Vernunftschein Gottes Licht; nach ihnen muß man Alles erklären.
15. Aberglaube ist kein Mittel zur Wahrheit.
16. Naturkünste machen aufrichtig, Schulkünste stolz und grausam.
17. Man soll Alles so viel möglich nach der Natur erklären.
18. Lust zu Natursachen ist ein Merkmal der Großmüthigkeit.
19. Stolz und Dummheit sind aller Laster und alles Unglücks Ursach.
20. Weisheit besteht nicht in Eigennutz; ihr Ziel ist eigentlich allein Wahrheit. Ob aber Aufrichtigkeit allein mit Wahrheit ohne Nutz zufrieden sein soll, und ob Wahrheit ohne allen Nutz sein könne, sei eine andre Frage.
21. Alle Weisheit beruht auf vier Wissenschaften; alles Andre, was zu selbigen nicht gehört, gehört zur Schulfüchserei.
22. Die deutschen Handkünste zeigen Verstand, die ausländischen Fleiß, Geduld, Geiz und Stolz.
23. Ein Unchrist ist kein Ungötter (Atheist).
24. Viele Leute, insonderheit die Gelehrten, merken ihre eigne Bosheit nicht, viel weniger ihre Dummheit.
25. Einer sieht oft mehr als alle Schulen und das ganze Land.
26. Lehre artet den Verstand; den Willen greift sie nicht an.
27. Lehren ist nöthig, auch beim stoischen Glauben.
28. Der mathematische Lehrweg ist nicht der beste; der werkkünstige Lehrweg allein findet die Wahrheit.
29. Sittenlehrige Absichten verderben die Naturkundigung.
30. Die Reisen in barbarische Länder sind nützlicher als in die Hasenländer zu den freundlichen Mördervölkern.
II. Der Naturglaube.
III. Der Schulen Papstthum.
IV. Umbildung der Staatskunst, nach folgenden Grundsätzen:
1. Gegen Natur- und Staatskünste sind alle andre Künste Kinderpossen; die Naturkundigung ist aller andern Künste Meer und Kaiserin.
2. Aeußerliches oder Hofsittenwerk ist Wahnwerk, ein frei willkürlich Werk; was man für schön und häßlich setzt, ist schön und häßlich.
3. Das Märchen von der Ausländer Klugheit und Deutschen Dummheit ist allein aus der Deutschen Geduld und der Ausländer Prahlerei entstanden.
4. Man kann fast sagen, daß weder Liebe, Geld noch Stolz so stark sei als der Deutschen Geduld und Demuth. Der Gemüthsunadel löscht in uns die Menschheit, die allgemeine Empfindniß, Selbstliebe und Selbsterhaltung ganz aus.
5. Angenommene Großmüthigkeit würde das ganze Märchen in zehn Jahren umkehren.
6. Verstandesehre geht über alle Ehre, ist aller andern Ehre Grund, also nicht in den Wind zu schlagen.
7. Eines Volks Ehre hängt großentheils an seiner Muttersprache; diese ist der Landesehre Fuhrwerk. Ueber sie muß man schärfer halten, über ihre Reinigkeit mehr eifern als über der zartesten Liebsten Ehre.
8. Mit Landsleuten muß man's, als mit Verwandten seines Geschlechts, nicht genau nehmen, gegen Ausländer Alles hoch spannen u. s. w.
Ein Wort noch von der Deutschen grandezza, vor welcher der Gegner unsers Realis seine Landsleute warnen wollte. Realis sagt dagegen:
»Die Deutschen, die gutherzigen Zigeuner, die armen Affen, die ewigen Schüler, von der grandezza wollen abhalten, ist ärger, als die Schafe vom Grimm, die Pferde vom Fleischfressen abmahnen. Mahne die Spanier von der grandezza, die Italier von der Herrschsucht, die Franzosen von der Prahlerei ab; mit den Deutschen darfst Du Dich nicht bemühen. Der Mangel nöthiger grandezzaoder Ehrliebe ist eben die vornehmste Ursach des übeln deutschen Namens. In Deutschland wohnt aller Verstand außer Schulen, bei den Ausländern zuweilen in Schulen. Bei diesen sind oft die Gelehrten die Klügsten; in Deutschland ist's umgekehrt. Das Volk ist sinnreich, fast allein, obwol nicht allezeit; die Vornehmen sind schulfüchsisch, prangen mit statu quo und sind selten klug.«
Ich lege das Buch bei und bitte, daß Sie die Jahrzahl nicht unbemerkt lassen. Es ist 1715 gedruckt; mich wundert, daß, da die Schriften, die es ankündigt, zwanzig Jahre vorher geschrieben waren, Leibniz unsers sonderbaren Autors nirgend erwähnt.
Verzeihen Sie, daß ich Ihren Realis de Vienna nicht auf einen so tragischen Fuß nehme, als er in den Bedrängnissen seines mühseligen Lebens den Ton anstimmte. Sollten wir umsonst ein Jahrhundert später leben, in welchem sich Manches entwickelt hat, das er nicht wissen konnte?
Man sagt gewissen Landsleuten nach, daß, ehe sie ihre Landsmannschaft nennen, sie ein Entschuldigungscompliment vorbringen, daß sie Die seien, die sie sind. Unser Autor wird das für niederträchtig halten; wenn es indeß gegen stolze Nationalverwandte gesagt würde, so möchte hinter dieser Demuth ein Spott liegen, dem ich fast beiträte. Unter allen Stolzen halte ich den Nationalstolzen sowie den Geburts- und Adelstolzen für den größten Narren.
Was ist Nation? Ein großer, ungejäteter Garte voll Kraut und Unkraut. Wer wollte sich dieses Sammelplatzes von Thorheiten und Fehlern sowie von Vortrefflichkeiten und Tugenden ohne Unterscheidung annehmen, und wenn es eine bloße Meinung von Seelenkräften oder Verdiensten gilt, für diese Dulcinea gegen andre Nationen den Speer brechen? Laßt uns, so viel wir können, zur Ehre der Nation beitragen; auch vertheidigen sollen wir sie, wo man ihr Unrecht thut, in welchem Falle damals unser Verfasser war; sie aber ex professo preisen, das halte ich für einen Selbstruhm ohne Wirkung.
Wir Deutschen wollten uns mit den Griechen vergleichen? Und welches wäre der genau bestimmte, der unverfälschbare Maaßstab? Und wer wäre der unparteiische Richter?
So auch mit andern Nationen. Die Natur hat ihre Gaben verschieden ausgetheilt; auf unterschiedlichen Stämmen, nach Klima und Pflege, wachsen verschiedne Früchte. Wer vergliche diese unter einander? oder erkennte einem Holzapfel vor der Traube den Preis zu?
Vielmehr wollen wir uns wie der Sultan Soliman freuen, daß auf der bunten Wiese des Erdbodens es so mancherlei Blumen und Völker giebt, daß diesseit und jenseit der Alpen so verschiedene Blüthen blühn, so mancherlei Früchte reifen! Wir wollen uns freuen, daß die große Mutter der Dinge, die Zeit, jetzt diese, jetzt andre Gaben aus ihrem Füllhorn wirft und allmählig die Menschheit von allen Seiten bearbeitet. Denn es scheint sowol geistige als physische Notwendigkeit zu sein, daß aus der Menschennatur mit der immer veränderten Zeitfolge Alles hervorgelockt werde, was sich aus ihr hervorlocken läßt. Mithin müssen mit der Zeit Contranetäten ans Licht kommen, die sich endlich doch auch in Harmonie auflösen.
Offenbar ist's die Anlage der Natur, daß, wie ein Mensch, so auch ein Geschlecht, also auch ein Volk von und mit dem andern lerne, unaufhörlich lerne, bis alle endlich die schwere Lection gefaßt haben: »kein Volk sei ein von Gott einzig auserwähltes Volk der Erde; die Wahrheit müsse von allen gesucht, der Garte des gemeinen Bestens von allen gebaut werden; am großen Schleier der Minerva sollen alle Völker, jedes auf seiner Stelle, ohne Beeinträchtigung, ohne stolze Zwietracht wirken.«
Den Deutschen ist's also keine Schande, daß sie von andern Nationen, alten und neuen, lernen. Das alte Vernunfttestament, wie der Autor die Weisheit der Griechen nennt, ist gewiß nicht verjährt, noch durch die Weisheit der Neuern unkräftig gemacht worden.
So darf sich auch kein Volk Europa's vom andern abschließen und thöricht sagen: . . .Bei mir allein, bei mir wohnt alle Weisheit.« Der menschliche Verstand ist wie die große Weltseele: sie erfüllt alle Gefäße, die sie aufzunehmen vermögen; belebend, ja selbst neu organisirend dringt sie aus allen in alle Körper.
Hätte Realis nöthig gehabt, den Deutschen so oft unzeitige Geduld, ja Niederträchtigkeit Schuld zu geben, wenn die Großmuth, die er zu ihrem Vorzuge machen will, ihr eigenster Charakter wäre? Kann Jahrhunderte lang ein Volk seinen Charakter dergestalt verkennen, daß es beinah immer im entgegengesetzten handelt? Laßt uns nicht sagen: »Hindernisse haben ihn unterdrückt!« Im weiten Inbegriff der Zeit kennt ein Volk keine unübersteigliche Hindernisse; es muß zu dem gelangen, was es sein soll.
Käme das Manuscript, wovon wir reden, in unsre Hand, so würde es dadurch am Meisten belehrend, was wir nach Ablauf eines Jahrhunderts in ihm ausstreichen oder hinzusetzen müßten. Wir würden sehen, wohin sein Verfasser den Kranz für Deutschland gesteckt, und wiefern es während dessen diesen oder einen bessern erreicht habe.
Das gefällt mir an unserm Autor, daß er, wenn auch mit Uebertreibung, die Schulwissenschaften von den Lebenswissenschaften, die Naturkünste von Wortkünsten, den tüchtigen Verstand in Wirklichkeiten vom bloßen Façonniren der Begriffe absondert. Wäre dieser Gesichtspunkt in seinem Werk scharf genommen und festgehalten, so hätten wir in ihm Materialien zu einer Geschichte des praktischen deutschen Verstandes, wie wir sie im ganzen verflossenen Jahrhunderte nur hie und da theilweise erhalten haben.Die Materie ist hiemit nicht geendet; sie hat noch einige Briefe erhalten, die späterhin werden mitgetheilt werden. – H. [Dies ist nicht geschehen. – D.]
Während Sie, mein Freund, um den Ruhm der Nationen wetteiferten, war ich in der Versammlung der blühendsten Völker der Erde. Alle standen friedlich neben einander, jedes Geschlecht, jede Art, jede Gattung in ihrem eignen Reiz und Charakter. Keine neidete, verfolgte die andre; unter dem blauen Bogen des weiten Himmels genossen alle das goldene Licht der Sonne, die Balsamkräfte der erquickenden Luft, des Thaues und Regens. Als ich mit süßem Staunen sie ansah, sang eine Stimme:
»Flora, Dich feiert mein Hymnus, Dich Schönste, doch seltner als Deine
Schwestern, des hohen Olymp's Bewohnerinnen, gesungen!
Jauchzend gebar Dich die Erde dem alten chaotischen Winter,
Dich, Du Erstling und Stolz und Wonne der fühlenden Schöpfung!
Selig priesen sich damals in Deiner Götterumarmung
Jupiter Pluvius und Hyperion's heilige Stärke.
Ihnen gebarst Du Proserpinens Mutter und später Pomona,
Beide zwar schön, doch schöner als Beide die blühende Mutter.«
Und eine andre Stimme antwortete:
»Flora, Du kleidest die Erde mit hellem smaragdnen Gewande,
Schön durchwebet und bunt mit Farben des himmlischen Bogens.
Prächtig glänzt in der Nacht der Sterne funkelnder Gurt hin,
Welcher den blauen Talar des alten Cölus umwallet;
Aber noch reizender geht am offenen Tage die Tellus,
Von Dir, Flora, geschürzt mit leichtem Blumengehänge.« – –
Und es war, als, versammelten sich die Genien der verschiedenen Erdezonen. Eine Stimme sprach:
»Zahllos ist die Menge der blumentragenden Pflanzen,
Die am säugenden Busen der allernährenden Mutter
Mit der oberen Fläche der vielfach gebildeten Blätter
Trinken der Sonne Licht, den nächtlichen Thau mit der untern.
Von den beschneiten Gebirgen der nordischen langen Polarnacht
Bis zur erdumgürtenden Zone des heißen Aequators
Ist kein Raum so gering im weiten Gefilde der Schöpfung,
Keine der Alpen so steil und keine der Steppen so sandig,
Daß sie nicht nähre Geschlechter der Pflanzen, der Lage geeignet.
Pflanzen überweben das Bett der Quellen und Ströme,
Andre nähret der Rhein und andre der Orellana,
Selbst in den finstern Tiefen des erdumgürtenden Weltmeers,
Wo kein Orkan sie empört, wohin kein Senkblei hinabfiel,
Scherzen in weiten Fluren, umwallt von ragenden Hainen
Seltsam gebildeter Pflanzen, die Heerden der Amphitrite.«
Eins Schwesterstimme nahm das Wort auf:
»Sterbliche haben gewähnt zu zählen die Kinder der Flora,
Ihre Geschlechter zu ordnen und ihre Namen zu nennen;
Zwar, wer hat sie besucht, der Ostwelt grünende Wüsten?
Wer die Quellen des Ganges und siebenarmigen Nilus?
Wer die geheimeren Fluren der Oceaniden des Aufgangs?
Ihre Gestade beschiffeten Wuchrer, der forschende Weise
Seltner. Und wer sah sie, die Kränze der Nereïden,
Wenn sie die grünlichen Locken umwinden im Schooße des Weltmeers?
Wer hat je die Flechten, wer hat die Moose gezählet,
Deren Frühling beginnt, wenn Fröste den Herbst entblättern,
Deren üppiger Wuchs die Scheitel ätherischer Alpen
Da, wo sie Flora verläßt, mit tausend Farben bekleidet?« – –
Hier unterbrach eine sichtbare Scene die Unsichtbaren. Ein Jüngling trat aus der Laube hervor und umwand das Haupt seines Lehrers mit einem Kranz von Blumen, die alle ihm geweiht waren und in der Geschichte der Pflanzen seinen unsterblichen Namen tragen. Er begleitete sie mit Worten der innigsten Herzensverehrung in den erlesensten Bildern und zog sich bescheiden zurück.
Und von Neuem erwachten Gesänge von der Vermählung und der nach Jahrszeiten geordneten Entwicklung der Blumen. Menschenfreundliche Genien sangen also:
»Flora, wo Deine Hand mit Hymenäischem Bande
Nicht im Lenz vermählte der Tellus zahllose Kinder,
Trauert umher die Natur in nahrungentbehrender Oede.
Wein- und gesanglos schleicht Autumnus, es darbet Pomona,
Nichtiges Stroh entfaltet der Fackel des Sirius Ceres,
Traurig stehet der Hain, der chaonischen Eicheln entbehrend;
Denn es ergrauete schon im April die Hoffnung des Jahres. – –
Glücklich ist der Hirte, der durch gesicherte Habe,
Der, durch leitende Weisheit und Güte des Staates veredelt,
Lernte der Emsigkeit Werth und zukunftahnende Vorsicht.
Ihn ergreifen mit eisernem Arm des darbenden Jahres
Schrecken nimmer; es spendet ihm nicht wie dem übrigen Zugvieh
Schlechte, kärgliche Kost der unfreigebige Frohnherr.
Ihn treibt nicht der Hunger aus thränenloser Despoten
Ländchen, aus Deutschland hin zu des fernen Astrachan's Oeden.
Siehe, der reiche Gewinn von tiefer geackerten eignen
Saaten und üppiger Wiesen sich stets erneuernder Kleewuchs
Blieb ihm von besseren Jahren. Er theilt den Ueberfluß willig
Mit dem hilflosen Volk angrenzender Sclavenländer;
Aber die Treue des Jahrs und der wiederkehrenden Monden
Milder Geschenk ersetzet ihm bald den vergessenen Mißwachs.«
Eben als ich noch wünschte, daß die Unsichtbaren diese Worte in aller Frohnherren Herz singen möchten, weckte mich ein sanfterer Laut. Er sang die allmählig anbrechende Zeit des Blumenfrühlings.
»Sieh, im wärmeren Strahle der rückwärts kehrenden Sonne –
Freut sich die Blumengöttin bei ihrer Kinder Entwicklung,
Oeffnet die Kelche der Blüthen und schmückt die bräutliche Tellus.
Zwar es entfalten früher die Schattengewächse der Haine,
Eh sie das Laub bedunkelt mit seiner kühlen Umwölbung,
Ihre zarteren Blumen dem ersten Strahle des Lenzes.
Blaue Hepatika, Dich und das herzerfreuende Veilchen,
Euch erziehn die Dryaden zu ihren frühesten Kränzen.
Sie durchweben ihr Blau mit dem Golde des Frühlings-Krokus
Und mit den Silbersternen der Anemone der Haine;
Früher blüht der Helleborus, früh die duftende Daphne
Und der Aurikeln Geschlecht, verpflanzte Töchter der Alpen.
Aber die späteren Blumen verschließen die duftenden Glocken
Noch dem nächtlichen Froste, dem Störer ihrer Befruchtung.
Wärmere Lüft' umathmen den üppiger schwellenden Frühling.
Wenn, von den Horen umtanzt, der Wagen des Sonnengottes
Steileren Pfades rollt an dem hohen Bogen des Aethers;
Wenn in dem jungen Laube die Vögel sich alle begatten;
Wenn in den lauen Bächen sich paarend verfolgen die Fische,
Oeffnen die Blumen sich auch der allebefruchtenden Liebe.
Bräutlich pranget im weiß- und röthlichen Kleide der Obstbaum;
Wärmende Augenblicke, sanft wechselnde Regenschauer
Ueberweben mit tieferem Grün, mit dichteren Blumen
Sonnigte Gipfel und duftende Wiesen, in welchen sich zahllos
Wankende Blumen mit Blumen, mit Gräsern Gräser vermählen.
Hymen herrschet im Hain; es neigen sich liebesehnend
Weibliche Blüthenzweige zu männlich befruchtenden Aesten.
Siehe, der Tannenwald raucht! Es öffnet die feuchte Nymphäa
Ueber den Wellen den Schooß der zeugungfördernden Sonne.
Feuerfarbener Mohn und blüthenbestäubter Weizen
Taumeln unter einander, verwebt mit blauen Cyanen.
Honig suchende Bienen und laue Lüfte befördern
Ihren geheimeren Bund; doch keine der Arten verwirrt sich.« –
Liebetrunken schlug die Nachtigall einzelne Töne in diese Beschreibung. Und sie fuhr fort, als eine andre Stimme die Vermählung der Blumen von denen Geschlechtern besang,
»bei denen dieselbe Corolle
In dem ambrosischen Bette voll Honigs und stärkender Düfte
Mit den befruchtenden Männern die weibliche Zeugungskraft einschloß,« – –
bis zu jenen getrennten Geschlechtern, wo oft
»Kaum erreichbar ist der Liebesbund der Getrennten.
Also entfaltet umsonst die weibliche, unvermählte
Palme die Blüthentrauben in schattenentbehrender Wüste.
Aber der Araber holte, der schmachtenden Braut sich erbarmend,
Oft aus fernen Hainen befruchtende Palmenblumen.
Oefter bringt ein behaartes Insect und auf goldgefleckten
Federn ein Kolibri, gebadet im Blumenstaube,
Die befruchtende Kraft des meilenentfernten Gatten.«
Ernster wurden jetzo die Töne; liebreich warnend und tröstend sangen die Genien von schädlichen und heilenden Kräutern:
»Weise hast Du, Natur, der Pflanzen Erzeugung geordnet,
Gütig und weise die Kräfte der erdeverschönernden Pflanzen.
Nicht der Schüler allein der rettenden Göttin Hygea
Kennt sie, die heilenden Kräfte der aromatischen Staude,
Fern am Ganges geholt und vom Haupte der Cordilleras,
Oft verkannt an Ufern der vaterländischen Bäche;
Sichrer weiß der Wilde die schmerzenlindernde Wurzel
Und den geheimeren Stand der fieberheilenden Rinde.
Aber er kennet sie auch, die tödtenden Gifte der Pflanzen,
Kennt der Euphorbien Kraft und der giftigen Mancinella,
Die den geflügelten Pfeil mit dem schnellsten Tode bewaffnet. –
Friedlicher Hütten Bewohner! Die ländlichen Gärten umblühn auch
Tödtende Kräuter zuweilen, vermischt mit nährenden Pflanzen.
Zwar es meidet das Vieh den Schierling, des Equisetum
Und der Cicuta Berührung; es meidet die Wiesenranunkel,
Durch den eignen Instinct vorm herben Tode gesichert.
Aber zu oft verkannte der harmlos spielende Knabe,
Falbes Stramonium, Dich und die Beere der Belladonna,
Der früh blühenden Daphne, der rankenden Dulcamara.
Tödtet sorgsam, Ihr Hirten, die Pflanzen! des blauen Napellus
Stauden, tödtet sie auch und der vielarmigen Wolfsmilch!« –
Ebenso menschenfreundlich nannte die Stimme die bekanntesten heilenden Kräuter:
»Heilend ist der Hollunder an Früchten. Blüthen und Rinde,
Sanft auflösend der Mohn und die rosenfarbnen Althäen.
Blaue Veronica, Dich und die Kerze des hohen Verbascum,
Des Taraxakon Gold, der wuchernden Graswurzel Aufguß,
Herber Cichorien Saft und des Löffelkrauts bittere Blätter,
Eure lindernden Kräfte verkennt der weisere Arzt nicht,
Sorgsam wählend; es sind des Bescheidneren Heilungsmittel,
Einfach wie die Natur, und Deutschlands Himmel erzeugt sie.« –
Der Inhalt dieser Gesänge dünkt mir so schön, daß ich Sie nicht zu ermüden fürchte, wenn ich Sie noch einmal davon unterhalte. Auf Wiesen und Auen, in Gärten und Feldern blüht der Menschen Gesundheit, Nahrung und Glück; da erholt, da erquickt sich die Seele. Ihr Realis hat Recht: »Lust zu Natursachen ist ein Merkmal der Großmüthigkeit. Naturkünste machen aufrichtig, Schulkünste stolz und grausam.«
Von den heilenden Kräutern Deutschlands wandte sich der Genius des Menschengeschlechts zu Pflanzen, die die Natur jeder Zone, ihr angemessen, schenkte. Sie gab
»des Betels Gewächs den Völkern am Indus,
Und die Rhabarber dem Tartar der kalten tungusischen Steppe,
Gab die Ginsengwurzel dem feuchten sinesischen Reisland,
Ließ die Dolde der Squilla kanonischen Sümpfen entblühen
Und in Balsamthränen zerfließen die Staude der Myrrha;
Schenkte dem armen Bewohner des reichen Potosi die Coca,
Ihm des Guajak's Gummi, den fieberheilenden Baum ihm,
Und den siculischen Hirten die Perlentropfen der Manna.«
Der Genius schien eine Biene zu werden, die um ihre süßesten Blumen umherfliegt.
»Aromatischen Balsam entathmen die Pflanzen der Hügel.
Duftende Kalamintha, der blaue Salbei und der Thymus
Und die Melisse sind Bienen auf sonnigten Bergen ein Labsal,
Wo sich der Rosmarin vermählt mit hohem Lavendel;
Jenen Blüthen entwenden sie narbonensischen Honig
Und den fernher athmenden Nektar Hymettus' und Hybla's.«
Aus der Laube erscholl die Stimme:
»Aber wer kennt sie alle, die Kräfte der heilsamen Pflanzen,
Oft vergessene Kunde der sorgsam forschenden Vorzeit,
Oder nach Säclen Erfindung der DioskoridenDer Aerzte, nach dem berühmten griechischen Arzte Dioskorides. – D. der Nachwelt?«
Und der Genius antwortete:
»Wenn, von alten Systemen entfesselt, bescheidner der Forscher
Einst von Hirten auch lernt und ergrauenden Alpenbewohnern,
Auch den Bergmann verschmähet er nicht und des Gemsenjägers
Nicht stets fabelnde Kunst und angeerbtes Geheimniß:
Siehe, dann werden Contoure der Anmuth mit Farbenverschwendung
Blumenfreunde nicht fesseln allein, der Genzianella
Tiefgesättigtes Blau, der Lobelia flammende Röthe,
Noch der Purpur und Safran der strahlenden Poinciana,
Nicht der Aurikel Sammt und die Strahlen der Ringelblume,
Wenn sie die goldenen Augen dem thauenden Morgenroth aufschleußt,
Fesseln allein nicht mehr der Flora sammelnden Günstling:
Thätige Weisheit umstrahlt des menschenfreundlichen Forschers
Wärmere Seele, zu nützen mit Muth dem Menschengeschlechte.«
Jetzt erhob sich Linneus' Urberg der Schöpfung vor mir, auf welchem vom Gipfel an bis zur niedrigsten Tiefe alle Gewächse blühen, deren Fruchtstaub seitdem über die ganze Erde verweht ist:
»Reich seid Ihr an Pflanzen von mannichfaltigen Kräften,
Quellentrunkene Thäler und sonnige Hügel der Alpen.
Neben dem Akonit entfalten die Genzianen,
Töchter desselben Hügels, die heilenden Safranglocken.
Siehe! den Teneriff' und den Flammengipfel des Aetna,
Kaukasus' Felsenhaupt, Dich, höheren Chimborasso,
Decket ewiges Eis, seit Euch die Fluthen umstürmten.
Euer beschneiete Scheitel, dem hundert Quellen entstürzen,
Der das hohe Gewölbe des Himmels zu tragen uns scheinet,
Kleidet sich über den Wolken in reine ätherische Bläue.
Flora's Reich beginnet am Rande des ewigen Schneereichs;
Grönlands kurzen Sommern entblühn grönländische Pflanzen.
Malaga's Reben umranken den Fuß der Gebirge; die Höhen
Decket der Saxifragen, der Diapensia Mooswuchs.
Kurz ist die Lebensdauer der weißen Pygmäengeschlechter,
Welche das Rennthiermoos umkreucht und die Alpenbirke.
Tiefer vermählet der kleine Myrtill und des Rhododendron
Purpurdolde sich mit dem erdwärts kriechenden Krummholz;
Ihre Schatten verbergen die Alpenmaus und das Schneehuhn.
Tiefer erhebet der Taxus sein Haupt und der dunkle Wachholder
Früher als diese die Birke, der Larix, entblättert im Winter.
Ihren Füßen entsteigt, gedeckt von ihrer Umschattung,
Ein unzähliges Heer balsamischer Pflanzen der Alpen. –
Heerden irren hier in schwelgendem Ueberflusse
Um die genügsame Sommerhütte der Freigebornen.
Phöbus' Strahl entbindet aus tausend würzigen Pflanzen
Reinere Lebenslust und rosenfarbne Gesundheit. – –
Kühlende Lüft' umwehn Euch, Söhne heiliger Alpen,
Würziger Pflanzen Duft umsäuselt Euch in der Kühlung;
Aber betäubender ist der Duft von Auranzienhainen,
Welchen der Wind ins Meer entführt von Portugal's Küsten
Oder von Rosengebüschen des zweimal blühenden Pästum;
Selbst bemoosten Felsen entsteigen dort Veilchengerüche.
»Lieblicher seid Ihr noch, Ihr Blüthen heißerer Zonen,
Tausendfarbige Töchter der senkrecht stehenden Sonne,
Deren Hauch mit Balsam die schwüleren Lüfte beschwängert.
Dichter sangen nur Rosen, nur Gärten der Hesperiden;
Niemand feierte noch die tropischen Blüthen des Aufgangs.
Wer sang Dich, o Nyktanthes, die Zierde der Gangesgestade,
Wer, Gardenia, Dich, die Königin der Gewächse,
Und ambrosischer duftend als beide, den Oelbaum aus China?
Wer der Bromelia»Bromelia ananas«. [Anmerkung des Dichters. – D.] Gold, und die Früchte der Mangustana?
Staunend verweilt die Muse beim Stamm der keuschen Mimosa,
Reizbar wie die Thiere, des Pflanzenreiches die Feinste. –
Und wer sang von Euch, Ihr amboinischen Haine,
Welche der Golddurst mehr als des Weltmeers stürmende Brandung
Rings umher verschleußt dem harmlosen Freunde der Flora?»Die Holländer entfernen alle Fremden von ihren Gewürzinseln.« [Anm. des Dichters. – D.]
Mitten in brennendem Sand erhebt sich Euer Gewölbe,
Neben der höchsten Gluth der Sonne die nächtlichste Kühlung.
Nicht der Muscatbaum nur und die aromatische Nelke,
Auch des Brodbaums Stamm und die Riesenhöhe des Kokos
Trotzen der Wuth der Orkane, verwebt mit schlanken Lianen;
Fei'rliches Dunkel umhüllt die romantischen Zauberhaine;
Keine Blumen entsprossen dem Schooße der nächtlichen Dämmrung;
Aber seidener Mooswuchs und buntgemarmelte Schwämme
Decken den Armadill und die vielgeringelte Schlange.
Statt der Nachtigall Lied erschallet der Papageien
Und der Affen Geschrei aus ferner Gipfel Umwölbung.«
Lauter konnte der Gesang nicht werden. Ich befand mich auf Amboina mitten im Paradiese der Flora, im Dufte der Blumen, im Lustgeschrei der Affen und Papageien. Da sang aus der Laube die mildere Stimme:
»Laß mich, holde Natur, den Sohn der kälteren Zone,
Deiner Wunder mich immer erfreun im Reiche der Flora,
Zwiefach ihrer mich freun aus schönen pannonischen Fluren!
Denn schon sind sie, die Ufer, an welchen sich Vindobona
Spiegelt in dem Silber des mächtigen Kaiserstromes.« –
Und eine andre Stimme:
»Aber dann erheben sie sich zum reizenden Urbild,
Wenn, von der feinsten Empfindung und von des reinsten Geschmackes
Sicherer Hand geleitet, ein Lascy oder Cobenzel
Gärten wie Oberon schafft und Paradiese wie Milton:
Gruppen, wie hingezaubert, von Grotten und Wasserfällen,
Ueberwölbende Schatten und duftende Labyrinthe
Seltsam gebildeter Bäum' und Blüthen wärmerer Zonen,
Scheinbare Disharmonie, die sich löst in den süßesten Wohllaut,
Wo in ihren höchsten Triumphen unsichtbar die Kunst wird.« – –
Stimmen besangen Kaunitz', Loudon's»Loudon's Garten in Hadersdorf.« [Anmerkung des Dichters. – D.] Gärten, und eine holdere Stimme:
»Edle Kinsky, Du sammelst in Gärten,»Die exotischen Pflanzungen der Gräfin von Kinsky, gebornen Gräfin von Harrach.« [Anm. des Dichters. – D.] wie die der Armida,
Jene Blüthen umsonst, die der westlichen Atlantide
Milderen Sonnen entblühn und jenen des rosigen Aufgangs.
Siehe! von allen Blumen, die Deinen Tritten entsteigen,
Die Dein schaffender Wink, genährt von Hyperion's Strahlen
Und den Thränen Aurorens, dem Schooß der Tellus entrufet,
Ist doch keine so schön wie Du.« – –
Eine andre Stimme nannte Gärten,
»Wo in Amerika's Büschen die deutsche Nachtigall flötet.« – –
Unerwartet brachte endlich die Stimme des Dichters mich zu mir selbst wieder:
»Aber auch Ihr seid schön, Ihr, meines nordischen Landes
Quellentrunkene Thäler und grünende Blumengestade;
Flora liebet Euch mehr als alle der kälteren Zone
Fluren; sie webet in Euch sich ihre seltneren Kränze.
Reizend ist die Aussicht, gelagert in dunkler Umschattung
Ueberwölbender Buchen und Eichen, aus Odin's Zeiten,
Welche das Meer umstürmt, zu sehen im Wellengetümmel
Hundert züngelnde Flaggen und windgeschwängerte Segel;
Ueber den Wogen die Heldengestade des felsigen Schwedens,
Rauch von ihren Städten und Gipfel von ihren Gebirgen
In dem röthlichen Schimmer des sinkenden Sonnenwagens.
Sei mir gegrüßt, Du mütterlich Land, im Feiergesange,
Wo mich die Blume des Feldes als Knaben mehr schon entzückte
Als Hyacinthenprunk und eitle Tulpenästhetik,
Blüthen ohne Frucht, des batavischen Krämers Erfindung!«
So löste sich der Zauber. Ich kenne den Dichter nicht;Der ungenannte Dichter des »Hymnus an Flora« (Wien 1790) war der Freiherr C. von der Lühe, der 1800 seinen »Hymnus an Ceres« folgen ließ. Beide zusammen erschienen unter dem Namen des Dichters 1802 in einem Bändchen. Die Gräfin Harrach, geborene Fürstin von Lichtenstein, deren Gatte schöne, im Gedichte erwähnte Gartenanlagen in Bruck an der Mur besaß, sandte das Gedicht ihrem Freunde Goethe, der es in der Weimarer gelehrten Gesellschaft am 2. März 1792 vortrug. – D. könnte ich aber eine Gestalt an mich nehmen, so würde ich in Virgils oder Kleist's freundlicher Gestalt vor ihn treten und sagen: »Mann oder Jüngling, Du bist werth, unser Genosse zu sein, ja, eine neue Stufe zu betreten, auf der die Wissenschaft der Natur sich mit der Kunst des Gesanges verbindet. Denn Dich umweht der Geist der Schöpfung; Du weißt nicht nur Namen ihrer Kinder, sondern fühlst Dich auch in sie und hast ein Herz für die Freuden und Leiden der Menschheit. Die Sprache steht Dir zu Gebot; die Wechselscenen der Natur werden Dich immer mehr zu wechselnden Tönen begeistern. Auf, und erweitre das Feld Deines Hymnus! Die Kränze, damit Du Deinen Lehrer schmücktest, erwarten auch Dich:
»Sieh! es windet Dir Flora, die Liebende dem Geliebtern,
Duftende Diademe von Blüthen aus jeglichem Welttheil.«
So würde ich zu ihm reden, überzeugt, daß durch das Studium und durch den Gesang der Natur der menschliche Geist erweitert, das menschliche Herz unschuldiger, ruhiger, wohlthätiger werde.
Unbezweifelt ist's, daß durch das Studium und durch den Gesang der Natur das menschliche Gemüth milder werde. Wer uns eine botanische Philosophie in einem schönen Lehrgedicht gäbe, welchen Reichthum hätte er vor sich! Ihm stünde die gesummte Mythologie, die Aesopische Fabel, die Idyllen der Alten und von den Neuern Reisebeschreibungen, Geschichte, Philosophie, endlich die Naturwissenschaft selbst zur Seite.
Was haben die Alten in ihren Georgicis gesucht, als unter mancherlei Einkleidungen den Menschen menschlich zu machen und ihn allmählig zu Beobachtung der Natur, zur Ordnung, zum Fleiß und Wohlsein zu erheben? Auch dem Virgil in seinen Georgicis können wir diesen wenigstens mittelbaren Zweck nicht absprechen. Er, der außer dem Kriegsglück der Römer gewiß noch ein ander Glück der Landbesitzer und Landbewohner kannte, wollte durch sein schönes, in vielen Stellen so menschliches Gedicht eben auch dies befördern.
Die Aesopische Fabel führt uns ganz aufs Land. Hier sprechen Bäume, Thiere, Menschen; Naturwahrheit ist's, was sie sagen. Und wenn Lessing die Thiere wegen ihrer Charakterbestandheit als eigentliche Fabelactoren gerechtfertigt hat, wem bliebe mehr Bestandheit als dem Baum, der Pflanze, der Blume, der ganzen Naturordnung in ihrem unermeßlich langsamen Fortschritt? Hier also ist, recht gebraucht, Weisheit und Klugheit der Natur zu lernen; hier oder nirgend. Immer werden uns die schönen Pflanzen- und Baumfabeln, insonderheit des Orients, reizen, wo sie in ihrer stummen Sprache uns ewige süße Naturwahrheit sagen.
Die Mythologie ist eine belebte Welt. Nur mit Entzücken kann ich daran denken, wie viel Geist, Sinn und Gemüth man in flüchtige Erscheinungen, in wandelbare Gestalten der Natur gelegt hat, allen Menschen zur Ansicht und dem menschlichern Menschen zur Bildung und Lehre. Wer irgend eine schöne Dichtung der alten Mythologie und Naturlehre uns neu ins Gemüth zu rufen weiß, hat eine Blume vom Kranz der Mutter der Götter gepflückt und in unsre Gärten verpflanzt.
Das Idyll der Alten, ein unbestimmter Name, hat mit dem Verfolg der Zeiten sich gleichsam willkürlich zu Land-, Schäfer-, Hirten-, Fischergedichten, kurz, in Gesellschaften zurückgezogen, in denen ohne politische Kunst die unschuldige Natur regiert. Manche von Bion's, Moschus', Theokrit's Gesängen gehören dahin, und die neuere Poesie, wenn sie der politischen Welt und der wollüstigen Kreise satt war, hat ihr Dasein dahin verlegt. Virgil, dessen meiste Eklogen bloße Nachbildungen sind, entbrach sich nicht, in seinem Tityrus, Pollio, Silen diese reizende Dichtung als eine Einfassung höherer Vorstellungen zu gebrauchen.
Daher, als in den mittleren Zeiten die Poesie wieder auflebte, erinnerte sie sich bald ihres ehemaligen wahren Geburtslandes unter Pflanzen und Blumen. Die Provencal- und romantischen Dichter liebten dergleichen Beschreibungen; bei Spenser z. B. sind es noch immer anmuthige Stanzen, die uns schöne Wüsteneien sammt ihren Gewächsen und Blumen schildern. Mit außerordentlicher Liebe und einem Ueberfluß der Phantasie sind Cowley's sechs Bücher von Pflanzen, Kräutern und Bäumen geschrieben; ein neuerer Brite, der den Botanischen GartenThe Botanic Garden containing the Loves of the Plants, with Philosophical Notes. London, 1788. – H. [Von Erasmus Darwin. Vgl. Goethe's Brief an Schiller vom 26. Januar 1798 mit Schiller's Erwiderung. – D.] nach Linneus' Geschlechtersystem, in ihm also vorzüglich die Liebe der Pflanzen besang, scheint, nach Proben zu urtheilen, auch viel Artiges gereimt zu haben. Unter deutschen Dichtern hat von unserm alten Brockes Geßner mit Recht gesagt: »Er hat die Natur in ihren mannichfaltigen Schönheiten bis auf das kleinste Detail genau beobachtet; sein zartes Gefühl wurde durch die kleinsten Umstände gerührt; ein Gräschen mit Thautropfen an der Sonne hat ihn begeistert; seine Gemälde sind oft zu weitschweifig, oft zu erkünstelt, aber seine Gedichte sind doch ein Magazin von Gemälden und Bildern, die gerade aus der Natur genommen sind. Sie erinnern uns an Schönheiten, an Umstände, die wir oft selbst bemerkt haben und jetzt wieder ganz lebhaft denken.« Haller's »Alpen«, Kleist's, Geßner's Gedichte, Thomson's »Jahrszeiten« sprechen für sich selbst.
Einer der Genannten hatte, als er sein Gedicht über Pflanzen und Bäume schrieb, sich aufs Land zurückgezogen und setzte sich daselbst als einem Lebenden folgende Grabschrift:
Grabschrift eines Lebenden
Hier ruht, o Wandrer, unter dem niedern Dach
Der Dichter Cowley, selig entronnen schon
Der, ach, wie leeren und wie eitlen
Und so entbehrlichen Menschenmühe!
In Armuth glänzt er, aber unrühmlich nicht;
An träger Muße will er kein Edler sein.
Reichthümer, die der Pöbel liebet,
Haßte er stets mit der kühnsten Feindschaft
Gieb ihm, o Wandrer, gieb dem Geschiedenen,
Den hier ein kleiner Winkel der Erde birgt
Und ihm genüget, Deinen Segen:
»Leicht sei die Erde Dir, Sorgentladner!«
Und streu ihm Blumen, Rosen, die bald verblühn!
(Ein Abgeschiedner freuet der Blumen sich),
Und mit dem duftendsten der Kränze
Kröne die Asche des glühnden Dichters!
Ein sanfterer Naturdichter würde lebend und sterbend sagen: »Et ego in Arcadia!«Vgl. Herder's Werke, I. 20, Note 1. – D.
In einer freundschaftlichen Versammlung hörte ich neulich eine Vorlesung über Wahn und Wahnsinn der Menschen, deren Abschrift ich mir erbat und Ihnen jetzt statt meines Briefes mittheile.
Ueber
Wahn und Wahnsinn der Menschen.
Eine Vorlesung.
Ohne Zweifel haben Sie, meine Herren, bei der Zergliederung menschlicher Körper die vielen, unendlich feinen Striche bemerkt, die im Gehirn dergestalt durch einander laufen, daß sie das Messer des Zergliederers nicht mehr verfolgen kann. Ebenso fein und vielleicht noch feiner laufen in der menschlichen Seele die Linien des Wahnes und der Wahrheit durch einander, daß man nach der sorgfältigsten Prüfung kaum an sich selbst weiß, wo Eins sich vom Andern scheide.
Wenn Alles das Wahn ist, was wir ohne deutliche Gründe auf guten Glauben annehmen, so ist der größte Theil unsrer Erfahrungen, unsre früh gelernten Kenntnisse, unsre früh erworbenen Gewohnheiten und Neigungen auf Wahn gegründet. Sie beruhen entweder auf dem Zeugniß unsrer Sinne oder anderer Menschen, denen wir glauben, die wir unvermerkt, uns selbst unbewußt nachahmen, endlich am Meisten auf unsrer eignen Bequemlichkeit und Disposition, lieber so als anders zu handeln. So befestigt sich in uns allmählig eine Gedenk-, eine Handlungsweise, deren Ursprung in einzelnen Fällen wir selten erforschen mögen. Nur wenigen sehr hellen und reinen Seelen ist's gegeben, über die wichtigsten Striche ihrer Denkart sich unparteiisch zu prüfen, Wahrheit und Irrthum, Vorurtheil und Gewißheit in ihnen strenge zu unterscheiden, und sodann dem unschuldigen oder gar nothwendigen Wahn zwar sein Gebiet zu lassen, mit Nichten ihn aber zum Gesetzgeber jeder menschlichen Wahrheit, mit Nichten ihn zum Richter jeder fremden Denk- und Sinnesart zu erheben.
Diese seltnen, vom Himmel privilegirten Seelen sind diejenigen, die man allein tolerant nennen kann; sie schonen den Wahn des Andern auch in Fällen, in denen er ihrem eignen liebsten Wahn entgegensteht. Sie sind die duldsamsten Freunde, die lehrreichsten Gesellschafter; denn auch über die verwickeltsten Aufgaben der Menschengeschichte läßt sich mit ihnen ohne Haß und Zorn disputiren. Der gemeine Haufe der Menschen ist nur so lange Freund gegen einander, als sein Lieblingswahn gefördert oder wenigstens nicht beleidigt wird.
Und wie sonderbar, wie abenteuerlich dieser Lieblingswahn sein könne, lernt man zuweilen mit der größten Verwunderung ebenda einsehen, wo man dergleichen bei sonst so richtigen Begriffen und Grundsätzen je kaum vermuthet hätte. Der Glaube an Gespenster und an andre Dinge dieser Art ist wol der verzeihlichste in solchem geheimen Wahnregister, da sich in ihm oft wunderlichere Artikel finden. Gemeiniglich hält ihr Besitzer diese als sein eigenstes Eigenthum theuer und werth; unvermerkt entwischen sie ihm nur, wenn nicht etwa gewaltige Leidenschaften, außerordentliche Zeitumstände und Situationen sie mit Gewalt erpressen und herausfordern. Dann streitet er aber auch für sie, eben weil sie Schwächen seiner Natur, Gebilde seiner Phantasie sind, als für seine liebsten Kinder. Wer um die wichtigste Wahrheit mit ihm ficht, wird nie so sehr sein Gegner sein, als wer gegen eine Lieblingsmeinung, die wie ein Polypus in sein Herz gewachsen ist, einige Befremdung äußert. Gehen Sie, meine Herren, in Ihren Gedanken die Zahl Derer durch, die Sie in Ansehung ihres Innern am Nächsten gekannt haben! Sie werden Sich sonderbarer Wahngestalten erinnern.
Das Gebiet des Wahnes erstreckt sich insonderheit auf Dinge, die den Menschen zunächst angehen, auf seine Person und Gestalt, auf seinen Stand, seine Nation, seinen Zweck und Charakter. Wie es z. B. Personen giebt. die im Innern ein ganz anderes Bild von sich umhertragen, als die sie sind; sie erschrecken vor ihrer äußern Gestalt im Spiegel als vor der Gestalt eines fremden Wesens; so giebt es deren noch weit mehrere, die in Ansehung ihres Innern ein fremdes Bild mit sich tragen. Ein berühmter König unsers JahrhundertsKarl XII. von Schweden. – D. war in seiner Phantasie immer nur Oberster eines Regiments, und war's mit Lust; alle königlichen Pflichten erfüllte er als eine fremde Person, als ein strenger Amtmann. Unzählige Wunderlichkeiten flossen daher, die ohne dies Bild einer fremden, ihm einwohnenden Wahngestalt unerklärlich blieben, durch sie aber sich alle erklären. Was uns die Berichte der Aerzte von Krankheiten der Einbildungskraft erzählen, da Jener sich seine Füße als Strohhalme, Dieser sein Gesäß gläsern dachte, ein Dritter die Welt zu überschwemmen fürchtete, sobald er sein Wasser ließe, alle diese Geschichten oder Märchen sagen im Grunde weniger als die Erfahrungen manches Wahns, den man bei den vernünftigsten Menschen zuweilen wahrnimmt. Einige Gattungen desselben pflanzen sich in Familien fort und mischen sich als ein Erbtheil von Vater und Mutter auf die sonderbarste Weise. Andre haften an Ständen, Aemtern, Lebensarten, Zünften und bekommen den Ehrennamen esprit de corps, Gefühl seines Standes, Familienehre. Die feinsten aber hangen von individuellen Umständen und Erfahrungen ab; sie sind Abdrücke von der eigensten Beschaffenheit des Körpers und der Seele des Wähnenden sammt den Situationen, die vorzüglich auf ihn wirkten, kurz, befestigte Luftgebilde seiner frühen Jugend. Daher sind sie theoretisch oder praktisch, selten aber Eins ohne das Andre. Denn der Mensch ist nie so vergnügt, als wenn er nach Wahn handeln kann, zumal nach einem von Andern verdammten, von ihm selbst geformten Lieblingswahne. Da lebt er recht in seinem Element und ist seiner Kunst Meister.
Sie merken leicht, meine Herren, in welchen Ständen diese Wahnbilder am Sichtbarsten sein müssen; in solchen nämlich, die sich am Freiesten äußern dürfen. Wer vor Andern Scheu haben, wer aus Beruf und Noth auf dem gebahnten Wege angenommener Meinungen oder richtiger Begriffe bleiben muß, der giebt sich Mühe, sonderbare Eigenheiten seines Kopfs und Herzens zu unterdrücken, wenigstens verschließt er sie in der innersten Kammer und reitet auf seinem Steckenpferde nicht eben an hellem lichten Tage, nicht auf dem Markte. Wer sich dagegen Alles erlaubt und dabei sein Personale äußerst hoch hält, der kann mit diesen Originalpoesien seines Wesens oft nicht laut genug hervortreten; er erfindet deren eine Reihe, mit der Zeit aus bloßer Willkür, und glaubt sich gar dazu in die Welt gepflanzt, Andere damit zu vergnügen. Die sogenannten starken Charaktere, großen Geister, ex professo vornehmen Leute u. s. w. liefern in ihrer Geschichte davon wunderbare Beispiele. Die alten römischen Cäsars, eine Reihe Regenten, Helden, Religionsstifter, Schwärmer, Dichter, Philosophen hatten sonderbare Wahngestalten im Kopf, die sie gewöhnlich Andern aufzwingen wollten und damit oft zum Ziele kamen.
Denn leider ist bekannt, daß es fast nichts Ansteckenderes in der Welt als Wahn und Wahnsinn gebe. Die Wahrheit muß man durch Gründe mühsam erforschen; den Wahn nimmt man durch Nachahmung, oft unvermerkt, aus Gefälligkeit, durch das bloße Zusammensein mit dem Wähnenden, durch Theilnehmung an seinen übrigen guten Gesinnungen auf guten Glauben an. Wahn theilt sich mit, wie sich das Gähnen mittheilt, wie Gesichtszüge und Stimmungen in uns übergehen, wie eine Saite der andern harmonisch antwortet. Kommt nun noch die Bestrebsamkeit des Wähnenden dazu, uns die Lieblingsmeinungen seiner Ichheit als Kleinode anzuvertrauen, und er weiß sich dabei recht zu nehmen: wer wird einem Freunde zu Gefallen nicht gern zuerst unschuldig mitwähnen, bald mächtig glauben und auf Andre mit eben der Bestrebsamkeit seinen Glauben fortpflanzen? Durch guten Glauben hängt das Menschengeschlecht an einander; durch ihn haben wir, wo nicht Alles, so doch das Nützlichste und Meiste gelernt, und ein Wähnender, sagt man, ist deshalb ja noch kein Betrüger. Der Wahn, eben weil er Wahn ist, gefällt sich so gern in Gesellschaft; in ihr erquickt er sich, da er für sich selbst ohne Grund und Gewißheit wäre; zu diesem Zweck ist ihm auch die schlechteste Gesellschaft die beste.
Nationalwahn ist ein furchtbarer Name. Was in einer Nation einmal Wurzel gefaßt hat, was ein Volk anerkennt und hochhält, wie sollte das nicht Wahrheit sein? wer würde daran nur zweifeln? Sprache, Gesetze, Erziehung, tägliche Lebensweise, alle befestigen es, alle weisen darauf hin; wer nicht mitwähnt, ist ein Idiot, ein Feind, ein Ketzer, ein Fremdling. Gereicht überdem, wie es gewöhnlich ist, der Wahn zur Bequemlichkeit einiger der geehrtesten oder wol gar, dem Wahn nach, zum Nutzen aller Stände, haben ihn die Dichter besungen, die Philosophen demonstrirt, ist er vom Munde des Gerüchts als Ruhm der Nation ausposaunt worden: wer wird ihm widersprechen wollen, wer nicht lieber aus Höflichkeit mitwähnen? Selbst durch lose Zweifel des Gegenwahnes wird ein angenommener Wahn nur befestigt. Die Charaktere verschiedener Völker, Secten, Stände und Menschen stoßen gegen einander; eben desto mehr setzt Jeder sich auf seinem Mittelpunkt fest. Der Wahn wird ein Nationalschild, ein Standeswappen, eine Gewerksfahne.
Schrecklich ist's, wie fest der Wahn an Worten haftet, sobald er ihnen einmal mit Macht eingeprägt wird. Ein gelehrter Jurist hat bemerkt, was an dem Wort Blut, Blutschande, Blutsfreunde, Blutgericht für eine Reihe schädlicher Wahnbilder hange; mit dem Wort Erbeigenthum, Besitzthum u. s. w. ist's oft nicht anders. Zu unsern Zeiten haben wir's erlebt, was die Wortschälle Rechte, Menschheit, Freiheit, Gleichheit bei einem lebhaften Volk für einen Taumel erregt; was in und außer seinen Grenzen die Silben Aristokrat, Demokrat für Zank und Verdacht, für Haß und Zwietracht angerichtet haben. Zu andern Zeiten war es das Wort Religion, Vernunft, Offenbarung, seligmachender Glaube, Gewissen, Covenant, the causes sake u. s. w. Unschuldige Farben, die Grünen und Blauen, die Schwarzen und Weißen, Losungsworte, mit denen man keinen Begriff verband, Zeichen, die gar nichts sagten, haben, sobald es Parteien galt, im Wahnsinn Gemüther verwirrt, Freundschaften und Familien zerrissen, Menschen gemordet, Länder verheert. Die Geschichte ist voll solcher AbbadonischerNach Klopstock's gefallenem Seraph Abdiel Abbadona. – D. Namen, so daß man ein Wörterbuch des Wahnes und Wahnsinnes der Menschen aus ihr ziehen und dabei oft die schnellsten Abwechselungen, die gröbsten Gegensätze bemerken würde.
Wahn und Wahnsinn sind überhaupt nicht so weit von einander, als man glaubt. So lange der Wahn sich in einem Winkel der Seele aufhält und nur wenige Ideen angreift, behält er diesen Namen; verbreitet er seine Herrschaft weiter und macht sich durch lebhaftere Handlungen sichtbar, so nennt man ihn Wahnsinn. Wer kann nun jederzeit das Mehr und Weniger bestimmen? zumal sowol bei einzelnen Menschen als bei ganzen Völkern nach Umständen und Perioden nichts als Convention die Wage in der Hand hat und Namen vertheilt. Die größten Veränderungen der Welt sind von Halbwahnsinnigen bewirkt worden, und zu mancher rühmlichen Handlung, zu manchem scharf verfolgten Geschäfte des Lebens gehörte wirklich eine Art bleibenden Wahnsinns.
»Bewahre uns Gott,« werden Sie sagen, meine Herren, »vor solcher Ansicht der menschlichen Dinge! Unsre Erde würde ja damit ein Irrenhaus und unsre Geschichte ein Krankenregister.« Sollte sie in ganzen Perioden anders zu betrachten sein? und ist es nicht nützlich, daß man sie also betrachtet?
Denn nun wird man zuerst, wenn auch in dem Zeitraum, in dem wir leben, Namen aufkommen, über welche Menschen einander hassen und morden, eben durch die Geschichte voriger Zeiten aufmerksam gemacht, zu prüfen, was hinter den Namen sei. Man wird sie weder gedankenlos nachbeten, noch fürchtend so anstaunen, als ob mit ihnen das Ende der Welt gekommen sei; am Wenigsten wird man im blinden Taumel mit einer der streitenden Parteien hassen, zürnen, verleumden, verfolgen. Die Geschichte belehrt uns, daß dergleichen Zufälle des menschlichen Geistes tausend und tausend Male bereits, nur unter andern Namen und Zeitumständen, ihr Spiel und Ende gehabt haben; man wird also auf seiner Hut sein, unschädlichen Wahn dulden, schädlichem Wahn ausweichen, mit nichten aber weder diesen noch jenen erbittern und reizen. Denn eben durch dies Erbittern und Reizen (dies zeigt die Geschichte) wird der Wahn Wahnsinn. Dadurch aber habe ich weder dem Kranken noch mir geholfen, es sei denn, daß ich ihn wirklich toll machen wollte.
Eben auch die Geschichte lehrt zweitens, daß weder Gewalt noch Ueberredung, am Wenigsten mit Ueberredung verschleierte Gewalt und mit Gewalt unterstützte Ueberredung den Wahn der Menschen auszutilgen oder zurechtzubringen vermöge. Durch Waffen werden Irrthümer weder bestritten noch ausgerottet; der schlechteste Wahn hingegen dünkt sich eine Märtyrerwahrheit, sobald er mit Blute gefärbt dasteht. Eben durch dergleichen gewaltsame Schleichmittel sind Irrthümer, die sich selbst bald überlebt hätten, Meinungen, von denen die Betrogenen in Kurzem zurückgekommen wären, schädlich verewigt worden. Nie hat die reine Wahrheit mit schlauer Politik etwas zu schaffen gehabt, so wenig die Politik es je zum Zweck gehabt hat, reine Wahrheit zu befördern. Jede geht ihren Gang, und nur Kinder lassen sich von politischen Wahrheitphrasen dieser oder jener Partei oder, wie die Griechen sagen, von der Suada mit der Geißel in der HandDie griechische Peitho wird so dargestellt. – D. täuschen.
Drittens. Das einzige Mittel, wie man dem Wahn beikommen kann, ist, daß man ihm nicht beizukommen scheine. Man schütze sich vor ihm und lasse ihn seines Weges wandern; oder man zerstreue ihn und bringe ihn ohne gewaltsame Ueberredung unvermerkt auf andre Gedanken! Die Zeit allein kann ihn heilen. Man hat mehrere Beispiele, daß mitleidige Krankenwärter von der Krankheit selbst angesteckt wurden; nichts aber theilt sich leichter mit als Krankheiten der Seele. Wer gesund ist, suche gesund zu bleiben; alle Ansteckungen werden nur dadurch eingeschränkt, daß man sie isolirt.
Viertens. Freie Untersuchung der Wahrheit von allen Seiten ist das einzige Gegenmittel gegen Wahn und Irrthum, von welcher Art sie sein mögen. Laßt den Wähnenden seinen Wahn, den Andersmeinenden seine Meinung vertheidigen; das ist ihre Sache. Würden Beide auch nicht gebessert, so entspringt für den Unbefangenen aus jedem bestrittenen Irrthum gewiß ein neuer Grund, eine neue Ansicht der Wahrheit. Daß man doch ja nicht glaube, Wahrheit könne je durch bewaffneten Wahn gefangen oder gar ewig im Gefängniß festgehalten werden! Sie ist ein Geist und theilt sich Geistern mit, fast ohne Körper. Oft darf ihr Ton an einem Weltende geregt werden, und er erklingt in entlegenen Ländern; immer aber läutert sich der Strom des menschlichen Erkenntnisses durch Gegensätze, durch starke Contraste. Hier reißt er ab, dort setzt er an; und zuletzt gilt ein lange und viel geläuterter Wahn den Menschen für Wahrheit.
Seneca sandte seinem Freunde Lucil fast in jedem seiner Briefe einen Denkspruch zum Geschenk; was soll ich Ihnen für die mitgetheilte Vorlesung senden? Soll ich Sie nach AriostOrlando furioso, Cant. XXXIV. Str. 75, 77, 79, 81. – H. in jenes Mondthal führen, wo Astols so viele Resultate des menschlichen Wahnes und Wahnsinnes erblickte?
»Le lacrime e i sospiri degli amanti,
L'inutil tempo, che si perde a gioco,
E l'ozio lungo d'uomini ignoranti,
Vani disegni, che non han mai loco;
I vani desideri sono tanti
Che la più parte ingombran di quel loco,
Ciò che in somma quaggiù perdesti mai,
Lassù salendo, ritrovar potrai.«
Lieber bleiben wir auf der Erde und wollen, auch mitten unter gefärbten Nebeln des Wahnes und Wahnsinns, die Burg der Wahrheit suchen.
Nicht Alles ist Wahn und Traum im Gebiet der Menschheit; es giebt für uns insonderheit im Praktischen, im Moralischen eine gewisse, sichere Wahrheit. Ihre Stimme spricht auch mitten im Politischen Geräusch; sie spricht für Jeden, der sie hören will, in seinem innersten Herzen und straft jede Sirenenstimme gefälliger Meinungen Lüge. Auch in den dunkelsten Zeiten schien ihr Licht in reinere Seelen; auch in der größten Verwirrung der Welthändel war sie dem Unbefangenen ein sicheres Richtmaaß.
Können Sie Sich z. B. verworrenere Zeiten als die Zeiten der Ligue und der Religionsgährungen in Frankreich denken? Und siehe! nebst vielen andern hellen und aufrichtigen Geistern erschien und schrieb in ihnen der Präsident De Thou seine Geschichte. Wollen Sie bei dem langen Werk in einem kürzern Inbegriff bemerken, wie hoch er sich über Wahn und Vorurtheile seines Standes, seiner Geburt, seines Landes, seiner Secte, seiner Zeit hinwegschwang, so lesen Sie nur die Stellen, die von der spanischen Inquisition weggestrichen wurden, die Lästerschriften, die Scioppius und Machault gegen ihn schrieben, und seine linde Antwort dagegen im Gedicht »An die Nachwelt«, Posteritati.Alles dies findet man im siebenten Theil der Londner Ausgabe von Thuan's Geschichte beisammen. Auch die Comentarios de vita sua, in denen nebst andern das Gedicht »Prosteritati« vorkommt. Die hier frei übersetzte Ode »Veritati« steht Tom. I. voran seiner Geschichte. In Gruter's Deliciis Poëtarum Gallorum fehlen Thuan's beste Stücke gänzlich.– H. [Vgl. Düntzer, »Jacques Auguste de Thou's Leben, Schriften und historische Kunst«, S. 52 ff. Im letzten Stücke der »Adrastea« (VI. 2. S. 147 ff.) steht eine spätere vollständigere Uebersetzung dieser Ode von Herder, als wäre sie ein eigenes Gedicht desselben. – D. Er, der den größeren Sieg erkämpft hatte, vom Wahne frei zu sein, erhielt auch den viel leichteren, den Verleumdungen, den Verfolgungen des Wahns sich klug zu entziehen oder beherzt entgegenzutreten. Davon sind seine Briefe, davon die von ihm selbst über sein Leben gegebene Rechenschaft Zeuge. Hören Sie die wahre Dedication seiner Geschichte, sein Gebet an die Wahrheit:
Der Wahrheit.
Des Himmels Tochter, freundliche Wahrheit Du,
Der Erde Schreckbild, strafende Wahrheit Du,
Wo bist Du hingeflohn, o Göttin?
Du der Unschuldigen letzte Zuflucht!
Wohin ich wende meinen erspäh'nden Blick,
Wohin ich richte meinen verirrten Tritt,
Dich find' ich nirgend, blindes Dunkel,
Trügender Wahn hat die Welt umfangen.
Doch wenn Du von uns, von dem unseligen
Verfolgerlande zürnend die Flügel schwangst
Und Dich mein Zutritt nicht erreichet,
Hörest Du mich in der Fern' auch gütig.
Du, der Gemüther leuchtende Führerin,
O Du, der Nebel holde Zerstreuerin,
Die, wann der Tritt uns fast ersinket,
Mächtigen, hebenden Arm uns reichet!
Daß nie, von banger, nichtiger Furcht betäubt,
Daß nie, von leerem blendenden Glanz verlockt,
Die Seele sich und Den verliere,
Der auch in Irre der Menschen Weg lenkt!
Du, die nicht Scheu, nicht trügliche Hoffnung kennt,
Du, die nicht Haß erschüttert, noch eitle Gunst,
Die der Verleumdung Bubenpfeile
Frei von des Redlichen Brust zurückwirft:
Den Ruhmeswerthen giebst Du Unsterblichkeit,
Begrabnen Frevel ziehst Du ans Licht hervor,
Und Recht und Unrecht bringet Deine
Mächtige Stimm' in das Ohr der Nachwelt,
Unwiderrufbar! Keine der webenden
Drei Schicksalsschwestern löst, was die andre spann;
Und was der Wahrheit heil'ger Rechtspruch
Göttlich entschieden, das bleibt gerichtet.
Wer Dich, o hohe Göttin, wer Dich verehrt,
Der betet Gott an! Immer ein Herr sein selbst,
Spricht er der Wahrheit Recht und übet
Jede der Pflichten für Menschen menschlich.
Nicht nach der Willkür stolzer TrimalcionsUebermüthig verschwenderischer Emporkömmlinge, wie jener Freigelassene bei Petronius. Richtiger ist die Form Trimalchio. Vgl. Brief 69 (S. 318 f.). – D.
Wird er entscheiden, lüstend nach ihrem Mahl;
Wird nie ihr juckend Ohr mit süßem,
Menschenverderblichem Murmeln kitzeln.
Für Freunde leben, leben fürs Vaterland,
Den Frevel scheuen mehr als den bittern Tod,
O Wahrheit, dies ist seine Ehre,
Dies sein Beruf und sein innrer Lohn dies.
Herab vom Himmel senke Dich, Königin,
Und mit Dir komme strenge Gerechtigkeit
Und Scham und Treu' der Erde wieder
Und die so lang uns entflohne Einfalt!
Wir warten Deiner. Waffen und Nerv und Arm
Erwarten Alle, Göttin, von Dir allein! –
Der Zeiten letzte nahn; es altert
Blöde die Welt und erträumet Wahnsinn.
Schau her! wie hebt dort, Flammen und Schwertern selbst
Unüberwindbar, trotzend die Hyder sich!
Zehn Häupter fallen, und aus jedem
Blutenden steigen der Häupter tausend.
Des Wahnes Weltmeer wälzet der Meinungen
Auf Wellen Wellen; Religion erseufzt
Im Schiffbruch, und der Liebe Bande
Lösen sich auf, und der Boden sinket.
Herab vom Himmel senke Dich, Königin,
Mit Deiner Rechte stürzend des Unthiers Brut,
Die süßes Gift den trägen Fürsten
Täuschend in goldener Schale reichet.
O Du, im Schiffbruch helfende Retterin,
Dem tollen Aufruhr frevelnder Meinungen,
Der Lüsternheit und Frechheit steure,
Steure der heuchelnden Lüg', o Wahrheit!
Gewiß, eine Fabel muß im Kreise der Gesellschaft erfunden werden. So erfand Aesop die seinen; sie flogen ihm gleichsam wie der Hauch lebendiger Gegenstände aus Veranlassungen zu; darum ist der Geist in ihnen auch jetzo noch lebendig. So sind des La Fontaine, Gleim's und aller guten Fabeldichter Erzählungen entstanden; selbst wenn sie alte Erfindungen aufnahmen, verjüngten sie diese und erzählten sie jetzt für ihre Gesellschaft. Wer sich hinsetzt und eine trockene Lehre, einen dürren Sittenspruch in eine Schale näht, dem ist die wahre Fabelmuse nie erschienen.
Als neulich in einer Gesellschaft von den unverstandenen Namen Aristokrat, Demokrat u. s. w. gesprochen und disputirt war, trat wie ein freundlicher Genius Einer aus der Gesellschaft zur Königin des Festes, rührte ihre Schärpe an und sagte diese
Fabel.Von Herder's Freund, dem Major von Knebel, in dessen »Gedichten« (1815) das Gedicht mit mehreren Verbesserungen unter der Ueberschrift: »Das Gürtelband. An Frau von S. (Schardt?) 1793« steht. – D.
Laß Dir ein Märchen erzählen an Deinem heutigen Tage,
Das vielleicht, wenn der Sinn Dir beliebt, Vergnügen Dir bringet!
Seh' ich nicht hier ein Band, von Gold und Seide gewirket,
Von der weicheren Hüfte herab zur Ferse Dir fließen?
Davon nahmen die Fäden das Wort und redeten also:
Der Goldfaden.
»Nein! ich kann es nicht dulden, mit diesen seidenen Fäden
Länger hier in Gemeinschaft zu leben; sie sind so geringrer
Herkunft als ich; ich stamme vom Scepter Jupiter's selber.
Gold ist der Dreizack Neptun's und golden die Krone des Pluto.«
Der Seidenfaden.
»Mir gebühret die Ehre! Ich bin nicht gegrabenes Gold nur,
Aus der Fäule der Erd' und rohen Felsen gescharret;
Ein lebendig Geschöpf ernährte zu feinerem Saft mich,
Zog mich aus seinem Busen und spann mit Kunst und Geschick mich.
Jetzo tragen die Könige mich und die Herren an Festen;
Weit gefälliger bin ich als Dein beschwerlicher Reichthum.«
Der Leinfaden.
»Was erzählt Ihr Euch hier und sprecht von Euren Verdiensten?
Bin nicht ich der Erde, des Wassers holdester Zögling?
Mich erzeugte die thauende Nacht; der strahlende Himmel
Siehet mit Wohlgefallen auf mich. Die goldenen Fäden
Unterstütz' ich allein; sonst würd' ihr nichtiger Schimmer
Bald verschwinden. Ich halt' und trag' empor sie zum Glanze
Und verbarg mich bescheiden, verlange nicht selber zu schimmern.«
Also sprachen die Drei. Und was geschahe? Sie trennten
Zürnend sich von einander und rissen und wollten nicht weiter. –
Nun lag ohne Zierde das Band und ohne Gestalt da:
Das in stolzer Schöne vorhin die Hüfte gegürtet,
Hatte nicht Form noch Werth; verachtet fiel es zur Erde.
Kaum war das Märchen geendigt, als Die, an welche es gerichtet war, aufstand und mit Genehmigung Aller die weiße Schärpe als ein Zeichen des Friedens im Saale der Gesellschaft aufhing. Mit guter Wirkung; denn wenn im Taumel der Worte nachher die genannten Friedensstörer Jemanden nur auf die Lippe traten, sogleich ward auf die Schärpe gewiesen. Die drei Fäden sprachen ihre stumme Lehre, und der Ton der guten Gesellschaft stellte sich wieder her.
Der die Schickungen lenkt, läßt oft den frömmsten Wunsch,
Mancher Seligkeit goldnes Bild
Unvollendet und webt da Labyrinthe hin,
Wo ein Sterblicher gehen will.Anfang von Klopstock's Ode »An Bodmer« von 1750, nach der ersten Fassung. – D.
Gilt dies vom Schicksal einzelner Menschen, wie viel mehr vom Schicksal der Völker und Reiche!
Eben habe ich die Geschichte des Herzogs von Bourgogne, Enkels Ludwig's XIV., Vaters Ludwig's XV., mit sonderbaren Empfindungen gelesen.Vie du Dauphin, Père de Louis XV., écrite sur les mémoires de la Cour, enrichie des écrits du même Prince, par l'Abbé Proyart. Lyon 1782. – H.
Sie wissen, daß dieser Prinz ein Zögling Fénélon's war; die Unarten, die das königliche Kind an sich hatte, als Fénélon zu ihm kam, werden auch in dieser Geschichte nicht verschwiegen. Lesen Sie nun, wie Fénélon sich dabei benahm, und was für einen vortrefflichen, nicht nur hoffnungs-, sondern wirklich fruchtreichen Charakter er aus dem Prinzen gebildet, und ein süßes Erstaunen wird Sie ergreifen. Sie sehen hier den Prinzen ungeschmeichelt, in seinem ganzen Leben und Wesen, bei Hofe, im Felde, im Cabinet, zu Hause, gegen den König, gegen seine Gemahlin, gegen Hofleute, Erzieher, Lehrer, Hausgenossen handeln. Handeln, nicht nur sprechen oder denken. Und allenthalben ist er sich gleich; allenthalben bleibt er die edle, standhafte, in größter Stille wirkende Seele. Es ist, als ob Fénélon's Geist ihn nicht umschwebe, sondern erfüllt habe; Fénélon's Denkart ist in die seinige verwebt.
Sage nun Jemand, daß Erziehung, wenn sie rechter Art ist, nichts fruchte! Der Mensch ist ja Alles durch Erziehung, oder vielmehr er wird's, bis ans Ende seines Lebens. Nur kommt es darauf an, wie er erzogen werde. Bildung der Denkart, der Gesinnungen und Sitten ist die einzige Erziehung, die diesen Namen verdient, nicht Unterricht, nicht Lehre. Und wohl dem Prinzen, dem ein Fénélon zum Erzieher ward! Wohl jedem Erzieher, dem Fénélon zum Muster dient!
Sage Jemand, daß bei Prinzen keine Erziehung möglich sei! Am Hofe Ludwig's XIV., des eigensinnigsten Königs, mitten unter Schmeicheleien, Verderbnissen und Verführungen der Zeit, an einem Kinde von auffahrendem, gebieterischen, geburtsstolzen, launischen Charakter war sie möglich und erprobte sich in den verworrensten Verhältnissen, in den schwersten Scenen.
Sage Jemand endlich, daß Prinzen keiner Dankbarkeit, keiner Freundschaft fähig sind! Auch unter dem äußersten Haß Ludwig's XIV. gegen Fénélon blieb der Herzog und Dauphin seinem Freunde treu bis ans Ende seines Lebens.
Und Dieser schonte ihn auf keine Weise. Sie finden einige Briefe Fénélon's in dieser Sammlung, die übrigen (unersetzlicher Verlust!) verbrannte Ludwig mit eigner Hand nach seines Enkels Tode; vermuthlich, weil er sich selbst bei seinem Haß gegen diesen würdigen Mann so sehr im Unrecht fand und mit den Briefen sein eignes Unrecht zu vertilgen glaubte. Denn nie versöhnte sich Ludwig mit Fénélon, auch nicht auf den Brief, den Dieser ihm sterbend schrieb. Der Monarch wollte den Erzbischof nicht unrechtmäßigerweise gehaßt haben.
Gut, daß der Monarch die Papiere des Prinzen mit jenen Briefen, deren keine Zeile er schreiben konnte, nicht auch verbrannte! Sie sind in langen Stellen hier gedruckt; Fénélon's Geist athmet in jedem Grundsatz so wie in der ganzen, sehr reinen und edeln Schreibart. Nur sieht man auch, daß ein Prinz diese Grundsätze gedacht habe; sie sind, wenn ich so sagen darf, gedrückter, beschränkter, als sie in Fénélon's Seele blühten; aber ehrenvoll, schön, königlich, fürstlich.
Ausziehen will ich nichts aus diesen Maximen. Dem Geist des Zeitalters und der Denkart Fénélon's gemäß ehren sie die Stände ungemein, machen die Religion zur Basis der Reichsverfassung und sind dem Protestantismus nicht günstig. Dagegen enthalten sie von den unerlaßbaren Pflichten aller Stände und des Regenten selbst alle die Grundsätze, die wir in Fénélon's vortrefflichen »Rathschlägen an einen König« finden. Wenn diese viel eigentlicher das livre d'or sind, als was gewöhnlich den Namen führt, so kann man die Aufsätze des Dauphins ohne Schmeichelei dem Buch des Marc-Aurel's an die Seite setzen, nicht als das Werk eines Mannes, sondern als die Vorübung eines Jünglings; nicht als System, sondern nach Zweck und Absicht.
Und wie er schrieb, so handelte der königliche Jüngling. Sobald er, welches ihm sehr schwer ward, das Zutrauen Ludwig's gewann, veranlaßte er Berichte aus allen Provinzen des Landes nach Punkten, die er selbst aufgesetzt hatte, die allenthalben ins Einzelne gingen und zeigten, daß der Kronerbe alle Bedrücknisse des Reichs in allen Ständen classenweise kannte. Als Feldherr hatte er im Kriege sie kennen gelernt, und er besaß gerade den eisernen Fleiß, die unerschütterliche Stätigkeit des Willens, diesen Uebeln auf den Grund zu kommen und ihnen einmal, wenigstens theilweise, abzuhelfen.
Die Berichte liefen ein, zweiundvierzig Bände in Folio, und die Beschwerden, die Mängel und Mißbrauche überstiegen den Begriff des Redacteurs, des bekannten Grafen Boulainvilliers, so weit, daß er sie sich dem Prinzen nicht vorzulegen getraute. Dieser aber las doch, las dabei die eingeschickten einzelnen Klagen, Beschwerden und Verbesserungsvorschläge mit dem großen Grundsatz, »daß, wenn in einem ganzen Bande chimärischer Speculationen sich auch nur eine nützliche Beobachtung fände, man die Zeit nicht bedauern müsse, die man aufs Lesen verwandt hat.« Die Mittel, diesen Verderbnissen abzuhelfen, reiften in der stillen Seele des Prinzen.
Und nun? Trauern Sie, meine Freunde! die muntre Gemahlin des Prinzen, die er zärtlich liebte, stirbt, von den Aerzten hingerichtet; innerhalb sechs Tagen stirbt der Prinz ihr nach, im dreißigsten Jahr seines blühenden Lebens. Lesen Sie die Geschichte seiner Krankheit, den Eigensinn Ludwig's dabei, das Ende des Prinzen! Unwissend Ihrer wird eine Thräne in Ihr Auge treten, und was wird dabei Ihr Wort sein? Fénélon sagte, als er die traurige Nachricht vernahm: »Meine Bande sind gelöst; nichts hält mich mehr an der Erde.« Ludwig dagegen sagte: »Ich preise Gott für die Gnade, die er ihm geschenkt hat, so heilig zu sterben, als er lebte.« Der König ertrug, so sagt ein Geschichtschreiber, Alles als Christ, glaubte, daß Gott das Reich um der Sünden willen seines Königes strafe, betete seinen Richter an, und keine Klage entfuhr ihm.
Wir, die wir keine Könige sind, dürfen keine so erhabne Gleichgiltigkeit äußern. Wir können aufrichtig und herzlich bedauern, daß die Vorsehung dem zu Grunde gerichteten Reich einen so geprüften, so festen, so thätigen König auch nur auf fünfzehn oder zwanzig Jahre zu schenken nicht genehmigte. Hätte er in diesen nur den hundertsten Theil seiner reif gewordenen Entschlüsse ausgeführt und nur den tausendsten Theil der Uebel, deren er sich erbarmte, gehoben, wie anders wäre der Zustand und die Geschichte Frankreichs seit einem Jahrhunderte geworden! Nun aber kam nach wenigen jammervollen Jahren statt unsers Bourgogne der Held aller Ausschweifungen, Orléans, und statt des staatsklugen Fénélon's der ruchloseste der Menschen, Du Bois, ans Ruder. Die ewige Unmündigkeit Ludwig des Vielgeliebten folgte, und wie es seitdem in Frankreich beschaffen gewesen, ist welt- und staatskundig. Die Mémoires von St. Simon, Du Clos, Richelieu, Du Terray u. s. w. führen uns in einen so tiefen Abgrund von ungebundener Liederlichkeit und frevelhafter Unordnung, daß Jude, Christ, Heide und Türk über das Resultat äußerst besorgt und zugleich sehr einig sein mußten.
Was ist hierauf zu sagen? Gegen die Vorsehung zu murren, wäre albern; denn wenn wir sie auch zur eigenthümlichen Schutzgöttin Frankreichs und der Bourbons personificirten, ja, ihr dabei die Wage des Jupiter's auf Ida selbst in die Hand gäben: in die eine Schale legt sie die Gräuel der alten festgewurzelten Reichsverwaltung, einen ungeheuren Berg, in die andre Schale den jungen, von ihr geliebten Kronerben. »Was kann er zu diesem Gebirge thun? wird er nach wenigen Jahren es vielleicht noch thun wollen? Er entschlafe also den Tod eines Heiligen, eines von Gott Geliebten, und es gehe der Ordnung der Dinge nach, nach welcher der fortgerollte Schneeball wächst, bis er schmilzt, die Gräuel sich thürmen, bis sie das Gleichgewicht verlieren.«
Wir sind also auch des Glaubens vom großen Ludwig, »qui souffrit tout en Chrétien, il crût, que Dieu punissoit le Royaume des faultes de son Roi: il adora son juge; nulle plainte ne lui échappa;« erinnern uns dabei aber jenes alten Judengottes, der mit unköniglichem Bedauern sprach: »Dich jammert des Kürbiß, und mich sollte nicht jammern« u. s. w. Lesen Sie die Worte selbst im unruhigen emigrirten Propheten! Jonas, 4. 10–12.
Ueber die Vergänglichkeit.
Eine Ode von Sarbievius.In dessen Lyrica , II. 7. Die Uebersetzung ist nicht von Herder, sondern von Götz. – D.
Menschlichem Elend wär' es eine Lindrung,
Sänken die Dinge wieder, wie sie stiegen,
Langsam; doch oft begräbt ein schneller Umsturz
Hohe Gebäude.
Lange beglückt stand nichts. Der Städt' und Menschen
Schickungen fliegen immer auf und nieder;
Jahre bedarf ein Königreich, zu steigen,
Stunden, zu fallen.
Du, der Du selbst des Todes Opfer sein wirst,
Nenne darum nicht, weil die Zeit im Stillen
Menschen und Menschenwohnungen zerstöret,
Grausam die Götter!
Die Dich zum Leben rufte, jene Stunde
Rufte zum Tode Dich. Der lebte lange,
Wer an Verdienst und Tugend sich ein ewig
Leben erworben.
Die griechische Philomele ist noch nicht verstummt; auch hat sie ihren Schmerz noch nicht vergessen. Sie klagt das Unrecht, das ihr von Menschen geschah, und erweicht mit ihrem Gesange das Herz, sich von gleichem Unrecht zu enthalten.
»Flet Philomela nefas; neque adhuc de pectore caedis
Effluxere notae, signataque sanguine pluma est.«Ungenau nach Ovid's Metam., VI. 665, 669, 670. – D.
Als ihre Schwester, die Schwalbe, sie aus der Einsamkeit des Waldes in die Gesellschaft, in die Häuser der Menschen schmeichelnd einlud:
»Komm in das Feld, komm in die Wohnungen
Der Menschen! Mit mir sollst Du da vergnügt,
Geliebt von ihnen wohnen, wo Du nicht
Den Thieren mehr, wo Du dem Landmann singst.«
»Ach,« sprach sie, »laß mich hier in meiner Einsamkeit!
Der Menschen Umgang bringt mir nur das Unrecht,
Den Schmerz zurück, den ich von ihnen litt.«Vgl. die Fabel des Babrius in Herder's Werken, VII. S. 207. – D.
Am Liebsten nimmt diese alte Philomele an den stummen Klagen der Menschen Theil, die sich ihrer Einsamkeit nahen. Sie bemerkt die Mienen ihres verschwiegenen Grams, den sie selbst einst ihrer Schwester nur in stummen Bildern entdecken konnte; seit ihr die Götter ihre Stimme wiedergaben, gebraucht sie dieselbe also am Liebsten zum Trost des sprachlosen Kummers der Menschheit.
Einen ihrer Gesänge belauschte ich neulich zu einer Zeit, da Nachtigallen sonst schweigen, und theile Ihnen solchen, wie ihn ein FreundMajor von Knebel. – D. aufschrieb, mit:
Philomele in T.Tiefurt (bei Weimar). Knebel, der früher eine Reihe von Jahren mit dem Prinzen Constantin von Sachsen-Weimar als dessen Erzieher dort gelebt, hatte es vor Kurzem besucht. – D.
Hast Du die Klagen gehört, die jüngst vom einsamen Aste
An den Ufern der Ilm Philomela tönte? Mir kamen
Einige Laute davon; vernimm von ihnen den Nachhall!
»Wie so blätterlos ist der Hain! wie leer das Gesträuche!
Keine Stimme ertönt als nur der Raben und Elstern
Heisres Geschrei. Es klettert und pfeift die diebische Meise
An den Orten, die sonst nur meine Lieder erfüllten.
Ach, wohin ist der Geist der Liebe geflohen? Wo ist er?
Und wo soll ich ihn finden? Wer wird ihn wieder erwecken?
Wenn wir umher im Kreise der schattigen Ulmen, der Pappeln
Saßen und uns erweckten zu zärtlichen Liedern: ein Ton sucht
Lockend den andern; es schlägt von der Brust des antwortenden Sängers
Lauter die Liebe zurück ans Herz des Rufenden; wechselnd
Streitet im brünstigen Zwist der Gesang. Es schallet vom Felsen,
Schallt aus dem Haine wieder; es hebt der glänzende BachIn Knebel's »Nachlaß«, I. 21, wo sonst Manches offenbar verdruckt ist, findet sich hier: »aus dem Haine zurück; es hebt der hellere Bach sich«. – D. sich
Liebeschwellend empor; von athmenden Blüthen und Zweigen
Haucht balsamischer Duft umher durch die Lüfte, und leise
Regt sich die schweigende Nacht mit thaubefeuchteten Schwingen.
Aber der Menschen holdes Geschlecht, wie seh' ich sie traurig
Jene Gefilde durchwandeln! Wie fremd am Blick und von Ansehn!
Wohin wend'tIn Knebel's »Nachlaß« steht: »kehrt«. – D. sich ihr trüberes Aug'? Ach, hin zu den Scenen,
Voll des Mordes und Bluts! O ruft die Sinnen zurücke!
Warum sie tauchen in Gräul und Elend der Menschen? Wer wird Euch
Künftig erwecken die Brust zu sanftern, holdern Gefühlen?
Wird dann das beste Glück des Lebens, die Freiheit, so theuer,
So mit Strömen des Blutes erkauft? Wer wird sie erkennen,
Wer die schmalere Grenze, wo Recht sich scheidet vom Unrecht?
Blicke des Argwohns begegnen dem Freund aus dem Auge des Freundes.
Jedes festere Band des Lebens knüpfet und löst sich
Nur durch Unwill' und Wuth. Ich sehe den stilleren Weisen
Einsam wandeln; sein Haupt deckt trüber Tiefsinn; es hänget
Zitternd über demselben das Schwert der Entscheidung; ihm tönen
Nicht mehr die Lieder ins Ohr der zarten Liebe, der Freundschaft,
Der erweckten Natur, des süßen traulichen Umgangs.
Und o das blühende Mädchen! Ihr Hauch belebte die Wüste,
Wenn die Wüste beleben sich könnte. Von ihrem Gesange
Uebersteigen die Strahlen die meinigen. Wäre zur Blume
Sie des Haines geschaffen, kein Blümchen glich' ihr an Reize,
Keines an himmlischem Glanz noch Duft. Sie senket ihr Auge
Nieder vom nackten Gipfel der hocherhabenen Ulme
Auf das verödete Land, und in sich ersterben die Strahlen.«
Also sang vom schwankenden Ast weissagend der Vogel,
Und der Nordwind verstummte; es nahten sich lindernde Weste.
Aber es schwebt' in der Höh' mit ausgespreiteten Rudern
Und mit gierigem Aug' ein Geier, dürstend nach Blute.
Dieser ersah den lieblichen Sänger und stürzt von der Höhe,
Faßt und drückt ihn gewaltig mit krummgespitzeter Klaue,
Reißt ihm die blutende Brust auf und hackte begierig sein Leben.
Nicht ein leiser wimmernder Laut ward weiter gehöret;
Es entfloh die Seele mit stiller Wehmuth von dannen.
Ilicet (heu miseram!) tua Daulias exspiravit,
Jane, gravi moestum tacta dolore jecur!
Quid miseram dixi? Fatumne beatius ullum est,
Talia cantantem quam potuisse mori?
Wären Kränze der Belohnung in meiner Hand, so sollten mir außer den Einrichtungen, die das Bedürfniß fordert, besonders auch die Bemühungen werth sein, die den gehässigen Wahn der Menschen unvermerkt zerstreuen und gesellige Humanität befördern. Nichts ist dem Wohlsein der lebendigen Schöpfung so sehr entgegen als das Stocken ihrer Säfte; nichts bringt den Menschen tiefer hinab als ein trauriger Stillstand seiner Gedanken, seiner Bestrebungen, Hoffnungen und Wünsche.
Also auch die Schriftsteller, die uns von der Stelle bringen, die das plus ultra auf leichte und schwerere Weise ausüben, gesetzt, daß sie auch keine neuen großen Resultate erjagten, wären mir sehr gefällig. Ein Mensch, der sich um Wahrheit bemüht, ist immer achtenswerth; wer bei unschuldigen Bestrebungen nur Zwecke hat, ist nie verächtlich, gesetzt, daß diese auch bei Weitem nicht Endzwecke wären. Denn was ist Endzweck in der Welt? wo liegt das Ende? Jedes gute Bestreben aber hat seinen Zweck in sich.
Mögen die Philosophen alter und neuer Zeiten keine einzige Wahrheit ausgemacht haben (welches doch ohne Wortspiel nicht behauptet werden kann), gnug, sie bestrebten sich um Wahrheit. Sie erweckten den menschlichen Verstand, hielten ihn im Gange, führten ihn weiter; Alles, was er auf diesem Gange erfunden und geübt hat, haben wir also der Philosophie zu danken, wenn sie gleich selbst nichts hätte erfinden können und mögen. Der philosophische Geist ist schätzbar; die ausgemachte Meister- und Zunftphilosophie bei Weitem nicht so sehr, ja, sie ist dem Fortdringen oft schädlich.
Insonderheit ist der philosophisch-moralische Geist, der die Sitten der Menschen betrachtet, ihre Farben scheidet und, wenn ich so sagen darf, ihr Inneres auswärts kehrt, eine wahre Gabe des Himmels, ein unserm Geschlecht unentbehrliches Gut. Stimme man nicht das alte Lied an: »Menschen sind Menschen! sie sind, was sie waren, und werden bleiben, was sie sind. Hat alle Moralphilosophie sie gebessert?« Denn diesem faulen, trübsinnigen Wahn steht mit nichten die Wahrheit zur Seite. Wenn wir auch nicht zum Ziel gelangten, müssen wir deshalb nicht in die Rennbahn? Ja, wenn das Ziel der Vollkommenheit auch nicht zu erreichen wäre und, je näher wir ihm zu kommen scheinen, immer weiter von uns rückte, haben wir deshalb nicht Schritte gethan? haben wir uns nicht bewegt? Was wäre das Menschengeschlecht, wenn keine Vernunft, keine Moralphilosophie von ihm geübt wäre?
Vor andern scheinen mir die Moralisten wünschenswerth, die uns mit uns selbst in ernste Unterhandlung zu bringen vermögen und uns auf eine scherzende Weise durchgreifende Wahrheit sagen. Ich lasse der Akademie und Stoa ihren heiligen Werth; Plato und Marc-Aurel nebst ihren Genossen werden dem Menschen, dem seine Bildung Ernst ist, immer und immer Schutzgeister, Führer, warnende Freunde bleiben. Wenn aber z. B. Horaz auf eine ernsthaft scherzende Weise sich selbst zum Gegenstande der Moral macht; wenn er an sich und an seine Freunde im Ton der Vertraulichkeit mit leichter Hand das schärfste Richtmaaß legt und die Heuchelei, den Aberglauben, den Sittenstolz, den Wahn und Dünkel von uns lieber fortlächelt als fortgeißelt; wenn er an sich und Andern zeigt, daß man nicht im Aether hoher Maximen schweben, sondern auf der Erde bleiben und täglich in Kleinigkeiten auf seiner Hut sein müsse, um nicht mit der Zeit ein Unmensch zu werden: wer kann dem Dichter da den Fleiß vergelten, den er, damit seine zarten Sittengemälde der Nachwelt werth würden, auf sie als auf wirkliche Kunstwerke gewandt hat? Diese Kunstwerke sind nicht nur lebendig, sondern auch belebend; ihr moralischer Geist geht in uns über; wir lernen an ihnen nicht dichten, sondern denken und handeln.
Jedem, der sich mit Horaz für Andre würdig beschäftigen konnte, möchte ich, wenn Verdienst sich beneiden ließe, sein Verdienst beneiden. Auch unser deutsche Uebersetzer der Briefe und Satiren dieses Dichters, Wieland, hat vorzüglich durch den Commentar derselben jedem feineren Menschen eine belehrende Schule der Urbanität eröffnet. Was Shaftesbury in seinen Schriften für den römischen Dichter überhaupt ist, dessen moralische Kritik sich bei ihm allenthalben äußert, das ist unser Uebersetzer im schwereren Einzelnen für Jünglings sowol als für Männer.
Nach der langen Nacht der Barbarei brach endlich auch unter den europäischen Völkern für die feinere Moral eine Morgenröthe an. Die Provençalen und Romandichter der mittleren Zeiten waren ihre Vorboten; Weiber und Männer aus allen, auch den vornehmsten Ständen, suchten die Philosophie des Lebens wieder in die Welt einzuführen und streuten ihr wenigstens Blumen. Sie erschien endlich, diese Philosophie, unter mehreren Nationen, und jeder Tritt soll uns heilig sein, wo sie gewandelt. Sollte das böse Schicksal es wollen, daß ganze Länder Europa's (verhüte es der gute Genius der Menschheit!) wieder in die Barbarei versänken, so wollen wir, die an den Grenzen des Abgrundes stehen, die Namen und Schriften Derer, die einst der Humanität dienten, um so heiliger bewahren. Sie sind uns alsdann Reste einer versunkenen Welt, Reliquien zerstörter Heiligthümer.
Du guter Montaigne, Ihr Dichter und Schriftsteller voriger ruhiger oder stürmischer Zeiten Frankreichs, und Ihr, die ihr guter Genius bei Zeiten hinwegrief, Rousseau, Büffon, D'Alembert, Diderot, Mably, Du Clos – was Ihr und Eure Genossen der Menschheit Gutes erwiesen, ist ein Gewinn für alle Völker!
Die Briten haben durch das, was sie humour nennen, die Fehler des humour's selbst dargestellt und dadurch die Unregelmäßigkeiten, das Ausschweifende und Uebertriebne in menschlichen Charakteren dem Gelächter preisgeben, dem moralischen Urtheil ins Licht setzen wollen. Da uns Deutschen dieser humour (leider oder gottlob?) fehlt, indem unsre Thoren meistens nur abgeschmackte Thoren sind, so ist's für uns, in diesen fremden Spiegel zu sehen, gewiß keine unnütze Beschäftigung. Der Flügelmann exercirt vorspringend, damit der Soldat im Gliede und der steife Rekrut exerciren lerne.
Aeußerst deutsch wäre es aber, wenn wir diese Uebertreibungen für Schönheit nehmen und Shakespeare's, Addison's, Swift's, Fielding's, Smollet's, Sterne's humoristische Figuren als Vorbilder des moralisch-guten Geschmacks ansehen wollten. Dichter und Uebersetzer wären an diesem Stumpfsinn wenigstens sehr unschuldig.
Dank also auch jedem guten Uebersetzer guter britischen Humoristen! Und wir wissen Alle, wem wir in Deutschland vorzüglich hiebei Dank zu sagen haben. Dem Uebersetzer Yorick's, Sterne, Fielding's, Smollet's, Goldsmith's, Cumberland's u. s. w. Die Bode'schen Uebersetzungen der »Empfindsamen Reisen«, des »Tristram Shandy«, »Thomas Jones«, »Humphrey Klinker's«, des »Landpriesters von Wakefield«, des »Westindiers« sind in Aller Händen.
Für unser nordisches, angestrengtes und bedrücktes Leben sind überhaupt alle Schriften wohlthätig, in denen unser Geist abgespannt, erweitert und milde gemacht wird. Immerdar sich zu spornen, Andre zu treiben und von ihnen sich bedrängt zu fühlen, ist der Zustand eines Tagelöhners, gesetzt, daß wir ihn auch mit dem Titel eines Strebens nach höchster Vollkommenheit in unablässigem Eifer ausschmücken wollten. Die menschliche Natur erliegt unter einer rastlosen Anstrengung; während der Ruhe, während des Spiels zwangloser Uebungen gewinnt sie Munterkeit und Kräfte. Selten geht der unablässige Eifer anderswohin aus als auf Schwärmerei und Uebertreibung, die durch nichts zurecht gebracht werden kann als durch eine Darstellung dessen, was sie ist, durch eine leichte, fröhliche Nachahmung ihrer eignen Charaktere. Da lacht der Thor, falls er noch lachen kann, über sich selbst, und im leichtesten Spiel findet man, wie Leibniz meint, die ernsteste Wahrheit.
Nachschrift des Herausgebers.
Statt einer langen Anmerkung erlaube der Leser mir hier eine Stelle mitten unter fremden Briefen.
Der Mann, an den zu Ende des vorstehenden Briefes mit dem verdienten Lobe gedacht war, war mein Freund, und er ist nicht mehr. Eben da ich diesen Brief zum Druck übersehe, wird seine Leiche begraben; aber ein Theil seines Geistes und seine redliche Mühe wird, hoffe ich, in unsrer Sprache noch fortleben sowie sein Andenken im Herzen seiner Freunde.
Bode war mehr als Uebersetzer; er war ein selbstdenkender, ein im Urtheil geprüfter Mann, ein redlicher Freund, im Umgange ein geistiger, froher Gesellschafter. Und doch war sein Charakter noch schätzbarer als sein Geist; seine biedern Grundsätze waren mir immer noch werther als die sinnreichsten Einfälle seines muntern Umganges. Er hatte viel erlebt, viel erfahren; in seinen mannichfaltigen Verbindungen hatte er Menschen aus allen Ständen von Seiten kennen gelernt, von denen wenige Andre sie kennen lernen, und wußte sie zu schätzen und zu ordnen.
Die Schwärmerei haßte er in jeder Maske und war ein Freund, so wie der gemeinen Wohlfahrt, so auch des wahren Menschenverstandes. Der betrügenden Heuchelei entgegenzutreten, war ihm keine Mühe verdrießlich; gern opferte er diesem Geschäfte Zeit, Kosten und Seelenkräfte auf, die er sonst abwechselnder, vielleicht auch einträglicher hätte anwenden mögen. Viele seiner Freunde in mehreren Provinzen Deutschlands kennen ihn von dieser Seite; und wer einer standhaften Mühe in redlicher Absicht Gerechtigkeit widerfahren läßt, wird das Verdienst eines Mannes ehren, der in seinem sehr verbreiteten Kreise vielem Bösen widerstand und in seiner Art (nicht politisch!) ein Franklin war, der durch die Mittel, die in seiner Hand lagen, der Menschheit nichts als Gutes schaffen wollte und gewiß viel Gutes geschafft hat. Großmuth war der Grund seines Charakters, den er in einzelnen Fällen mehrmals erwiesen; nach solchem nahm er sich insonderheit der Verlassenen, junger Leute, vergessener Armen, der Gekränkten, der Irrenden an und war, fast über seine Kräfte, ein stiller Wohlthäter der Menschheit.
Auch seine Uebersetzungen hatten diesen Zweck, und sein Fleiß dabei war unermüdet. Er bewarb sich bei ihnen sowol um die Eigenthümlichkeit des Gedankens als des Ausdrucks; mithin arbeitete er in beiden Sprachen. Er, Lessing's Freund und bei einer Schrift sein Mitübersetzer, wollte nie ein Sprachverderber, wohl aber mit Urtheil und Prüfung ein Erweiterer der Sprache werden. Die falschen Nachahmungen in seiner Manier haßte er ebensowol als die Nachäffungen der Charaktere, die er dem deutschen Publicum verständlich machte; er übersah und übersetzte sein Buch als ein Mann von gesundem Verstande.
Ein schätzbares Geschenk, das er uns hätte geben können, wäre die Beschreibung seines eignen Lebens gewesen. Schonend und bieder sagte er aber: »Von meiner Seite würde es anmaßend scheinen; Andre würde es compromittiren. Ich will in Friede schlafen.«
Und so schlafe er denn in Friede! Sein Ende kam, wie seine Freunde es wünschten, ohne langwierige Krankheit; fast bis an seinen Tod hin war er unverdrossen geschäftig. Viele Gute halten ihn werth. Unweit dem Künstler Cranach liegt er begraben.
Als ich in Ihren Briefen die Fragmente über die Humanität Homers in der Iliade las, fiel mir ein Schriftsteller ein, der vor Jahren nicht recht nach meinem Sinne gewesen war, Thomas Gordon, »Ueber den Tacitus«.Das englische Original kenne ich nicht. Die französische Uebersetzung heißt: »Discours historiques, critiques et politiques sur Tacite par Gordon«. Amsterdam 1742. Die deutsche hat den unförmlichen Titel: »Die Ehre der Freiheit der Römer und Britten nach Gordon's staatsklugen Betrachtungen über den Tacitus«. Nürnberg 1764. – H. In der Jugend muß man keine politischen Betrachtungen, weder Gordon noch Tacitus lesen; sie machen uns eine zu ernste, zu saure Miene. Man sieht die Welt alsdann noch gern von der fröhlichen Seite an und haßt den grübelnden Tadel.
Ueber den Tacitus änderte sich mein Urtheil, als ich ihn in reifern Jahren las. Ich kam davon zurück, daß er ein Sauertopf sei, der üble Gerüchte und politische Grübeleien zusammengemischt hätte (ein gemeines, aber äußerst falsches Urtheil); wie sehr wünschte ich, Ihnen auch den Areopagiten Gordon, frei von seinen Schlacken (britischen Vergleichungen und Epanorthosen) blos als einen lichten und leichten Versuch über die Humanität des Tacitus zusenden zu können! Nicht leicht hat ein Schriftsteller so viele Gemüther tiefer an sich gezogen als dieser Römer; wer ihn studirte, ward mit Geist und Sinn der Seine. Daher so viele Commentatoren des Tacitus; je redlicher es Jemand meinte, je mehr er die politische Welt aus eigner Erfahrung kennen gelernt hatte, desto mehr liebte er den alten Geschichtschreiber und ward gar selbst sein Commentator.
Was Gordon über des Tacitus Charakter, über seine Denkart, seine Beschreibungen, seine Grundsätze, seine Moral, endlich über seine Schreibart behauptet, sagt eher zu wenig als zu viel; so Manches auch die lateinischen Stilisten, selbst der gute Lord Monboddo, dagegen einzuwenden haben möchten.Vor der Zweibrücker Ausgabe des Tacitus ist Crollius' lange Vorrede über diese Materie sehr schätzbar. – H. Nach allen Vorübungen, die wir im Deutschen als Versuche seiner Uebersetzung gemacht haben, wünsche ich eine wahre Uebersetzung desselben; mich dünkt, unsre Sprache sei dazu vor allen andern fähig.
Als Proben von der edlen Denkart des Tacitus führt Gordon schöne Stellen an, z. B. wie Hermann's Gemahlin, durch Verrath gefangen, unter andern edeln Frauen vor Germanicus geführt wird: »Segest's Tochter, doch gleichgesinnter dem Gemahl als dem Vater. Auch überwunden kannte sie keine Thränen, kein stehendes Wort; sie hatte die Hände über ihren schwangern Leib zusammengeschlagen und sah auf ihn nieder.«Annal., I. 57. – D. Wie Germanicus, dem Teutoburger Walde nahend, in welchem die Gebeine des Varus und seiner Legionen noch unbegraben lagen, nun herzlich verlangt, dem erschlagenen Heerführer und seinem Heer der Menschheit letzte Pflicht zu leisten: »Da jammern Alle, die mit waren, über Verwandte, Freunde, über Kriegsunfälle, über der Menschen Schicksal. Sie kommen an den traurigen Ort; sie sehen Varus' Lager, die Ueberbleibsel Derer, die, zurückgedrängt, Rettung hatten suchen wollen, endlich das Feld voll weißer Gebeine, wie sie geflohen und gestanden, aus einander gesprengt und an einander gedrängt gewesen waren; nebenan lagen zerbrochene Spieße und Pferdeglieder; an Baumstämmen waren angenagelte Köpfe; nahan im Walde standen die barbarischen Altäre, auf welchen Tribunen und Centurionen geblutet hatten. Und die dieser Schlacht, die der Gefangenschaft entkommen waren, erzählten: »Hier fielen die Anführer der Legionen, dort wurden die Adler erbeutet; hier bekam Varus seine erste Wunde, dort gab er sich mit unglücklicher Rechte selbst den Tod. Auf dieser Höhe stand Hermann und sprach den Seinigen Muth zu; hier die Galgen, woran er die Gefangenen knüpfen, dort, wo er die Adler und Feldzeichen verhöhnen ließ.« Nach sechs Jahren also begrub eine römische Armee ihre drei Legionen, und Keiner kannte, wen er begrub, ob seinen Verwandten, ob einen Fremden. Jeder ward als Blutsfreund, als Verbündeter bestattet, mit desto größerem Zorn gegen den Feind, aufgebracht und traurig.«Annal., I. 61, 62. – D. So führt Gordon die schöne Stelle über Tiberius an: »Seine Unthaten und Laster wurden ihm selbst zur Marterstrafe; denn vergebens hat der weiseste Alts nicht gesagt, daß, wenn man solcher Unmenschen Inneres aufschließen könnte und Striemen und Wunden der Seele auch sichtbar wären wie Wunden des Körpers, man ihr Gemüth nicht anders als von Grausamkeit, Wollust und übeln Rathgebern zerfleischt erblicken könnte.«Daselbst, VI. 6. – D.
Dergleichen Stellen führt Gordon mehrere an. Aber was sind sie außer dem Zusammenhange der Geschichte, die ihnen eigentlich Urkunde und Beleg ist? Die letzte Stelle z. B. bezieht sich auf des Tiberius meisterhaften, kurzen Brief an den Römischen Rath: »Was ich Euch schreiben soll, meine Herren, oder wie ich schreiben, oder was ich Euch jetzt nicht schreiben soll: alle Teufel mögen mich holen, die mich täglich und stündlich plagen, wenn ich das weiß!« Da konnte Tacitus hinzusetzen: »Weder Glück noch Einsamkeit konnten den Tiberius schützen, daß er die Qual seiner Brust und die Strafe, die er an sich selbst litt, nicht selbst bekennte.«Die beiden hier angeführten Stellen stehen die erste vor, die andere nach der vorher ausgehobenen. Uebrigens heißt es bei Tacitus: »Die Götter und Göttinnen mögen mich noch schlimmer zu Grunde richten, als ich es täglich empfinde!« – D.
Soll ich Ihnen von Gordon mehr erzählen? Nur seine Capitel will ich herschreiben. »Von Cäsar's unrechtmäßigem Besitz der Herrschaft, und warum dessen Name weniger als des Catilina Name gehässig ist. Von Octavius-Augustus' Ränken, seinem rachsüchtigen Gemüth, seinem Meineide, Grausamkeiten und den Begebenheiten, die zu seinem großen Namen beitrugen. Von der Liebe des Volks und Rathes, die er sich zu erwerben suchte. Von der Ehre, mit welcher ihm die Dichter geschmeichelt. Von dem falschen Glanz, den seine Nachfolger ihm verschafft haben. Vom Kaiserregiment. Vom Majestätsgesetz. Von Anklagen und Angebern. Von der allgemeinen Entehrung der Gemüther und von der Schmeichelei, die eine unumschränkte Regierung begleiten. Vom Geist der Höfe. Ueber Armeen und Eroberungen. Ueber die Kaiser, deren Geschichte Tacitus beschreibt; über ihre Minister, ihre Unglücksfälle und die Ursachen ihres Sturzes. Ueber die Bestechung der Minister. Von Finanzen, Volk, Adel, dem Aberglauben der Regenten« u. s. w.
Ein ganzes Staatssystem, mit zahlreichen Beispielen und Sprüchen aus Tacitus belegt; zwar nicht im scharfsinnigen Weltgeschmack des Macchiavell's, desto mehr aber und bis zum Uebermaaße mit aller Wärme eines ehrlichen, das Beste wollenden Mannes gezeichnet. Diderot rechnete Gordon unter seine liebsten Schriftsteller; schaden wenigstens wird er Niemanden und muntert sehr zum eignen, verständigen Lesen des Tacitus an. Hätte er damit nicht seinen Zweck erreicht?
O daß wir den Tacitus ganz hätten! Warum müssen seine Jahrbücher gerade mit dem Tode des edlen Thrasea, seine Geschichtbücher eben vor Vespasian aufhören? Seiner »Germania« wegen ist Deutschland ihm besondern Dank schuldig; und vielleicht hat keine europäische Nation mehr Ursache als sie, in Tacitus' Manier ihre Geschichte nach der vortrefflichen Grundlage, die er von Deutschland selbst gemacht, fortzuschreiben. Schenkte uns indessen nur ein zweites Kloster Corvey den ganzen Tacitus und in Absicht Deutschlandes seinen Gesellen, den Plinius, wieder!
Wie, wenn ich Ihnen für Ihren schottischen Gordon einen deutschen Commentator des Tacitus nennte, der Jenem an der Seite zu stehn wohl werth, aber desto unbekannter, desto ungeschätzter ist? Die bloßen Grammatiker haben von seinen Anmerkungen über diesen Römer sehr zurücksetzend gesprochen; sie sind aber voll Kenntniß der Geschichte, voll Lebens- und Geschäftserfahrung, dabei mit so deutscher Treue und Biederkeit vor mehr als hundert Jahren geschrieben, daß sie für uns endlich doch ein lehrreiches Buch werden könnten. Es sind die sogenannten »Politischen Anmerkungen über Tacitus« vom Mömpelgard'schen Geheimen Rath Forstner.Christophori Forstneri Notae politicae ad C. Tacitum. Argent. 1650. – H.
Moser hat sich um diesen Mann verdient gemacht, daß er seine Lebensgeschichte, so gut er sie haben konnte, in sein patriotisches Archiv aufnahm. Eine Reihe Briefe desselben kennen Sie aus einer andern nützlichen Sammlung.Le Bret's Magazin zur Geschichte – H. Wie, wenn Jemand, jedoch mit Auswahl und Zusammenstellung, Forstner's Gedanken über Tacitus übersetzte und Friedrich Carl Moser sie auch nur mit Wenigem commentirte, so käme dieser Reichthum bescheidener, geprüfter Gedanken doch einigermaßen in Umlauf.
Ueberhaupt, warum liegen die Betrachtungen verdienter deutscher Staatsmänner voriger Zeiten bei uns so tief im Dunkel? Engländer, Franzosen und Italiener haben die ihrigen schön aufgeputzt; wir stehen hierin fast hinter Polen und Ungarn. Und doch ist das Geschäft- und Gedankenreich verdienter, sachkundiger Männer einer Nation gleichsam der Stamm, ohne welchen sie kaum eine Nation, geschweige ein durchdachter, durchempfundener Staatskörper genannt zu werden verdient. Die geographischen Grenzen allein machen das Ganze einer Nation nicht aus; ein Reichstag der Fürsten, eine gemeinschaftliche Sprache der Völker bewirken es auch nicht allein; ja, letztere ist in Deutschland den Provinzen nach so verschieden (große Striche sprechen ganz und gar eine fremde Sprache, ganze Classen der Menschen nehmen an Gedanken gar keinen Theil), daß, wenn man dies Alles zusammenhält, man es den Magistern nicht übel nehmen kann, wenn sie pro gradu noch bis jetzt über das Thema disputiren, »welche Regimentsverfassung Deutschland habe, oder ob die Deutschen eine Nation seien.« Die spottenden Urtheile der Ausländer hierüber, auch wenn sie unserm Fleiß, unsrer Treue, unserm Biedersinn Gerechtigkeit widerfahren lassen, sind bekannt. Sollte es also nicht der geringste Dank sein, den man dem verstorbenen Diener erweist, daß man mit seinen Dienstleistungen auch die Gedanken, deren er sich dabei erkühnte, der Nachwelt nicht entziehe? Wenigstens bilden sodann doch die treuen Diener eine Kette, die Jahrhunderte durch reicht, und an die sich neue treue Diener anschließen mögen. Das Jahrhundert der Reformation erlaubte sich noch, auch über vaterländische Sachen laut zu denken; seitdem ward Alles Rang, Form und Stand, oder ging, sobald es ein eigner Gedanke schien, in die Archivgräber.
Daher dann, daß uns eine Geschichte Deutschlandes so lange gefehlt hat und in manchen Theilen noch lange fehlen wird. Daher, daß unser Sleidan keine Ausgabe wie der französische Thuan erlebt hat, und unsre Mevii, verstandreich wie sie sind, den Montesquieus, Clarendons, Sarpis andrer Nationen an Ruhm, Glanz, allgemeiner Bekanntschaft und Schätzung wol nachstehen müssen. Daher, daß die Mozambanos, die A Lapide unter besonderm Schutz, immer also halb parteiisch schreiben, wol gar in fremde Länder gehn oder Fremde sein mußten. Daher endlich, daß die besten Schriften dieses Faches in Deutschland vergleichungsweise wenig oder keine Wirkung thun; denn oft ist mit jeder dritten Meile das politische Interesse der deutschen Provinzen geändert.
Weit entfernt bin ich, hiemit eine Staatsklügelei nach Deutschland zu wünschen, die gottlob unser Charakter nicht ist, und die jedem Volk verderblich gewesen. Räsonnirte Geschichte aber, räsonnirte Erfahrungen des Lebens aus allen Ständen, in allen Verhältnissen und Aemtern muß Jedermann wünschen. Durch die Vernunft lebt der Mensch, ob er gleich vom Brode lebt; die oft theuer erworbene Summe von Gedanken und Erfahrungen unsers Lebens ist auch ein Besitz, und jedes Glied des Staats gehört dem Ganzen nicht nur durch das, was es mechanisch that, sondern auch durch das, was es bei diesem mechanischen Thun dachte. Schweigen verständige Leute, so redet der Thor; der spricht sodann desto unbesonnener und lauter.
Mich dünkt, in Deutschland war zu neueren Zeiten Moser der Erste, der in dieser Art freimüthiger und bescheidner Biederkeit ein Beispiel gab. Stellt man ihn mit ältern deutschen sogenannten Staatsmännern, Kulpis, Reinking, Veit Seckendorf, zusammen, welch ein Unterschied! gewiß nicht zu seinem Nachtheil! Sein »Herr und Diener«, seine »Beherzigungen«, »Reliquien«, »Patriotische Briefe«, sein »Schutt zur Wegebesserung«, und was für Einkleidungen er sonst gewählt, sind einestheils mit einer so treffenden Wahrheit, anderntheils mit einer Herzlichkeit geschrieben, als ob der Verfasser einmal Luther's Freund und Amanuensis gewesen wäre. Züge der Beredsamkeit sind in ihm, deren sich mancher britische Parlamentsredner nicht schämen dürfte; und Alles hüllt sich endlich in den Mantel der deutschen Bescheidenheit und Demuth. Sein »Patriotisches Archiv« enthält treffliche Sachen; so wie durchaus keiner seiner Aufsätze von Geist und Herz leer ist. Die meisten derselben, weil sie deutsche Dinge betreffen, lesen sich, als ob sie heute geschrieben wären.Vgl. über Moser Goethe's Urtheil im zweiten Buche von »Dichtung und Wahrheit«. – D.
Schon am Ende des vorigen Jahrhunderts entstanden periodische Schriften mancherlei Inhalts; im jetzigen mehrten sich diese nicht nur im Ganzen, sie vervielfachten sich auch in einzelnen Provinzen bis zu wöchentlichen Blättern und Beiträgen, die in Deutschland ein sehr guter Same geworden sind. Möser's »Patriotische Phantasien« sind aus Beiträgen zum Osnabrückischen Wochenblatt entstanden; und was andre Zeitschriften hier, dort und da in den germanischen Wäldern für Nutzen gestiftet haben, ist weniger landkundig als wahr und rühmlich. Laß es hie und da auch Mißbräuche dieses Vehiculs gegeben haben und geben: Mißbrauch hebt die gute Sache nicht auf. Viele unsrer deutschen Journale sind ein Fundbuch trefflicher Materialien, ja in Deutschland fast das einzige Mittel, wodurch Provinzen und Stände einander kennen lernen. Mancher böse Pflichtträger, der sich gleich Jenem im Evangelium weder vor Gott noch Menschen fürchtet, scheut sich wenigstens vor der Schande eines Journals.
Ungleich höher und weit voran alle Diesem stünde die Geschichte, wenn sie jeder Provinz unsers Landes mit Geschmack, Verstand und Patriotismus bereits einheimisch geworden wäre. Wollten wir uns von einigen derselben nach und nach nicht ausführlicher unterhalten? Wenn irgend eine Wissenschaft, so ist ja die Geschichte ein Studium der Humanität, ein Werkzeug des ächtesten Vaterlandsgeistes.