Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sumpfblume.


1.

»Fünf Minuten vor neun Uhr!«

Der Herr Professor – oder, wie er sich lieber nennen ließ: der Herr Rat – blickte nervös nach der Säulenuhr des winkelreichen, angeblich altdeutschen Zimmers. Sein faltiges kleines Wucherergesicht nahm einen boshaften Ausdruck an.

»Fünf Minuten vor neun Uhr!«

Seine Frau trug auch sonst eine angstvoll-nervöse Miene zur Schau, als zitterte sie fortwährend vor einem drohenden Schicksalsschlage. Wie sie aber jetzt mit gefalteten Händen nach ihrem Manne blickte, glich sie vollends der schmerzhaften Muttergottes einer Dorfkirche. Nur sah sie ungleich welker aus.

Ihre Tochter Adele saß in der Fensternische und schaute, ohne ein Wort zu reden, trotzig-unbeweglich, mit weinerlich verzogenem Munde nach der Andrássystraße hinaus. In der Stube herrschte jene gewisse, vielcitierte Ruhe vor dem Sturm.

Die stumme Familientragödie drehte sich um die schreckliche Thatsache, daß sich Adelens Bräutigam zum Souper verspätete. Der Professor wollte, ohne Rücksicht – oder vielmehr eben mit Rücksicht – auf den unordentlichen jungen Mann, Schlag neun Uhr das Abendessen auftragen lassen; die Damen dagegen meinten, es könne dem Nierenbraten nicht schaden, wenn er noch ein wenig in der Bratröhre bliebe. Eine Weile redeten sie ihrem Tyrannen, allerdings nur ganz schüchtern, zu, bald jedoch schwiegen sie still, denn sie sahen, daß er seinen obligaten Wutanfall bekam.

»Ein unordentlicher, nachlässiger Mensch! Ein Mensch ohne Grundsätze!«

Das galt dem abwesenden Bräutigam. Ein unordentlicher Mensch – das bildete im Hause Mihályi die schwerste Beschuldigung, die gegen jemand erhoben werden konnte. Hätte man Adelen gesagt, ihr Bräutigam sei in freien Stunden ein »Roßkamm«, sie würde es leichter verwunden haben. Ordnung bis zur Haarspalterei, Ordnung bis zum Fanatismus – das war's, was man in diesem Hause verlangte.

Der Professor spazierte voll wütender Schadenfreude im Zimmer auf und ab. Er fürchtete geradezu, sein künftiger Schwiegersohn könnte noch vor neun Uhr zum Abendbrot erscheinen.

Jetzt war's nicht mehr möglich. Neun Uhr!

»Das Nachtmahl!« schrie der Tyrann mit furchtbarer Stimme.

»Aber Papa!« bat Adele.

»Das Nachtmahl!« kreischte er, einen vernichtenden Blick nach seiner Frau sendend. Jetzt war er allen Ernstes böse.

Die Frau nahm ihren Kopf zwischen die Hände und eilte nach der Küche. Adele drehte aufgeregt und voll Erbitterung das Taschentuch zwischen den Fingern. Der Professor aber setzte sich zu Tische, band die Serviette um den Hals und wartete – mit lauerndem Blicke und vorgestreckter Unterlippe, wie ein hungriger Raubfisch.

Der Professor, im übrigen ein Gelehrter von großem Ruf, war mürrisch und zänkisch, auch wenn ihn nicht hungerte. Seine Familie zitterte vor ihm. Desgleichen seine Gratispatienten auf der Klinik – diese ebenso vor seinen chirurgischen Mörderwerkzeugen wie vor seiner unerhörten Grobheit. Nur seine Berufskollegen nahmen ihn nicht ernst – und die Universitätshörer, jene lockeren Mediziner, denen es Spaß machte, ihm während des Vortrages Papierkügelchen an die Nase zu werfen und seine Erklärungen öfter mit schallendem Gelächter zu begleiten. Ja sie behaupteten sogar, das medizinische Wissen des großen Gelehrten sei nicht größer als das eines simplen Dorfbarbiers.

Einst, in längst überwundenen Zeitläuften, als man das zur Einrichtung des neuen Kulturstaates nötige wissenschaftliche Inventar noch sozusagen mit der Leine zusammenfing, ward auch aus Mihályi, der eine mit tierischem Fleiße zusammengestellte Sammlung getrockneter Pflanzenpräparate besaß, eine Berühmtheit gemacht. Dies hinderte jedoch nicht, daß man auch im Kreise seiner Familie, wo der Glaube an das Allerweltswissen des Papas ansonsten unerschütterlich fest stand, das Schnupfenfieber lieber nach den Hausrezepten der vielerfahrenen Waschfrau kurierte.

Das Abendbrot wurde also aufgetragen.

Die Damen thaten demselben kaum ein wenig Bescheid, der Professor dagegen stürzte sich mit wahrem Wolfsappetit auf die Schüsseln und würzte die einzelnen Gänge mit Bemerkungen, die auf ebenso großes Sachverständnis wie auf eine tüchtige Portion Bosheit folgern ließen. Wenn er auch von der medizinischen Chemie nicht viel verstand, die Küchenchemie war von jeher sein Berufsgebiet gewesen.

Als das Dessert an die Reihe kam, blieb draußen unterm Fenster ein im Galopp angefahrener Mietwagen stehen. Zwei Minuten später trat der Bräutigam, Johann Jurisics, in die Stube.

Es war ein breitschultriger junger Mann von hohem Wuchs und vornehmer Haltung. Voll heiterer Ruhe betrat er das Zimmer, verneigte sich mit leichter Eleganz vor den Alten und führte die Hand seiner ein wenig widerstrebenden Braut lächelnd an die Lippen.

Sein fragender Gesichtsausdruck galt dem geröteten Antlitze des Mädchens. Als sein Blick die Reste des Soupers streifte und dann dem wutsprühenden Augenpaar des Professors begegnete, verstand er mit einemmale, was vorgefallen. Auf seinem gebräunten Gesicht erschien ein leichtes Lächeln, gemischt aus einem Tropfen Ironie und viel aufrichtiger Heiterkeit.

»Verzeihung wegen des Verspätens,« sagte er mit nachlässiger Höflichkeit. »Ich traf einen lieben Bekannten, mit dem ich mich ein wenig verplauderte –«

Ein wenig verplaudert – das war seine ganze Entschuldigung!

Adele senkte betrübt das Köpfchen, der Professor aber zog seinen eckigen Schädel zwischen die Schultern, wie ein sprungbereiter Wolf. Er blieb indes stumm. Dieses junge Herrchen, das eigentlich nichts wußte und in der Welt nichts vorstellte, trug ein so sicheres, wohlgemessenes Benehmen zur Schau, daß es selbst dem berühmten Professor imponierte.

Adele sandte später einen flehenden Blick nach ihrer Mutter. Dieser Blick wollte sagen: Geben wir ihm nicht vielleicht doch ein Abendessen?

Die Mama verstand es und schaute verstohlen nach ihrem Gatten. Dieser stützte sein Kinn in die Hand und stierte nunmehr wie ein gesättigter Hecht vor sich hin. Er war mit der Verdauung beschäftigt und da war's wieder gefährlich, ihn zu reizen.

Adele fühlte sich schließlich gedrängt, diese nervöse Ruhepause zu unterbrechen.

»Im Frack?« so fragte sie mit ängstlicher Stimme ihren Bräutigam.

»Ich beabsichtige in den Klub zu gehen. Es ist heute Nachts droben etwas los.«

Der Professor ließ ein leises Entrüstungsgrunzen hören, das zu sagen schien: »Seht einmal! Diese junge Null kann erst mit dem Gelde meiner Tochter zu einer Ziffer werden und geht doch in den Klub soupieren! Speist dort Hasenbraten, Hummer, trinkt dazu Burgunder, vielleicht sogar Champagner – «

Der Professor vergaß in diesem Augenblicke, daß er seine Tochter gerade deshalb mit dieser Null verlobt hatte, weil diese Null im Klub zu soupieren pflegte.

Er brummte noch etwas, stand sodann auf und legte sich auf den Diwan des Speisezimmers.

Ein wenig wälzte er sich dort noch herum, dann fiel er in tiefen Schlaf. Auch das gehörte zur Hausordnung. Aus Gesundheitsrücksichten pflegte er sich nämlich erst zwei Stunden nach dem Abendessen zu Bette zu begeben, bis dahin aber mit offenem Munde auf dem Diwan zu schnarchen, Er behauptete, daß er um diese Zeit nie schlafe, sondern aufmerksam dem Gespräche der Übrigen zuhöre. Daher forderte er auch strengstens, daß alles im Zimmer bleibe.

Frau Mihályi machte sich geräuschlos um den Tisch zu schaffen, das Brautpaar zog sich in die Fensternische zurück. Jurisics machte eine Weile den Versuch, irgendein gleichgültiges Gespräch zu beginnen, sein Bestreben scheiterte jedoch an dem Schweigen des Mädchens. Adele lehnte den Kopf zurück und starrte mit fest geschlossenem Munde und halb gesenkten Lidern vor sich hin.

Jurisics fühlte instinktiv, daß sich des Mädchens Gedanken mit ihm beschäftigten und daß diese Gedanken voll Bitterkeit waren.

»Sind Sie mir böse?« fragte er plötzlich und erfaßte die Hand seiner Braut.

Das Mädchen schüttelte den Kopf und faltete fröstelnd die Hände über der Brust.

»Was fehlt Ihnen sonst?«

»Nichts!« war die geflüsterte Antwort.

»Daß ich mich um einige Minuten verspätete? Sagen Sie, lohnt es der Mühe, darüber zu reden?«

Adele antwortete mit einem sentimentalen Blicke und versank dann aufs neue in hartnäckiges Schweigen. Aus ihrem Antlitz war zu lesen, daß sie sich beleidigt fühlte.

Der junge Mann blieb noch etwa eine halbe Stunde in der überheizten Stube sitzen und lauschte aufmerksam dem Ticken der Uhr und dem Geschnarche des Alten. Abwechselnd schaute er bald nach Adelen, bald nach der Mutter. Adele vermied es gänzlich, ihn anzusehen; auf ihrem Antlitz ruhte der Ausdruck trauernder Entsagung. Die Mutter dagegen warf, während sie die Servietten faltete, dem Bräutigam Zornesblicke zu, die ihr Ähnlichkeit mit einer gereizten Bruthenne verliehen.

Jurisics biß sich noch eine Weile die Lippen wund, dann erhob er sich plötzlich. Eine siedendheiße Blutwelle war ihm vom Herzen zu Kopfe gestiegen. – Es hätte ihm unsagbar wohl gethan, das Spiegelglas des Fensters mit einem Faustschlage zertrümmern zu können, um der kalten Winterluft Einlaß zu verschaffen in die unausstehlich spießbürgerliche Schwüle dieser Stube.

»Gehen Sie schon fort?« fragte das Mädchen, sich ebenfalls erhebend.

»Ja!«

Die Braut hielt ihn nicht zurück. Als sie auf ihn zutrat, um sich zu verabschieden, sagte er plötzlich: »Adele, begleiten Sie mich auf einen Augenblick nach dem Vorzimmer!«

Das Mädchen zögerte.

»Kommen Sie, ich bitte!«

Die Bitte klang bestimmt, wie ein Befehl. Die Mama warf einen erschreckten Bruthennenblick auf das Mädchen, doch Adele beruhigte die besorgte Mutter damit, daß sie ein gestricktes Umhängtuch um die Schultern nahm.

»Haben Sie mir etwas zu sagen?« fragte sie verlegen, als sie einander draußen gegenüberstanden.

»Ich wünsche, mit Ihnen ins reine zu kommen. – Haben Sie an mir etwas auszusetzen? Sprechen Sie, was ist es? So kann es nicht weiter gehen. – Ich sehe nur, daß Sie mich bald voll Kälte, bald geradezu feindselig behandeln. Weshalb? Ich habe davon keine Ahnung. Manchmal glaube ich es zu erraten, Gewisses jedoch kann ich niemals erfahren, denn Sie sagen es mir nicht um alles in der Welt –«

Anfangs sprach er ruhig und leise, um drinnen im Zimmer nicht gehört zu werden, bald jedoch vergaß er sich und fuhr mit erhobener Stimme fort: »Sie haben mir in Ihrem Hause eine fast erniedrigende Rolle zugedacht, während Sie doch wissen könnten, daß ich zu einer solchen kein Talent besitze. Seit neuerer Zeit konnte ich erfahren, daß mich Ihr Vater mit seinem Hasse beehrt. Die Ursache ist mir unbekannt, doch muß ich jedesmal sehen, daß schon mein bloßes Erscheinen genügt, ihn zu verstimmen –«

Hier fiel ihm das Mädchen ins Wort: »Sie irren – Papa ist kein junger Mann mehr und hat seine Eigenheiten, die man respektieren muß!«

(Das bildete so die konstitutionelle Formel, mit der die Damen vom Hause Mihályi jede Laune des Alten zu legalisieren pflegten: Papa ist kein junger Mann mehr –)

Jurisics zuckte die Achseln.

»Ich würde die Extravaganzen des alten Herrn nicht allzu ernst nehmen, wenn ich wüßte, daß ich auf Sie zählen kann. Doch ich befinde mich diesbetreffend in voller Ungewißheit. Ich ahne nur, daß Sie mich nicht lieben.«

Das Gesicht des Mädchens verriet tiefe Kränkung. Der junge Mann fuhr fort: »Es ist übrigens möglich, daß wir beide über der Liebe verschiedene Begriffe hegen. Einem Wesen, das ich liebe, vermag ich selbst einen Mord zu verzeihen, geschweige denn einen unbedeutenden Formfehler. Nein, Adele, Sie lieben mich nicht! Warum sind Sie nicht aufrichtig? Wir müssen miteinander unbedingt ins reine kommen. Es kann die Zeit nahen, wo ich von Ihnen fordern werde, daß Sie zwischen Ihren Eltern und mir die Wahl treffen. Kann ich dann auf Sie zählen? Ich fürchte: nein! Sagen Sie mit einem Wort: Kann ich auf Sie zählen?«

Jurisics blickte sie mit wachsender Erregung an. Er fühlte klar, daß er, der sich Adelen eigentlich nur ihrer Mitgift wegen genähert, in seiner jetzigen Ereiferung schon viel mehr Leidenschaft empfinde, als das laue Gemüt des Mädchens zu verstehen und in sich aufzunehmen vermochte. Dabei wußte er aber, daß das Mädchen aus Neigung seine Braut geworden.

Adelens ängstliche Verschlossenheit reizte ihren Bräutigam noch mehr. Er empfand ein unwiderstehliches Verlangen, die Eisrinde ihres Herzens zu zertrümmern. Plötzlich riß er sie an sich und begann sie gewaltsam zu küssen.

»Sprich – liebst du mich?«

Das Mädchen wehrte sich entsetzt.

»János! Was thun Sie?«

Frau Mihályi, die schon längst befürchtete, Adele würde sich in dem ungeheizten Vorzimmer erkälten, öffnete in diesem Augenblick die Thür.

»Adele!«

Jurisics war genötigt, das Mädchen loszulassen.

»Gute Nacht!« sagte er und reichte seiner Braut die Hand.

Länger als nötig hielt er die Hand des Mädchens in der seinen; jenen vielsagenden Händedruck aber, der ihn mit der Vergangenheit versöhnt und für die Zukunft ermutigt hätte, erwartete er vergebens.

Als er sich auf der finsteren Straße befand, ärgerte er sich innerlich, mußte aber trotzdem lachen. Er fühlte, daß er eine Blamage erlebt habe. Wie konnte ihm auch nur beifallen, diese kleine Spießbürgerin so plötzlich im Sturm erobern und gegen ihre Eltern aufbringen zu wollen?

Er sann darüber nach, was nach dem Vorgefallenen zu beginnen wäre. Auf jeden Fall wollte er den bequemsten Weg einschlagen, das heißt, den Dingen in dem alten Geleise ihren gewohnten Lauf lassen. Etwas mußte ja daraus werden – wenn auch keine Vermählung.

Er wollte nach dem Klubhause, und da er auf dem nächsten Standplatze keinen Mietwagen fand, setzte er seinen Weg zu Fuß fort.

Vom äußern Oktogonplatze nach der inneren Stadt zu belebte sich die ausgestorbene Straße. Er begegnete Gruppen von Theaterbesuchern, die unter laut geführten kritischen Diskursen aus der Oper nach Hause eilten.

Einige hundert Schritte später traf er mit zwei Herren und einer Dame zusammen. Diese war von kleiner Gestalt, trug einen langen Mantel und auf dem Kopf ein weißes Spitzentuch. Sie ging mit beiden Herren Arm in Arm und alle drei schienen in ausgelassener Laune zu sein, denn sie blieben öfter stehen und lachten laut auf.

»Sieh da: Jurisics!« rief jetzt der kleinere der beiden Herren.

»Guten Abend, Gróthy!« erwiderte Jurisics.

Die Dame mit dem weißen Spitzentuch hörte auf zu lachen und schaute neugierig nach Jurisics. Ihr auf den Namen Gróthy hörender Begleiter aber reichte, als er seinen angerufenen Freund ruhig weiterschreiten sah, der Dame zum Abschiede die Hand, eilte Jurisics nach und hing sich in seinen Arm.

»Servus, Alter! Gut, daß wir uns treffen. Ich erspare mir dadurch einen Marsch nach dem Stadtwäldchen.«

»Wer ist das Frauchen?«

»Eine hübsche Frau, weiter nichts,« erklärte Gróthy. »Nebenbei die Gattin eines kleinen Beamten. Der Dritte ist ihr Mann.«

»Machst du der Frau den Hof?«

»Ach nein! Umgekehrt ist's eher der Fall. Sie und ihr Mann sind in aller Form in mich verschossen. Ihre Einladungen verfolgen mich unablässig. Sobald ich aber mit der Frau ein ernstes Wort reden will, lacht sie mir ins Gesicht und erzählt es ihrem Gatten, der dann ebenfalls lacht. Ich weiß nicht, was diese Leute von mir denken! Sie scheinen mich nicht ernst zu nehmen.«

Der kleine Gróthy war ein wenig böse, jedoch nicht vollends ärgerlich gestimmt. Der kleine Gróthy führte eigentlich den Namen »von Szentgróthy«, die Leute seiner intimen Umgebung fanden jedoch, daß für ihn die Hälfte des Namens eben genüge. In der Stadt kannte ihn jedes Kind. In seinem kurzschößigen Frack, Smoking oder Franz-Josefsrocke, den Hals in den hohen Hemdkragen gesteckt, mit einer Blume im Knopfloch und dem glänzenden Monocle im Auge, war er überall zu finden, wo die berufsmäßig sich langweilenden Menschen zusammenzukommen pflegen.

Er stand im Rufe eines Mannes von gutem Namen und guter Erziehung, allein man betrachtete ihn wegen seiner kleinen Gestalt und seiner schmiegsamen Manieren allgemein nur als eine Art Ersatzmann. Am Kartentisch war er Ersatzpartner, bei Duellen Ersatzsekundant, bei den Frauen Ersatzhofmacher, bei den Mädchen Ersatztänzer. Wiewohl er zu all diesen Beschäftigungen ebensoviel, vielleicht sogar mehr Eignung besaß als viele seiner Freunde, die als ganze Menschen galten, wußte er sich in allen Fällen soviel heitere Philosophie zu bewahren, daß er sich von selbst zurückzog, sobald er merkte, daß die Ankunft des Wirklichen die Funktion des Ersatzmannes überflüssig machte.

Was Szentgróthy für Jurisics hegte, war mehr als Freundschaft. Es glich der Schwärmerei eines Schulmädchens für ihren liebsten Romanhelden.

Auf einem Maskenball rettete ihn einst Jurisics vor der Züchtigung eines eifersüchtigen Gatten oder Anbeters und tags darauf durchhieb er mit einem Säbelstreich den Skandalknoten, den Szentgróthy mit ebensovielem Eifer als Ungeschick aus dieser Affaire geschürzt hatte. Von dieser Stunde an war er für Jurisics von einer geradezu sentimentalen Anhänglichkeit ergriffen.

Diese Anhänglichkeit äußerte sich hauptsächlich darin, daß Gröthy täglich ein paar Stunden auf dem bequemen Diwan der Garçonwohnung seines Freundes liegend zubrachte, die Liqueure Jurisics' austrank und dessen Cigaretten verrauchte. Als Entgelt pflegte er Jurisics mit wappengeschmückten Tabatieres zu versehen, verkündete laut und offen, daß er Jurisics für den ersten Kavalier des Landes halte, und erklärte den Geschmack derjenigen Frau für »mindestens unverständlich«, die sich in seinen Freund nicht auf den ersten Blick sterblich verliebte.

Jurisics liebte nach seiner Art den anhänglichen Freund wieder. Da er längst wußte, daß Szentgróthy an Leichtsinn selbst ihn übertrifft und trotz großer Revenüen oft mit verzweifelten Geldverlegenheiten zu kämpfen hat, begann er über ihn eine Art Vormundschaft auszuüben. Mehrmals schon hatte er seinen eigenen Geldvorrat und Kredit in Anspruch genommen, um »das Kind«, wie er Szentgróthy nannte, aus den Klauen der Gläubiger zu befreien.

Die beiden Freunde setzten jetzt Arm in Arm ihren Weg fort.

»Gehen wir irgendwohin, Jancsi!« beantragte Szentgróthy.

Irgendwohin – das bedeutete soviel wie: in ein Orpheum.

»Ich habe Hunger und gehe in den Klub.«

»Wird die Schlacht heute fortgesetzt?« erkundigte sich Szentgróthy voll Interesse.

Er meinte damit die Hazardpartieen, welche zu Ehren eines aus der Provinz angekommenen Magnaten seit einer Woche auf der Tagesordnung standen.

»Ich schulde Revanche,« erwiderte Jurisics ganz gleichgültig.

Eine Weile schritten sie stumm nebeneinander dahin, bis Szentgróthy ein neues Thema einfiel.

»Apropos – warum hast du sie heute so früh verlassen?«

(Damit meinte er allemal die Familie Mihályi.)

»Ich habe ihre Gesellschaft neuerdings auf einige Zeit gründlich satt bekommen,« sagte Jurisics verdrießlich. »Sie waren wieder einmal unausstehlich.«

»Auch Adele?«

»Sie, samt den Alten. Adele warf mir Vorwurfsblicke zu, wie das sterbende Reh dem Jäger – um keinen andern Vergleich zu gebrauchen. Ich habe natürlich keine Ahnung, weshalb.«

»Wahrscheinlich hat man dich verklatscht.«

»Daran dachte ich auch schon. Vielleicht haben sie erfahren, daß ich wieder spiele. Um den Alten würde ich mich übrigens wenig kümmern. Ein galliger Narr, mit dem ich mich nicht vertragen könnte, auch wenn ich nicht spielte. Ein Schwiegersohn aus Fleisch und Blut ist nichts für ihn; er braucht einen Automaten, zu dessen Uhrwerk er den Schlüssel in der Tasche trägt. Einen Automaten, der auf die Sekunde gerichtet ist, der kommt und geht, mit dem Kopfe nickt, den Wein mit Wasser gemengt trinkt und Adelchen die Hand küßt. Und du weißt doch, daß ich keinen Funken Talent zu einem Automaten besitze!«

»Ich sehe voraus, wie du sie eines Tages im Stich lassen wirst.«

Jurisics lächelte verbittert.

»Umgekehrt: sie werden mir den Laufpaß geben.«

Szentgróthy blieb betroffen stehen.

»Was ist dir?«

»Nichts. Wenn diese Verlobung zurückgeht, bin ich verloren. – Du kennst meine Lebensweise. Mein Vater ist Magnatenhausmitglied, Besitzer zahlreicher Orden und vielfacher »Etcetera«, sein Vermögen aber hat in der inneren Rocktasche Platz. Als Bankdirektor (ich glaube, das ist er) erhält er zwar ein tüchtiges Honorar, doch ist es uns, mir und ihm, gerade groß genug; wir bringen es jeden Monat bis auf den letzten Heller durch. Ich habe außerdem noch einen Haufen Schulden. Nicht viel, insgesamt etwa dreißig- bis vierzigtausend Gulden – eine Last, die ich als Bräutigam der reichen Mihályi spielend leicht ertragen kann. Wie aber, wenn die Verlobung heute oder morgen zurückgeht? Du kennst ja meine Juden!«

Ihre Schritte verlangsamten sich immer mehr. Jetzt blieben sie auf dem Asphalt stehen.

»Ein Zustand zum Närrischwerden!« murmelte Szentgróthy.

»Auf ihre Eltern kann ich nicht mehr zählen,« fuhr Jurisics fort. »Anfangs imponierte ihnen der Name meines Vaters, doch jetzt hat auch der schon seine Wirkung verloren; sie sind zu sehr daran gewöhnt. Der alte Mihályi haßt mich. Wenn ihn nicht die Furcht vor dem Skandal daran hinderte, er wäre imstande, mir morgen die Thür seines Hauses vor der Nase zuzuschlagen. Ich glaube, er sucht nur nach einem eklatanten Belastungsbeweis wider mich, dann wird er sich auch mit dem Skandal abzufinden wissen.«

»Und gegen einen jungen Mann von Blut und Rasse ist's doch so leicht, einen solchen Beweis zu finden,« warf Szentgróthy dazwischen.

»Eine Hoffnung bleibt mir noch: das Mädchen. Kann ich sie gewinnen, ganz für mich gewinnen, dann rede ich leicht mit den Alten –«

Szentgróthy tippte sich triumphierend auf die Stirn.

»Freilich, da haben wir's! Das Mädchen!«

Dann ergriff er plötzlich den Arm seines Freundes Jurisics.

»Liebst du sie?«

Jurisics brach in ein leises Gelächter aus.

»Du hast mitunter so einfältige Fragen!«

Szentgróthy stimmte in das Lachen seines Freundes ein.

»Nichts für ungut! Ich meine ja nur, wie man dergleichen im neunzehnten Jahrhundert eben zu meinen pflegt. Im übrigen ist sie ja recht hübsch und in ihrem Benehmen liegt eine frostige Verschlossenheit, die mich an gefrorenen Champagner gemahnt –«

»Du willst vielleicht sagen: gefrorene Limonade.«

»Ich fragte dich, ob du sie liebst, weil zum Verrücktmachen eines Weibes nach alten Erfahrungen als sicherstes Mittel gilt, sich erst selbst von ihm den Kopf verdrehen zu lassen. Kaltes Blut hat in solchen Fällen gar keinen Wert. Das thut erst dann seine Wirkung, wenn das Beibehalten der eroberten Position in Frage kommt. Die Revolutionäre sind allesamt Sanguiniker, die Imperatoren dagegen Phlegmatiker gewesen.«

»Welch überraschende Beobachtungen du hast!« bemerkte Jurisics mit leisem Spott. »Ich muß übrigens gestehen, daß mir das Mädchen keineswegs antipathisch ist. Sie ist hübsch, sanft und egoistisch. Es wird einmal eine gute kleine Frau aus ihr, die ihren Gatten in den engen Kreis ihrer Selbstsucht mit sich zieht und deren Wünsche über die Mauern der Küche und der Kinderstube nicht hinausreichen.«

»Also wirklich nur Limonade?«

»Etwas dergleichen. Jedenfalls aber gut genug für mich. Den Champagner kann man sich ja außer dem Hause holen!«

Langsamen Schrittes setzten sie ihren Weg fort. Szentgróthy sah zerstreut auf seine Uhr.

»Nicht einmal nach Elf! Deine Partie beginnt ohnehin erst nach Zwei, wir könnten also noch irgendwohin gehen. Komm doch, Jancsi! Zum Beispiel zur ›Lachtaube‹ – Ein paar hübsche Mädel giebt's dort immer unter den Sängerinnen. Auch pflegt Jessi hinzukommen –«

»Sängerinnen nachzulaufen? Das fehlte mir jetzt gerade noch!« bemerkte Jurisics.

»Du hast recht – besser, ich gehe allein. Nach Mitternacht treffen wir uns droben im Klub. Du hast Jessi noch nie gesehen, nicht wahr?«

Sie reichten einander an der Straßenkreuzung die Hand.

»Wer ist denn diese Dame mit dem Rattlernamen?« fragte noch Jurisics.

Szentgróthy ließ ein leises Pfeifen hören.

»Du hast noch nichts von ihr gehört? Das läßt sich nicht so im Handumdrehen erzählen. – Sie ist ein Blumenmädchen –«

»Jetzt weiß ich alles.«

»Nichts weißt du! Jessi ist ein wunderliches, rätselhaftes Wesen. Vor etwa zwei Monaten ist sie in der Hauptstadt aufgetaucht. Niemand weiß, woher sie kam. Plötzlich sah man sie mit einem langhenkligen Blumenkorb im Arm die rauchigen Orpheumsäle durchschreiten, ihre schöne Gestalt schwingen und die blendend weißen Zähne zeigen. Gefällt ihr jemand, so steckt sie ihm eine Blume ins Knopfloch. Geld verlangt sie nicht dafür. Banknoten nimmt sie an, Kleingeld weist sie zurück. Du weißt, ich bin kein naiver Junge, doch muß ich gestehen, sie macht auch auf mich den Eindruck, als wäre sie eine Fürstin, die aus purer Sucht nach Abenteuern die Spelunken besucht. Haltung, Toilette sind die einer Fürstin. Das Wunderbarste vergaß ich zu erwähnen: Jessi ist unnahbar!«

»Selbst für dich?« fragte Jurisics mit leiser Malice.

»Für jedermann. Und die gesamte junge Herrenwelt stellt ihr unausgesetzt nach –«

»Morgen wollen wir hierüber weiter sprechen,« sagte Jurisics, den der Wortschwall seines Freundes zu langweilen begann.

 

2.

Szentgróthy nahm seinen Weg zur »Lachtaube«, Jurisics aber bog, um das Boulevard zu vermeiden, in eine enge Seitengasse ein. Dieselbe ist tagsüber ausgestorben, nachts glänzend beleuchtet und von lärmendem Frohsinn erfüllt. Kaffeehäuser, Tanzsäle an allen Ecken und Enden. Zu den fortwährend aufgerissenen und wieder zugeschlagenen Glasthüren dringt Cymbalspiel und übermütiges Gejauchze heraus.

Eben als Jurisics die rote Lampe einer solchen rauch- und lärmerfüllten Kneipe passiert hatte, vernahm er hinter seinem Rücken das Geklirr einer Glastafel und einen wutvollen Schrei, worauf ein menschlicher Körper auf das Pflaster des Trottoirs fiel.

»Den Burschen hat man tüchtig vor die Thür gelegt,« – konstatierte Jurisics, ohne sich auch nur umzusehen; er besaß für derlei Scenen zu abgehärtete Nerven.

Dann vernahm er leichte Laufschritte und ein leises Kleiderrauschen, worauf alsbald jemand, ohne jede Einleitung einer so vertraulichen Annäherung, seinen Arm ergriff und sich dareinhängte. Eine nach Veilchen duftende, vom Laufen keuchende, schlanke weibliche Gestalt schritt eine Weile in taktmäßigem Tempo stumm neben ihm dahin.

Jurisics wollte sie im ersten Augenblick instinktiv von sich abschütteln, es fiel ihm jedoch plötzlich Jessi ein und, ohne zu wissen warum, nickte er ihr bejahend zu. Es mußte Jessi sein, von der Szentgróthy so viel gesprochen.

»Das trifft sich ja wie in den Märchen,« dachte er bei sich.

Die Zähne des Mädchens blinkten hell wie Elfenbein, als es da so fröhlich lächelte. Trotz der empfindlichen Kälte ging sie barhaupt. Um ihren Hals schmiegte sich ein weißer feiner Pelzkragen, in der behandschuhten Rechten trug sie einen kleinen langhenkligen Korb.

Eine kurze Weile später bekam Jurisics, der in den kleinen Geheimnissen des großstädtischen Nachtlebens genügend Bescheid wußte, eine Ahnung davon, welchem Zufalle er die Bekanntschaft des Mädchens zu verdanken hatte. Ein Polizeibeamter folgte ihnen auf dem Fuße. Als sich der junge Mann endlich ungeduldig und energisch erhobenen Hauptes gegen den Verfolger umwandte, bog dieser nach kurzem Zaudern in eine Seitengasse ein und ließ das Paar unbehelligt.

»Hat er Sie verfolgt?« fragte Jurisics das Mädchen.

»O, dieser Csámpor ist mir schon seit Wochen auf der Ferse. Ich kann nirgends mehr hingehen, ohne daß er mir sein abscheuliches Gesicht aufdrängt. Seit er eingesehen hat, daß er mit guten Worten nichts ausrichtet, sucht er mich durch seine Amtsgewalt einzuschüchtern.«

»Warum streichen Sie auch um diese Zeit allein umher?« fragte Jurisics.

»Ich hatte ja wie gewöhnlich Fritzi bei mir. Kaum hatten wir uns aber im Kaffeehause niedergelassen, als sich plötzlich einige Kellner auf Fritzi stürzten, ihm die Taschen durchsuchten, daraus ein Dutzend schlechte Löffel nahmen, die er, während er der Kassiererin hofierte, aus der Kredenz entlehnt hatte, und ihn dann zur Thür hinauswarfen.«

»Ich hörte ihn plumpsen, als ich vorüber kam,« sagte Jurisics.

»Ein guter Bursche, dieser Fritzi, schade nur, daß er sich das Stehlen nicht abgewöhnen kann. Aus der Garderobe der ›Lachtaube‹ hat man ihn deshalb weggejagt.«

Sie erzählte all das in einem so gleichgültigen Tone, als sei etwa davon die Rede, daß jemand das Tabakrauchen nicht lassen könne.

Das also war die »Fürstin« des Herrn von Szentgróthy!

»Ist Fritzi Ihr Liebhaber?« forschte Jurisics weiter.

Das Mädchen brach in ein leises, klangvolles Lachen aus. Sie fand den Einfall des jungen Mannes, anstatt ihm darob zu zürnen, sehr erheiternd.

»Fritzi wird nicht wenig stolz sein, wenn ich ihm Ihre Frage mitteile!«

»Jetzt näherte sich ihnen eine hinkende Gestalt mit einem zum Claque zerquetschten Cylinderhut unter dem Arm, das Taschentuch auf das Auge gedrückt.

Das Mädchen blieb stehen.

»Hat man dir sehr wehe gethan, Fritzi?« fragte sie weichherzig.

»Die Schufte! Meinen Hut haben sie mir kaput gemacht!«

»Ich wette, du tauschest ihn dir noch diese Nacht für einen neuen ein!«

»Soll ich Sie nach Hause begleiten?« fragte der Hinausgeworfene.

»Nicht nötig. Dieser Herr begleitet mich.«

Fritzi grüßte mit unterwürfiger Vertraulichkeit und wollte sich entfernen, als ihn das Mädchen nochmals anrief, dann zwischen ihren Blumen zu suchen begann und ihm schließlich eine Banknote zuwarf.

Nun nahm sie wieder den Arm von Adelens Bräutigam und sagte voll unternehmender Heiterkeit: »Ich habe noch keine Lust, nach Hause zu gehen. Wenn Sie wollen, besuchen wir zusammen noch irgend ein Vergnügungslokal.«

Jurisics hatte jedoch an dem Straßenabenteuer gerade genug und erwiderte daher mit spöttischer Höflichkeit: »Ich bin unglücklich, Ihre geistreiche Gesellschaft nicht länger genießen zu können – doch man erwartet mich –«

»Ihre Frau?«

»Erraten!«

»Dachte ich's doch gleich, daß Sie verheiratet sind! Unsere Wege trennen sich daher, obgleich Sie ein vornehmer hauptstädtischer Herr sind. – Ist Ihre Frau hübsch?«

Jurisics fand die Wißbegierde von Szentgróthys »Fürstin« ein wenig unverschämt. Bevor er jedoch eine gebührende Antwort fand, sprach das Mädchen schon von etwas anderem.

»Könnte ich jetzt nur gleich einen Fiaker finden!« sagte sie.

In der Nähe befand sich ein Mietwagen-Standplatz. Jurisics pfiff einen Kutscher samt Droschke heran, Jessi faßte den Rand ihres Kleides, stieg ein und reichte Jurisics aus dem Wagenfenster einen kleinen Gegenstand.

»Thun Sie es ins Knopfloch,« sagte sie. »Es ist für Ihre Frau. Gute Nacht!«

Es war ein kleiner Veilchenstrauß.

 

3.

Szentgróthy blieb einige Tage unsichtbar, dann erschien er eines Mittags plötzlich wieder bei seinem Freunde. Während der Diener das Haar Jurisics' mit zwei Elfenbeinbürsten bearbeitete, schritt Szentgróthy in dem kleinen Salon zerstreut auf und ab, besichtigte der Reihe nach die schon hundertmal gesehenen Photographien, nahm schließlich einen Buldoggrevolver von der Wand, stellte sich in ritterliche Positur und zielte auf sein Spiegelbild.

»Höre,« sagte Jurisics, »unlängst wurde ich mit deiner Jessi bekannt. Ich glaube, sie war es.«

Er beschrieb ihr Äußeres.

»Freilich war sie's,« antwortete Szentgróthy. – »Nun, wie gefällt sie dir?«

»Hm! Recht hübsch, doch nicht ein bißchen sensationell.«

»Auf den ersten Blick macht auch wirkliche Schönheit keinen sensationellen Eindruck. Warte nur, bis du sie ein zweites Mal siehst!«

»Das eine Debüt deiner ›Fürstin‹ genügt mir vollauf. Mit ihrem zurückhaltenden Benehmen ist's übrigens nicht weit her. Ohne nach meinem Namen zu fragen, wollte sie mich nach ihren Vergnügungslokalen mitnehmen.«

»Sie schlendert die ganze Nacht in der Stadt umher und geht nicht gern allein, sondern muß immer einen Begleiter haben, bald einen Taschendieb, bald einen hochgeborenen Herrn. Ohne sonderlich wählerisch zu sein, entledigt sie sich eines zudringlich gewordenen Kavaliers, um sich an der nächsten Straßenecke einen anderen zu holen.«

Weiter sprachen sie nichts über Jessi, und Jurisics gedachte ihrer auch nicht mehr.

Nach Tisch besuchte er seine Braut, und da er den Professor nicht zu Hause traf, unterhielt er sich mit den Damen ziemlich gut. Adele hatte, wie man zu sagen pflegt, einen guten Tag, und als die Mittagssonne Mutter, Tochter und Bräutigam auf eine halbe Stunde unter die Spaziergänger der Andrássystraße lockte, bot das Mädchen mit dem kältegeröteten Antlitz und dem ausnahmsweise gutsitzenden Pelzkostüm eine auffallend hübsche Erscheinung. Es freute sie augenscheinlich, daß sich die Spaziergänger neugierig nach ihr umwandten, und stolz schmiegte sie sich an den Arm ihres um zwei Köpfe höheren Bräutigams.

Beim Abendessen war auch der Professor leidlich guter Laune. Er kam von einem Ministerdiner und stak vom Scheitel bis zur Sohle in ungarischer Gala. Man hatte sein »weltbekanntes« Wissen in einem Trinkspruch verherrlicht, was ihn noch jetzt so friedfertig erscheinen ließ, daß er die Damen wegen ihres Nachmittagsspazierganges gar nicht auszankte; ja, als Jurisics der Meinung Ausdruck gab, daß bei Besetzung der erledigten Mitgliederstellen im Magnatenhause eine verdienstvolle Kapazität, gleich Professor Mihályi, kaum übergangen werden könne, da war der alte Herr ausnahmsweise mit seinem künftigen Schwiegersohn gleicher Meinung.

Beim Abschied hielt Adele ihrem Bräutigam aus eigenem Antrieb die Wange zum Kusse hin.

Dieser flüchtige Kuß, mit dem er das kühle Antlitz des Mädchens berührte, erfüllte ihn mit Beruhigung. In der letzten Zeit quälten ihn gar zu oft bange Zweifel. Die Zukunft lag so ungewiß vor ihm, seine gegenwärtige Existenz, die verschwenderische Lebensweise bei beschränkten Geldmitteln, erschien ihm oft als eine Art Abenteurerlebens. Jetzt fühlte er wieder einigermaßen sicheren Boden unter den Füßen.

In diesem Augenblicke des Insichkehrens beschloß er sogar, nicht wieder in den Klub spielen zu gehen. Er wollte vorerst eine Schale Thee trinken, dann sich nach Haus und zu Bette begeben. Er betrat ein feines Café.

Es waren viele Gäste dort, zumeist Offiziere und alte Herren, ferner eine aus elegant gekleideten Provinzdamen und überlauten Herren bestehende größere Gesellschaft, die sich an mehreren zusammengerückten Marmortischen ziemlich geräuschvoll vergnügte.

Jurisics zog sich in eine entfernte Nische zurück und vertiefte sich auf dem bequemen Plüschdiwan in die Abendblätter.

Plötzlich blickte er empor und sah wieder Jessi vor sich. Sie ging, mit dem Blumenkorb in der Hand, zwischen den Gästen umher.

Das Mädchen war rein durch Zufall hierher gelangt. Von der dunklen Straße durch die Spiegelfenster blickend, ließ sie sich von den vielfach reflektierten elektrischen Lichtern, gleich einem Nachtfalter, hereinlocken. Nachlässig spazierte sie zwischen den Marmortischen hin und her, ohne sich um das Aufsehen zu kümmern, das ihr Erscheinen unter den Damen verursachte. Diese schauten sie bewundernd, die jüngeren unter ihnen geradezu mit Entzücken an. Selbst die Kassiererin wandte kein Auge von ihr.

Sie war sehr schön. Herrlich, groß und kernig, wie ein weißer Schwan. Mit dem ein wenig nach vorn geneigten Halse und der emporgehobenen Handfläche, darin sie den Blumenkorb trug, gemahnte sie auch an die edle Plastik jener wassertragenden Mädchen, wie sie auf antiken Gemmen zu sehen sind.

Einem alten Herrn, der ihr freundlich lächelnd zunickte, steckte sie eine Blume ins Knopfloch, einem jungen Dandy dagegen, der sie mit einem »Pst!« an sich rief, kehrte sie sofort den Rücken. Ein rotbackiger älterer Bengel, der in Gesellschaft eines Schauspielers – oder vielleicht war's ein Weltgeistlicher – an einem mit geleerten Flaschen vollgestellten Tische lümmelte, fuhr in dem Momente, als sie sich näherte, aus dem Halbschlummer und wollte sie mit aller Gewalt umarmen. Das Mädchen wehrte sich eine Weile ruhig und ohne Aufsehen; als es nichts half, berührte sie die Schulter eines am Nebentisch sitzenden Offiziers.

»Helfen Sie mir, ich bitte!«

Während sich der Offizier mit dem berauschten Individuum herumstritt, hatte Jessi aus ihrem Korbe bereits einen Veilchenstrauß entnommen und trat nun damit auf die Ecknische zu, wo sie denselben im Knopfloche Jurisics' befestigte, während ihr voller Arm unbemerkt die Wange des jungen Mannes streifte.

»Erkennen Sie mich?« fragte sie lächelnd.

»Gewiß! Was thun Sie hier?«

»Ich wünschte heute keine Musik zu hören, da mich der Kopf schmerzt.«

Ohne seine Erlaubnis abzuwarten, setzte sich Jessi dem jungen Manne gegenüber und während sie mit ihren großen grauen Augen Jurisics neugierig musterte, zog sie die langen Handschuhe von den Fingern. Sic trug tadellos neue, feine Handschuhe. An ihrer wohlgepflegten Hand funkelte ein Brillant. Unter dem aufgeknöpften Jäckchen war das Kleid zu sehen: eine schwarze Spitzentaille von prächtigem Schnitt. Was sie heute am Körper trug, war sicherlich von höherem Wert, als ihr der Blumenhandel ein ganzes Jahr hindurch einbrachte.

Sie bestellte ein Glas Milch, rührte darin stumm mit dem Löffel und blickte inzwischen zerstreut auf die Bilder eines Witzblattes.

Jurisics hatte unterdessen Zeit, sie zu betrachten. Unter den halbgeschlossenen Lidern schien sein trunkenes Auge die lebensfrische Gestalt förmlich aufsaugen zu wollen. Er sah sie aus dem Halbprofil und fand gar bald, daß er nie im Leben unter der Wirkung so mächtiger individueller Reize gestanden, wie jetzt, angesichts dieses ernsten Mädchenkopfes mit den Seidenwimpern, dem vollen Kinn und dem süßen Munde. Szentgróthy hatte recht: Das Mädchen machte ihn heute, da er sie zum zweitenmal sah, durch all die viele Schönheit geradezu schwindeln. Hierzu kam noch der feine Veilchenduft, welcher ihren Kleidern entströmte.

Erst jetzt bemerkte er, daß ihn Jessi ebenfalls mit großen, neugierigen Augen betrachtete.

»Sie haben gar keine Frau,« begann sie plötzlich ohne jede Einleitung, als wollte sie das unlängst auf der Straße geführte Gespräch fortsetzen.

»Woher wissen Sie das?«

»Ich weiß auch, daß Sie Jurisics heißen. Gróthy hat es mir mitgeteilt. Gróthy hat mir viel von Ihnen erzählt – er spricht immer von Ihnen. Könnte man ihm glauben, so wären Sie gar kein Mensch, sondern irgend ein Halbgott. Apropos! Gróthy behauptet auch, ich würde mich närrisch in Sie verlieben. Gróthy spricht manchmal viel Unsinn zusammen –«

»Nicht nur manchmal, sondern immer.«

Und lange Zeit sprachen sie noch über Szentgróthy. Ein anderer Gesprächsstoff wollte ihnen nicht über die Lippen.

Jener bezechte Herr, der Jessi vorhin umarmen wollte, näherte sich jetzt, gestützt auf den Arm seines glattrasierten Freundes, wankenden Schrittes ihrem Tische. Er richtete an Jurisics eine längere Rede, deren kurzer Sinn der Ausdruck des herzlichen Bedauerns über die Ungezogenheit von vorhin sein mochte. Dann wollte er Jurisics' Hand erfassen und ließ sich samt dem glattrasierten Herrn auf dem roten Diwan nieder.

Jurisics erhob sich und warf dem Mädchen einen stummen, fragenden Blick zu.

»Ja, gehen wir,« sagte Jessi, indem sie ihre Handschuhe vom Tische nahm.

»Wohin soll ich Sie bringen?« fragte er, als sie das Lokal verlassen hatten.

»Nur bis zum nächsten Mietwagen. Ich habe Kopfschmerz und will nach Hause.«

»Wünschen Sie meine Begleitung?

»Nein, unmöglich!«

»Warum nicht?«

Jessi lachte.

»Niemand von den Herren weiß, wo ich wohne, also brauchen Sie es auch nicht zu wissen.«

»Nicht schlecht! Fürchten Sie vielleicht, ich würde Sie besuchen?«

Das Mädchen antwortete nicht, sondern reichte ihm die Hand und stieg in den Wagen. –

Jurisics träumte diese Nacht von Jessi. Er ruhte auf wirbelnden Wolken und hielt Jessi, die sich liebestrunken an ihn schmiegte, in seinen Armen. Als er am Morgen erwachte, meinte er ihre warmen Küsse noch auf den Lippen zu spüren.

»Zum Teufel!« murmelte er nachdenklich. »Ich möchte nicht, daß mir dieses Mädchen jetzt zur fixen Idee würde.«

Ihm zur fixen Idee werden – unter dieser Bezeichnung verstand er jenen Seelenzustand, wo sich ein Weib derart in die Phantasie einnistet, daß es zum Mittelpunkt alles Denkens und Empfindens wird. In seiner bisherigen Praxis verschaffte er sich aus dieser Krankheit, die er nicht »Liebe« nennen wollte, auf homöopathischem Wege Heilung. Die zähe Energie, die ihm in seinen Liebesabenteuern zu Hilfe kam, und die waghalsige Entschlossenheit, mit der er gelegentlich seine ganze Existenz auf eine Karte zu setzen imstande war, sicherten ihm bisher gewöhnlich den Erfolg. Seine »fixen Ideen« zu bekämpfen, dazu war er eine viel zu undisciplinierte Natur; auch hatte es dessen bisher nicht bedurft. Jetzt aber fühlte er, daß er diesen Kampf aufnehmen müsse, mit Rücksicht auf seine Verlobung und seine ganze Zukunft, die er seit letzter Zeit oft in so düsteren Farben vor sich sah.

Er wird also Jessi nicht wiedersehen.

 

4.

Bei strömendem Regen kauerte Professor Milhályi eines Tages in der Ecke eines langsam dahinhumpelnden Stellwagens, als er durch die schmutzige Fensterscheibe plötzlich seinen künftigen Schwiegersohn erblickte, der in einem hübschen Broom pfeilschnell über das Holzpflaster der Andrássystraße dahinfuhr.

Diese zufällige Begegnung bot dem Gelehrten Anlaß zu Vergleichen zwischen der eigenen Bescheidenheit und dem Dünkel jener »jungen Null«.

Er versäumte auch nicht, das Ergebnis dieser Betrachtungen in Gestalt einiger galliger Anspielungen vor Jurisics auszukramen.

Der junge Mann wollte anfangs dergleichen unangenehmen Auseinandersetzungen aus dem Wege gehen, als er jedoch den Schwiegerpapa sich immer mehr in die Wut hineinreden sah, erlangte in Jurisics für einen Moment wieder der Grandseigneur das Übergewicht und er warf ihm in recht geringschätzendem Tone die Bemerkung hin, daß er es nicht liebe, wenn sich jemand in seine Privatangelegenheiten mische. Der Äußerung folgte tiefe Stille. Mihályi und seine Frau blickten einander wie zwei tödlich Beleidigte an, Adele schaute thränenden Auges in ihren Teller.

Jurisics bemühte sich etwa eine Stunde lang vergebens, ein freundliches Wort zu erlangen; das Mädchen, das ihm die letzte Zeit schon ziemlich vertraut begegnet war, zog die empfindsamen Schneckenhörner plötzlich wieder ein und verschloß sich gänzlich vor dem Bräutigam.

»Spießbürger! Unheilbare Spießbürger!« murmelte Jurisics, als er, von Bitterkeit erfüllt, den Heimweg angetreten.

Vor einem Hause der inneren Andrássystraße wollte eine ziemlich derangierte Gestalt an ihm vorüberhuschen. Er erkannte Fritzi, den Kavalier des Blumenmädchens.

Fritzis Erscheinung war entschieden für Gasbeleuchtung berechnet. Da machte er eine erträglich gute Figur, im nüchternen Sonnenschein aber gab's kaum eine jammervollere Gestalt als Fritzi. Sein schwarzer Anzug war sehr abgetragen, der ganze Mensch sehr ungewaschen. Dazu trug er eine rote Krawatte und an der Brust große Glasdiamanten.

Jurisics hielt ihn an und befragte ihn nach Jessi. Fritzi, der bei Jessi gelegentlich auch kleine häusliche Arbeiten verrichtete, erzählte, das Mädchen sei seit zwei Tagen unpäßlich und verlasse die Wohnung nicht. Als ihm Jurisics eine Banknote reichte, erinnerte sich Fritzi sogar an den Namen seines Gönners, den er erst einmal, und zwar bei Nacht, auf der Straße gesehen.

»Gnädiger Herr von Jurisics,« sagte er, vergeblich bemüht, seinem herben, starren Gesichte ein Lächeln abzuringen, »Jessi wohnt hier in diesem Hause, im vierten Stock –«

Dann setzte er gutwillig hinzu: »Erst gestern sagte sie zu mir: Wenn Herr Jurisics nach mir fragt, kannst du ihm meine Adresse mitteilen.«

Jessi gedachte seiner. – Es schien sich also in der Seele des Mädchens eine Art inneren Kampfes abgespielt zu haben, der mit ihrer Kapitulation endigte, denn jetzt erwartete sie offenbar den Besuch Jurisics', während sie ihm wenige Tage vorher ihre Adresse verheimlichte. Woher ahnte sie jedoch, daß sich Jurisics nach ihr erkundigen würde, und zwar gerade bei Fritzi?

Dieses sonderbare Zusammentreffen der Umstände, das Jurisics frappierte, hatte seine recht einfache Erklärung. Zwischen Jessi und der Gesellschaft, welche in ihren Augen die Welt verkörperte, stellte einzig und allein Fritzi die ständige Verbindung dar. Das Mädchen wußte, daß Fritzi als Garderobier, als Aushilfskellner und Gelegenheitspostillon mit den Kavalierskreisen in fortwährendem Kontakte steht, und so war es denn natürlich, daß sie mit der gelegentlichen Botschaft an Jurisics wieder nur Fritzi betraute.

Jurisics bemerkte erst als er in das bezeichnet Haus getreten war und die steile Treppe hinanstieg, wo er sich befand. Er blieb stehen, zögerte einen Augenblick, doch bald beschleunigte die trotzige Erbitterung, die er seiner Braut gegenüber fühlte, abermals seine Schritte. Es kam ihm vor, als habe er durch diesen Gang zu dem Blumenmädchen, das er anfangs dem Hause seiner Braut zuliebe meiden wollte, an der Familie Mihályi Genugthuung zu nehmen. In Wirklichkeit aber sehnte er sich schon nach einem Wiedersehen mit Jessi – eine Sehnsucht, so heftig und unwiderstehlich, wie das Verlangen eines verwöhnten Kindes nach Zuckerwerk.

Droben öffnete ihm eine abschreckend häßliche, citronenfahle Frau die Thür. In einer gräulichen Mundart plapperte sie etwas daher, als aber Jurisics Jessis Namen nannte, schlug ihm die Megäre wütend die Thür vor der Nase zu.

Jurisics läutete aufs neue. Er hörte einen rasch geführten Wortwechsel heraus, die Thür öffnete sich wieder – und jetzt war es Jessi selbst, die vor ihm stand und ihn ins Innere der Wohnung geleitete.

Sie war eben mit der Toilette beschäftigt gewesen, denn sie kam ihm, den Oberkörper nach der Seite geneigt, entgegen und hielt sich das bis zur Hüfte reichende dichte Haar zusammen, bereit es durchzukämmen. Sie trug ein blühendweißcs Negligé und war ohne Mieder.

Lächelnd und sichtlich voll Freude empfing sie Jurisics.

»Ich erkannte Ihre Stimme. Schön, daß Sie kommen. – Wie fiel Ihnen ein, mich zu besuchen?«

»Ich hörte, daß Sie krank seien.«

»Es war nichts. Eher üble Laune als Krankheit und dazu ein wenig Kopfschmerz. – Treten Sie ein, ich bitte!«

Sie führte ihren Gast in ein sonderbares kleines Zimmer. An den für den Alltagsgebrauch bestimmten Möbeln war die billige Fabriksarbeit zu erkennen, daneben aber waren teure Luxusartikel aufgehäuft. Prächtige Perserteppiche, ein Venetianerspiegel, silberne Toilettegegenstände, wertvolle Nippessachen.

In der Stube herrschte übrigens nichts weniger als Ordnung. Das Bett war noch nicht geordnet, an den zerknüllten Kissen war noch der Eindruck von Jessis Kopf sichtbar. Auf dem Tische lagen ein Atlasschuh, ein Mieder und einige Schildkrotkämme.

Als sich Jurisics auf dem Diwan niederließ, geriet ihm ein kleiner kalter Gegenstand in die Hand. Es war ein Diamantohrring.

Jessi schüttelte die dichte Mähne zurück und blieb dann vor ihrem Gaste stehen. Eigentlich sah sie recht schlampig aus, doch Jurisics fand sie noch reizender als ehedem. Ihre Gestalt war von einer so edlen, gesunden Plastik, daß daran die Kleidung weder etwas zu stören, noch zu schönem vermochte.

Als sie jetzt lächelnd so vor ihm stand, die Spitzen am Busen glättete und dann Jurisics mit ein wenig befangenem Blicke lange ansah, begann den jungen Mann abermals die Frage zu beschäftigen, die er sich so oft schon vorgelegt: Wer und was ist dieses Mädchen?

Plötzlich glaubte er die Antwort gefunden zu haben. Sein forschendes Auge blieb an einem Porträt haften, das in einem Rahmen aus getriebenem Silber an der Wand hing. Es stellte einen auffallend schönen Greis dar. Wer dieses Medaillonprofil, diesen kühn emporgekämmten Schnurrbart und dieses Faunlächeln einmal im Leben gesehen, der konnte die Züge des Fürsten Hadfalussy nie wieder vergessen.

Der Fürst war durch seine Verschwendungsmanie und seine Primadonnenlaunen allgemein bekannt. Er zählte zu jener internationalen Gesellschaft, die sich High-life nennt, wohnte in Paris, überwinterte an der Riviera, jagte in England, badete in Cannes und ließ seine Pferde in Baden-Baden rennen. Die Berliner Union zählte ihn ebenso zu ihren Mitgliedern, wie die Jockeyklubs von Paris und Wien. Und weil seine Besitztümer zufälligerweise in Ungarn lagen, nannte man ihn einen Magyaren, wiewohl er von allen Ländern gerade das ungarische am langweiligsten fand und von allen europäischen Sprachen gerade die ungarische am wenigsten beherrschte.

Hadfalussy also, dieser unersättliche Frauenjäger, hat auch von diesem Mädchen schon Besitz ergriffen!

Jurisics kannte die moderne Welt und deren Leben viel zu gut, um etwa hinter der geheimnisvollen Existenz Jessis irgend eine romantische Geschichte zu vermuten. Er hielt sie für das, wovon er sich jetzt überzeugt hatte, und er hätte sie nicht leicht für etwas anderes halten können. Und diese Gewißheit ärgerte ihn, ja wirkte geradezu niederdrückend auf ihn.

Eine Weile betrachtete er das Bildnis an der Wand, dann richtete er plötzlich mit brutaler Offenheit an das Mädchen die Frage: »Also Hadfalussy hält Sie aus?«

Das Mädchen war auf dem Teppich niedergekniet und hob eben einige verstreute Haarnadeln auf. Jetzt blickte sie erstaunt auf.

»Jawohl,« erwiderte sie leise, ohne zu erröten.

Das war mehr als Offenheit, das war Cynismus! Wie könnte auch die Blume, die dem Sumpf entsprossen, so frisch und prächtig sie auch sei, ihre Wurzeln anderswohin entsenden, als wieder zurück – in den Sumpf?

Jessi hatte sich erhoben und ihr Gesicht war leicht gerötet, doch nur infolge der physischen Anstrengung des Bückens.

»Kennen Sie Hadfalussy?« fragte sie neugierig.

»Einigermaßen.«

»Ich möchte ihn gern einmal sehen.«

Jurisics maß sie mit einem betroffenen Blicke.

»Haben Sie ihn also nie gesehen?«

»Nie im Leben,« bekräftigte das Mädchen den früheren Ausspruch. Sie sprach in einem Tone, dem man getrost Glauben schenken konnte.

Die unglaublich scheinende Thatsache, daß sie ihren Souteneur nicht kannte, hatte übrigens ihre sehr natürliche Erklärung. Ein unbekannter Meister entdeckte vor fünf Jahren, als Jessi noch ein halbes Kind war, ihre Schönheit und benutzte sie zu einem biblischen Gemälde als Modell. Fürst Hadfalussy sah das Bild in Wien, erstand es und erkundigte sich nach dem Originale des Engels. Eines Tages erschien sodann der Vertrauensmann des Fürsten, ein angesehener Budapester Advokat und Abgeordneter (nebenbei gesagt eine Hauptstütze der auf die Sittenveredelung abzielenden Bewegung), in der Vorstadtwohnung bei Jessis Angehörigen und forderte sie auf, mit ihm nach Wien zu kommen, wo des Mädchens ein großes Glück harre. Jessis Tante (das Mädchen kannte seine Eltern nicht) zauderte keinen Augenblick, das Anerbieten anzunehmen. Hatte sie doch Jessi, deren aufkeimende Schönheit sie rechtzeitig zu taxieren verstand, nur zu dem Zwecke bei sich behalten und auferzogen, um sich mit ihrer Hilfe ein sorgenfreies Alter zu sichern. Warum hätte auch die arme Frau edler handeln sollen, als Fürst Hadfalussy und der sittenveredelnde Abgeordnete?

In Wien kamen sie übel an. Die besorgte Tante und die ahnungslose, neugierige Jessi erschienen zweimal bei Seiner Durchlaucht, der Fürst aber nahm sich nie Zeit, sie zu empfangen. Als sie in Begleitung des Anwaltes zum drittenmal im Palais erschienen, wurde ihnen vom Portier bedeutet, der Fürst sei am Morgen vorher nach Paris zurückgereist.

Als dann der Fürst einmal in seiner Pariser Hauskapelle vor jenem Heiligenbild seine Morgenandacht verrichtete, da gedachte er abermals des Engelsmodells, ohne sich dessen Namens zu entsinnen. Er war ein Kavalier, der schönen Frauen gegenüber nicht gern der Galanterie vergaß. Einer hochherzigen Laune folgend, entschädigte er Jessi für die Wiener Reise, indem er ihr eine anständige Jahresrente auswarf, die der Budapester Anwalt der Tante des Mädchens allmonatlich pünktlich ausbezahlte.

Von nun an fungierte Jessi im Haushaltungsinventar des Fürsten – neben den aufs Gnadenbrot gesetzten Beamtenwaisen, den alten Stallknechten, den überzähligen Jägern, Pferden und Hundemeuten – als Ersatzmaitresse, die insolange auf die Freigebigkeit Seiner Durchlaucht zählen konnte, als sie sich deren nicht durch einen offenkundigen Treuebruch unwürdig erwies.

Das Mädchen schien von Hadfalussy mit Vorliebe zu sprechen. Bei Nennung des Namens stellte sie sich die Verkörperung eines abstrakten Begriffes, einer geheimnisvollen Macht vor. Mit scheuer Ehrfurcht gedachte sie des Fürsten, der unsichtbar blieb, wie die Vorsehung, und den dennoch jedermann kannte, von dem jedermann sprach und dem sie alles zu verdanken hatte.

Jedes Jahr zweimal sandte sie ihm ihr neuestes Bild und schrieb jedesmal einen Brief dazu, freilich ohne je eine Antwort zu erhalten. Von Zeit zu Zeit brachte ihr die Post irgend ein mehr oder minder wertvolles Geschenk »von ihm«, bald einen Kunstgegenstand, bald eine Handarbeit, bald ein exotisches Spielzeug – Dinge, welche der launenhafte Fürst aus Hang zum Verschwenden oder aus Wohlthätigkeitssinn zusammenkaufte, ohne zu wissen, wozu sie ihm dienen sollten. Da sandte er sie denn an die erstbeste Adresse, die ihm gerade einfiel.

Jurisics erkannte an all diesen kleinen Zügen, die ihm Jessi jetzt erzählte, den Fürsten getreulich wieder. Hadfalussy besaß Paläste, die er nie bewohnte, Jagdparke, in denen er sich nie amüsierte – warum sollte er nicht eine Geliebte haben, die er nie gesehen? Neben Jessi hatte er deren noch so viele, in Paris, Madrid und Rom – auffallende Schönheiten, denen er teils aus unersättlicher Völlerei, teils aus einer gewissen Vorliebe für das Schöne, zum geringsten aber aus gutem Herzen ein sorgloses Dasein sicherte.

Jessi hatte übrigens eine Schwester, die hieß Nina und erwies sich der gemeinschaftlichen Tante gegenüber als höchst undankbar. Die frische, frohe Nina hing mit der Gutherzigkeit leichtsinniger Mädchen an Jessi. Eine Zeitlang trat sie in den hauptstädtischen Orpheen tanzend und mit dünner Stimme, aber plastischer Mimik alberne Lieder zwitschernd, auf und teilte ihren Verdienst mit der Tante. Vor etwa einem Monat jedoch war sie der citronenfahlen Tante endgültig überdrüssig geworden und floh nach dem Mekka der Chansonnetten, nach Odessa.

Sie war es, die Jessi zu dem nächtlichen Herumstreichen überredete. Sie nahm Jessi teils aus Eitelkeit mit sich, teils um mit deren Schönheit und Unnahbarkeit den Leuten zu imponieren, nicht zum geringsten Teil aber aus Schlauheit, um sie neben sich als Lockspeise zu verwenden, denn die junge Herrenwelt strömte nach Jessi einher, wie der Mottenschwarm nach dem Lichtglanze.

Und Jessi fühlte sich heimisch inmitten der Gaslichter, des Weindunstes und der kreischenden Liedervorträge. Sie durchstreifte die Stadt mit immer fröhlichem Lächeln auf den Lippen und zog den Rand ihres weißen Kleides nach sich durch den Straßenschmutz. Ohne Abscheu, ohne Verlangen, alles wissend und alles sehend. Sie kokettierte mit den Männern, die, wenn sie vorüberging, mit der Zunge schnalzten, gleich den Schuljungen, denen man eine Zuckertorte zeigt, und sie freute sich des Ansehens, das ihr inmitten all des Lasters die eigene Unnahbarkeit sicherte.

Jurisics brachte der naive Cynismus, womit das Mädchen ihr Verhältnis zu Hadfalussy glossierte, einigermaßen in Verwirrung. Er kannte hinlänglich die Welt, in der er lebte, doch diese weiße Blüte, die rein und einsam über dem faulen Sumpfe gedieh, dem sie entsprossen und worin sie früher oder später wieder versinken mußte – er wußte sie in die Naturgeschichte der weiblichen Halbwelt auf keine Weise einzureihen. Es schien ihm, als hätte er es mit einer Somnambule zu thun, und ein grausames Verlangen erfaßte ihn, sie weckend beim Namen zu rufen und eindringlich zu überweisen, welchen Weg sie wandle.

»Ein Wort für viele: Sie haben sich verkauft, Jessi, um leben zu können!« sagte er mit so viel Bitterkeit, daß er selbst davon überrascht war.

Jessi, die darauf noch weniger vorbereitet war, schaute ihm betroffen, doch ohne Groll ins Gesicht und sagte nach einer Pause leise: »Man kann nicht immer handeln wie man will. Haben Sie sich doch ebenfalls –«

Plötzlich brach sie ab. Ihr Gesicht wurde feuerrot. Jurisics verstand, was sie sagen wollte, und errötete ebenfalls vor Scham. Das Mädchen wollte offenbar sagen; »Haben Sie sich doch ebenfalls an Adele Mihályi verkauft!« (Szentgróthy hatte zu viel geplaudert.)

Jurisics erhob sich, Jessi aber ergriff verlegen seinen Arm: »Nicht wahr, Sie zürnen mir nicht? Ich bin ja so dumm! Ich weiß ja, bei euch Herren ist das etwas ganz anderes! –«

Als Jurisics die Treppe hinabschritt, dachte er darüber nach, ob denn sein Fall wirklich »ein ganz anderer« sei.

Er fühlte, daß er seine Braut nicht im geringsten liebte – nie wußte er das so unzweifelhaft, als gerade jetzt – und dennoch wollte er sie zu der Seinen machen. Wohl wird ihren Bund der Priester segnen, wo giebt es aber den Priester, der eine Schlechtigkeit zu heiligen vermag?

Es keimte ihm plötzlich eine Ahnung auf, daß er samt seinem Vater, daß ebenso die alten Mihályis, Fürst Hadfalussy und dessen Anwalt, mitsamt der ganzen Gesellschaft, worin sie alle zusammen lebten, nicht um ein Haar besser seien als Jessi und ihre Tante. Im besten Falle wissen sie mehr den Anstand zu wahren!

Adele ist vielleicht mehr wert als die anderen, doch auch sie ist es nur, weil sie von all dem nichts weiß. Die Unwissende – die einzig Verdienstliche unter ihnen!

 

5.

An einem der nächsten Tage riß Szentgróthy seinen Freund Jurisics aus dem besten Morgenschlaf. Übernächtig bleich stand er vor dem Bette. Unter dem offenen Oberrocke trug er den obligaten Frack, im Knopfloch eine abgelebte Nelke.

»Es steht schlecht mit mir, Alter! Ich werde mir eine Kugel durch den Kopf jagen!«

»Hast du schon wieder eine Dummheit gemacht?« fragte Jurisics aus den Kissen heraus.

»Ich habe gespielt.«

Traurig zog er den Mantel von der Schulter. Hierbei fiel eine Karte auf den Teppich.

Es war die Pique-Dame. Szentgróthy trat wütend mit dem Absatz darauf.

»Niederträchtiges Blatt! Die ganze Nacht hat es mich verfolgt, mir jedes Spiel verdorben. Jetzt ist's wieder hier! Wie zum Teufel ist es in meine Kleider geraten?«

Dann erzählte er seine Leidensgeschichte.

»Szirmay kam in den Klub, um Abschied zu nehmen. Übermorgen reist er mit dem Erzherzog nach Palästina. Er erklärte, sich die Reisekosten erspielen zu wollen. Wir meinten dagegen, er müsse sein Geld hier lassen; wir ließen ihn nicht fort – aus purer Liebe – und würden ihn daher ausplündern. Der Teufel weiß, was in uns gefahren war! Unter uns pflegten wir sonst nicht zu hazardieren – auf einmal aber fielen wir alle hinein. Das Spiel währte bis vor einer halben Stunde. Ein Dutzend Leute streckten der Reihe nach vor Szirmay die Waffen; einer machte dem andern Platz. Szirmay verlor dreißig- bis vierzigtausend Gulden und gewann ebensoviel. Was er verlor, das trugen fünfzehn Partner davon, was er gewann, das habe ich allein verloren –«

Jurisics setzte sich im Bette auf.

»Bist du von Sinnen? Wie konntest du eine solche Summe riskieren?«

Szentgróthy zuckte die Achseln und begann, die Hände in den Taschen, durchs Zimmer zu promenieren.

»Szentirmay verabschiedet sich heute,« sagte er später, »morgen wird gepackt und übermorgen reist er ab. Seine fishes löste er mit dem eigenen Gelde ein. Du weißt doch, daß Szentirmay ein Mann von geradezu wahnwitziger Korrektheit ist; nun hat er nur mehr meinen Bon in der Tasche. Und fortreisen muß er, Seine Hoheit wartet nicht –«

Jurisics ließ ein leises Pfeifen hören.

»Eine böse Geschichte! Mein ganzes Vermögen besteht aus einigen Tausend Gulden. Wie steht's um deine Kasse?«

»Gar nicht!« erwiderte Szentgróthy. Dann murmelte er: »Ich muß mich totschießen. Das ist alles!«

»Würde deine Familie etwas für dich thun?« fragte Jurisics mit wachsender Unruhe.

Bei der Erwähnung seiner Familie wurde Szentgróthy ein wenig von Rührung übermannt.

»Meine Mutter hat Geld. Vorige Woche erhielt sie's auf ihren Besitz. Es ist für meine Schwester Ilse bestimmt, die mit einem Offizier verlobt ist. Wenn ich darum bäte, bekäme ich es vielleicht, doch meine Schwester bliebe dann ein altes Mädchen und würde sich die Augen ausweinen. Lieber erschieße ich mich!«

»Vielleicht läßt sich etwas anderes beginnen. Wir wollen sehen!«

Jurisics läutete seinem Diener und begann sich anzukleiden. Als er nach einem Mietwagen fortschickte, erheiterte sich Szentgróthys Gesicht. Er wußte, daß Jurisics, wie schon einigemale, auch jetzt stillschweigend die Verantwortung für die dummen Streiche seines Freundes übernehmen werde.

»Versuchen wir es mit Rabinovicz,« sagte Jurisics, als sie beide im Wagen saßen.

Rabinovicz gehörte zu den Agenten, die sich ausschließlich mit Kavaliersgeschäften befassen. Er war ein Wucherer mit einem Vogelgesicht, der sich glatt und behend wie ein Aal zwischen den Paragraphen des Strafgesetzbuches durchzuwinden verstand. Im übrigen hielt er sich eine herrschaftliche Wohnung und paradierte, wo es nur anging, mit seiner brillantenbehangenen schönen Gattin.

Als Jurisics die Summe nannte, welche er beschaffen sollte, lachte ihm der Agent ins Gesicht.

»Wo denken Sie hin? Vierzigtausend Gulden! Soviel Geld ist heute in ganz Budapest nicht aufzutreiben. Der alte Stern besäße es vielleicht, der aber giebt nichts her, seit er wegen Wucherei hat sitzen müssen –«

Sie fuhren noch zu einigen Agenten, aber ganz ohne Erfolg.

Nachmittags kam Rabinovicz zu Jurisics in die Wohnung. Er bringe gute Nachricht, sagte er. Geld sei zwar nicht aufzubringen, doch könne er Waren beschaffen, die zu Geld zu machen wären. Eine gebrauchte Dreschgarnitur, eine größere Partie Leder und zweihundert Metallsärge. All das wäre gegen sechsmonatliche Zahlungsfrist auf einen Wechsel für fünfundsechzigtausend Gulden zu haben. Bei sofortigem Verkauf wären dafür heute noch vierzigtausend Gulden zu bekommen. Hierfür beanspruche Rabinovicz fünftausend Gulden Provision.

Mit trockener Offenheit setzte der Agent das Geschäft auseinander. Er wußte, daß Jurisics nicht der Mann war, der mit Jammern und Klagen die Zeit vergeudet. Hat er erst die Provision ausbezahlt, dann wird er zu ihm sagen: Rabinovicz, Sie sind ein großer Gauner! – womit die Sache erledigt ist.

»Die einzige Schwierigkeit,« sagte schließlich der Agent, »besteht darin, daß der betreffende Geschäftsmann die Ware nur unter der Bedingung zu liefern bereit ist, wenn Ihr Vater, der alte gnädige Herr, den Wechsel acceptiert. Auch so ist noch viel dabei riskiert. Der gnädige Herr ist sehr alt, kränklich und besitzt kein Vermögen –«

Jurisics wurde zornig. Er wollte nichts davon hören, daß sein Vater in diese schmutzige Angelegenheit verwickelt werde, und jagte den Agenten zur Thüre hinaus.

Fast zwei Stunden schritt er sodann nervös im Zimmer auf und ab. Zeitweilig blieb er wortlos vor Gróthy stehen, der stumm und mit wachsgelbem Gesichte auf dem Diwan lag. Der Bursche war ganz gebrochen, seit er sah, daß ihm Jurisics nicht beistehen wolle. Er konnte nicht sprechen und wagte kaum zu denken.

Als es Abend geworden, ließ Jurisics anspannen und fuhr bei Rabinovicz vor.

»Bereiten Sie alles vor, ich telegraphiere meinem Vater. Der Wechsel ist morgen Nachmittag zur Stelle –«

Er sandte eine lange Depesche an seinen Vater, worin er ihm die verzweifelte Lage des Freundes schilderte. Er wußte, daß der Alte, wenn er nicht gerade bei sehr schlechter Laune ist, seinen Beistand nicht verweigern werde. In den Adern des Alten rollte noch ein Tropfen von dem Blute jener alten Bohèmes, die ihre Unterschrift mit derselben Leichtigkeit hergaben, wie andere Menschen das Feuer ihrer Cigarette.

Jurisics erwartete am nächsten Morgen vergebens die Post und sandte daher im Laufe des Tages noch zwei Telegramme an seinen Vater. Die Antwort blieb aus. Zur Vesperzeit stellte sich Rabinovicz pünktlich ein.

»Wir sind in Ordnung. Und Sie?«

»Wir können gehen.«

Sie nahmen Szentgróthy mit sich.

Rabinovicz brachte sie mit zwei Herren zusammen, deren einer sich als der Eigentümer der Dreschgarnitur, der Lederhäute und der Metallsärge zu erkennen gab. Alle zusammen begaben sich sodann nach einem recht schmierigen Vorstadthaus, in dessen ödem Hofe eine von Rost feuerrote Dampfmaschine stand. Sodann stiegen sie in einen dumpfigen Keller hinab, wo sich die Särge befanden, und schließlich fuhren sie hinaus nach den Eisenbahnmagazinen, die Häute zu besichtigen.

Die beiden jungen Leute, in ihren eleganten Pelzmänteln, durchschritten fröstelnd und gähnend diese traurigen Orte. Nach kurzem Feilschen kauften sie die Schätze. Jurisics übergab seinem Agenten die Wechsel. Der alte Jurisics war darauf als Acceptant, Johann Jurisics als Aussteller gefertigt. Szentgróthy unterschrieb, über ein Faß des Magazins gelehnt, als Girant.

Rabinovicz nahm die Wechsel zur Hand.

»Sie sind nur einfach gefaltet. Kamen sie nicht mit der Post?«

»Nein, mein Vater langte heute früh persönlich in Budapest an,« erwiderte Jurisics.

Rabinovicz führte sie später mit den Käufern zusammen. Aufs neue mußten die Magazine abgegangen werden, dann erhielten sie die vierzigtausend Gulden.

Als Jurisics dem Agenten die bedungene Provision übergab, bemerkte er: »Herr Rabinovicz, Sie sterben einmal im Zuchthause, ich bin dessen sicher!«

»O, ich bitte,« antwortete Rabinovicz mit einem unterwürfigem Lächeln, »das Zuchthaus ist ein Ort, von dem man nie wissen kann, wer –«

Die beiden Freunde trennten sich.

Szentgróthy stürzte ins erstbeste Kaffeehaus, steckte die Banknoten in ein Couvert, winkte durchs Fenster einem Dienstmann und sprengte ihn zu Szirmay. Er selbst aber faßte den festen Vorsatz, nie wieder leichtsinnig zu sein, und – begab sich ins Orpheum.

Jurisics ging nach Hause. Er hatte heftigen Kopfschmerz und wollte früh zu Bette gehen. Auf dem Tisch – oberhalb jener Pique-Dame, die Szentgróthy dort hatte fallen lassen und die der Diener später sorgfältig vom Teppich aufgehoben – fand er eine Depesche vor. Der Diener meldete, das Telegramm sei schon tagsvorher im Klub abgegeben, von dort jedoch erst heute nach der Wohnung geschickt worden.

»Nachlässiges Volk!« brummte Jurisics.

Der Inhalt war kurz und wichtig, überaus wichtig. Der Diener des alten Jurisics war der Absender. Es lautete:

»Der gnädige Herr ist heute 6 Uhr abends an Schlagfluß plötzlich gestorben. Bitte um Weisungen.«

Als sie den Preis der zweihundert Metallsärge mit den Wechseln des alten Jurisics ausbezahlten, bedurfte derselbe nur noch eines einzigen Sarges.

 

6.

Adelens Bräutigam begab sich nach der kleinen Landstadt und begrub seinen Vater. Er begrub ihn, wie man einen hochbetagten Mann, dessen Tod nicht unerwartet kam, eben zu begraben pflegt: das Gemüt nicht so sehr von Schmerz, als von peinlichen Reflexionen erfüllt; mit mehr Niedergeschlagenheit, als tiefer Trauer im Herzen.

Vor der Begräbnisfeier rauchte Jurisics in den inneren Räumen der alten Wohnung voll nervöser Ungeduld eine Cigarette nach der anderen. Von der gesperrten Thür des großen Zimmers her, wo die Leiche zwischen brennenden Wachskerzen aufgebahrt lag, vernahm er das Kommen und Gehen, das unheimliche Geflüster der neugierigen Provinzler.

Seine wirren Grübeleien führten ihn immer wieder auf den einen Gedanken zurück: Jetzt ist alles, alles aus!

Er sah klar vor sich, daß nun in seinem Leben eine große Veränderung erfolgen werde. Bisher war er in bequemem Geleise, geschoben durch den Namen und das Geld seines Vaters, vorwärts geraten. Die Triebkraft war nun versiegt, und er sah nicht einmal einen Weg vor sich. Jetzt hieß es: Vorwärts aus eigener Kraft, auf unbekanntem Terrain!

Er war sich dessen sicher, daß Mihályi die Verlobung nunmehr lösen werde. Er kannte die brutale Gehässigkeit des alten Professors und wußte, daß dieselbe ausbrechen müsse, sobald des Vaters Name, Ansehen und überwiegender Verstand nicht mehr hinter dem zukünftigen Schwiegersohne stehen.

Die Verlobung wird gelöst. Was dann? Dann geht's auf der schiefen Bahn unaufhaltsam nach abwärts. Die Gläubiger werden ihn überfallen, wie die hungrigen Wölfe. Die Wechselschuld von fünfundsechzigtausend Gulden kümmerte ihn wenig – mag Gróthy mit ihr fertig werden; doch er selbst hatte einen hübschen Pack Schulden. Sein Vater aber hinterließ ihm, abgesehen von seiner großen Bibliothek, kaum mehr als etwa zehntausend Gulden in Wertpapieren, die sich in der Schreibtischlade fanden. Die Gläubiger werden ihn endgültig um allen Ruf bringen, so daß an eine neue Partie, auch wenn er nochmal die Lust zu einer solchen verspürte, unter diesen Umständen nicht zu denken ist.

Einen Augenblick kam ihm in den Sinn, ob es nicht ratsam wäre, den lautesten Gläubigern mit dem verfügbaren Gelde den Mund zu stopfen und sich sodann nach einem anständigen Erwerb umzusehen. Der Gedanke, daß er nach langer Rast kräftig an eine Arbeit gehen könnte, hatte sogar etwas Begeisterndes an sich – als er sich jedoch eingehender überlegte, worin diese »Arbeit« eigentlich bestehen sollte, da verlor er vollends allen Mut. Eine Arbeit, die weder seine Tollkühnheit, noch seine riesige Muskelkraft in Anspruch nahm, eine Arbeit, bei welcher man mit tierischem Fleiße Jahre hindurch hinter staubigen Akten sich krumm sitzt, das war nicht nach seinem Geschmack. Besondere Fähigkeiten nannte er ohnedies nicht sein eigen. Die Rechtsstudien hatte er mit Mühe und Not beendet, doch fehlten ihm die Examina. Wenn sich seine Protektoren bewährten und ihm ein bequemes Amt verschafften, wie viel konnte er dabei verdienen? In einem Jahre knapp so viel, als er schon oft auf ein Rennpferd, auf eine Karte gesetzt!

Als man dann den Alten nach der letzten Ruhestätte geleitete, schritt Johann Jurisics als einziger Leidtragender stumpfen Sinnes hinter dem Leichenwagen einher, dessen Dach in der wogenden Menge hin und her schwankte gleich einer schwarzen Galeere.

Und inmitten des Glockengeläutes, das die Straße der kleinen Stadt erfüllte, haderte er bei sich fortwährend mit dem Geiste des Verstorbenen.

Der Großvater war noch ein einfacher Bürger und wohlhabender Eisenhändler gewesen. Den Vater hoben seine glänzenden Fähigkeiten unter die oberen Zehntausend empor. Ihn selbst, den Sohn und Enkel, der weder Talente, noch Vermögen besaß, erzog man gleich einem Dauphin. Man stellte ihn in die Reihe derjenigen, denen das Bewußtsein des Reichtums und der Vornehmheit glattes Auftreten, Freiheit und Mut verleiht; man machte ihn bekannt und beliebt unter Leuten, die sich gegenseitig, samt all ihren launenhaften Entartungen, so überaus sorgfältig ehren und achten. Man gab ihm eine gesellschaftliche Position, in der er sich nicht halten konnte. Jetzt, da er den Boden unter sich wanken fühlte, wußte er nichts mit sich anzufangen.

Als ihm der Totengräber das Schäuflein mit schwarzer Erde hinhielt, damit Jurisics dem Sarge des Vaters eine Scholle nachsende, da wußte der junge Mann bereits, was er zu beginnen habe. Er sah nur einen Ausweg vor sich: die Pistole. In seinem Abenteurerleben hielt er seit den Universitätsjahren fortwährend diese ultima ratio vor Augen und jetzt gedachte er ihrer mit einer Art innerer Befriedigung.

Die Nacht verbrachte er noch im Hause seines Vaters. Er fand lange keinen Schlaf, begab sich daher nach Mitternacht in die Bibliothek und nahm aufs Geratewohl ein Buch vom Pulte, um sich in den Schlaf zu lesen.

Es war Mantegazzas »Indien«. Lange las er darin, erst zerstreut, dann mit wachsendem Interesse, später mit wahrem Feuereifer. Er sah daraus den ruhigen Spiegel des bengalischen Golfes vor sich, mit seiner langgestreckten Uferlinie, darauf das Nicken spitzenartiger Palmengewächse, darüber das tiefe Azur des tropischen Himmels – dann sah er die stummen Urwälder, die Steingittertempel, vor denen bronzefarbige edle Gestalten knieen.

Es überkam ihn jenes verzehrende Reisefieber, das wir alle von der glücklichen Kinderzeit her kennen, mit dessen Erinnerung sich die Vorstellung rätselhafter orientalischer Märchenpracht verwebt. Und wie eine höhere Eingebung erfaßte ihn plötzlich der Gedanke, ins Ausland zu gehen. – Der Knoten mußte durchhauen, dieses Land mit all seinen Erinnerungen, seinen Verbindungen und Verpflichtungen verlassen werden! Fort wollte er, weit fort: ein neues Leben zu beginnen!

Vor dem krämerhaften Parvenuland Amerika graute ihm – Ostindien zog ihn mächtig an.

 

7.

In der Hauptstadt angelangt, war sein erstes ein Besuch bei Mihályis.

Was er vorgeahnt, erfüllte sich sozusagen buchstäblich. Der Professor empfing ihn allein. Adele blieb unsichtbar, die Mama aber huschte, als Jurisics eintrat, erschreckt zur Zimmerthür hinaus.

Jurisics war ein wenig befangen, als er so dem Alten gegenüberstand. Er machte in Betreff des Todesfalles einige Bemerkungen, da er jedoch keine Antwort erhielt, schwieg auch er still.

Der Professor blieb jetzt vor ihm stehen, heftete seine grünen Augen auf ihn und sagte: »Es ist mir um Ihren seligen Vater sehr leid. Der alte Herr war ein verdienstvoller Mann. Aus der Heirat aber wird nichts!«

Jurisics hatte dies erwartet, war jedoch nicht darauf gefaßt, daß es ihm in so unverfrorener Weise ins Gesicht gesagt würde. Bleich bis in die Lippen, erhob er sich jetzt.

»Deshalb also, weil mein Vater starb?«

»Den alten Herrn schätze ich hoch, ihm war ich Rücksicht schuldig, doch Sie verdienen keine Rücksicht. Ein Mensch, der Karten spielt und als Bräutigam Dämchen von schlechtem Rufe nachläuft – o, verteidigen Sie sich nicht, wir wissen alles!«

In Jurisics gewann wieder der Kavalier die Oberhand.

»Wenn Sie alles wissen, so lassen Sie uns darüber kein Wort mehr verlieren. – Zur Wahrung der Form muß ich Sie jedoch noch fragen, wie Fräulein Adele über die Sache denkt. Ich möchte mit ihr sprechen –«

Den Professor brachte dieses kühne Verlangen in Wut.

»Sie werden nicht mit Adele reden. Weder jetzt, noch ein andermal!«

Jurisics knöpfte wortlos seinen Handschuh zu und verneigte sich.

»Guten Tag, Herr Professor!«

Er verabschiedete sich mit jenem überlegen ruhigen Lächeln, welches den Alten so oft schon in Wut versetzt hatte.

Im Vorzimmer zögerte er noch einige Augenblicke, wie wenn er auf etwas wartete. – Nichts!

»Man hat mir also die Thür gewiesen!« sagte er auf der Straße zu sich selber.

Noch einmal wandte er sich um. Im Eckfenster sah er einen Blondkopf: es war Adele. Die Stirne in die Hand gestützt, saß sie nachdenklich dort. Vielleicht unter dem Einfluß des auf sie gerichteten Augenpaares erhob sie langsam den Kopf. Einen Moment blickte sie den vom Scheitel bis zur Sohle in Trauerkleider gehüllten Mann auf der Straße starr an, dann stürzte sie vom Fenster hinweg. Es kostete sie nur eine kleine Bewegung, doch das Instinktive dieser Bewegung überzeugte Jurisics, daß das Mädchen ganz auf Seite der Eltern oder zumindest nicht ein bißchen auf seiner, des Bräutigams, Seite war.

Also auf nach Bengalien!

Im Charakter Jurisics' lag ein scheinbar widersprechender Zug. Er betrachtete das Leben als einen Traum, und für seine Lebensaufgabe hielt er es, sich diesen Traum so angenehm wie möglich zu gestalten. Er haßte alles, was seine Bequemlichkeit – nicht so sehr körperliche, als die seelische Bequemlichkeit – zu stören geeignet war. Deshalb fiel es ihm auch schwer, sich zu einer That aufzuraffen. War jedoch einmal ein Entschluß in ihm gereift, dann war er imstande, mit großer, oft an Bravour grenzender Energie gegen die Hindernisse anzukämpfen. Seine Freunde kannten und schätzten an ihm diese Eigenschaft.

Nach Bengalien! Englisch sprach er ziemlich gut, Geld besaß er – das übrige kommt von selbst. Einem Menschen wie er kommt ja das Reisen ohnehin billiger zu stehen als das Leben in der Heimat.

Er beschloß, außer Szentgróthy niemanden in seinen Plan einzuweihen. Auch Gróthy nur aus dem Grunde, weil er ihm die vom Vater geerbten Bücher und Kunstreliquien übergeben wollte, damit er einen Teil derselben aufbewahre, den Rest aber möglichst zu Gelde mache.

Es war Sonnabend. Sonntag wollte er den Reisepaß besorgen, Montag einige Dutzend Visitkarten versenden – p. p. c. –, Dienstag über Wien und Triest abreisen.

Er empfand bereits eine Art Sehnsucht nach dem frischen Hauch des Oceans, der ihm den trägen Nebel aus dem Gehirn verscheuchen sollte.

 

8.

Seine Aufregung mochte bewirkt haben, daß er sich Sonntag morgens gegen alle Gewohnheit früh aus dem Bette erhob.

Zum Fenster drang fröhliches Gezwitscher herein. Auf dem Dachgesimse gegenüber saß eine Schwalbe, die erste Schwalbe, die er dieses Jahr sah. Sie versetzte ihn in Frühlingsstimmung.

Den Überzieher auf dem Arm verließ er die Wohnung. Auf der Klinke der Vorzimmerthür fand er ein Veilchensträußchen.

Wer mochte ihm diese kleine Überraschung bereitet haben? Jessi! Er sog den süßen Duft der Blumen ein, schritt sodann, anstatt gegen die innere Stadt, der Andrássystraße zu.

Wieder öffnete ihm die Frau mit dem gelben Gesichte, das auch diesmal kein freundlicheres war. Sie ließ ihn jedoch eintreten. Jessi rief aus dem Nebenzimmer, sie sei soeben aufgestanden und werde sofort das Notwendigste auf sich genommen haben.

Alsbald trat sie ein. Sie rieb sich noch die schläfrigen Augen, lächelte dazu wie ein wohlerzogenes Kind und reichte Jurisics ihr kühles Kinderhändchen. Der junge Mann sagte, er sei Abschied zu nehmen gekommen.

Anstatt zu antworten, stieß Jessi das Fenster auf. Ein lauer Luftzug fächelte ihr das Gesicht, wodurch ihr Haar noch mehr zerzaust wurde. Draußen war ein sonnenheller Frühlingstag.

»Wie dumm doch die Menschen sind, daß sie des nachts leben und den Tag verschlafen!« sagte Jessi später. »Das erfuhr ich erst jetzt. Gestern befand ich mich den ganzen Tag auf der Margareteninsel. Die Propeller verkehren bereits. Ich war allein und stieg den ganzen Tag im Rasen und zwischen den Ruinen umher. Als es abends zum Nachhausegehen kam, mußte ich fast weinen. – Heute gehe ich wieder ins Freie –«

Jurisics kam plötzlich ein Einfall. Den ganzen letzten Tag mit Jessi zu verbringen – das wäre ein würdiger Abschluß seiner europäischen Laufbahn.

»Gehen wir zusammen,« sagte er. »Ich weiß mit dem Tag ohnehin nichts anzufangen.«

Das Mädchen wandte sich rasch um.

»Sie nehmen mich mit? Wahrhaftig? Und des Abends bringen Sie mich wieder nach Hause?

»Kleiden Sie sich nur rasch an!«

Das Mädchen stieß einen leisen Freudenschrei aus und lief nach dem Nebenzimmer.

Während sie Toilette machte, was etwa eine halbe Stunde währte, verlangte Jurisics Tinte und Papier und schrieb einem Freunde im Ministerium des Innern, ihm auf kurzem Wege einen Auslandspaß zu verschaffen, da er Lust bekommen habe, auf Tiger zu jagen.

»Bin ich nicht anständig gekleidet?« fragte Jessi.

Anständig – das war die richtige Bezeichnung. Anständig und reizvoll war sie, wie ein achttägiges Frauchen, das die Schwiegermutter besuchen geht. Unter der grauen Frühjahrsjacke trug sie ein schwarzes Kleid, auf dem Kopfe einen schwarzen Hut von ein wenig kühner Form, den sie nach Frauenart unter dem Kinn festband.

»Wir können bis zum Abend bleiben,« sagte sie.

Als sie auf die Straße traten, sah sich Jurisics nach einem Wagen um.

»Sie fürchten, mit mir gesehen zu werden, nicht wahr?« fragte sie mit einem sanften Lächeln.

»Wie kindisch!« erwiderte Jurisics.

Er reichte ihr den Arm. In gleichmäßigem Takte schritten sie über den Asphalt. Jurisics traf mehrere Bekannte, die sich neugierig nach ihnen umwandten. In der auffallend eleganten Dame mochten sie eine Verwandte Jurisics' vermuten. Er hätte sich wohl wenig darausgemacht, wenn man in seiner Begleiterin das Blumenmädchen erkannt hätte. Ein Skandal mehr wäre noch zu verwinden gewesen. Er befand sich in jener verbitterten Wohllaune, die man Galgenhumor zu nennen pflegt.

Unterhalb des Schwurplatzes rauchte auf dem Strom ein Personendampfer.

»Steigen wir rasch ein!« rief Jessi voll kindlicher Ungeduld.

Jurisics drückte dem Matrosen anstatt der Fahrkarten eine Banknote in die Hand und sie bestiegen das Deck.

Aus dem Schiffe befanden sich nur wenig Leute. Jessi hielt ihre Hutkrämpe fest und stand mit flatterndem Kleide im Winde. Mit voller Brust sog sie die scharfe Luft ein und schaute ihrem Begleiter zufrieden lächelnd ins Gesicht.

Das Schiff fuhr ohne anzuhalten an der Insel vorbei. Erst jetzt bemerkten sie, daß sie sich auf einem größeren Ferndampfer befanden. Auf Jessi wirkte dieser Irrtum erheiternd: schon gestern, als sie auf der Insel war, hätte sie weiter hinausfahren mögen, um zu sehen, wie die Donaulandschaft draußen, außerhalb der Schiffswerfte aussieht.

So passierten sie noch einige Landungsstellen, bis das Schiff vor einem romantisch gelegenen Nestchen Halt machte. Vor dem Strandwirtshause flatterte eine nationalfarbene Fahne, aus geringer Entfernung klang das Trompetengeschmetter einer schwäbischen Musikbande daher. Am Ufer gafften einige festtägig herausgeputzte Kinder den Ankommenden entgegen.

»Hier geht's lustig her, es ist Kirchtag,« sagte Jessi.

Sie stiegen aus. Das Mädchen gestand, in der großen Eile ans Frühstücken vergessen zu haben und daher schon recht hungrig zu sein. Jurisics führte sie in das über und über beflaggte Gasthaus, wo sie sich in einer Art Glassalon niederließen. Die Wirtin trug die von Jessi bestellte Butter und Milch auf und machte mit unterthäniger Vertraulichkeit ihre Bemerkungen.

»Sie sind heuer meine ersten hauptstädtischen Gäste!«

Als sie sah, daß man ihre Annäherungsversuche freundlich aufnahm, konnte sie ihre Neugierde nicht länger bezähmen und fragte: »Sehen sich die Herrschaften vielleicht nach einer Sommerwohnung um?«

»Das gerade nicht,« erwiderte Jurisics. »Wenn wir übrigens ein hübsches kleines Häuschen fänden, so wären wir –«

»O,« sagte die Wirtin, sich an Jessi wendend, »die gnädige Frau werden bei uns sehr zufrieden sein!«

Die gnädige Frau! Jessi errötete vor stolzer Freude. Es war ihr öfter vorgekommen, daß man sie in den Kaffeehäusern für die Geliebte irgend eines Herrn hielt, in dessen Gesellschaft sie sich eben befand – für eine verheiratete Dame, für eine gnädige Frau jedoch war sie noch nie angesehen worden.

Die Wirtin begann weiter zu forschen, indem sie eine indiskrete Frage durch ein diskretes Lächeln zu mäßigen suchte.

»Wir haben zwei Kleine,« antwortete Jurisics darauf, den allmählich eine Art Studentenlaune überkam, »einen Knaben und ein Mädchen. Der Junge ist drei Jahre alt und heißt Jancsi. Die Mama will einen Geistlichen aus ihm machen, ich aber habe ihn zum Husaren bestimmt.«

Die Wirtin meinte, der gnädige Herr habe recht, denn wer einmal die Kutte auf sich genommen, der sei für Vater und Mutter gestorben.

Jurisics griff diese Bemerkung der Frau in launiger Weise auf und that, als ob er Jessi, »seine Frau«, necken wollte, indem er ihr zurief: »Nun siehst du, wie unrecht du hattest!«

Jessi lächelte und erklärte, sie habe ja nichts mehr dagegen. Die Wirtin aber schlug, nachdem sie Jessi eine Weile gut angeschaut hatte, die Hände zusammen und sagte: »Man sollt's nicht glauben: Schon zwei Kleine zu Hause, und die gnädige Frau sieht selbst noch herzig wie ein Pupperl aus!«

Jessi erhob sich und bat Jurisics, sie auf den nahen Berg zu geleiten. Die Wirtin wollte früher noch den Namen ihrer noblen Gäste erfahren. Jurisics nannte ohne Zaudern den seinen.

Sie stiegen die Berglehne hinan und schritten dann langsam den schmalen Weg entlang, der sich zwischen Weinkulturen dahinschlängelte.

Einige Weinbauern arbeiteten um die Preßhäuser schon fleißig darauf los. Jessi und Jurisics ließen sich tüchtig von der wonnigen Frühjahrssonne bescheinen und ihr warmes Wohlbehagen wurde nur manchmal durch einen launigen kühlen Windstoß unterbrochen, der sie ein wenig erschauern machte und ihnen von der Bergspitze her zwitschernde Finkenschwärme über die Köpfe hinwegtrieb.

Jurisics betrachtete eine Weile verstohlen seine Begleiterin und hing dann seine Hand in ihren Arm. Jessi knöpfte ihren Handschuh zu, während sie die Hand des jungen Mannes leicht an sich drückte. Sic schaute mit keinem Blicke nach ihm, aber es lag auf ihrem Gesichte der Ausdruck unendlicher Zufriedenheit. Von Liebe war noch kein Wort gewechselt worden. Dennoch fühlte Jurisics, daß das Mädchen vollends ihm gehöre, ihm allein samt ihren feingeschnittenen, von der frischen Luft ein wenig aufgesprungenen Lippen, samt ihrem ruhigen Lächeln, ihrer staubgrauen Jacke und ihren englischen Knöpfelschuhen. Er kann Jessi wie ein Spielzeug behalten oder sie wegwerfen – wenn es ihm beliebt, auch zerbrechen.

Lange streiften sie noch umher, vielleicht eine volle Stunde hindurch, und sprachen kaum ein Wort miteinander; thaten sie's, so kam es leise und langsam über ihre Lippen. Es hatte sie jene wonnige Faulheit überkommen, die man der Wirkung des Frühjahrs und seiner ahnungssüßen Luft zuzuschreiben geneigt ist.

Jessi war kaum noch jemals auf einem Berge gewesen. Es zog sie hier herauf, weil sie sich vorstellte, sie werde droben auf der Anhöhe, wie hinter einer Kulisse, fremde, überraschende Dinge zu sehen bekommen. Sie erblickte Berge, dann Thäler und dann abermals nur Berge. Das interessierte sie nicht sonderlich. – Gegen Mittag begaben sie sich die Anhöhe hinab, in das Städtchen zurück.

Die neugierige Wirtin stand, im Gespräch mit einem gutmütig dreinsehenden Bürgersmann, auf der Schwelle. Als sie des jungen Paares ansichtig wurden, erhob die Frau die Handfläche über die Augen, der Mann aber nahm den Hut vom Kopfe und trat auf Jurisics zu.

»Endlich habe ich Sie gefunden, Herr Jurisics! – Sie erinnern sich meiner am Ende gar nicht mehr. Ich bin's, Béres – Láßló Béres –, aus dem Geschäfte Ihres Herrn Großvaters.«

Jurisics erinnerte sich an einen biederen Eisenhandlungsdiener, auf dessen Rücken er als Kind Turnübungen zu halten pflegte, so oft er im Sommer einige Wochen bei Großvatern zubringen durfte.

Jurisics reichte ihm die Hand. Béres erzählte ihm mit einer wahren Hast, daß er schon vor achtzehn Jahren hier im Städtchen sich angesiedelt und ein Eisengeschäft errichtet habe. Von der großen Trauer, die Jurisics betroffen, habe er in der Zeitung gelesen und es wundere ihn sehr, daß der junge Herr schon eine Frau habe.

Vergebens war alles Sträuben, Jurisics mußte ins Haus des Láßló Béres, um samt Jessi die Zeit bis zur Ankunft des Schiffes dort zuzubringen. Das ölgestrichene geräumige Haus mit den weißen Vorhängen, spiegelblanken Fenstern und dem kapellenreinen Hofe zeugte von bürgerlichem Wohlstande.

Drinnen empfing sie eine noch recht hübsche, ein wenig verfettete Frau und ein halbwüchsiges Mädchen, das der Mutter auffallend ähnlich sah. Das Kind küßte Jessi die Hand, die Frau nahm ihr mit gewaltsamer Zuvorkommenheit den Hut vom Kopf und zog ihr die Jacke aus – so daß Jurisics schließlich einsah, von hier werde ohne Mittagessen nicht loszukommen sein.

Er gab also jeden Widerstand auf, wiewohl ihn die leichtfertige Komödie, mit der er diese braven Leute zum besten hielt, schon zu reuen begann.

Während er des Hausherrn billige Cigarren rauchte und zerstreut auf dessen Fragen antwortete, achtete er unablässig auf Jessi, die mit Frau und Tochter plauderte.

Er konnte mit ihr zufrieden sein. Sie war voll Ernst und Bescheidenheit. Über die Fragen, die sich auf ihren »Ehestand« bezogen, glitt sie gewandt hinweg und wenn sie vor der Notwendigkeit einer neuen Lüge stand, überließ sie Jurisics das Wort. Sie glich in ihrem Benehmen einer jungen Frau, die wenig Selbständigkeit besitzt und fortwährend der Bevormundung ihres Mannes bedarf, einem sehr verliebten Frauchen, das keine drei Worte zu reden vermag, ohne ihren Mann ins Gespräch zu ziehen.

Man setzte sich zu Tische. Jessi kam zwischen die Hausfrau und Jurisics zu sitzen. Seine Nachbarschaft brachte Laune und Lebhaftigkeit in sie. Als die Hausfrau sie nötigte, für den »Herrn Gemahl« von den Beigerichten zu wählen, dichtete sie ihm aufs Geratewohl seine Lieblingsspeisen an; Kartoffeln esse er nicht gern, für Reis dagegen schwärme er und den schwarzen Kaffee trinke er mit drei Stücken Zucker.

Zum schwarzen Kaffee kamen Gäste: der Pfarrer und der Bezirksrichter, die zu gewissen Zeiten mit Béres eine Tarockpartie zu spielen pflegten. Als der Bezirksrichter die schöne Pesterin in der Gesellschaft fand, sandte er sofort um seine Frau nach Hause. Jurisics fürchtete, Jessi möchte von jemand in der Gesellschaft erkannt werden. Die Befürchtung war grundlos, denn diese biederen Leute waren, wiewohl sie in nächster Nähe der Hauptstadt lebten, in den Kreisen, wo sich Jessi und Jurisics bewegten, gänzlich fremd und unbewandert.

Nach dem Essen begaben sich die Herren nach dem Korridor hinaus und begannen ihr Kartenspiel. Auch Jurisics nahm an dem Zweikreuzertarock teil. Während er die Karten mischte und verteilte, konnte er durch das Fenster Jessi beobachten, wie sie sich, ein großes Tuch um die Schultern, barhaupt in dem frühjahrsmäßig wüsten Garten erging. Terka Béres war stets an ihrer Seite. Das kleine Mädchen trug Jessi gegenüber vom ersten Augenblicke an jene hingebungsvolle Schwärmerei zur Schau, welche Schulmädchen vornehmen schönen Damen entgegenzubringen pflegen, und war überglücklich, als sie jetzt ihrem Ideale die Merkwürdigkeiten ihres einfachen Heims zeigen konnte: die Mistbeete, die Laube, die Kegelstatt. Die beiden verstanden einander sehr gut und als Jessi das hübsche Gesicht ihrer neuen Freundin streichelte, küßte ihr die Kleine voll überquellender Bewunderung das Kleid und schmiegte sich wie ein Spinnkätzchen schmeichelnd an sie.

Der Nachmittag verstrich erfreulich rascher als Jurisics es befürchtet hatte, und als die Abenddämmerung kam, bemerkten sie, daß sie den Dampfer schon versäumt hatten und nun auf der Sekundärbahn nach der Stadt zurückfahren müssen.

Der Zug setzte sich schnaubend und humpelnd mit ihnen in Bewegung. Die zurückgebliebenen biederen Kleinstädter aber waren von der Liebenswürdigkeit ihrer noblen Gäste entzückt, samt und sonders in Jessi verliebt und winkten ihnen noch lange mit den Taschentüchern ein Lebewohl nach. – Auf Wiedersehen!

Jurisics atmete erleichtert auf, daß alles so glatt abgelaufen war. Auch freute er sich, wieder mit Jessi allein sein zu können. Den ganzen Nachmittag hatten sie miteinander kaum ein paar Worte ungestört reden können.

Im Coupé befand sich außer ihnen niemand.

Das Mädchen saß am Fenster und lauschte, den Kopf zur Seite geneigt, dem eintönigen Gerüttel des Zuges. Wegen ihrer breiten Hutkrempe sah Jurisics nur das Kinn und den Hals seiner Begleiterin. Eine Weile betrachtete er sie stumm, dann aber, unter Einwirkung der Stille, der Dämmerung und des ihren Kleidern entströmenden feinen Veilchenduftes, beugte er sich zu ihr, um sie zu küssen. Jessi fuhr erschreckt zurück – und als ihr nun Jurisics das Kinn emporhob, um ihr ins Auge zu blicken, sah er vor sich ein blasses, weinendes Niobengesicht mit dem starren Ausdruck des Schmerzes.

Das Mädchen sträubte sich nun nicht länger, sondern fiel Jurisics in die Arme und begann krampfhaft zu schluchzen. Die ewig heitere Jessi weinte – weinte, als wär's zum erstenmal in ihrem Leben und als müßte sie jetzt alles Versäumte nachholen.

Dazwischen wiederholte sie mit fast erstickter Stimme: »Hadfalussy kommt! Morgen kommt er!«

Und als suchte sie bei Jurisics Schutz und Rettung, schmiegte sie sich fest und warm an ihn.

Es erging Jessi, wie vielen Damen der Halbwelt, die zufällig einmal von der Anständigkeit verkostet haben. Instinktiv fühlte sie ein starkes, hoffnungsloses Sehnen danach, und das machte sie schier krank.

Bisher hatte sie nur Männer gekannt, die sie mit gieriger Zudringlichkeit, wie Drohnen den Honig, umschwärmten – Weiber, die sie mit feindseligen Augen betrachteten und, wenn sie auch ihre Schönheit lobten, dies in so geringschätzender Weise thaten, wie man etwa ein schönes Tier bewundert. Bisher hatte sie geglaubt, dies alles könne gar nicht anders sein. Heute, da sie einen ganzen Tag hindurch die souveränen Rechte der anständigen Frau usurpiert, heute sah sie ein, daß es noch eine zweite, eine ganz andere Welt giebt, wo man weibliche Schönheit nicht nach dem Kaufpreise taxiert. Sie lernte die weibliche Würde kennen. Zum erstenmal im Leben schaute man sie heute mit achtungsvollen Blicken an, darin sich weder schmutziges Verlangen, noch Neid und Eifersucht spiegelten.

Die Komödie der Anständigkeit war zu Ende, und als Jurisics seinen Arm um die Schultern des Mädchens legte, da kam Jessi wieder zum Bewußtsein der Wirklichkeit – jener schmachvollen Wirklichkeit, die sie in rauchigen Kaffeehäusern, umgeben von geschminkten Weibern und unflätig diskurierenden Herren, zu durchleben hatte. Und es trat ihr wieder das Bild jenes Mannes vor die Seele, dessen Annäherung sie seit vielen Tagen mit mystischer Furcht erfüllte. Sie erinnerte sich an Hadfalussy.

Jurisics war kein großer Menschenkenner, doch er begriff Jessis Seelenzustand. Ja es überging ein Tropfen jener Flut von Bitterkeit, die im Herzen des Mädchens wogte und wühlte, auch auf ihn.

Was wollte er mit Jessi beginnen? – Sie dem Fürsten entreißen? Wozu? Um sie zur eigenen Geliebten zu machen? Das Mädchen hätte dadurch an Anständigkeit nichts gewonnen, er aber würde nicht als Kavalier handeln, wenn er Jessis Schwäche dazu benutzte, um sie materieller Vorteile zu berauben, die er ihr niemals ersetzen könnte.

Was also? Wollte er sie etwa auf die Bahn der Tugend lenken? Was war für Jessi die Tugend? Im besten Falle ein grober Handwerksmann als Gatte, oder ein kleiner Geschäftsmann aus der Vorstadt, der – wenn er nicht geradezu ein Trunkenbold und roher Gewaltmensch ist – sich von ihr die Wohnung aufräumen und das Essen kochen läßt. Im schlimmeren Falle aber das schale Leben der alten Jungfer: Lange Nächte an der Nähmaschine, vom Wachen geschwächtes Augenlicht, von der Arbeit schwielige Hände. – Nein, dieses blühend schöne Kind war zu Besserem geboren: zu Reichtum, Glanz und Genuß!

Als ahnte sie, was Jurisics durch den Kopf ging, oder als erwartete sie von ihm eine Entscheidung ihres Schicksals, schaute ihm Jessi mit banger Unruhe ins Gesicht. Dann trocknete sie sich die Augen und sagte im weichen Tone weinender Frauen: »Nicht wahr, ich bin recht albern? Ich sollte mich eher freuen – hab' ich mich doch in meinem Leben nicht so wohl gefühlt, als heute den ganzen Tag.«

Vielleicht wollte sie ihm für diese Freude danken, denn sie neigte sich, unter Thränen lächelnd, zu Jurisics und flüsterte: »Küssen Sie mich, wenn Sie wollen!«

Er küßte sie auf das feuchte Auge. – Das Mädchen beruhigte sich und lehnte den Kopf vertrauensvoll an die Schulter des jungen Mannes, um dann, in ihr gewohntes Nachdenken versunken, still vor sich hinzustarren.

Jurisics glaubte sie einigemale schlafend, so oft er sich jedoch über sie neigte, blickte ihm Jessis lächelndes Antlitz entgegen.

 

9.

So langten sie bei der Haltestelle Alt-Ofen an.

Der junge Mann suchte nach einem Mietwagen. Unter einer Gaslaterne stand eine Gestalt, die Jurisics anfangs für einen Packträger oder Lohndiener hielt. Schon wollte er ihn ansprechen, als er aus größerer Nähe das unangenehme Gesicht des Polizeibeamten Csámpor erkannte, der Jessi seit langem nachstellte. Csámpor war in Civilkleidern. Er schien Jurisics ebenfalls erkannt zu haben, denn er maß ihn mit einem sichtlich betroffenen Blicke und verschwand sodann in der Dunkelheit.

Als Jurisics den vorgefahrenen Wagen besteigen wollte, erschien Csámpor in Begleitung eines Wachmannes wieder, legte die Hand auf des jungen Mannes Schulter und sagte, zitternd vor Erregung: »Ich bin beauftragt, Sie zu verhaften, Herr Jurisics!«

Jurisics machte sich von der unangenehmen Berührung des Beamten los und meinte: »Sie sind ein Esel!«

Einen Augenblick schauten sie einander feindselig in die Augen. Csámpor war bleich, Jurisics blutrot im Gesicht.

»Ich bitte – im Namen des Gesetzes!«

»Sind Sie von Sinnen?«

»Sie werden wegen Wechselfälschung gesucht –«

Wechselfälschung!

Wie von einem mächtigen Faustschlag getroffen, griff sich Jurisics nach der Stirn. – Dann erfaßte ihn schreckliche Wut gegen den Menschen, der ihm jenes Wort ins Gesicht zu sagen wagte. Er hätte sich auf Csámpor geworfen, wäre nicht der Wachmann dazwischen getreten.

Wechselfälschung!

Er wußte es, und seit Tagen verfolgte ihn der Gedanke, daß er nicht recht gehandelt, als er den Namen seines Vaters unter Gróthys Wechsel setzte. Das war nicht korrekt, obwohl er als vollkommen sicher voraussetzte, daß sein Vater die Unterschrift übernehmen werde. Es ahnte ihm längst etwas, wie wenn daraus Übles entstehen würde. Unter diesem Übel aber verstand er, es könnte irgend ein Ehrengericht oder ein Klubdirektorium seine Kavaliersehre beanstanden. Wegen dieser Unkorrektheit behördlich kurrentiert und auf der Straße gleich einem gewöhnlichen Gauner durch die Polizei verhaftet zu werden, dessen hatte er sich keinen Augenblick versehen.

Plötzlich hatte er sich wieder gefaßt. Nur kein Skandal sollte aus der Sache werden! Lieber wollte er zur Polizei fahren, die Angelegenheit ins reine bringen und bitten, man möge darüber Stillschweigen bewahren.

Er stieg zu Jessi in den Wagen. Csámpor war zartfühlend genug, sich auf den Kutschbock zu schwingen.

Jurisics war schrecklich nervös geworden. Es überkamen ihn Zweifel, ob sich die Sache so leichthin werde schlichten lassen. Er nahm seine aus der Studentenzeit übriggebliebenen juridischen Kenntnisse hervor und kam zur Einsicht, daß es, wenn seine Feinde Ernst daraus machen, keine leichte Sache sein werde. – Wirre Ideen durchkreuzten seinen Kopf. Schließlich vermochte er seine Gedanken nicht mehr zu sammeln, denn bei jedem Pulsschlag überkam ihn ein stürmisch wachsendes Angstgefühl – jene schreckliche Angst, die den anständigen Menschen ergreift, wenn ihn plötzlich der Geruch des Zuchthauses umweht.

Als der Wagen über die Margaretenbrücke fuhr, war Jurisics im Begriffe, die Thür aufzureißen und sich kopfüber in den schwarzen Strom zu stürzen. – Jemand hinderte ihn daran. Jemand hing an seinem Arm und bedeckte seine Hand mit Thränen und mit Küssen.

Der Wagen sauste dahin, als würde er von einem Drachengespann gezogen. Schon waren sie in der Akademiegasse angelangt. Jessis Kopf, an Jurisics' Brust gelehnt, wurde mächtig hin- und hergerüttelt; schon hatte sie den Hut verloren. Jetzt umarmte sie den jungen Mann stürmisch, fast gewaltthätig, so daß ihr seine Krawattennadel das Gesicht blutig ritzte, und suchte mit den Lippen seinen Mund.

Jurisics zog sie stumm an sich. Dann fiel ihm ein, was nun wohl mit diesem Kinde geschehen werde?

Er tastete nach seiner Rocktasche und nahm das Portefeuille heraus. Sein ganzes Vermögen, etwa vierzehntausend Gulden befanden sich darin.

»Jessi, hier meine Brieftasche, nimm sie zu dir. Es ist Geld darin. Wenn ich nicht zurückkehre, behalt' es dir. Du brauchst dann weder Hadfalussy noch sonst jemanden. Hast du mich verstanden?«

Sie verstand nichts. Sie stöhnte nur schmerzlich und suchte gewaltsam wieder ihr Antlitz an sein Gesicht zu pressen. Jurisics fand an ihrer Jacke die Seitentasche und zwängte das große Portefeuille hinein.

Der Wagen hielt am Hof des Polizeipalastes.

»Das Fräulein bleibt im Wagen,« sagte Csámpor zu Jessi gewendet. »Der Kutscher wird Sie nach Hause fahren!«

Jurisics stand wenige Augenblicke später vor dem Polizeikonzipienten, der ihn verhörte.

Die Eigentümer des Wechsels hatten die Anzeige erstattet und die Inhaftierung verlangt. Vermutlich hatten sie vom Rückgang der Verlobung Kenntnis erhalten und fürchteten nun um ihr Geld. Sie bewiesen mit Zeugenaussagen, daß ihnen Jurisics den Wechsel übergeben und daß sein Vater einen Tag vor dem Datum des Wechsels gestorben, ja zur Zeit, als er nach der Behauptung des Sohnes sich in der Hauptstadt befand, zu Hause schon aufgebahrt lag. Die Fälschung war somit erwiesen.

»Morgen übergebe ich die Angelegenheit dem Untersuchungsrichter. Bis dahin muß ich Sie in Haft belassen,« sagte der Polizeibeamte.

Jurisics wurde nach der Zelle abgeführt. Der Wachmann sperrte hinter ihm die Thür ab, nicht ohne ihm früher zuzurufen: »Gute Nacht!«

 

10.

Er empfand nicht Gewissensbisse, nicht Scham, noch Angst, nur maßlosen Ekel.

Es ekelte ihn vor jener traurigen Komödie, worin er die Rolle des Wechselfälschers spielen sollte. Noch mehr ekelte ihn vor den endlosen Verhören, denen man ihn in dem bevorstehenden Prozesse unterziehen wird. Er hatte das Gefühl, daß ihn dieser Ekel töten werde.

Im übrigen trug Jurisics den einzelnen Stadien der Untersuchung gegenüber eine Apathie zur Schau, als ginge ihn die ganze Sache nichts an. Manchmal konnte er der Versuchung kaum widerstehen, den ernsten Richtern und den Notaren, die im Schweiße ihres Angesichtes das endlose Protokoll aufnahmen, die Worte zuzurufen: »Was zum Teufel plagt ihr euch? Ihr glaubt doch nicht, daß ich das Ende abwarte!«

Was wollte man auch von ihm? Bei der Schlußverhandlung konnte er nur wiederholen, was er schon vor der Polizei und vor dem Untersuchungsrichter so oft gesagt: Er habe den Wechsel unterschrieben, doch fühle er sich nicht strafbar, denn sein Vater hätte die Unterschrift sicher anerkannt, wenn er inzwischen nicht gestorben wäre.

Der Präsident des Gerichtshofes antwortete hierauf dasselbe, was schon der Untersuchungsrichter betont hatte: Ein gebildeter, und gar ein juridisch gebildeter Mann sollte keine solchen Ausflüchte gebrauchen!

Als erschwerende Umstände wurden ihm die Höhe der Summe und der Fluchtversuch angerechnet. Diesen erachtete man als erwiesen durch den Umstand, daß Jurisics einen Paß nach dem Auslande lösen wollte. Als mildernder Umstand wurde geltend gemacht, daß die Privatkläger, nachdem ihr Schaden ersetzt worden, die Anklage fallen ließen.

In dem ganzen Kriminalfall zeigte sich nur ein dunkler Punkt. Es war das die Frage: Wozu hat Jurisics diesen hohen Geldbetrag verwendet? So oft man diesbezüglich in ihn drang, zuckte er die Achseln und verweigerte jede weitere Auskunft. Er wollte nicht, daß auch Szentgróthy in den Skandal verwickelt werde. Ein Verbrechen zu begehen, war er fähig, eine Unritterlichkeit – niemals!

Die Gerichtsärzte fanden, daß die Ursache von Jurisics' bewundernswerter Apathie in einer Krankheit liegen müsse. Sein Zustand setzte sie in Verwirrung. Eine Klage kam wohl nie über seine Lippen, doch nahm er fast keine Nahrung zu sich. Dazu befand er sich beständig im Fieberzustand, was seine Kräfte rapid sinken machte, Wenn er nicht eben ein Verhör zu bestehen hatte, lag er tagsüber zumeist auf dem eisernen Bette der Zelle und schlummerte mit offenen Augen. Erhob er sich, so ging er nur bis zu der Ofenbank, um dort wieder in Halbschlaf zu verfallen. Wurde die Thür geöffnet, so fuhr er erschreckt zusammen und fragte erregt, wozu man ihn schon wieder störe. Mit den Wächtern sprach er kaum ein Wort und auch mit dem Verteidiger wollte er sich in kein Gespräch einlassen.

Dieser, ein Kriminalist von großem Rufe, erklärte dem Angeklagten, wie leicht er sich seine Lage verbessern könnte, wenn er dem Rechtsanwalt die zur Verteidigung nötigen Daten zur Verfügung stellen würde. Jurisics zuckte die Achseln.

»Was liegt mir daran!«

»Wissen Sie auch,« sagte der Verteidiger eines Tages zu ihm, »daß man in Ihre Angelegenheit ein Mädchen verwickeln wollte?«

»Jessi?« fragte Jurisics mit finster zusammengezogenen Augenbrauen.

»Die Polizei hat eruiert, daß Sie in der letzten Zeit sie oft besucht haben, und so entstand der Verdacht, Sie hätten das Geld auf sie verwendet. Der Staatsanwalt wollte infolge Drängens der Gläubiger die Untersuchung auch auf das Mädchen ausdehnen – ja, es war davon die Rede, dessen Verhaftung zu verlangen –«

Jurisics machte eine erregte Bewegung.

»Die Sache wurde jedoch fallen gelassen – nicht aus Gerechtigkeitsliebe, sondern weil sich ein sehr einflußreicher Herr ins Mittel legte.«

»Wer ist das?«

»Fürst Hadfalussy. – Es scheint sehr in seinem Interesse gelegen zu haben, daß das Fräulein nicht hier, hinter wohlversperrten Thüren Quartier bekomme; er war schon bereit, hunderttausend Gulden Kaution zu erlegen. Auch mochte er von anderer Seite wirksam seinen Einfluß geltend gemacht haben, denn im Verlaufe der weiteren Untersuchung wurde der Name des Mädchens nie wieder genannt.«

Auf den Lippen Jurisics' zeigte sich ein bitteres Spottlächeln.

»Man hat sie also schon aus der Reserve zur aktiven Dienstleistung herangezogen!« murrte er.

Der Advokat verstand ihn nicht.

Tags darauf geschah es zum erstenmal, daß der Gefangene einen Wunsch äußerte. Er bat den Untersuchungsrichter, keinerlei Besuche bei ihm vorzulassen; er wollte auch gar nicht wissen, wer mit ihm zu sprechen wünsche. Weder Briefe, noch sonst welche Sendungen wolle er empfangen. Man möge ihn in Ruhe lassen.

In der Hauptstadt erregte der Fall Jurisics riesiges Aufsehen.

Die Blätter jedoch thaten der Sache nur kurz Erwähnung. In aristokratischen Kreisen wurde sein Name überhaupt nicht genannt; man benahm sich, als hätte man Jurisics nie gekannt. Nur seine intimsten Kameraden zischelten in einer Ecke des Klubs insgeheim über den Sensationsfall und seinen Helden.

»Jessi hat ihm den Hals gebrochen! Na ja: der eine reitet, nimmt das Hindernis zu kurz und bricht den Hals; ein anderer spielt Karten, kann nicht bezahlen und bricht den Hals; der dritte vernarrt sich in eine und bricht ebenfalls den Hals. Jurisics ging es auch nicht besser. Wenn nur die Affaire nicht gar so schmutzig wäre! Wechselfälschung! Unter anderen Umständen wäre ja dem armen Teufel vielleicht zu helfen – so aber darf man nicht einmal den Versuch dazu machen.«

Es machte übrigens guten Eindruck, daß Jurisics gleich einen Tag nach seiner Verhaftung bei der Direktion des Klubs schriftlich um seine Streichung aus der Mitgliederliste ansuchte. Auch den Reserveoffizierscharakter legte er nieder. Die Thatsache, daß Szentgróthy sofort die Wechselschuld beglich, fand ebenfalls jedermann befriedigend. Es wußte zwar niemand, woher er das Geld hierzu genommen, doch fand man, daß er sich dadurch vollständig vor jenen rehabilitiert habe, die es ihm verübelten, daß er in die Wechselaffaire verwickelt war.

Jurisics wurde zu einem Jahre Kerker verurteilt.

Gleichmütig, mit einem leichten, bitteren Lächeln auf den Lippen, hörte er das Urteil und dessen langatmige Begründung zu Ende.

Er appellierte nicht. Wozu auch? Die Komödie dauert ohnehin nicht mehr lange. Er wartete nur noch – nun, worauf gab's da zu warten? Vielleicht nur noch auf den Zeitpunkt, da er seine Gedanken zu ordnen imstande sein werde – dann solle alles aus sein! Ein zum Strick gedrehter Leintuchstreifen, ein Nagel in der Wand – das ist das Ende!

Der Arzt, den der Seelenzustand Jurisics' sehr interessierte, setzte es durch, daß der Häftling, den das fortwährende Fieber entsetzlich von Kräften brachte, zur Luftveränderung in eine Provinzstrafanstalt übergeführt wurde.

Es war eine kühle Frühlingsnacht, als er in Begleitung eines Profosen den Eisenbahnwagen bestieg. Während sein Wächter nach Bauernart zeitweise tiefe Seufzer ausstieß und leeren Blickes vor sich hin in den Pfeifenrauch starrte, sog Jurisics mit vollen Lungen die zum Fenster einströmende frische Luft ein und betrachtete aufmerksam die Lichtpunkte, die in der Ferne fortwährend auftauchten und wieder verschwanden. Die frische Luft verscheuchte ein wenig den verwirrenden Nebel, der ihm seit Wochen das Gehirn belastete.

Nach Mitternacht langten sie an ihrem Bestimmungsorte an. Ein Justizsoldat übernahm Jurisics und brachte ihn nach dem Strafhause, das mit seinen Riesenmauern düster am Ufer des Stromes lag.

Während der Soldat an der Thorglocke läutete, wurden drüben, in einer Schenke, eben die Lichter verlöscht.

»Die Lampen werden verlöscht, die Vorstellung ist zu Ende!« dachte Jurisics. Und er hatte das Gefühl, als trete er von einer großen Bühne ab, wo er als Autor des ausgepfiffenen Stückes erschienen war.

 

11.

Ein großes, gelbes, viereckiges Haus am Flußufer. In seinem tiefen Schweigen und mit den blinden Fenstern machte es den trübseligen Eindruck eines kranken Tieres, das sich an der Sonne wärmt. Auch innen alles gelb und viereckig: die Wände, die Fenster, der sandige Hof. Dazwischen langweilten sich zehn rundgestutzte Akazienbäume, stramm in zwei Reihen stehend, ihre Entfernungen auf den Centimeter genau bemessen. Im übrigen alles so wüst und öde und alles so verstimmend reingeputzt, daß einen das Weinen überkam, wenn man den Hof entlang blickte.

Tödliche Langweile lagerte über der ganzen Kolonie. Eine drückende Langweile! Sie hemmt die Schritte der auf- und abgehenden Häftlinge, lähmt die Hände der Leute, die in den Werkstätten und Kanzleien arbeiten, sie legt sich mit Bleischwere auf die Lider der Menschen, die sich eben in der Kirche oder in den Schulstuben befinden. Soll ein holzbeladener Karren in den Hof geschoben werden, so stemmen sich zehn Arbeiter daran, doch geht es so langsam von statten, wie mit der Schneckenpost. Ein Mann macht sich an einem Küchenschaff vom frühen Morgen bis zum Mittag mit der Bürste zu schaffen.

Jurisics überließ sich anfangs vollständig der lähmenden Einwirkung seiner neuen Umgebung und vegetierte in wunderlicher Gleichgültigkeit dahin. Von seinen Haftgenossen und den Wächtern nahm er kaum Kenntnis. In dumpfer Apathie lebte er so fort und wochenlang kam fast kein Laut über seine Lippen.

Nicht einmal mit Gyurka Nagy ließ er sich in ein Gespräch ein, dem munteren Bauernburschen, der mit ihm die Zelle teilte. Gyurka Nagy war ein hübscher, gewandter Junge, der wegen irgend einer blutigen Wirtshausaffaire hier die Strafe absaß. Er erlernte in der Strafhauswerkstätte das Schlosserhandwerk. Mit der hartnäckigen Zuvorkommenheit des ungarischen Bauern sprach er seinen Zellengenossen immer als »gnädigen Herrn« an und machte sich ihm unaufgefordert durch allerlei kleine Dienste nützlich. Die Zelle reinigte er immer allein und sang dazu mit dünner Kopfstimme den Refrain eines monotonen Volksliedes. Diesen Refrain, und immer nur denselben, sang er wohl hundertmal des Tags:

»Kadar hob die Augen nach dem blauen Himmel –«

Weiter wußte er's nicht.

In der Phantasie Jurisics' verkörperte schließlich dieses einfältige Lied die ganze verzweifelte Langweiligkeit des Kerkerlebens.

Nach einigen Wochen bemächtigte sich seiner eine zunehmende Gereiztheit und Ungeduld. Als gäbe es für ihn etwas zu erwarten! Was wäre das? – Und als er einmal die Tage zu zählen begann, da drehte sich ihm das Rad der Zeit mit unerträglicher Langsamkeit weiter. Oft schien es ihm ganz stille zu stehen. Zehn Minuten: ein Zeitabschnitt; eine Stunde: welch langer Zeitraum; sieben Tage: eine ganze Epoche!

Um die Mitte des zweiten Monats hatte Jurisics schon die Empfindung, als sei er hier, zwischen den gelben Mauern, geboren und als müßte er hier sein ganzes Leben verbringen. Kaum vermochte er sich mehr einen Begriff zu machen von seinem früheren Ich, von damals, als er noch, den steifen Hut auf dem Kopfe, eine Nelke im Knopfloche, auf dem Asphalt der Hauptstadt promenierte und, außer seinen eigenen Launen, niemandem Gehorsam und Rechenschaft schuldete.

Es überkam ihn das Gefühl verzehrender Bitterkeit. Mitunter, besonders am Abend, wenn in der Thür der Schlüssel knarrte, stiegen ihm glühendheiße Blutwellen zu Kopfe. Das Haar schien ihm zu Berge zu stehen und es erfaßte ihn flammende Wut. In solchen Momenten hatte er unwiderstehliche Lust, alles um sich zu zerschlagen und zu zerstören.

Eines Tages nahm er aus der Kanzlei, wo man ihn mit Kopierarbeiten beschäftigte, eine scharfe Papierschere mit sich und versteckte sie in seiner Zelle. Er wußte selbst nicht, wozu ihm das Werkzeug dienen sollte, doch erfüllte ihn das Bewußtsein, daß er damit, wenn er wollte, sich selbst oder anderen das Leben nehmen könne, mit einer Art wohlthuender Beruhigung. Am Morgen war die Schere verschwunden. Gyurka Nagy aber saß auf dem Fensterbrett und dudelte in affektierter Teilnahmslosigkeit sein Lied:

»Kadar hob die Augen nach dem blauen Himmel –«

Jurisics faßte den Burschen am Halse und schrie ihn an: »Schuft! Gieb mir meine Schere wieder!«

»Ich hab' sie zum Fenster hinausgeworfen,« stammelte der zu Tode erschrockene Schlosser, »damit sich der gnädige Herr kein Leids anthun können –«

 

12.

Es wurde ein neuer Gefangenenaufseher ernannt. Irgend ein ausgedienter Unteroffizier, ein bleicher, hagerer Mensch mit aufgewichstem Schnurrbarte. Schon an der steifen Haltung des Mannes war der despotisch veranlagte Pedant zu erkennen. In seiner fanatischen Ordnungsliebe und seinem Spioniertriebe lief er, gleich einem Jagdhunde, fortwährend witternd durch das Gebäude und fahndete nach Unordnung. Die alten Profosen und die Häftlinge hatten ihn bald hassen gelernt; man schimpfte und fluchte in den Werkstätten voll kollegialer Übereinstimmung wider den gemeinsamen Peiniger.

Dem neuen Aufseher war die Ausnahmestellung, welche Jurisics unter den übrigen Gefangenen einnahm, vom ersten Augenblicke an ein Dorn im Auge. Dieser Häftling, der in so stolzer Verschlossenheit durch das Kerkergebäude schritt, die an ihn gerichteten Fragen kaum beantwortete und müßig-träumerisch an dem Schreibtische saß, mißfiel ihm gründlich.

Einmal wandte sich der Aufseher mit seinem gewohnten scharfen Tonfall an Jurisics und fragte ihn: »Was haben Sie heute gearbeitet?«

Jurisics warf einen Bogen Papier auf den Schreibtisch. Der Bogen war zur Hälfte mit Zahlen beschrieben.

»Das ist alles?« fuhr ihn der Aufseher an. »Ich sehe schon, ich werde Ihnen die Faulheit gründlich abgewöhnen müssen.«

Jurisics zuckte die Achseln und kehrte dem Aufseher den Rücken, wie ein Mensch, dem die Fortsetzung eines Gespräches zuwider ist.

Der Aufseher fand, daß im Interesse der Wahrung seines Ansehens die Halsstarrigkeit des Gefangenen gebrochen werden müsse.

»Stehen Sie auf, wenn Sie zu mir sprechen! Ich befehle Ihnen, aufzustehen!«

Und da Jurisics nicht rasch genug gehorchte, versetzte er ihm einen Schlag auf die Schulter.

»Frecher Bengel! Hörst du, was ich befehle?«

Jurisics, dem das Blut siedend heiß zu Kopfe schoß, sprang auf, und im nächsten Augenblick brach der Aufseher mit verwundeter Stirn in der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers schwindelnd zusammen.

Durch die Scene aufs Heftigste bewegt, schossen die Häftlinge wie auf Kommando empor. Einer von ihnen (welcher es gewesen, stellte sich nie heraus) zog den starken Riegel der schweren Eisenthür von innen zu.

Der Aufseher konnte sich nach einigen Augenblicken erheben. Als er sich unter den zügellosen Sträflingen allein und eingeschlossen sah, zog er sich in die Fensternische zurück und nahm den Revolver aus seinem Gürtel.

»Wache! Wache!« rief er, kreischend vor Erregung.

Jurisics stand mit verschränkten Armen und keuchender Brust vor der Thür, den wild glänzenden Blick auf den gegen sich gerichteten Lauf des Revolvers heftend.

»Wer sich rührt, den schieße ich nieder!« rief der Aufseher.

Die übrigen Gefangenen duckten sich hinter die Tische, Jurisics aber trat zwei Schritte vorwärts, dann blieb er stehen. Es erfüllte ihn unbändiger Zorn, jener Zorn, den der beutegierige Wolf angesichts des treu wachenden Haushundes empfinden mag. In diesem Despotchen mit dem Pergamentantlitz und dem spitzen Schnurrbart verkörperte sich ihm die ganze offizielle Gesellschaft, jene gemütlose, hohlköpfige Gesellschaft, die Freiheit und Stolz nach ihren blöden Paragraphen bemißt und zuschneidet.

Ein Schuß ertönte. Die Kugel bohrte sich tief in die Wand.

Jurisics blieb nach dem Schusse regungslos auf seinem Platze stehen. Er war sehr bleich geworden. Auch das Gesicht des Aufsehers war kreideweiß.

Unten im Hofe war das Brüllen des Wachsoldaten hörbar, der die Mannschaft unter das Gewehr rief. Vom Korridor her war das Geräusch von zugeschlagenen Thüren, Waffengeklirr und Laufschritten zu vernehmen. Die Alarmglocke ertönte. Und plötzlich war das ganze Gebäude von einem unheilverheißenden, furchtbaren Stimmengemurmel erfüllt, als sauste ein Wirbelwind der Meuterei durch die Gänge.

Der Aufseher erhob die Waffe neuerdings gegen Jurisics.

»Zurück, oder ich schieße Sie nieder!«

Jurisics trat noch zwei Schritte vor. Es trennten sie nur noch etwa acht Schritte voneinander.

Die Riesengestalt dieses Gefangenen, der sich mit glühendem Blicke so sicheren Schrittes ihm näherte und die gegen ihn gerichtete Schußwaffe der Beachtung nicht würdigte, erfüllte den sonst keineswegs feigen Aufseher mit lähmendem Schreck; er fühlte sein Haar zu Berge stehen und seine Hand zitterte so heftig, daß das Vibrieren des Revolverlaufes sichtbar wurde.

Er schoß abermals und traf wieder nicht.

Und zum drittenmal zog er den Hahn auf. Jetzt zielte er gar nicht mehr – und die Kugel bohrte sich abermals in die Zimmerdecke.

Nun verlor er vollends die Selbstbeherrschung. Die Waffe entfiel seiner Hand. Er schlug die Fensterscheibe ein und machte eine Bewegung, als wollte er sich durch das vergitterte Fenster flüchten. Jurisics war ihm schon so nahe, daß er ihn mit der Hand erreichen konnte. Der Aufseher sah sich in die enge Nische gedrängt und blickte mit einem Gesicht, das von Todesangst krampfhaft entstellt war, auf seinen Gegner.

»Lassen Sie mich am Leben!« hauchte er.

Da verflog plötzlich die maßlose Wut aus der Seele Jurisics'. Als hätte sich in seinem Innern im entscheidenden Augenblick ein Ventil geöffnet.

In seinen Kinderjahren verfolgte er einmal einen Knaben, der ihn mit Steinen beworfen hatte. In einer Mauerecke bekam er den Fliehenden in seine Gewalt. Dieser Knabe – er erinnerte sich lebhaft an den hübschen schmächtigen Jungen – sah ihn mit ebensolcher Angst und ebenso gnadeflehenden Blicken an, wie jetzt der Aufseher. Auch der Junge bat ihn damals: »Töte mich nicht!«

Und er sprach jetzt zum Aufseher dasselbe, was er damals dem Knaben sagte: »Fürchte nichts! Ich bin ja kein wildes Tier.«

Von außen bearbeitete man jetzt mit Gewehrkolben die Thür. Auf einen stummen Wink Jurisics' öffnete einer der Gefangenen den Riegel. Der Korridor war von Bewaffneten erfüllt: der Profos trat mit schußbereit erhobenem Gewehr ins Zimmer.

»Legt allen die Eisen an!«

Der Aufseher fuhr sich mit zitternder Hand über die Stirne, dann sagte er mit bebender Stimme und voll sichtlicher Verlegenheit: »Laßt sie unbehelligt. Ich habe die Sache übereilt.«

 

13.

»Kadar hob die Augen nach dem blauen Himmel –«

Gyurka Nagy, der eben das Mittagessen brachte, unterbrach plötzlich seinen Gesang, als er sah, daß der Seelsorger der Strafanstalt, mit der Pfeife zwischen den Zähnen, neben Jurisics am dem Bette der Zelle saß.

»Ich werde Ihnen nicht die Geschichte vom verlorenen Sohn vor Augen führen, sondern ich will Ihnen einen nüchternen Antrag stellen. Sie sind überzeugt, daß Sie Ihr Leben nicht fortsetzen können, weil Sie es von Grund auf verfehlt haben; ich dagegen behaupte, daß der Fehler noch gutzumachen ist und daß Sie noch glücklicher werden können, als Sie es in ihrem bisherigen Leben gewesen. Seien wir aufrichtig: bisher waren Sie überhaupt nicht glücklich, in Zukunft können Sie es noch werden – freilich nur insoweit, als das Glück dem Menschen überhaupt beschieden ist. Sie glauben mir nicht? Ich rate Ihnen, es zu versuchen. Wenn Sie dann einsehen, daß ich nicht recht habe, dann mögen Sie thun, was Sie nach Ihrer Überzeugung nicht lassen können. Hatte ich recht – nun, dann war es für Sie der Probe wert. Es fällt mir nicht im mindesten ein, die Selbstmordtheorie mit religiösen Gründen bekämpfen zu wollen – Sie haben für derartige Gründe nicht die geringste Empfänglichkeit; doch sehen wir uns einmal die Sache mit meinem Provinzseelsorger-Auge an. Wie lange glauben Sie im besten Falle noch leben zu können? Sagen wir vierzig, oder sagen wir dreißig Jahre. Halten Sie das für eine gar so lange Zeit? Die Vorsehung – oder wenn Sie wollen, die Natur – hat jedem Menschen einen Tropfen aus dem unendlichen Meere der Zeit gewährt. Ich kann nicht für meine Gefühle, doch überkommt mich neben dem Mitleid für meinen Nächsten jedesmal fast ein Lachkrampf, so oft ich erfahre, daß dieser Tropfen an Zeit wieder jemandem zu lang erschienen und er daher kopfüber dahin sprang, wo er doch nur unüberbrückbares Schwarz vor sich sehen konnte. Sie sagen, das Leben sei Ihnen nicht gerade verhaßt, doch was sei das Leben wert, wenn man nicht mehr unter Menschen gehen könne? Verzeihen Sie: Was verstehen Sie eigentlich unter Menschen? Ich gehe weit, wenn ich die Zahl Ihrer persönlichen Bekannten auf zweitausend schätze. Auf der Erde aber leben, nach oberflächlicher Schätzung, zweitausend Millionen Menschen. Eintausendneunhundertneunundneunzig Millionen und einige Hunderttausende haben also keine Kenntnis davon, daß Sie auf der Welt sind. Wie, wenn Sie nun unter diesen noch Menschen fänden, die liebenswürdiger sind, als Ihre bisherigen Bekannten, und denen zuliebe es der Mühe verlohnte, weiterzuleben. Versuchen Sie es!«

»Ohne Ehre?« warf Jurisics dazwischen.

Der Alte lächelte dazu, dann schickte er Gyurka um Zündhölzchen weg.

»Ehre!« begann er später. »Ich erinnere mich, daß Sie einmal wegen einer schönen Frau ein sensationelles Duell hatten, das Ihren Ruf als Ehrenmann, oder, wie Sie es nennen, als Gentleman, bedeutend vergrößerte. Später fälschten Sie einen Wechsel, um, wie Sie mir gestanden, einem guten Jungen das Leben zu retten. Glauben Sie nicht, daß sich unter den zweitausend Millionen Menschen einer finden könne, der Ihnen jenes Duell als Ehrlosigkeit und eben jene Wechselfälschung als Verdienst anrechnet? Es giebt deren sicher viele. Sie müssen ein neues Leben beginnen. Aus den Erfahrungen der Vergangenheit können Sie Schlußfolgerungen für die Zukunft ziehen. So weit ich Ihre Vergangenheit kenne, liegt Ihr tragischer Fehler, der Sie fallen machte, nicht in jener gefälschten Unterschrift, sondern in dem Umstande, daß man Sie auf der Treppe der Gesellschaft um einige Stufen höher stellte, als es durch die nüchterne Vernunft geboten war. Ihre übermäßigen Ansprüche, Ihr großherrischer Leichtsinn, den keine spießbürgerlichen Bedenken zügelten, und Ihr überquellendes Temperament haben zu Ihrem Sturze das ihre beigetragen. Alles übrige folgt notwendig aus dem Bisherigen. Wollen Sie im neuen Leben glücklicher werden, so mindern Sie Ihre Ansprüche herab. Steigen Sie um einige Leitersprossen niedriger. Wenn Sie meinem Rate folgen wollen, so beginnen Sie es einmal von unten. Vor allem müssen Sie Ihre selbstquälerischen Grübeleien loswerden. Der beste Weg hierzu ist schwere physische Arbeit. Sie besitzen mächtige Muskeln; beschäftigen Sie dieselben. Eine alte Erfahrung lehrte mich, daß körperlich kräftige Menschen viel eher durch Müßiggang zu Grunde gehen, als Schwächlinge. Treten Sie in eine unserer Werkstätten und erlernen Sie ein Handwerk. Ist das Jahr um, dann ziehen Sie in die Welt hinaus, in eine Gegend, wo man Sie nicht kennt, und versuchen Sie, aus eigener Kraft es zu etwas zu bringen. Nehmen Sie die körperliche Unbequemlichkeit nicht übermäßig tragisch. Machen Sie es dem Zaren Peter nach, der inkognito Balken sägte. – Setzen Sie sich einen Termin fest, sagen wir drei Jahre! Haben Sie bis dahin Ihr neues Leben satt, so können Sie noch immer thun, was Sie jetzt glauben, nicht vermeiden zu können. Es ist jedoch möglich, daß Sie das neue Leben amüsant finden werden. Versuchen Sie es!«

Der Priester erhob sich und reichte Jurisics die Hand. Man erwarte ihn zur Gulyássuppe, die er sehr gern esse.

Jurisics lächelte bitter.

»Sie haben, so scheint es mir, leicht reden, hochwürdiger Herr. Sie wissen nicht, was es heißt, Gefangener zu sein.«

»Mein lieber Sohn,« erwiderte der Seelsorger trocken, »ein wenig verstehe ich mich wohl zur Sache. Ich war sechs Jahre gefangen. In Kufstein, im Loch unter dem Geroldseck bin ich gesessen. Mein rechter Fuß war an die Wand gekettet – von daher stammt mein leichtes Hinken.«

Die nüchterne Bauernlogik des alten Geistlichen übte auf Jurisics eine solche Wirkung, daß er nach einer Bedenkzeit von wenigen Tagen in die Schmiedewerkstätte der Anstalt eintrat. Bis dahin dachte er viel über seine Vergangenheit nach. Er sah jetzt sein Leben mit so reinem kritischen Auge, wie der ausgepfiffene Autor sein Stück. Jetzt wußte er, wo er die Handlung verfehlt und was er hätte thun müssen, um Erfolg zu ernten.

In der rückwärtigen Hofecke befand sich ein rauchiges Loch, wo den ganzen Tag über rotes Feuer loderte und harmonisches Gehämmer erklang. Jancsi Jurisics arbeitete hier fortan in Gesellschaft Gyurka Nagys und eines anderen älteren Strafhausgenossen.

Sie schmiedeten Wagenbestandteile und Hufeisen. Mitunter überkam den alten Meister die künstlerische Inspiration. Dann wurden auch Fokosche, wie sie sich zum Kopfeinschlagen eignen, für die Besteller aus der Umgebung geschmiedet. Und es war doch ein Kopf, den er mit einem solchen Fokosch eingeschlagen, was den Alten seinerzeit ins Strafhaus brachte.

Besonders zu Beginn seiner Lehrzeit fiel Jurisics am Abend immer todmüde auf seine Lagerstatt hin. Die Handflächen brannten ihn wie Feuer, alle Glieder thaten ihm weh; er empfand jenes wohlthätige Muskelfieber, das nur der Sportsmann zu würdigen weiß. Am anderen Tage machte ihm die neue Arbeit die erstarrten Glieder wieder weich und jagte die Müdigkeit aus seinem Leibe.

Im Sommer wurde im Freien gearbeitet. Der alte Pfarrer ließ sich dann öfter den Sorgenstuhl auf den Hof hinaustragen und schaute, seine Pfeife schmauchend, den drei halbnackten rußigen Männern zu, wie sie – mit biegsamem Rumpfe und an der eigenen Kraftentfaltung sich ergötzend – das sprühende Glüheisen taktmäßig bearbeiteten.

Jurisics besaß, wie ihn die Arbeitsgenossen versicherten, großes Talent zu seinem Handwerke. Nach kurzer Lehrzeit hatte er es so weit gebracht, daß er ein Hufeisen aus »einem« Feuer herauszuschmieden verstand. Die Arbeit übte ihre gute Wirkung auf ihn. Er ließ ab von den schwarzen Grübeleien, das fortwährende Hammergedröhne, das seinen ganzen Menschen erschütternd durchdrang, härtete seine Nerven ab. Und als hätte ihm das Eisen, das er mit starker Hand formte, einen Teil der metallischen Eigenschaften überlassen, so festigte und härtete sich seine Willenskraft, gleich den Muskeln an seiner Brust und seinen Armen.

 

14.

Die Abenddämmerung hüllte die Landschaft bereits in graues Zwielicht, als Jurisics aus dem Thore der Strafanstalt trat. Er schaute um sich und es war ihm, als überkäme ihn ein Schwindelanfall. Vor dem Thore stand die Bank, worauf tagsüber die Kerkerwächter müßig zu sitzen pflegten. Jurisics ließ sich darauf nieder.

Er war frei. Er konnte sich begeben, wohin es ihm beliebte. Und dennoch empfand er anstatt des jauchzenden Freudenrausches, vor welchem er sich wie vor einer großen Gemütserschütterung so lange gefürchtet hatte, nun nichts, als eine Art schmerzhafter Erstarrung. Er fand die Welt so groß, so leer und fremd, obgleich er außer einigen Mauern und Holzumzäunungen nichts davon vor sich sah. Es überkam ihn ein geheimnisvolles Angstgefühl, er fürchtete sich vor allem Möglichen, was er in Zukunft noch durchzumachen habe, und wäre er seinem Instinkte gefolgt, er hätte sich am liebsten zurückgewandt nach seiner stillen, sicheren Zelle, um sie Zeit seines Lebens nicht wieder zu verlassen.

So saß er, den Kopf in die Hand gestützt, noch lange da und träumte vor sich hin. Als im Strafhause die Abendglocke ertönte, ermannte er sich endlich und stand auf. Er wußte, daß jetzt Leute der Anstalt zu kommen pflegten, und wollte sich hier von ihnen nicht finden lassen. Raschen Schrittes ging er dem Bahnhofe zu, immer knapp an den Häusermauern, als fürchte er vom Schwindel erfaßt zu werden.

In der letzten Zeit seiner Gefangenschaft beschäftigte er sich fast mit nichts anderem, wie mit Zukunftsplänen. Er malte sich das Bild seines kommenden Lebens bis ins kleinste Detail aus.

Jetzt fand er plötzlich, daß all diese Pläne und nächtlichen Phantasien nichts weiter als unmögliche Träume waren, und er wußte mit sich nichts mehr anzufangen. Die ganze Welt stand vor ihm offen, eine Welt, in der er allen fremd war, und er begab sich trotzdem nach dem einzigen Orte, wo ihn jedermann kannte: nach Budapest.

Noch diese Nacht traf er in der Hauptstadt ein.

Er übernachtete in einem kleinen Vorstadtgasthof. Sein ganzes Vermögen hatte er bei sich: sechzig Gulden, die er sich durch das Schmiedehandwerk erworben, und ein paar Kleidungsstücke. Er trug einen Anzug aus unverwüstlichem englischen Stoffe. Vor einigen Jahren hatte er sich ihn zur Jagd machen lassen.

Am nächsten Morgen verließ er den Gasthof und mietete bei einer Frau, draußen, nahe zum Stadtwäldchen ein kleines Zimmer. Ein billiges, finsteres, enges Zimmer. Der Eingang führte durch die Küche, das Fenster mündete in einen feuchten, modrigen Hof.

Jurisics, der ehedem nicht einmal seinen Diener in einem so armseligen Loche hätte wohnen lassen, begnügte sich mit der Bequemlichkeit dieses Appartements. Der abgenützte Diwan der Hausfrau fand sogar seinen besonderen Beifall.

Erst gegen Abend fand er den Mut, sich auf die Straße zu begeben. Längere Zeit irrte er in schmalen Seitengassen umher, ehe er sich auf die Andrássystraße hinauswagte.

Die glänzenden Laternenreihen, die Wagenauffahrt unter den Arkaden der Oper, die überfüllten Kaffeehäuser, die vielen Passanten – all das verwirrte und betäubte ihn. Zu seiner großen Freude traf er nicht einen einzigen Bekannten. Als wäre die ganze Bewohnerschaft der Stadt während dieses einen Jahres ausgewechselt worden.

Später trieb ihn der Hunger in ein bescheidenes Gasthaus. Kaum hatte er die Schenke betreten, wandte er sich rasch wieder um und eilte wie sinnlos davon. Am ersten Tische sah er nämlich in Gesellschaft mehrerer biertrinkender Kollegen seinen gewesenen Kutscher sitzen, angethan mit elegantem drapfarbenen Mantel, glänzendem Cylinder, und die Peitsche zwischen den Knieen.

Er eilte nach Hause und auch tags darauf verließ er erst am späten Nachmittag die Wohnung. Seiner Zimmerfrau mochte diese Lebensweise nicht recht zu Gesichte stehen, denn sie fragte ihn, ob er keine regelmäßige Beschäftigung habe. Jurisics antwortete: Jetzt noch nicht, doch werde er sehr bald Arbeit bekommen.

Und wieder ging er durch die Andrássystraße. Diesmal begab er sich unter die Neugierigen und ließ die lange Wagenreihe, die von den Pferderennen nach der Stadt fuhr, an sich vorbeipassieren.

In den Coupés erblickte er sehr viele, ja fast lauter Bekannte, darunter auch Szentgróthy. In lichtem Frühjahrsanzuge, die unausbleibliche Blume im Knopfloch, das Monocle im Auge, saß er dort nebst fünf oder sechs Herren in einem hohen Jagdwagen, dessen feuriges Viergespann ein junger Magnat lenkte.

Dann kamen andere: bekannte Frauen, alte Kameraden. Ein Herr mit kantigem Gesicht, der auf hohem Kutschbock vorgeneigt sein pfeilschnell dahintrabendes Halbblutgespann im Auge hält. Über das Antlitz zieht sich eine lange Narbe. Er hat sie, wegen der schönen Augen seiner Frau, seinerzeit von Jurisics erhalten.

Zwei nette Husarenoffiziere, mit einem geschniegelten Einjährigen im Wagen. Es sind die Brüder Ilonday, auf deren Gute Jurisics so oft zur Jagd war. Sie haben auch eine Schwester, eine hübsche Witwe, von der das ganze Komitat wußte, daß sie für Jurisics ein entschiedenes faible besaß.

Dann fuhren zwei auffallend schöne Frauen in einem großen Landauer vorüber. Ihr Antlitz erinnerte Jurisics an einen Frühjahrsausflug, wo sie ihm eine weiße Schürze vorbanden und ihn die Erdbeerbowle rühren ließen.

Gleich Visionen der Vergangenheit, zog all das an seinem Auge rasch und abwechslungsreich vorüber.

Als es zu dämmern begann, ging er nach dem Stadtwäldchen. Er setzte sich auf eine entlegene Bank und lauschte zerstreut der Zigeunermusik, deren Klänge vom fernen Gasthausgarten hierher drangen.

Es war ein ziemlich kalter Frühjahrsabend. Die gelbe Scheibe des Vollmondes stieg über dem Teiche langsam hinter schwarzen Baumstämmen empor und die Seele des jungen Mannes erfüllte sich mit jener düstern Schwermut, wie sie angesichts der majestätisch-gleichmütig arbeitenden Naturkräfte nur der Verlassene fühlt.

Als er wieder nach Hause schritt, lief ihm ein Kind nach, das in der scharfen Luft vor Kälte zitterte.

»Kaufen Sie diese Blume! Ich habe nur noch die eine!«

Er kaufte sie und ging mit dem kleinen Strauße weiter. Es waren Veilchen. Er erhob sie einmal und noch einmal an sein Gesicht und als er so den lange entbehrten Frühlingsduft einsog, da empfand er plötzlich wieder die geheimnisvolle Macht jenes Zaubers, gegen den er ein ganzes Jahr hindurch vergebens angekämpft.

Jessi! – Er wandte sich um. Sein Herz schlug so ahnungsvoll, als hörte er schon das Rauschen ihres Kleides hinter sich. – Nichts!

Er mußte Jessi finden. War er doch, so sehr er es auch vor sich selber zu leugnen suchte, aus keinem anderen Grunde nach Budapest gekommen. Hundertmal schon hatte er ihr Andenken verflucht, und hundertmal wieder warf er sich in seinen Fieberträumen ihr zu Füßen, um sich von Hadfalussys Geliebten die Liebe zurückzuerbetteln. Jetzt erfaßte ihn plötzlich eine rasende leidenschaftlich-sinnliche Sehnsucht nach ihr. – Sehen wollte er sie, nur einmal noch sehen!

Er trat in ein Nachtcafé, wo sie ehemals jeden Abend zu verkehren pflegte. Der Marqueur wußte nichts von Jessi. Der Oberkellner erinnerte sich zwar an ein hübsches Blumenmädchen, das früher in Gesellschaft von Kavalieren öfter in das Geschäft gekommen, doch konnte er nicht mehr über sie sagen, als daß sie »ein großes Glück gemacht« habe. Irgend ein reicher Bojare habe sie nach Rumänien mitgenommen. Die Kassiererin dagegen glaubte zu wissen, Jessi sei vor einem Jahre nach Wien gereist. Seither habe man sie nicht wieder gesehen.

Jurisics ging in niedergeschlagener Stimmung nach Hause.

Er schämte sich seiner Schwäche und war sich klar, daß er einen gefährlichen Weg zu betreten sich anschicke. Zurück also zur alten Panacee, zur Arbeit! Er wollte arbeiten, um sich dieser Schwärmerei zu entschlagen. Geld wollte er verdienen, um ins Ausland gehen zu können.

Tags darauf trat er aufs Geratewohl bei einem berühmten Kunstschlosser ein. Er kannte ihn nur dem Namen nach, doch gab er aus seiner Vergangenheit dem Meister so viel bekannt, als er zu erzählen für nötig hielt. Dann verlangte er Arbeit von ihm. Der Fabrikant hörte ihn ernst und mit wachsendem Interesse zu Ende.

»Sie haben recht, daß Sie sich nach Arbeit umsehen. Mir kommt Ihr Antrag erwünscht. Ich habe viele gute Arbeiter, doch ist kaum einer darunter, der etwas vorstellt und in der Werkstatt zu imponieren verstünde. Wenn es Ihnen beliebt, stelle ich Sie vorerst in der Schlosserei an; später sollen Sie die höheren Zweige unseres Gewerbes kennen lernen. Von Ihnen allein soll's dann abhängen, wie weit Sie's bei mir bringen«.

Tags darauf schon arbeitete Jurisics unter den übrigen Schlossern und Schmieden der Fabrik. Seine mächtigen Muskeln, die selbst in dieser Cyklopenwerkstätte Bewunderung erregten, sein Geschick zur rohen Arbeit und sein schweigsames Benehmen verschafften ihm Respekt unter den Genossen.

Seit zwei Wochen schon arbeitete er in der Werkstätte, die er früh am Morgen betrat und erst abends wieder verließ.

Einmal hatte er ein geschmiedetes Gruftgitter nach dem Friedhof zu bringen. Die Aufseher waren alle anderweitig beschäftigt, und so mußte Jurisics seinen Rock nehmen, einiges Werkzeug zu sich stecken und mit der Pferdebahn nach dem Friedhof fahren, wohin das Gitter schon durch anderes Personal transportiert worden war. Eine Weile sah er draußen zu, wie man in den Ecklöchern des marmornen Gruftdeckels die Hauptstützen befestigte. Da sich jedoch der eine Arbeiter, der unterwegs ein wenig übermäßig dem Branntwein zugesprochen hatte, der geschmolzenen Blei- und Schwefelmasse gegenüber sehr ungeschickt anstellte, warf Jurisics schließlich den Rock ab, und machte sich selbst an die Arbeit.

Jurisics kniete am Rande der Gruft und bemerkte nicht, wie zwei Damen in tiefer Trauer, mit lang wallenden schwarzen Schleiern, auf dem Kieswege sich näherten.

Forschend und sich beratend blieben sie jetzt vor ihm stehen und nach einer Weile redete ihn die Jüngere der beiden in ängstlichem Tone an: »Verzeihen Sie, haben Sie den Friedhofswärter nicht gesehen?«

Es war Adele Mihályi mit ihrer Mutter.

Ein paar lange Augenblicke schauten die jungen Leute einander stumm ins Auge: die überschlanke, elegante Mädchengestalt, auf deren bleichem Gesicht, um den Mund herum, schon zwei Altjungfernfalten sichtbar waren – und der bärtige Arbeiter, der mit bloßen Armen, den Hammer in der Hand, vor ihr auf der Erde kniete.

Adelens Antlitz wurde feuerrot. Dann klammerte sie sich an den Arm ihrer Mutter, die großen feuchten Augen immer auf Jurisics gerichtet. Endlich brachte sie instinktiv die Worte hervor: »Verzeihen Sie!«

Bat sie um Verzeihung, weil sie ihn angesprochen, oder aus einem sonstigen Grunde? Jurisics erfuhr es nicht. Es war auch nicht diese Frage, worüber er nachdachte, als er den beiden Frauengestalten lange nachblickte, die eng aneinandergeschmiegt, mit gesenktem Kopfe langsam dem Ausgange zuschritten, ohne sich ein einziges Mal umzusehen.

Noch am selben Tage hatte er eine andere Begegnung zu bestehen.

Als er am Abend nach Hause kam, empfing ihn die Hausfrau damit, daß ihn auf seinem Zimmer ein Herr erwarte. Jurisics dachte sofort an Szentgróthy und öffnete die Thür. Er hatte sich nicht getäuscht. Der kleine Gróthy saß, sorgfältig frisiert, das Monocle im Auge, in elegantem Frühjahrsanzug auf dem defekten Diwan von Jurisics' Wohnstube. Das Zimmer war von seinem Cigarrenrauch erfüllt.

Einen Augenblick blickten sich die beiden jungen Männer stumm ins Auge. Jurisics hätte vermutlich nur die Arme auszustrecken brauchen, und der gutmütige kleine Gróthy wäre ihm schluchzend um den Hals gefallen. Jurisics aber maß den alten Kameraden mit einem stolzen, kalten Blicke und fragte: »Was willst du hier?«

Gróthy wurde verwirrt. Eines solchen Empfanges hatte er sich nicht versehen. Das Monocle entfiel seinem Auge.

»Verzeih', doch ich erfuhr, daß du hier in Budapest angelangt bist, und ich wollte sehen, was du treibst –«

Als er keine Antwort erhielt, setzte er leiser, damit es die Hausfrau nicht hinaushöre, hinzu: »Ich dachte, du könntest etwas brauchen –«

»Ich nehme kein Almosen!« unterbrach ihn Jurisics trocken.

»Ich bitte dich, es war ja gar nicht so gemeint. – Wir waren doch ehemals so gute Kameraden. – Und dann bin ich ja eigentlich dein Schuldner.«

Jurisics warf seinen Hut auf das Bett.

»Wenn du schon hier bist, so nimm Platz. Wir müssen miteinander einiges ins reine bringen. Wir sprechen uns heute ohnedies zum letztenmal. Du wirst einsehen, daß wir unsere Bekanntschaft nicht aufrechterhalten können –«

Szentgróthy erhob protestierend die Hand, im Grunde genommen aber freute ihn die Erklärung Jurisics' außerordentlich. Das plötzliche Erscheinen Jurisics', wovon er durch die Polizei erfuhr, hatte ihn schon seit mehreren Tagen beunruhigt, ja mit abergläubischer Angst erfüllt. Er wollte sich Ruhe verschaffen, indem er die Begegnung mit dem Gespenste selbst herbeiführte. Als er sich jetzt aus der Haltung seines ehemaligen Freundes überzeugt hatte, daß dieser ihr gegenseitiges Verhältnis taktvoll genug auffasse und ihn nicht zu kompromittieren beabsichtige, da fühlte er beträchtliche Erleichterung und bald überfloß er schier vor guter Laune.

»Deiner Schulden wegen mach' dir keine Sorgen. Wir haben aus dem Nachlaß deines seligen Alten und aus dem Erlös deiner zurückgelassenen Effekten alles beglichen. Der Klub hat sich schön benommen, das muß man sagen. Als deine Wohnungseinrichtung versteigert wurde, kamen sämtliche alte Jungen und trieben die Preise in die Höhe. Der kleine Ilonday gab zweihundert Gulden für eine lederne Cigarrentasche. Das schrieb ich dir übrigens alles in einem Briefe, den man mir aber uneröffnet zurücksandte –«

»Ich wollte keine Korrespondenzen empfangen,« sagte Jurisics mürrisch.

Dies gab Gróthy den Mut, ein wenig übers Ziel zu schießen.

»Einmal wollte ich dich sogar besuchen.

»Ich selbst ließ keine Besuche vor.«

Szentgróthy schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es. Das schöne Mädchen hat es mir gesagt. Sie suchte öfter, mit dir zusammenzutreffen. Einmal schrieb sie dir auch –«

Jurisics wurde jetzt feuerrot. Er wußte sehr wohl, von wem die Rede war, und dennoch fragte er: »Von welchem Mädchen sprichst du?«

»Nun, von Jessi!«

Nach längerem Schweigen entschloß er sich zu noch einer Frage: »Ist sie in Budapest?«

»Natürlich!«

»Ich dachte, Hadfalussy habe sie mit sich genommen,« sagte Jurisics leise.

Szentgróthy freute sich, endlich einen Gesprächstoff gefunden zu haben, wofür sich sein Freund interessierte.

»Hadfalussy? Hast du nichts von dieser köstlichen Geschichte gehört? Freilich, du warst ja nicht mehr hier, als der Skandal erfolgte.«

Und Gróthy gab den Skandal zum besten: »Du weißt, daß der Fürst Jessi aushielt, ohne sie zu kennen. Er hat oft noch weit größere Dummheiten begangen. Vor einem Jahre kam er nach Budapest und ließ eines Tages Jessi durch seinen Advokaten zu sich rufen. Mir scheint, er wollte seine fürs Geld erworbenen Rechte geltend machen. Was zwischen den beiden vorging, weiß ich nicht – Thatsache ist jedoch, daß ihm Jessi in unzweideutigster Weise den Rücken kehrte. Dergleichen dürfte Hadfalussy in seiner bisherigen Praxis nie vorgekommen sein – möglich ist auch, daß er in das Mädchen sofort arg verbrannt war – genug an dem, Jessis Widerstand reizte den alten Oligarchen. Er berief sich auf seine erworbenen Rechte und daraus wurde ein Riesenskandal. Jessi – der Himmel weiß, woher sie das Geld hatte – schickte ihm schließlich die fünftausend Gulden, welche sie während der fünf Jahre erhalten, zurück. Hadfalussy nahm das Geld natürlich nicht an, worauf Jessi damit antwortete, daß sie die fünftausend Gulden unter dem Namen des Fürsten einem Wohlthätigkeitsverein schenkte und sich's in den Journalen bestätigen ließ. Ein solcher Aufsitzer ist einem Kavalier wohl nie vorher passiert! Die ganze Stadt sprach davon, die Blätter tischten es ihren Lesern als Pikanterie ersten Ranges auf. Die Sache verdroß Hadfalussy dermaßen, daß ihn vor Budapest ein Abscheu erfaßte und er nach Paris zurückkehrte.«

»Und was ist's mit Jessi?«

»Jessi hat in der innern Stadt eine Blumenhandlung eröffnet. Ein sehr hübsches Geschäft. Ich kann mir nicht erklären, woher sie das Geld dazu nahm. Sie muß eine geheime Einnahmequelle haben. Ich wüßte jedoch nicht, wer ihr Geld zukommen ließe, denn sie lebt wahrhaftig wie eine Nonne. Vordem traf man sie doch mitunter an Unterhaltungsorten, seit einem Jahr aber läßt sie sich außer in ihrem Geschäfte nirgends blicken. Eine wahre Spießbürgerin!«

Er erzählte sodann Jurisics noch einige Neuigkeiten, darunter, daß der alte Mihályi vor einem halben Jahre gestorben ist. Dann stockte das Gespräch vollständig.

Szentgróthy erhob sich und griff nach dem Hute.

»Du benötigst also nichts?«

»Gar nichts! Und merke dir, daß wir uns von heute an nicht mehr kennen!«

Szentgróthy blickte seinem Freunde mit einiger Ergriffenheit ins Gesicht.

»Warum mußte auch jene Eselei zwischen uns vorfallen?«

»Nur keine Empfindeleien!« sagte Jurisics mit seinem alten Spotte.

Er reichte Gróthy zum Abschied nicht die Hand.

»Ich will nicht, daß du deinen Besuch später zu bereuen habest.«

Szentgróthy war noch auf der Treppe ganz ergriffen.

»Schade um den Jungen!« sagte er bei sich. »Schade! – Nur möchte ich wissen, warum er sich nicht eine Kugel durch den Kopf gejagt hat!«

 

15.

Als Jurisics am anderen Tag die Fabrik verließ, nahm er seinen Weg nach der innern Stadt.

Es hatte seit frühem Morgen in Strömen geregnet. Am Abend heiterte es sich zwar auf, doch blieben die pfützigen Straßen fast menschenleer.

Recht lange irrte er ziellos hin und her und schaute die Auslagen an. Da, vor dem Spiegelfenster eines glänzend beleuchteten Geschäftes, blieb er plötzlich stehen. Es war eine elegante Blumenhandlung mit goldrahmigen, weißlackierten Stellagen, Atlasvorhängen, spitzblättrigen Palmen und allerlei anderen exotischen Pflanzen.

In dem Geschäfte saßen zwei Damen, offenbar Käuferinnen. Ein hübsches brünettes Mädchen legte ihnen eine Unmasse von Kränzen vor, die Eigentümerin der Handlung sprach, auf das Pult gestützt, mit den Damen.

Es war Jessi. Dort stand sie, in einem weitärmeligen schwarzen Kleid, das goldblonde Haar hoch aufgekämmt, ein süßes Lächeln auf den Lippen. Mit unbewußter Grazie war sie auf den Tisch gelehnt. Sie sah jugendfrischer, reizvoller, koketter aus denn je. Das Gaslicht, vom Auslagfenster reflekiert, umgab ihr feines Gesicht mit regenbogenartigem Schimmer.

Jurisics stand lange regungslos draußen und weidete sich an dem Anblicke. Die Damen entfernten sich, Jessi geleitete sie zur Thür, ging dann zurück und verschwand hinter dem Holzverschlag am jenseitigen Ende des Lokales.

Jurisics ging einigemale vor dem Geschäfte auf und ab, um sich Mut zu sammeln. Als er die Hand an die Klinke legte, um einzutreten, erschien Jessi wieder am Pulte. Sie setzte sich in einen Fauteuil und vertiefte sich in eine Zeitung. Gesenkten Hauptes, mit gleichmäßig und ruhig atmendem Busen neigte sie sich über das Papier und Jurisics fand nun erst recht nicht den Mut zum Eintreten. Sie könnte zu sehr erschrecken.

Das Mädchen schaute nach einer Weile auf die Uhr, ging dann wieder nach der Nische und kehrte alsbald mit einem weiten Pelzmantel zurück. Zwei Ladenmädchen und eine Dienstmagd begleiteten sie.

Als Jessi aus dem Geschäfte trat, begab sich Jurisics auf die andere Seite der Straße. Im Geschäft wurden die Lichter verlöscht, dann die Thüren versperrt. Es war Feierabend.

Die Ladenmädchen begaben sich nach rechts, Jessi mit dem Dienstmädchen nach links, auf den Heimweg. Jurisics folgte ihnen auf der anderen Seite der Straße.

Drei oder vier Häuser weiter bog Jessi unter ein Thor ein und der junge Mann blieb auf der menschenleeren Straße allein. Ein paarmal ging er verwirrt und unentschlossen auf und nieder, dann trat auch er ins Haus, stieg die Treppe hinan und kam auf den offenen Gang des ersten Stockwerkes. Er lehnte sich an das Eisengitter und überließ das Weitere dem Zufall. Einige Minuten später trat ein kleines Dienstmädchen aus einer der Wohnungen; eine Flasche in der Hand, lief es, ein Lied trällernd, die Treppe hinab. Jurisics erkannte Jessis Magd. Jetzt wußte er, wo sie wohnte. Er trat ins Vorzimmer und klopfte an der Zimmerthür.

»Bist du es, Marie?« rief Jessi von innen.

Jurisics öffnete leise die Thür.

»Ich bin's, Jessi!«

»Wer?«

»Jurisics!«

Jessi stand vor dem offenen Kleiderschrank und faltete ihren Pelzmantel zusammen. Als sie Jurisics vor sich sah, erbleichte sie und mußte sich an der Thür des Kastens stützen, die sich kreischend um die Achse drehte. Dann entfiel ihr der Mantel.

»Jurisics!« flüsterte sie und faltete die Hände.

»Habe ich Sie erschreckt?« fragte er leise. »Verzeihen Sie mir!«

Sie reichten einander die Hände und blickten sich zögernd und prüfend lang in die Augen. Das Mädchen war noch immer sehr bleich. Sie mochte aus Jurisics' Augen Mißtrauen lesen, und das machte sie ängstlich.

»O, Jurisics, also sind Sie endlich gekommen! Ich habe Sie immer erwartet.«

Der junge Mann setzte sich. Jessi stützte sich auf die Diwanlehne und blickte ihn immer noch starr und prüfend an. Sie hatten einander so viel zu sagen, und jetzt, in der ersten Verwirrung, brachten sie kaum ein Wort hervor.

Jessis kleine Wohnung war einfach, doch sehr nett möbliert. Das Mädchen liebte die Farben und hatte ein instinktives Gefühl für künstlerische Staffage. Diese Ausschmückung wirkte auf Jurisics bedrückend. Mit seinen großen harten Händen und in seinem abgetragenen Anzuge fühlte er sich gar zu schlicht und plump inmitten der Bambusmöbel und der lichten Portieren. Er hatte sich das erste Wiedersehen anders vorgestellt. Jetzt empfand er eine Art Enttäuschung – und er glaubte, ihr die Ursache seines Hierherkommens erklären zu müssen.

»Ich wollte Sie noch einmal sehen, um dann fortzugehen.«

»Wohin wollen Sie?«

»Fort, weit von hier – wohin ich schon vor einem Jahre wollte.«

»Und allein?« fragte Jessi und erhob die großen Augen zu Jurisics.

»Allein. Wen sollte ich mitnehmen?«

»Freilich, wen sollten Sie –«

Jessi erhob sich und schritt langsam durch das Zimmer. An dem kleinen Schreibtische angelangt, fiel ihr plötzlich etwas ein. Sie nahm ein großes schwarzes Buch und legte es vor Jurisics auf den Tisch. Nachlässig warf sie die Worte hin: »Unsere Abrechnung!«

»Welche Abrechnung?«

Jessi öffnete das Buch und begann darin zu blättern.

»Hier ist alles! 14 500 Gulden erhielt ich. Mit 4500 Gulden richtete ich das Geschäft ein. 3000 Gulden legte ich in die Sparkasse: hier das Einlagebuch. 2000 Gulden gab ich meinem Steinbrucher Blumenlieferanten zu leihen; sie sind intabuliert. Das Geschäft ging gut; in einem Jahre brachte es 3000 Gulden. Davon verbrauchte ich 1000 Gulden, 2000 liegen in der Sparkasse. Es bleiben daher noch 5000 Gulden, worüber ich nicht Rechnung zu legen vermag. Ich verwendete sie zu meinen eigenen Zwecken, indem ich sie an Hadfalussy ausbezahlte. Und wenn Sie nun fortziehen, dann weiß ich nicht, wann ich Sie werde bezahlen können –«

Sie legte das Buch hin, stand auf und fügte leise hinzu: »Und wenn Sie nun fortgehen, dann weiß ich auch nicht, was aus mir werden soll.«

Jurisics ergriff Jessis Hand.

»Jessi! Sie glauben doch nicht, ich könnte dieses Geld zurücknehmen? Wie konnten Sie dergleichen von mir denken?«

Wußte sie selbst, wie und was sie dachte? Sie betrachtete das Geld als gemeinschaftliches Eigentum. Das war's! – Und jetzt hatte sie gute Lust, in Thränen auszubrechen.

Jurisics' Herz klopfte beängstigend laut. Sein Blick begegnete dem Jessis. Ein magnetischer Funke erhellte beider Augen und trieb die jungen Leute einander unwiderstehlich in die Arme. Mit einem Male war des Befremdens und Mißtrauens ein Ende. Sie erkannten sich wieder, hielten sich umschlungen und schmiegten sich leidenschaftlich aneinander, als könnten sie sich nie wieder trennen.

Jessi drückte ihr glühendes Antlitz stumm an Jurisics' Hals und der junge Mann streichelte selbstvergessen ihr blondes Haar.

»Nicht wahr, wir dürfen uns nicht mehr trennen?«

»Niemehr!«

»Ich wußte ja, daß Sie mich lieben!«

»Aber Sie – einen Sträfling?«

Jessi lehnte sich in den Armen des jungen Mannes zurück, schaute ihm, die Hände gegen seine Schultern gestützt, mit eigentümlichem Lächeln in die Augen und sagte: »So ist es gut, für mich sehr gut! Wären Sie der Kavalier geblieben, dann hätte ich mich vielleicht zu Ihrer Geliebten gemacht. Auch so würde ich Sie geliebt haben, allein Sie hätten mich nach einem Monat oder nach einem Jahre satt bekommen. Ich weiß es gewiß, denn es pflegt immer so zu sein –«

Dann setzte sie im Bewußtsein ihrer sieghaften Schönheit hinzu: »Jetzt werden Sie meiner nicht überdrüssig werden, dessen bin ich sicher!«

Sie begann die harte Handfläche Jurisics' zu liebkosen, und sagte dann gerührten Tones: »Was für rauhe Hände! Sie haben gearbeitet, nicht wahr?«

Sie wollte seine Hand küssen, doch er ließ es nicht zu.

Das Mädchen machte sich's jetzt im Schoße des geliebten Mannes vollends bequem und bald schien sie, wie ein gehätscheltes Kätzchen, vor Wohlgefallen zu schnurren. Sie erzählte ihm von der Tante mit dem gelben Gesichte, mit der sie sich Hadfalussys wegen zerstritten und die darum nach Odessa zur »anderen« Schwester gegangen; sodann von den Besorgnissen, die sie während des Jahres ausgestanden, da man sie im Kerker nicht zu ihm ließ.

Jurisics schloß die Augen, als wäre er vom Schwindel befallen. Und doch fühlte er sich so glücklich, so mutig und stolz! Erfüllt von Lebensfreude und Arbeitslust. Die Zukunft lag wie ein Frühlingsmorgen in rosigem Schimmer vor ihm, die Vergangenheit ward ihm zur – Erinnerung. Eine Schule, die er durchzumachen hatte, um die Kunst des Glücklichwerdens zu erlernen.

Er hatte es gelernt, das empfand er jetzt als unzweifelhaft.

Er sah ein, daß alles, was er verloren, ein verschwindendes Nichts sei im Vergleiche zu dem, was er gewonnen. Seine gesellschaftliche Stellung, sein Ansehen, die Rolle, die er in der Welt gespielt: es war alles nur eine Last, von der er sich befreien mußte, um jenes Einzige zu erreichen, was das Leben lebenswert macht. Dieses Einzige hielt er jetzt in seinen Armen. Es war kein Traumbild mehr, sondern liebeswarme, süße, goldblonde Wirklichkeit.

 

16.

Zwei Jahre später.

 

Die Forstbeamten von Szomolna vereinigten sich mit dem Amtspersonal des Bergwerks und veranstalteten im Ärarialwalde ein schönes Maifest.

Beim Zusammenstellen der Namensliste ihrer Gäste gab es ein langes Kopfzerbrechen darüber, ob Johann Kovács, der Farkasvölgyer Hammerschmied, eingeladen werden sollte, oder nicht. Zu Gunsten der Einladung sprach der Umstand, daß Kovács eine reizende blonde Frau hatte, die dem schlimmen Herrn Direktor, wiewohl er sie nur vom Sehen kannte, seit langem schon in die Augen stach. Dagegen wurde angeführt, daß es Kovács, der sich vor Jahresfrist in der Nachbarschaft des Städtchens niedergelassen, gegen alle gute Sitte verabsäumt habe, den ärarischen Bergwerkshonoratioren der Reihe nach den Anstandsbesuch abzustatten. Die Frau Direktorin entschied: Man könne das Ehepaar Kovács nicht einladen.

Es waren wunderliche Leute, dieser Kovács und seine Lebensgefährtin. Wie ein Habichtspaar nisteten sie, still und zurückgezogen, drüben in der großen Rodung. Ihr Nest, ein kleines Schweizerhaus, befand sich zwei Minuten von der Hammerschmiede entfernt.

Die Schmiede bestand aus einer massiven schwarzen Holzbaracke, worin sich, bewegt durch ein pustendes Lokomobil, der Riesenhammer hob und senkte, und halbnackte rußige Gesellen um das glühende Eisen geschäftig waren. Es wurden darin Hauen und Pflugeisen verfertigt. Die Kronstädter Fuhrleute brachten die Werkzeuge nach der Ebene und niederungarische Landwirte pflügten und umackerten damit den Rücken von Mutter Erde. Niemand wußte, woher das Ehepaar Kovács gekommen. Sie erstanden von dem alten Besitzer, den das Großherrspielen zu Grunde gerichtet, für billiges Geld das im Verfall begriffene Anwesen und Kovács machte sich mit großem Fleiße an die Arbeit. Von früh bis abends war er in der Hammerschmiede. Die Waldheger, denen er mitunter einen Schluck Branntwein verabreichte, bezeugten es jedem, der es wissen wollte, daß er oft eigenhändig mit seinen Gesellen um die Wette den Hammer führt. Das Gesicht voll Ruß, die Hemdärmel aufgeschürzt, steht er am Glühfeuer und das Echo des Waldes hat seine Freude an dem rhythmischen Klingen des Amboß. Kommt die Frau um solche Zeit nach der Schmiede, so geht sie gewöhnlich mit geschwärzter Nasenspitze daraus hinweg.

Die neugierige Gesellschaft von Szomolna konnte über Kovács und seine Gattin lange nicht ins reine kommen. Die Frau verließ kaum je ihr Dickicht, und dennoch trug sie auch im Hause Kleider, die den Budapester Schnitt verrieten. Der Mann arbeitete wie ein Bauer und dabei hatte er Manieren wie ein Magnat.

Der Postmeister brachte übrigens in Erfahrung, daß Kovács nicht immer diesen Namen geführt und daß er einen Fleck auf seiner Vergangenheit habe: irgend ein Kassenmanko oder eine schmutzige Erbschaftsgeschichte. Der Oberförster dagegen hatte einmal in Jagdsachen bei Kovács zu thun und brachte aus Farkasvölgy die Nachricht mit, an all dem Gerede sei kein wahres Wort. Es seien wirkliche Herrenleute, die ihren Gästen alten Pflaumenbranntwein und frischgebackene Pogatschen vorsetzen.

Die Beamten hielten ihr Majalis ohne das Ehepaar Kovács ab und es gelang, wie der »Courier von Szomolna« meldete, durchaus glänzend. Der Tanzplatz war mit farbigen Lampions und nationalen Fahnen geschmückt, die Damen flochten sich Kränze aus Eichenlaub ins Haar, die Bergwerkskapelle spielte die beliebte »Herzdamenpolka« und die Jugend huldigte, nach den Worten des Redakteurs erwähnter Zeitung, eifervoll Terpsychoren.

Worüber freilich nichts im »Courier von Szomolna« stand, war der Umstand, daß der Postmeister gegen Abend ein Räuschchen bekam und dem Kreisnotär den Vorwurf ins Gesicht schleuderte, anläßlich der letzten Reichstagswahlen mit der Opposition gestimmt zu haben. Auch darüber schwieg die Chronik, daß der Doktor, in seiner Erregung ob dieser unwürdigen Verdächtigung, den Herrn Postmeister ein Stachelschwein genannt und daß sich die beiden wanstigen Herren stante pede in die Haare gefahren wären, wenn ihre noch nüchternen Söhne sie nicht getrennt hätten.

Die Direktorin, eine sehr feine Frau, skandalisierte sich ob dieser Scene, verließ demonstrativ den Tanzplatz und zog samt ihrem Anhange nach dem Bagolykö (Eulenstein), wo sich eine prächtige Aussicht ins Thal bietet.

Links liegt der Szomolnaer Thalkessel mit dem Eisenbahnviadukt, rechts davon Farkasvölgy. Eine giftgrüne schmale Waldwiese, zwischen zwei schwarzen Waldwänden eingeschlossen. Hier befindet sich das Kovácssche Anwesen. An der Berglehne die Hammerschmiede und einige Arbeiterhütten, auf der Wiese, inmitten eines jungen Gartens, das kleine Schweizerhaus. Ein paar hundertjährige Fichten bewachen dasselbe wie zwei Kapuzinermönche.

So von weitem gesehen, fand es die Frau Direktorin recht hübsch, an Wert jedoch werde es erst später gewinnen, wenn die Eisenbahn auch dahin ausgebaut sein wird.

Die Gesellschaft ließ sich auf den Rasen des Abhanges nieder. Eben begann sich die Jugend zu beraten, was gesungen werden solle – ob »Wenn die Welt des Herrgotts Hut ist« oder aber »Was glänzt dort oben?« – als plötzlich alle zugleich verstummten und gegen den schmalen Waldsteg blickten, auf dem sich zwei hochgewachsene Gestalten näherten.

Es war der Hammerschmied und seine Gattin.

Langsam promenierend kamen sie dahergeschritten. Die Frau war in lichtem Sommerkleid, hatte den grünen Jägerhut ihres Mannes aufgesetzt und trug einen großen Strauß von Waldblumen in der Hand. Der Mann hatte den Jagdstutzen auf der Schulter, ging barhaupt und war in den Arm seiner Frau eingehängt.

Sie mußten sich fest aneinander schmiegen, um auf dem engen Steg Platz zu finden. Als sie an der Gesellschaft vorbeikamen, senkte der Mann zum Gruß ein wenig den bronzefarbenen Kopf. Die Frau wurde sichtlich verwirrt, faßte sich jedoch rasch, nahm den Hut herab und zeigte beim Lächeln ihre blendendweißen Zahnreihen.

Ruhig schritten sie den Bergrücken entlang. Vor ihnen begrenzte die Siebenbürger Gebirgskette in langgestreckten schwarzen Wellen den fernen Horizont. Das Firmament erglänzte oberhalb der dunklen Berge im Purpurlichte.

Die Frau Direktorin und ihr Hof blickten den Spaziergängern lange nach. Es schien ihnen, als würden die beiden sich entfernenden Silhouetten riesenhafte Dimensionen annehmen und schnurgerade durch das feurige Himmelsgewölbe schreiten.

»Ich bin der Meinung,« sagte schließlich die Frau Direktorin, die mit ihrem ausschweifenden Manne kein sonderlich zartes Familienleben führte, »ich bin der Meinung, daß es schade gewesen wäre, diese beiden auf unser Fest zu laden. Sie unterhalten sich zu zweit viel besser!«

 

Ende.

 


 << zurück