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1916 – 1919
Ich liebte nicht die Totenkopfhusaren
Und nicht die Mörser mit den Mädchennamen
Und als am End' die großen Tage kamen,
Da bin ich unauffällig weggefahren.
Gott sei's geklagt und Ihnen, meine Damen:
Gleich Absalom blieb ich an langen Haaren,
Dieweil sie schluchzten über Totenbahren
Im Wehbaum hängen aller ihrer Dramen.
Sie werden auch in diesen Worten finden
Manch Marterspiel und stürzend Abenteuer
Man stirbt nicht nur durch Minen und durch Flinten,
Man wird nicht von Granaten nur zerrissen.
In meine Nächte drangen Ungeheuer,
Die mich die Hölle wohl empfinden ließen.
Aus Hugo Balls »Reminiszenzen«
Lieber Gusti, Emmy brachte mir heute früh Deinen Brief ans Bett. Ich lag noch und las. Emmy war eifersüchtig und meinte, ein Mädchen habe mir den Brief geschrieben. Ich sagte ihr aber, daß wohl in Deutschland keine Mädchen zur Artillerie eingereiht werden. Und das überzeugte sie, daß Du kein Mädchen bist.
Ich habe mich so sehr mit Deinem Brief gefreut. Ich schreibe so wenig nach Deutschland, eigentlich nur an die Eltern, und ich bekomme deshalb auch nur wenig Briefe.
Ich habe sehr viel mit dem Kabarett (Voltaire) zu tun und habe inzwischen auch eine Tochter bekommen. Sie ist schon neun Jahre alt und heißt Annemarie Hennings. Wie schade, daß Du nicht hier sein kannst. Es gibt interessante Musik … Kennst Du Stravinski, Ravel, Skrabin? Stravinski hat in Paris ungeheure Erfolge gehabt. Die Kubisten lärmten und schrieen und debattierten. Man lernt sehr um, wenn man aus Deutschland herauskommt. Ich las eine Kritik über Reger in den »Soirees de Paris«. Man nahm ihn komisch, als man sah, daß er mit einem ganzen Wagen voll Titeln daherkommt … Da lachten die Affen. Und daß er Gott mitbringt nach Paris und »Seelenbräutigam« und »Aquarelle« …
Man schreibt dort Sachen, die mehr in der Sonne liegen. »Danse des Delphines, Jumbos Wiegenlied« (die Berceuse eines Elefanten). Etwas hören wir auch in unserem Kabarett. Ein junger Schweizer hat in Paris bei Debussy studiert, und spielt ab und zu bei uns eigene Kompositionen.
Ich selbst klimpere Ravel, Powodine und Rachmaninoff. Große Regerkonzerte gibt es jetzt zum Gedächtnis. Ich möchte auch gerne die Orgelvariationen über Bach gehört haben, aber ich muß Abend für Abend im Kabarett sein.
Das Kabarett Voltaire ist sehr interessant. Wollte ich Dir erzählen, was ich hier erlebte, bevor ich dazu kam, würdest Du denken, ich berichte Dir Märchen. Viele junge Menschen sind hier, die sich mir und denen ich mich angeschlossen habe: Deutsche, Rumänen, Polen, Russen, Holländer. Es geht in der »Holländischen Meierei« in der Spiegelgasse sehr bunt zu.
Klabund war hier. Er bedichtelte uns:
»Ein deutscher Dichter seufzt französisch
Rumänisch klingt an siamesisch.
Es blüht die Kunst Hallelujah!
's war auch schon mal ein Schweizer da.«
Und gestern war ein Ungar da: Monsieur Szittya aus Paris. Er hat in Budapest viele Freunde bei der Presse und ein Korrespondenzbüro und möchte uns gern in Budapest haben.
Ich habe ein kleines Buch herausgegeben. »Cabaret Voltaire« heißt es. Hat mir viel Arbeit gemacht, aber ich glaube, daß dafür auch noch nie ein so interessantes Propagandaheft gemacht wurde. Es kam mir darauf an, das Kabarett als Idee zu dokumentieren. Ich muß aber gestehen, daß es mich schon nicht mehr interessiert. Die Schweizer neigen übrigens mehr zum Jodeln als zum Kubismus.
Sie sitzen auf ihren Steißen wohl bei der Nacht,
Wenn die Hose kracht, wenn die Hose kracht …
Lieber, ich fühle mich sehr wohl, wenn ich ausgeschlafen habe. Nur möchte ich mehr Zeit und Ruhe zum schreiben haben.
Einige sehr lustige Dinge weiß ich, die möchte ich gerne aufschreiben. Einiges lese ich in der Kneipe vor, und man freut sich manchmal sehr darüber. Es sind Bruchteile aus einem phantastisch-pamphletistisch-mystischen Roman. Weiß der Teufel, was das für eine Mißgeburt ist. Irgendwie hängt's mit der Zeit zusammen.
Die Welt ist sehr lustig. Guten Tag, Herr Schmidt! Guten Tag, Herr Spannagel, guten Tag, Herr Meyer! Schön Wetter heute!
Das Grammophon spielt und die Sonne scheint. Deutscher Seesiech(Sieg)beim Skagerag-rag-rag, Skageragragrag bis an den hellen Tag-tag-tag. Lieber, Du mußt mir mal wieder schreiben. Ich freue mich ausführlich mit allem brieflichen, was zu mir kommt. Ich habe ein seltsames Talent, mich mit den »geistigen Menschen«, die in meine Nähe kommen, alsbald zu verkrachen. Gottlob wächst im selben Verhältnis meine Sympathie für die Flötenbläser in der Dachkammer. Ich bin verliebt, wenn ich in der Zeitung lese: »Achtklappige Be-Klarinette einzutauschen gegen beinahe ungebrauchtes Fahrrad.« Einige Noten von Herrn Mozart treiben mir das helle Wasser aus den Augen. Tara-tara-in indefinitum.
Hast Du Emmy Hennings in München gekannt? Ich glaube, ich habe Dir erzählt von ihr. Wir haben hier in den schlechtesten Gassen der Stadt gewohnt. Wir haben in den elendesten Varietés gespielt. Wir sind hier bekannter als Wedekind in München. Was ich Dir da alles zusammenschwätze. Ich denke mir aber, Dein gegenwärtiger Beruf ist etwas grau in grau und von traurigen Dingen spricht man nicht.
Hast Du noch Noten geschrieben? Bitte, schick mir doch etwas. Ich schicke Dir dagegen das Kabarett-Buch (es sind nicht meine letzten Sachen, die darin stehen). Ich schicke es Dir durch meine Mutter, der ich gleichzeitig ein Exemplar schicke. Hier ist eine ganze Kolonie Maler und Literaten. Die interessantesten stehen im Buch. Von mir glaubt man – nach meinen letzten Arbeiten – daß ich Haschisch nehme. Du weißt, daß ich das nie getan habe. Einmal in München nahm ich Morphin, das machte mir aber sehr übel.
Ich kann mich nicht einmal betrinken. Mir ist aller Wein zuwider. Ich leide an einer kontinuierlichen, seelischen Trunkenheit. Lala, o, lala … Ich bin zu allerhand Gutem und Schlechtem musikalisch aufgelegt. Grüß Deine Eltern und Geschwister, wenn Du schreibst und leb wohl und sei ein artiges Soldatlein. Dein Hugo.
Lieber Hugo, hier kommt Annemie als Postillon d'amour. Gib ihr die Adressen mit, wohin ich meine Gedichte und die neuen Skizzen zu schicken habe. Alles ist säuberlich abgeschrieben. Braucht nur weggeschickt zu werden. Vielleicht kann ich etwas »Brot« damit machen. Auf die »Zürcher Post« kann ich persönlich gehen, wenn ich noch dazu komme. Das Kostüm für Winterthur habe ich arrangiert. Wenn die Musik spielt, wird sich's ganz hübsch machen. Höre, Liebling, Schneider war hier. Du möchtest doch den Mississippimarsch mitnehmen, überhaupt eine recht forsche Musik, weil das Publikum in Winterthur das gern hat. Mit dem Stubenmädchen vom goldenen Stern habe ich gesprochen. Also das Klavier ist in der Abendstunde um halb sechs Uhr frei. Dann kannst Du, wenn Du so gut sein willst, die Chansons mit mir durchspielen. Einige Noten fehlen mir. Sie werden bei Dir in der Hornbachstraße sein. Du mußt »Lizzi, ich bitt Sie« haben. Das Donnerwetterlied (von Wedekind) brauchst Du nicht mitbringen, da ich besorge, es wird mich zu sehr anstrengen. Ich gebe dann doch immer das »Heilsarmeelied« zu und dann wird es mir zuviel; ich weiß das schon. Wir haben nämlich am Sonntag bereits um zehn Uhr früh Matinee, und die Polizeistunde ist verlängert. Schneider sagt mir aber, der Wirt von Winterthur habe ein Blasorchester von sechs Mann bestellt; die werden in den Pausen Einlagen machen, sodaß Du dadurch etwas entlastet sein wirst. Ich bin sehr froh, daß die Bläser da sind. Nimm aber gleichwohl Deinen grauen Sweater mit, weil es mir bekannt ist, daß es von der Bühne her sehr zugig ist. Die Fenster in der Garderobe schließen nicht gut. Nimm auch das dicke Nachthemd mit. Daß man sich nur nicht erkältet! Nimm vielleicht zwei, drei Nachthemden mit, da wir ja auch sonst nicht viel Gepäck haben. Steffgen, vergiß nicht den Marsch: »Freunde, rasch voran, laßt die Becher kreisen,« das macht so fein warm. Es wird das beste sein, ich singe sämtliche Militärnummern, wegen dem Marschieren.
Die Wachtparade vor allen Dingen! Dazwischen wieder etwas Mäßiges »Als der Vater mit dem Sohne auf der Landstraße ging«. Das strengt auch Dich nicht so an. Ich würde an Deiner Stelle nicht erst zur Lina laufen, um mit ihr etwas Neues einzustudieren. Lina war hier und sagte, sie wäre bei Dir gewesen und habe Dich nicht angetroffen. Sie will singen »Das ist ein Schattenbild im schönen Künstlerleben«. Ich weiß nicht, ob Du das kennst, aber es ist kompliziert, mit Tremolo, Pausen und allen möglichen Schikanen. Und wenn sie dann das Lied verpatzt, bekommst Du doch wieder die Schuld. Ich bitte Dich dringend, nicht zur Lina zu gehn. Sie hat schon das Klavier in der Rheinfelder Bierhalle bestellt, aber ich habe gesagt, wir könnten uns nicht um alle bestellten Klaviere kümmern. Hab gesagt, sie könne ein andermal »Das Schattenbild« singen.
Steffgen, ich hab eine Maus im Zimmer. Soll ich vielleicht eine Katze einsperren, während wir in Winterthur sind? Oder kannst Du eine Falle kaufen, aber das ist wieder so ein Luxus.
Die Zentralheizung funktioniert großartig. Ich hab meine Trikots gewaschen, weißt, die gelben und sie sind schon trocken. Bitte, komm doch gleich mit Annemie, ich hab Cervelats gekauft und die ißt Du doch so gerne. Ich freu mich darauf. Die Marmorplatte vom Waschtisch ist gesprungen, vielleicht, weil der Spirituskocher so heiß war, aber denk, das Mädchen hat gesagt, das macht nichts, darum sei es doch ein Waschtisch. Das finde ich hochanständig, denn wenn ich die Marmorplatte hätte zahlen müssen. Lieber aus der Welt gehn, hab ich schon gedacht. Aber da war's nicht nötig. Ich hab gleich ein herrliches Gedicht gemacht vor Vergnügen, aber das bekommst Du erst, wenn Du kommst, also hoffe ich, wirst Du Dich beeilen. Annemie geht zur Kinderweihnachtsfeier in den Gesellenverein. Sie ist eingeladen. Es kostet nur zwanzig Centimes, für Milch, glaub ich. Es ist aber ziemlich weit draußen im Wolfbach und ich muß sie gegen Abend abholen. Komm lieber früher, ich hab soeben geklingelt und das Mädchen sagt, wir können das Klavier schon früher haben. Jetzt übt eine Dame, die es gar nicht nötig hat, da sie nicht auftreten muß. Sie spielt und singt nur zum Vergnügen. Annemie soll nämlich vorher auch noch eine Zervelat essen. Albert Ehrenstein, der Tubutsch, hat mir Brotmarken geschenkt, ein lieber Mensch und dabei so begabt. Ich hab auch seinen »Tubutsch« mit den Zeichnungen von Kokoschka bekommen. Das ist ja auch Dein Buch, Steffgen.
Ein Russe, der hier im Hotel wohnt, macht eine Bergtour und hat mir seine Schreibmaschine geborgt, während seiner Abwesenheit zu benutzen. Ich hab gesagt, er soll doch mal das Finsteraarhorn besteigen und das Matterhorn gleich mit, dann kann ich unsere sämtlichen Werke säuberlich abschreiben.
Liebe Emmely, was sind das für unnötige Depeschen! Warum schreibst Du mir nicht ausführlich? Jetzt depeschierst Du mir »Übermorgen erwartet mich Frank«. Übermorgen aber kommt doch das Kind. Oder etwa nicht? … Signora Galli, unsere Wirtin, sagt, wir müssen uns entscheiden, weil Militär nach Magadino kommt, Einquartierung. Oben aber in den Bergen kann ich nicht mieten, weil ich nicht weiß, was Du da in Zürich unternimmst. Ob Du gesonnen bist ganz zu bleiben. Es scheint fast so. Wie? Jetzt bist Du den vierten Tag fort und ich weiß genau soviel als vorher. Der Steffgen ist sehr wütend und ärgerlich. Und die Schreibmaschine hat er auch nicht. Ich habe Dir doch gesagt, Du sollst … laß Dich mal recht am Ohr zausen, Struppgens-Putz. Verbombaschierst dort das Geld und schreibst Ansichtskarten … Steffgen hat viel gearbeitet. Eine wundervolle Opium-Geschichte von Ali Mechmed Bei aus Aleppo … Seit einigen Tagen haben wir krasses Gewitter, eines hinter'm andern her. Schön hellblau ist's in der Nacht und der Lago Maggiore hat kritze-kratze weiße Zischwellen am Tag. Die Gewitter hatten, scheint's, eine Versammlung und konnten nicht über den Berg. Dabei muß Steffgen Depeschen aufgeben gehn und brät Kartoffeln in der Teufelsküche und hat sich eine Flasche Himbeersirup gekauft. Davon nippt er, und liest Lombroso. Putzi hat viel zu tun. So?
Der hier macht ein Steffgen und dankt für die Flatterhand. Die Dadaisten scheinen sehr in Verlegenheit. Hülsenbeck schreibt mir um Manuskript und Beteiligung. Ah, pfui Deibel, mich interessiert's nicht mehr. Später vielleicht.
Dank Dir, Liebling, für die fünfzig Franken. Ich freu' mich, daß Du so kregel bist. Salu! Avanti, Hugo.
Liebes Gustilein, Du hast allen Grund bös auf mich zu sein. Ich denke zurück und finde, daß ich Dir seit einem halben Jahr nicht geschrieben habe. Dazwischen liegt die, ein wenig unangenehme und anstrengende Erinnerung, daß ich Direktor einer Galerie »Dada« war (vom 17. März bis zum 27. Juni).
Dazwischen liegen heftige Aktionen in vielfältigen literarischen und ökonomischen Angelegenheiten. Und nun bin ich hier in dem wundervollen, paradiesischen Magadino, um mich ein wenig zu erholen von den Strapazen dieses letzten halben Jahres.
Schrieb ich Dir noch von Ermatingen? Dort war ich täglich zusammen mit Frank und Schickele. Es war eine zwar unruhige, aber nicht uninteressante Zeit, die zur Folge hatte, daß Schickele mich innig für »die weißen Blätter« engagierte mit Übersetzungen. Ein Bakunin-Brevier mußte ich infolge der Galerie-Arbeiten liegen lassen. Jetzt arbeite ich aber weiter. Schickele hat es bereits angezeigt. [Das Bakuninbuch jedoch, das später beendet worden ist und das Interesse eines Verlegers fand, kam weder über die Grenze, noch durch die Zensur.]
Die Galerie war sehr interessant, oft grotesk, oft lustig. Wir hatten vier Räume in der Hauptstraße Zürichs, im Hause des Schokoladenfabrikant Sprüngli. Wir stellten neueste Kunst aus, Dadaisten, Kubisten, Expressionisten, Futuristen und veranstalteten sechs Kunstabende, die vom Publikum überlaufen waren und zur Folge hatten, daß man auf der Straße mit den Fingern nach uns zeigte: »Da kommen die Dadaisten!«
In Zürich ist jetzt die ganze Literatur und man konstruiert einen sehr interessanten, wenn auch unfruchtbaren Gegensatz zwischen uns Ästhetikern (Hans Arp, Janco, Richard Hülsenbeck, Hennings und Tzara) und den um Rubiner versammelten Moralikern (Ehrenstein, Leonhard Frank, Strasser, Schickele usw.). In diese interessante Phase trat das Gegenspiel, als Ludwig Rubiner sein »Zeitecho« publizierte und Ferdinand Hardekopf am selben Abend bei uns las, was man ihm drüben sehr übel nahm, weil man es mit Recht für ein prinzipielles Bekenntnis von ihm für uns nahm … Du kannst Dir denken, was für einen Skandal es gab, als ich kurze Zeit darauf überraschenderweise alles im Stich ließ und einfach abreiste. Ich hielt es aus verschiedenen Gründen nicht aus und die ästhetische Hemisphäre flog in die Luft. Das kam daher, daß die ästhetisch veranlagte Spezies weniger arbeiten will als die moralische und daß deshalb allmählich die ganze Last der neuen Kunstbewegung auf mir allein lag … Die Folge war, daß derjenige, der am allerwenigsten arbeitete, mich gröblich injuriierte. Ich werde einmal einen Roman schreiben, der den Untertitel »Die Geschichte einer Kunstbewegung« führt und in welchem in deliziöser Weise zu lesen sein wird, wie sich solche Dinge entwickeln.
Geliebtester! Mein kleiner Roman »Flametti« erscheint bei Erich Reiß in Berlin und zwar wie ich hoffe, im September. Reiß hat das Buch durch Annette Kolb erhalten und freut sich sehr damit. Ich habe Herrn Reiß inzwischen gesprochen, hier in Zürich, und er will auch meine Verse bringen. Gestern habe ich sie ihm geschickt und ich bin begierig, wie er sich damit befreunden oder befremden wird. Es sind eine ganze Menge, meistens ältere Verse und sie sollen als Titel haben:
»Plimplamplasko,
Der hohe Geist.«
Gefällt Dir das? Dabei ist auch ein Zyklus »Gadji Beri Bimba« Lautgedichte, nur aus harmonisierten Vokalen und Konsonanten bestehend, ohne einen anderen Sinn als den einer absoluten Sublimiertheit (könnte man sagen). Man hat nach diesen Versen in der Galerie sehr bizarre Tänze getanzt und der Meister Hans Arp und seine Freundin Fräulein Professor Sophie Täuber waren sehr entzückt davon. [Sophie Täuber tanzte zu diesen Lautgedichten in hohen, bizarren Masken.]
Oh, mein Gustile, ich bin sehr glücklich von meinem Verleger einige hundert Franken zu besitzen, die ich in ruhiger Ausarbeitung meiner Ideen benutzen will. Gebe Gott, er möge sich meiner gut gemeinten Vorschläge nicht verschließen und mir nicht meine Sachen refusieren. Dann wird sich mit der Zeit unter meinen Arbeiten wohl auch einiges Gute befinden. Jetzt ist alles noch sehr Stückwerk.
Die Ruhe, die so unumgänglich notwendig ist, fehlte mir ja immer, ich fühle aber, daß ich manches Vernünftige und Schöne gerne sagen möchte.
Du, mein Lieber, sprichst immer von Musik und schickst mir nie welche. Es wäre mir ein Vergnügen, einmal zu sehen, wie es so im Grunde nun in Dir aussieht. Es ist verrückt, daß Du da an Deinen Kanonen herumstocherst. Vielleicht wirst Du einmal die Passacaglien schreiben und den Überbau, der zu den Bässen gehört. Auf eine fränkische, deliziöse Weise. Du verstehst das.
Mein Lieber, Emmy Hennings läßt Dich grüßen. Ein Band Gedichte »Graue Fahnen« erscheint von ihr durch Klabunds Vermittlung in München. Viele neue, sehr schöne und menschliche Verse. »Jungfrau von Orleans, unsere« sagt Becher von ihr in einem seiner Versbände. Er ist ein Pathetiker, darf sich das leisten. Er schreibt uns seltsame Briefe. Jetzt sitzt er in Berlin, mitten im Kraut, hat Autos und fünf Literaturprofessoren, die über ihn sprechen und schreiben. Er bekommt schon lutherische Dimensionen.
Bleibt noch zu schreiben von unserer Tochter Annemarie. Sie ist eine »Künstlerin«. Hatte in der Galerie »Dada« ausgestellt und man hat von ihr gekauft. Wenn Du artig bist und Kunstwerke die Grenze wieder passieren dürfen, wird sie Dir gewiß gerne ein Tableau dedizieren. Sie ist beeinflußt von den französischen Impressionisten, aber auf eine grünwaldische, phantastische Weise. Ihre Bilder pflegen einen starken Publikumserfolg zu haben.
Leonhard Frank hält sie für einen »halben Bürger«, aber ihre Mutter für eine »große Künstlerin«. So stehts mit uns.
Sei recht herzlich gegrüßt, mein Lieber und laß bald wieder von Dir hören. Dein Hugo.
Liebes Gustilein, nein, nein, so ist das nicht. Gekränkt? Ich habe mich, wie immer, mit Deinem damaligen Brief gefreut. Du hast ganz recht. Uns fehlen, mit Ausnahme von Einstein die elliptischen Funktionen-Theorien. Mein Gott, mir wird übel, wenn ich das Wort nur schreibe, und das ist gewiß ein Manko.
Ich wollte Dir vor einigen Tagen aus Vira schreiben, hatte ein sonderbares Anliegen. Ich habe nämlich in Zürich eigene Musik gemacht (Negermusik und Dadatänze). Ich wollte Dich bitten, das nach meinem Entwurf im richtigen System aufzuschreiben. In der Zürcher Kollektion Dada (vertreten jetzt durch Richard Hülsenbeck und Tristan Tzara) wollte ich die Musik drucken lassen zugleich mit meinen letzten dadaistischen Versuchen. (Zehn Hieroglyphenblätter, Masken zum kubistischen Tanz und Verse ohne Worte, Lautgedichte.) Aus dem kleinen Buch wäre indessen eine Mappe geworden und hätte zuviel gekostet. Auch habe ich über den Dadaismus, den ich selbst gegründet habe, rasch wieder umgelernt. So unterließ ich das Ganze. Das Buch sollte zeichnerisch, musikalisch, poetisch und plastisch zugleich meine Idee vom Dadaismus umschreiben. Die Idee der absoluten Vereinfachung, der absoluten Negerei, den primitiven Abenteuern unserer Zeit angemessen.
Wie gesagt, ich habe das unterlassen. Daran waren nicht zum wenigsten die Franzosen schuld und deren Kritik des »Cabarets«. Sie sagten, ein Deutscher hat's gemacht, um Propaganda für sein Volk zu machen. Er ist ein Blasphemiker und das bedeutet, er ist ein Dekadent und diese Dekadence ist eine Folgeerscheinung des drückenden Militarismus. Da verging mir die Lust. Lieber will ich untersuchen, wie weit sie recht haben. Heilmittel will ich suchen gegen besagte Dekadence.
Ich habe in der Zwischenzeit einen kleinen Roman geschrieben (170 Seiten), mit dem ich gestern im Konzept fertig wurde. Darin will ich voller Lustbarkeit, ohne jeden Ärger, voller Plaisanterie, fränkisch und graziös sein, daß es eine Art hat. Auf diesen Roman will ich allen Dandismus verwenden, den man auf kleine Leute nur verwenden kann. Du siehst, daß es also ein Humoristikum wird. Emmy Hennings meint, in dieser Tonart sei noch nichts dagewesen. Den Stoff gibt ein Apachenviertel, den Helden macht ein Varietédirektor. Das ganze heißt »Die Indianer«. Es ist kein Satz in diesem Buch, der nicht höchst persönlich erlebt ist. Du mußt nämlich wissen, daß ich während sechs Monaten mit diesen Leuten geschlafen und gegessen habe, sintemalen ich als Pianist unter ihnen war. Davon hat Dir meine Mutter sicher nichts erzählt, denn das ist eine Schande. Ich habe grausige Zeiten durchgemacht, schlimmer als Jemand ahnen kann, mais dolors: ich habe sehr erheblich umgelernt, über die bürgerliche Gesellschaft anders denken gelernt.
Liebes Gustilein, wenn dieses, mein Buch, nun gedruckt werden sollte, so wirst Du ein Exemplar erhalten. Es wird ein Apachenbuch sein. Leonhard Frank will mir helfen es unterzubringen. Emmy Hennings schreibt auch ein Buch, das ebenfalls einen Verlag finden soll. Sie versucht ihr phantastisches Leben auf einen Roman zu reduzieren. Es ist schade, daß Du aus diesem Leben so wenig kennst, sonst könntest Du Dir einen Begriff machen, was das heißt.
Ascona ist ein kleines Fischerdorf, wo ziemlich viele Deutsche in Form von Naturmenschen sich aufhalten. Der See ist hier noch schöner als in Vira. Man hat den Frieden in der Brust.
Morgens um sechs Uhr stehen wir auf, weil unsere Tochter nach Locarno in die Schule geht. Wir arbeiten bis neun Uhr abends. Exerzitien in einem Kloster können nicht strenger sein. Einige Freunde unterstützen uns ein wenig: Max Oppenheimer (der Maler Mopp und Leonhard Frank … Auch Schickele ist sehr nett zu uns). Und so wollen wir diesmal durchsetzen, kein Kabarett, kein Varieté mehr machen zu müssen.
In den letzten »Weißen Blättern« (Herausgeber René Schickele) erscheint demnächst eine Übersetzung von mir »Suarés über Peguy«. In der »Neuen Jugend« in Berlin ist, glaube ich, eine Besprechung des »Cabaret Voltaire« erschienen, auch in der »Neuen freien Presse«. In Frankreich im »Temps« und »La guerre mondiale«. Man hat heftig »geschumpfen«. Merkwürdig wie wenig Sinn doch die Leute für Humor haben. Sie werden alle gleich unangenehm.
Lieber Gusti, also schreibe mir oft, auch wenn ich nicht gleich antworte. Ich habe wirklich sehr viel zu tun. Es geht um meine Existenz. Ich habe außer dem Roman noch einen Einakter »Die Nacht« geschrieben. Ich habe 150 Seiten Schreibmaschine für Emmy abgeschrieben.
Nein, mein Lieber, das stimmt schon. Die kleine Tochter ist neun Jahre alt. Sie ist sehr hübsch, schwarzes, abgeschnittenes Haar, dunkle Augen, Ungarin von Vaters Seite. Sehr klug und temperamentvoll. Ich muß ihr 100 000 Geschichten erzählen. Und sie nennt mich »Steffgen«. Wir leben sehr glücklich und arm, sehr fanatisch. Oh, wie schade, daß Du keine Musik mehr machst. Schreib bald wieder und sei herzlich gegrüßt. Dein Hugo.
[Der Name »Steffgen« rührt von Emmy her. Sie sah im Traum einen wunderbar schönen ungewöhnlich großen Schmetterling, der den bunten Flügelstaub abschüttelte und sich in einen Mann verwandelte, der eben Hugo Ball war. Der Schmetterling aber sagte »Ich heiße Steffgen«.]
Emmely, Putzeli,
Ich schreibe Deine Gedichte ab und das ist eine schlimme Sache. Denn schon bekommt Steffgen ein wenig Sehnsucht und wenn er den Kopf noch so kregel zurückpurzt, so hilft das nicht viel. Der Steffgen sitzt an der Maschine und schreibts.
Den ganzen Tag bin ich gelaufen und habe wenig erreicht.
Bei Hack, dem Antiquar [wo Hugo Bücher verkaufte], war ich nochmals. Dort ist ein Zettel angebracht: »Wegen Krankheit geschlossen«. Ich habe ihm nun heute geschrieben und habe ihn gebeten, mir durch Madame den Betrag anweisen zu lassen, da meine Abreise davon abhängt. Deines Mantels wegen war ich bei der Trödlerin. Sie wollte mir fünf Franken für den Mantel geben. Ich habe ihn wieder mitgenommen. Dann war ich mit meinem Mantel bei einem anderen Trödler. Der aber hat mir nur eine Adresse gegeben, wo ich Deinen Mantel verkaufen kann.
Ich habe die Kritiken für unser Repertoire zusammengestellt. Das sieht ganz hübsch aus und man kann denken, wir seien weltberühmte Leute. Heuberger will das morgen drucken. Abends habe ich dann die Exemplare und schicke Dir dann gleich davon. Geh bitte erst nach Rigi-Kaltbad hinauf, wenn Du die Programme hast. Es wird dann einfacher sein, etwas zu erreichen.
Bilder habe ich auch kopiert. Ein Herr Hünink kam mit einem Herrn Höremann zu mir, um einen Vertrag auf der Maschine schreiben zu lassen. [Die Herren waren Nachbarn von uns.] Einer von den Beiden hat seinen Schirm bei mir stehen lassen. Vielleicht vergessen sie, ihn abzuholen.
Frau Eichler war da mit Frau Thesa Marras, (unsere Wohnungswirtin) die Betten abzuziehen. Sie wollten das ganze Eingeweide wegschleppen. Ich dankte aber schönstens und sagte, daß Du zurückkommen würdest. Da zogen sie ab – nicht die Betten, sondern die Damen selbst. – Bitte, sage mir, wer und was die Leute vom Bett zu bekommen haben und was uns gehört und uns nicht gehört. Kritiken sind noch nicht erschienen. Deswegen sind wir aber nicht weniger talentiert, wir Beide, Du und ich. Das sehe ich, wenn ich Verse von Dir abschreibe.
Sonst ist nichts passiert. Wie bist Du angekommen? Laß Dich nicht entmutigen, wenn die Stadt leer ist. Ich wünsche Dir von Herzen ein wenig Ruhe, Liebling. Was hast Du alles gearbeitet. Auf Wiedersehen. Dein Hugo.
(Aus Luzern)
Ach, mein lieber Hugo, Du kommst nicht und die Programme habe ich auch noch nicht. Ich schicke Dir fünfzehn Franken. Aber ich bitte Dich dringend unverzüglich zu kommen. Den Regenschirm von Herrn Höremann oder wer es ist, den nimm nur mit in Gottes Namen. Es hat hier nämlich schon zweimal geregnet und wir können ja den Schirm, wenn wir es zu Geld gebracht haben, wieder zurückschicken. Ja, also wie es hier mit mir steht. Die meisten Hotels sind so fein, daß ich mich nicht hineintraue. Mit dicken Palmen und Teppichen im Foyer. Sorge Dich nicht, ich habe gleichwohl etwas erreicht. Ich habe einige Gedichte mit der Hand abgeschrieben, eingerahmt, wollt sagen eingebunden, und Blumen und Sterne auf den Umschlag gemalt und ein paar Gräser aus Glanzpapier darauf geklebt. Gold wollte ich nicht wagen zu kaufen. Einige Exemplare habe ich in einem Schreibmaschinengeschäft abgeschrieben. Also gut. Von Luzern gegen Weggis zu. Der Weg ist schön, eine feine Gegend. Ich habe mir einfach ein Herz gefaßt und in einem Wirtschaftsgarten, wo die Leute bei Kaffee und Schlagsahne saßen, kurzerhand mein Büchlein angeboten. Die Leute waren schon ein bißchen stutzig, daß sie neben der Berge wunderbare Pracht und See-Seligkeit auch noch Literatur genießen sollten, was ja viel verlangt ist, aber was soll ich machen? Ich kann mir nicht leisten, mich allzusehr zu genieren. Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott, also gut, er hat mir geholfen. Ein Herr mit Frau und Kindern am Tisch hat mich gefragt, ob ich die Gedichte selbst gedichtet. Hab gedacht, ich muß gleich einen Beweis geben, daß ich wenigstens ein bißchen reimen kann und habe gesagt:
»Es ist wohl so, ich bin so frei
Ich dichte ganz wie Dauthendey.«
Kommt ja nicht drauf an, wie ich mich rezensiere. Das mit Dauthendey ist mir nur eingefallen, weil man mir doch schon einmal gesagt, meine Gedichte seien von Dauthendey. Wie man will. Ich habe also den Kaffeegarten mit Lyrik versorgt.
Ich schwimme im Geld und habe mir einen mauvfarbenen Wachstuchhut gekauft (falls Du nicht mit dem Regenschirm kommst). Wenn Du Dich nicht gleich auf die Reise begibst, werde ich mir auch noch einen Wettermantel anschaffen müssen.
Auf Rigi-First, glaube ich, wohnen lauter Fürsten, so elegant ist's und Rigi-Kaltbad habe ich mir nur von draußen angesehen, das ist auch ein größeres Anwesen. Eine Viertelstunde, bis Du das Hotel, die Front abgegangen hast. Es wohnen ja gewiß viele Leute mit vielem Geld dort, aber ich bin doch nicht sicher, ob das Haus gerade für uns gebaut ist. Mal sehn, wie es mit meiner Courage steht.
Also in Weggis kennt man mich. Da bin ich so ziemlich in jedem Hause gewesen, ohne Programm. Ich hab gesagt, mein Partner und ich sind bekannte Vortragskünstler. Immer zeige ich das Cabaret Voltaire schwer her … Das aber ist, um mit Arp zu sprechen, kein Schnupftabak fürn Totenkopf. Wahr aber ist auch, man soll seinen Viktor nicht unter den von Scheffel stellen. In Weggis sind die Leut schon scharf auf uns. Dem Portier im Adler oder Falken habe ich einen Gedichtband gratis angeboten. Er will nämlich den Kassierer machen. Er hat aber die Gedichte nicht nehmen wollen, obwohl ich ihm die schönsten angeboten habe. Umschlag mit Paradiesvogel, beinahe ein Phönix, so schön. Aber er hat gesagt, der Portier, nicht der Phönix »Ich will Sie nicht berauben …« Jetzt will ich noch ein paar »letzte Freuden« abschreiben und will Dir noch zehn Franken schicken, aber dann mußt Du auch kommen. Ich bin ja ganz allein auf weiter Flur. Der Pilatus mit seinem Wolken-Schäferhut kann mich auch nicht trösten.
Komm sehr bald, lieber Spielmann, lieber Hugo und begleite Deine Emmy.
Möcht singen Dir, meine Weisen … Höre, Liebster, schreibe, oder depeschiere Luzern, hauptpostlagernd. Ich will doch noch mal den Kursaal in Angriff nehmen, ich darf nur nicht so bange sein. Könnt ja Probe rezitieren und singen, wenn man will. Ach, wenn man nur wollte! Adieu, mein Liebling und auf Wiedersehen. Versetz nicht die Maschine, aber mein grünes Kleid könntest Du in der Froschaugasse verkaufen. Da ist ein Altwarengeschäft neben dem andern. Im Hause, wo ein Vogelbauer davor ist, wirst Du Glück haben. Im Fenster steht ein Regulator, der seit Monaten verkauft worden ist und an der Hausmauer draußen hängen ein ziemlich Teil benagelte Bergschuhe. Wie das Geschäft heißt, weiß ich nicht, weil's einen Titel hat »Zum armen Heinrich« oder so ähnlich. Ich bin sehr nervös, aber das ist nicht verwunderlich. Wenn man »in Gedichten reist«. Noch einmal Deine Emmy.
(Aus Luzern)
Oh, Hugo, lieber Hugo, ich glaube, daß ein Abend hier sehr lohnend ist. Wir müßten umsonst das Allerzarteste singen; und Du spielen, das Allerschönste, umsonst. Das ist's. Hugo, heute morgen wurden viele deutsche Soldaten auf ein Schiff gebracht. Ein langer trauriger Zug. Junge Menschen auf Tragbahren, Oh, oh, oh …, das ist erschütternd. Sie wurden auf die Schiffe getragen die jungen Leute mit den zerschossenen Händen, die weiß verbunden waren, auf denen die wundervollsten Blumen lagen … Einige aber konnten die Blumen noch ein wenig halten, hatten aber keine Augen sie zu sehen. Oh, wie furchtbar! Einige aber lächelten ganz still glücklich. Die Berge waren so blau an diesem Morgen und die Sonne spielte stumm und leicht auf dem Wasser … Mir aber war blaß und kalt. Oh, Hugo, wenn man auf friedlichen Gesichtern sieht wie furchtbar der Krieg ist und noch immer, noch immer …
Mit einem Soldaten, der rote Rosen hielt im Arm, habe ich gesprochen, wohl ein Bauernkind. Er sagte, ach Hugo, was glaubst Du wohl, was er sagte? Er hatte gar keine Augen mehr, aber die rührendste Seligkeit auf dem Gesicht. Es ging ja heimwärts, wohl ins Dörflein. Ja, er sprach von seinen Augen: »Sie wachsen schon wieder. Beinahe kann ich's fühlen …« Oh, wie mich die tragische Einfalt dieser Worte berührt hat, ich kann's nicht sagen. Ich kam ganz verweint im Schweizerhof an. Was kann man diesen verwundeten Menschen singen? Das allerleiseste Lied.
Komm bald, mein Hugo, zu Emmy.
Einige Soldaten sind zur Erholung hier und von den Schweizern rührend gut aufgenommen. Aufs sorgliche verpflegt. Die Schweiz ist ein friedlich-guter Garten, so möge es bleiben.
Oh, geht es Dir gut, Liebling? Und ohne Gepäck? Oh, ich stelle mir vor, wie Du in der Stadt umherläufst. Schreibe sofort. Ich habe den Koffer von Loti, vom Spediteur wieder weggeholt. Er stand noch in der Pferdegarage und ich dachte, ich kann wenigstens das Beförderungs-Geld von Ascona nach Locarno sparen. Darum habe ich Loti den Koffer wieder weggenommen. Er hat sich gewundert, aber ich habe gesagt: ich habe noch einiges in den Koffer zu legen. Denk, da wollte er mir den Koffer wieder ins Haus tragen, worüber ich recht erschrocken war, denn Loti wohnt doch näher an Locarno als wir, und ich hätte den Koffer dann vom Seeufer bis zu Loti wieder tragen müssen. So aber hatte ich Glück, daß ich das abwehren konnte, obwohl Loti den Kopf schüttelte, aber das macht wohl nichts. Er kann vielleicht ein andermal den Koffer besorgen, wenn es sich macht. Ich habe ihn also gestern expreß aufgegeben. Hatte mich schon um drei Uhr auf den Weg gemacht, weil ich nicht wußte, wie es gehen wird. Es ist aber gut gegangen. Zuerst kam mir der Koffer schwer vor, wie Christi Kreuz, aber er wurde leicht, als ich ihn auf die Schulter nahm. Das machen die Gepäckträger am Bahnhof ja auch so, und das ist sehr praktisch. Ich werde jetzt immer die Koffer auf der Schulter tragen, nie mehr in der Hand. Während ich nach Locarno ging, hatte Mietzmaus ein Bild für Dich gemalt. Sie sagt, sie hätte gleich Heimweh nach Dir gehabt und darum steht wohl auch mitten auf dem Bild »Trennung, oh, wie schwer bist Du«. Es stellt ein seltsames Männlein in einer Blumenlandschaft unter einem Baum sitzend dar. Sie hat noch ein Bild gemalt. Das kommt mir recht mystisch vor. Da ist Himmel, Erde und auch ein bißchen, was unter der Erde ist, nämlich die Wurzeln der Pflanzen. Und aus dem hübschen Sommerhimmel dringt ein Flammenkopf mit unheimlich großen Augen, ein Gesicht. Das Bild ist betitelt. Der Titel steht aber auf der Rückseite geschrieben, groß, klobig – Du kennst ja ihre Handschrift – »Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen«. Ja und daneben, ich kann's nicht anders sagen, der Preis »Zwei Franken fünfzig«. Sie meinte nämlich, sie könnte das Bild ausstellen und verkaufen. Hab gesagt: »Mietze, du solltest wenigstens den Leuten überlassen, was sie dir für das Bild geben wollen, wenn es ihnen gefällt und jemand es gerne haben will.« Und da hat sie gesagt: »Nein, ich weiß schon, wieviel meine Bilder wert sind und ich muß doch die Preise machen …«
… Den Koffer habe ich expreß aufgegeben, Liebling … Ach, wir sind ohne Dich Waisenkinder und wagten gestern abend gar nicht zu essen. Mir war, als möchte der Annemusch vielleicht doch, aber sie sagte ganz ernst: »Ich mag nicht essen.« Wir hatten sehr gute Polenta, die wir aber heute essen werden. Es ist erst sechs Uhr früh, Hugo. Ich weiß nicht, warum der Sonnenaufgang trauriger macht, als der Sonnenuntergang. Woran mag das liegen? Unsere Kapelle [wir wohnten in einem Raum, der früher Kapelle gewesen war] ist wunderbar blau, wie ein Himmel ist das.
Ich hab auch die Hobelbank lieb, an der ich Dir schreibe, mein lieber Hugo auf Wiedersehn.
Ich bin so glücklich zu wissen, daß ich zu Dir gehöre. Deine Emmy.
Schreibe bald, Hugo und möchtest Du behütet sein, immer. Die Luft ist kostbar heut früh und durch das Fenster sehe ich auf den See. Da beginnt es aufzusteigen, nach oben, die zarten, weißen Wolken … Oh, Hugo, ich sehne mich nach Dir …
Liebster Hugo, soeben kommt Dein Brief mit zehn Franken. Vielen Dank für beides. Es war aber auch die höchste Zeit. Ich bin traurig, daß ich Dich bis Juni entbehren muß. Soll ich nicht kommen? Ich guck immer aufs Geld. Für Annemie habe ich ein Kleid aus meiner langen Russenbluse genäht und Leon hat mir einen Sweater geschenkt von seiner früheren Frau. Die ist ein bißchen dicker gewesen, als ich, aber es geht schon an. Der Sweater war vorgestern noch weiß. Jetzt hab ich ihn grün gefärbt, weil ich so gern Grünes trage. Fünf Tage sind vom Himmel geströmt, Regen meine ich, und es ist recht kalt.
Heute essen wir Leber. Ewig schade, daß Du nicht da bist, nicht nur wegen der Leber, auch sonst Steffgen, Deine Emmy.
Annemie will auch schreiben. Sie hat Tinte fabriziert aus Beeren oder aus was weiß ich, an die drei Liter Tinte. Wenn die ausgeschrieben ist, werden wir bei'nand sein, mehr wissen. Die Tinte ist ein bißchen blaß und ich hab Schuhcrem und Kaffee hineingetan wegen der Kulör. Also jetzt will Mitzmaus sich schriftlich bekunden.
Lieber Steffgen!!! Es freut mich sehr, daß meine Bilder Euch gefallen haben. Es gießt. So gießt es (Tintenregen). Heut haben wir Meck-meckbraten. Wir hatten drei Tage nichts als Maggiabraten. [Sind Pfannkuchen aus Kraftmehl.] Hier tut uns keiner einladen zum Thee und unser Kaffee von der Alm schmeckt nach Petroleum. Schick uns doch einen anständigen Kaffee, sonst kommen wir mit Rucksack nach Zürich. Mutter hat immer das Schackett an, sie braucht bloß den Hut aufzusetzen und fertig sind wir und fix zum Reisen. Wir möchten auch zur Soareh geladen werden. Fang nicht an, uns wie einfache Landleute zu behandeln, sonst wehe, wehe Steffgen, Deine Annemarie.
Steffgen, bist Du jetzt Großstädtler geworden? Komm bald wieder.
Emmylein, was fangen wir nun an? Diese Bestie, bei der ich wohne, rechnete mir heute die Milch ab. Weißt Du, was ich zahlen muß? Sechzig Centimes für den Liter! (Weil sie die Milch abkocht und das Geschirr reinigt.) Ich suchte gestern Flesch wie ein Verrückter, bekomme endlich zwanzig Franken von ihm und muß davon zwölf Franken für zwanzig Tage der Wirtin zahlen. Ich habe jetzt noch acht Franken. Ich schicke Euch fünf Franken und nehme an, daß morgen früh von S … Geld kommt. (Gestern war ja die Post geschlossen und da konnte man ja auch kein Geld aufgeben. Mir bleiben, wenn ich mir ein wenig zu Essen gekauft habe, zwei Franken. Könnt Ihr dort etwas geborgt bekommen in einem Laden? Vielleicht mir etwas schicken? Es ist entsetzlich. Vielleicht kommt auch Geld aus Berlin. Ich habe S … so dringend geschrieben, als ich nur konnte, aber er glaubt wohl nicht, daß es einem so miserabel gehen kann. Ich habe seit Samstag nur meine Milch und ein paar Birnen. Aber ängstige Dich nicht, Liebling. Es muß ja etwas kommen. Wenn ich Euch nur mehr schicken könnte. Zahlt von den fünf Franken nichts in den Geschäften.
Holt Euch – doch das wißt Ihr ja … Wie geht es Dir, Liebling? Ich habe heute keinen Brief und bin unendlich besorgt. Wäre ich doch nicht gereist! Oh, Liebste, schreib mir bitte auf der Stelle, wie es Euch geht. Hugo.
Oh, Liebling, pflege Dich doch, ja gut. Was für ein Unglück, daß ich Dir auch heute noch nichts schicken kann. Gut aber, daß die Bücher angekommen sind. Ich konnte sie gerade noch auslösen. Ich will sehen, ob ich sie verkaufen kann, dann schicke ich Dir das Geld noch heute. Bitte aber schick das Wäschepaket jetzt nicht (unfrankiert), denn ich könnte es nicht mehr auslösen … Wie geht es Dir denn heute? Du bist gewiß nur aus Entbehrung so erschöpft … Hol Dir doch etwas bei den Leuten. Ich schicke Dir morgen das Geld dafür. Iß etwas Gutes. Annemarie soll Fleisch kaufen. Morgen schreibe ich Dir einen ausführlichen Brief. Innigst, Putzlein, Dein Hugo.
Du sollst nicht jene Arbeit annehmen, bevor Du nicht wirklich wieder wohlauf bist und nur dann, wenn Du nicht täglich nach Locarno gehen mußt. Hast Du das Geld bekommen? Armes, ich möchte so gerne Dir mehr geschickt haben, damit Du nicht immer zu schreiben brauchst. Ich bin ganz verwundert, wie Du so lange ohne Geld aushalten konntest. Am fünfzehnten hoffe ich zu bekommen. Wird schon gehen. Dann schicke ich Dir so pünktlich, daß Du ganz erstaunt sein wirst. Weißt, die Schreibmaschine konnte ich nicht eher wegbringen, weil F. seine brauchte. In diesen Tagen aber kommt S. zurück. Dann bitte ich ihn, mich abends schreiben zu lassen, inzwischen behelfe ich mich.
… Wenn R. das Buch haben will, schließe ruhig Vertrag ab.
Ich freue mich ganz furchtbar, daß es ihm gefällt. Unser Seepferd wird rasch »berühmt« werden und auf den eigenen Pattens laufen. Dann, was wir uns dann wünschen? Dann wünschen wir uns … vielleicht ein Mäntelchen? Oder? Vielleicht ein Häusel mit einem Gärtchen? Oder? Du bist so gut, Liebste, und ich bin oft so müde, weil alle unsere Sachen so verwahrlost sind … aber manches haben wir doch durchgesetzt, nicht wahr, mein Emmy? Das Buch, an dem ich arbeite, wird gewiß gut, ich weiß die Wirkung von jedem Satz …
Ich kann Dir morgen noch fünf Franken schicken.
Bern, Mittwoch
Guten Tag, mein Liebling, guten Tag meine Putzleins! Ei, hat Steffgen eine Freude mit dem Bildchen! Kam gerade an, als ich mich eben »hinuntergelassen« hatte [im Lift]. Auf der Straße sagte ich zum Briefträger: »Haben Sie was für Herrn Ball?« »Ja«, sagt er und gibt mir das gelbe Kuvert! Wo habt Ihr nur den Apparat hergeholt? Und daß das unser Poncinihof ist, der liebe, sonnige Poncinihof mit dem großen, schönen Ringelottenbaum, der so südlich aussieht. Das hätte ich mir gar nicht träumen lassen. Und Du Emmy, hast einen so feinen Schlafrock an und neue Sandalen! Und Annemarie hat die ganze nervöse Laban-Schauspielerinnenpose, die einem lieben, klugen Göhr sehr wohl ansteht. Ein feines Bildchen! Hat das wohl der Leon gemacht mit seinem Photographierungsapparat? Werden wir uns, wenn erst wieder ein wenig Geld da ist, in einem äußerst vornehmen Rahmen rahmen lassen. Schönen Dank auch, meine beiden Putzleins. Bißchen Sehnsucht hab ich nach Euch, jetzt, wo die Tage so wundervoll frisch und blau sind. Ich habe mir Birnen gekauft und mich unter das Denkmal eines uralten kupferroten Ritters gesetzt und habe mir die Zürcher Zeitung gekauft und habe auch den Bund gelesen. Und habe mich recht betragen wie ein gar artiges Bürschlein. Und eine ältere Dame kam, im schwarzen Kleid daher, und wir unterhielten uns ein wenig über den Krieg, und sie meinte, ich sei ja so traurig, in meiner Stimme klinge es so traurig, ob ich auch im Krieg gewesen sei und ob ich nun vielleicht zur Erholung meiner Nerven … »Nein, nein,« sage ich, »Madame, das nun gerade nicht. Das müssen Sie nicht glauben.« Da hat sie mir Nüsse und Pflaumen geschenkt und dann stand sie später auf und sagte: »Leben Sie wohl, junger Mann«, hat sie zum Steffgen gesagt. Der kam sich recht vor, wie einer der naiven Holländer, die so gar unmäßig tanzen können. Und so hat der Steffgen seine kleinen Abenteuer, aber Geld hat er noch nicht und auch noch keine Antwort von Reiß, dem Verleger.
Ich arbeite wieder am Bakunin-Brevier und es geht gut voran. Ich arbeite aber auch täglich zehn bis zwölf Stunden, da muß es ja weiter gehn. Und mit den Resultaten bin ich sehr zufrieden. Es gibt viel zu übersetzen dabei, zu kombinieren, im übrigen ist es eine Advokatenarbeit. Ich suche überall das Beste zu finden und es energisch herauszuarbeiten.
Bei der »Freien Zeitung« bin ich gewesen und war etwas überrascht, eine sehr distinguierte Villa zu finden mit großen Rhododendronkübeln, Tannenbäumen, Antichambres usw. Das Blatt ist sympathisch, weil es klar und frisch und forsch ins Zeug geht. Brave Kerls, denen was Rechts aus den Augen schaut.
Ich brachte also mein Artikelchen und sollte heute wiederkommen. Ging auch wieder hin, hatte mir aber vorgenommen, nicht zu signieren. Will doch die Leute sehn, die die Zeitung machen.
Man will die Notiz bringen (es sind nur zwei Seiten), aber ich soll signieren. Ich fürchte nur, daß mir das bei der Briefzensur schadet und ich möchte lieber verzichten, weil mir das Bakuninbuch doch wichtiger ist. Also weiß ich nicht recht, was tun. Nun war ich doch schon einmal dort und kann nicht gut verschwinden. Es ist eine heikle Geschichte, denn was ich geschrieben habe, ist auch »heikel«. Werde mir's nochmal überlegen.
… Wie wird es mit uns gehen, Emmly? Auch ich bin sehr besorgt. Wenn der Verleger nicht auf den Brief eingeht, haben wir Ende des Monats sechzig Franken zu zahlen und wo sollen wir sie hernehmen? Ja, schreibe Du noch einmal von Ascona aus, wie es um uns steht.
Ich freue mich, daß Ihr Euch gut zurechtgefunden habt. Kannst Du denn arbeiten, Liebling, wenn das Kind nun immer um Dich ist? Daß ihr Decken bekommen habt, ist ja fein. Ich wünschte so sehr, daß Du bleiben kannst. Ja, wir wollen die Antwort (wieder einmal) abwarten. Es wird schon helfen. Wir richten uns ein je nach der Antwort. Wie lange reichst Du noch mit dem Geld? Schreibe es mir genau.
Auch ich habe jetzt nicht mehr viel, etwa zehn Franken, aber ich brauche ja sehr wenig und entbehre leicht. Ich habe Zigaretten, Tabak, Milch, Brot, Obst. Das genügt mir vollauf. Hab mir meinen Lebenslauf schön eingeteilt in Arbeiten und Zeitungslesen und so lange das Wetter schön bleibt, ist mir die Mittagszeit (wenn ich mir Obst kaufe und mit meiner Zeitung unter den Korsobäumen sitzen kann) schon morgens früh ein ungeduldig ersehnter Genuß. Also sorge Dich nicht, Emmylein, ich fühle mich sehr wohl, très bien.
Ist nur die Frage, wie's Euch geht. Du hast Dich doch nicht ernstlich überhoben, Liebling? Der kleine Rücken kann das natürlich nicht aushalten, ist ja ganz leicht einzusehen. Kann ja das Schleppen nicht vertragen. Und das kleine, für einen Franken zwanzig gestutzte Köppi soll mal drauf bedacht sein, daß uns das nicht wieder passiert.
Denk Dir, Ropschin, der das »Fahle Pferd« geschrieben hat, ist Leiter des Marineministeriums in Rußland geworden und von Kerensky verabschiedet, weil er in dieser Eigenschaft 10 000 Gewehre, die gegen Kornilow verwendet werden sollten, an die Arbeiter verteilte (das heißt an die extremsten Arbeiter). Die Romane werden in Rußland Wirklichkeit.
Hast Du den Streit zwischen Kerensky und Kornilow verfolgt? Es kam, wie ich Dir schon in Ascona sagte, Kornilow verlangte, daß Kerensky abdankt und Kornilow Diktator sei. Habt Ihr das Tagblatt noch? Dann verfolge doch, was jetzt in Rußland vorgeht. Das ist sehr instruktiv.
Hast Du »Die neuen Christen« von Brod gelesen? Das ist doch sehr hoffnungsvoll. Dank Dir noch Liebling, für Deine Thomas-Münzer-Notiz. Kam mir sehr zu statten.
… Darf ich das Bildchen nach Haus schicken, Emmylein? Natürlich muß man's mir wiedergeben. Nur zum Anschaun. Was gibt's denn noch Neues? In Berlin hat man drei Tageszeitungen verboten. Und das reaktionärste Blatt »Die deutsche Tageszeitung«. Die Regierung will sich also nicht weiter verhetzen lassen, als sie selbst es getrieben hat.
Es ist alle Aussicht vorhanden, daß Österreich den Winter nicht mehr überstehen kann. Und es ist gewiß, daß in diesem Winter in Deutschland große Unruhen ausbrechen.
Es ist des weiteren sicher, daß der Papst und Wilson sich über den Frieden geeinigt haben, und daß das Zentrum also einverstanden, daß die Monarchie fällt. Die katholischen Blätter schwenken von der Regierung ab (immer nur vorübergehend, behauptet Emmy). Das alles bedeutet, daß das jetzige Regime fallen oder umkehren wird. Das letztere ist wahrscheinlich und so wird die Sache zunächst darauf hinauslaufen, daß wir im Frühjahr einen Waffenstillstand bekommen, der dem Reichstag scheinbare Rechte gibt, der auf Belgien und Polen ganz und auf Elsaß halb verzichtet, und der weiterhin zu einem europäischen Staatenbund gegen die Völker führt. Wichtig ist, daß die Zensur fällt. Das müßte die erste Friedensbedingung sein, wenn das Volk mitzusprechen hat.
Wenn wir uns erst mit Russen verständigen können, dann wird unsere Regierung der Teufel holen. Daß es Kerensky möglich war, sich so lange zu behaupten und daß er sich voraussichtlich noch weiter behaupten wird, ist ein großer Triumph der sozialistischen Organisation. Die früheren Revolutionäre haben sich mit wenigen Ausnahmen in allen Verwaltungsfächern gut bewährt, sonst hätte Kornilows Verschwörung und Gegenrevolution glücken müssen. Aber es ist erst der Anfang.
Soooooooooo. Nun hat sich Steffgen ausgesprochen. Schreib mir bald wieder. Seid noch allerschönstens bedankt für das ekswizite Bild, Annemarie soll mir, wenn es die Zeit zuläßt, noch ein schönes Wandgemälde verfertigen. Sei sehr vielmals umarmt, mein Emmylein und lieb gehabt von immer Deinem Hugo.
Ich glaube an die Notwendigkeit einer starken Konspiration zu Hause und auch hier in der Schweiz. Der Krieg wird noch fünf Jahre dauern. Österreich wird sich gegen die deutsche Soldateska wenden. Das bedeutet den Sturz der Dynastie und das Aufleben des Proletariats. Meine Zuversicht ist größer, als sie je war. Und ich finde, daß die Zeit kommt, wo man die Dinge ernst nehmen kann. Nicht den Hauptakzent in einer Humanitätspropaganda, in jener Rhetorik sehen, die nur literarisch nicht aber öffentlich verpflichtet … Wenn die Dinge ernst werden, verkriechen sich diese Schönredner in ihre literarische Hundehütte.
Kurz, ich sehe in der Rhetorik zuviel »Glanz«, »Reichtum«, »Geschmeidigkeit« und zu wenig Simplizität und Programm.
… War Mary Wigmann nett zu Dir? [Die Tänzerin hatte mir ein Kostüm zum Auftreten geschenkt] … Ich bin Dir so dankbar für Deine Briefe. Du hältst auch mich, rabiaten Menschen, zusammen.
Oh, nun schreibe mir einen guten, lieben Brief und sage mir, wie es Dir geht. Ich bin so unglücklich, nicht bei Dir sein zu können, aber ich glaube, es ist für uns alle wichtig, daß ich für die nächsten Monate hier in Bern bleibe und Euch einmal besuchen kann. Oh, Du bist gewiß ganz erschöpft und schwach und schicke jetzt vor allem Annemarie etwas zum Essen einkaufen. Grämt Euch nicht, Kinderleins, daß es zunächst so wenig Geld ist, das ich schicke. Wenn Euch nur zunächst geholfen ist. Ich schicke Dir dann noch Geld, Liebling. Ich teile alles redlich mit Dir. Ich verlasse Dich nicht. Wenn Du nur noch Deine Brotkarte bekommst. Ich muß sie mir auch morgen holen. Ich lebe seit drei Tagen von ein paar Birnen und hatte heute morgen kein Brot mehr.
Daß ich Siegfried Flesch [Biograph Mazzinis und Korrespondent für Italien] im Café sehe, ist sehr wichtig.
Wäre ich ihm nicht begegnet, befände ich mich irgendwo in einer Charité, denn ich kenne außer Flesch keinen Menschen hier. Es war eine Fügung, eine gute, daß ich ihn traf. Steffgen besitzt jetzt nur noch einen Franken zwanzig. Heute abend aber bekomme ich etwas Geld und sobald ich einen größeren Betrag habe, schicke ich Euch telegraphisch. Es wird schon alles werden. Seid innigst tausendmal geküßt, meine Kinderleins.
Ich bin so traurig, daß es Euch so schlimm ergangen ist in diesen Tagen. Jetzt wird alles wieder besser und gut gehen.
Wenn nur Deine Gesundheit, mein süßer Liebling, durch diese Strapazen nicht so ganz und gar ruiniert würde. Schreibe mir bald. Morgen werde ich wohl noch keinen Brief bekommen können, weil die Marken fehlten, aber übermorgen wieder, gelt ja? Sehr innig tausendmal und mit aller Liebe Euer Hugo.
… Hör zu, Emmylein: wenn es nicht geht dorten, dann mußt Du mit dem Kind hierherkommen. Ich denke mir dann so: Wenn ich Samstags und Sonntags mitspiele, dann sind das schon fast dreißig Franken. (Als Pianist im Varieté.) Außerdem kannst Du hier Arbeit bekommen. Für die Internierten. Man stellt Dir eine Nähmaschine zur Verfügung und zahlt vier bis sechs Franken täglich. So sagt Lilly. [Eine Frau vom Varieté]
Des Auftretens wegen will ich mich noch erkundigen. Monteo [hatte gleichfalls ein Ensemble] und Michel (Flamingo-Flametti) wohnen in ein und demselben Hause. Wenn man nur Samstags und Sonntags mit ihnen zu tun hat, ist es nicht so schlimm …
Ihr kommt also zu mir, Kinderleins, wenn es in Zürich aussichtslos ist. Du sollst Dich nicht dort zu Tode hetzen und hungern [ich war in einer Zigarettenfabrik angestellt, welche die Arbeit, in der ich wenig Übung hatte »stückweise« bezahlte]. Also überlege und entschließe Dich. Du kannst ganz über mich bestimmen. Ich habe jetzt nichts weiter vor. Ich bin frei.
Ein paar Aufsätze kann ich wohl nebenbei schreiben.
Bevor nicht das »Bakunin-Brevier« erschienen ist, hat es keinen Sinn, etwas Neues zu machen. Wenn Du also glaubst, es ist geholfen, dann komme hierher, Liebling, und laß uns diese Reise vorbereiten. Etwas anderes ist es, wenn dort in Zürich eine Aussicht ist, oder Du Dich noch einige Zeit halten kannst. Laß uns tun, was notwendig ist und was wirklich hilft.
Im Dezember würde ich bestimmt nach Zürich kommen, wenigstens auf ein paar Tage. Es hängt aber alles davon ab, was ich in den nächsten Tagen erreiche. Weiß Herr del Vayo, wann Emanuele di Pedroso zurückkommt? [Vayo und Pedroso zwei spanische Journalisten und Schriftsteller. Pedroso war verreist und hatte sein Zimmer leihweise Ball überlassen.]
Pedroso wollte am achten wiederkommen und da muß ich natürlich das Zimmer geräumt haben … Also, wenn Herr del Vayo eine Nachricht hat, soll man es Dir sagen. Sonst kommt P. schließlich zurück und ich sitze hier in seinem Zimmer oder auf der Straße. Seltsame Dinge sind das. Das Zimmerchen gefällt mir übrigens sehr gut. Eine hübsche, deutsche, französische und spanische Bibliothek. Und wenn ich auch nicht heizen kann, weil ich keinen Brand habe, so ist mir doch der Anblick dieser kleinen säuberlichen, freundlich gestapelten Bibliothek ein großer Trost …
Allabendlich bringt mir Pedrosos Wirtin, Frau Ammann, eine Wärmflasche und dann bin ich so frei und lese in Nicolai, Zurlinden, Fernau usw. Schade, daß ich dabei nicht lange mehr werde zusitzen dürfen.
Also Liebling, verfüge frei über selbiges Steffgen. Es ist ganz frei für Euch und zu jeder Arbeit bereit, wenn es Euch damit helfen kann. Wenn Du willst, erkundige ich mich darüber noch genau bei Flamingo. Wenn Du aber dort noch aushalten kannst und nach meinem Brief eine Aussicht siehst, dann ist's besser, die Reise zu sparen und sich durchzuschlagen … Schreibe mir, Liebling … Nur, daß ich mitverdienen kann … Wenn Monteo einen Klavierspieler braucht, werde ich mich auf jeden Fall engagieren lassen … Schreibe mir öfter Liebste. Damit ich weiß, wie es Euch geht. Es brauchen ja keine langen Briefe zu sein. Ich schreibe jetzt wieder täglich. Gute Nacht Putzlein, Dein Hugo.
… ich will nicht, daß Du auftrittst … Ich will nicht! Ich kann das nicht wollen. Du bist kein Pianist, Hugo. Ich kann Dir aber nicht sagen, heute nicht sagen, wer Du bist … Das Gesicht ist mir wie aus Stein … Mir ist so starr … Zu traurig bin ich, mein Liebling. Armer, einziger Liebling … Was soll ich denn schreiben? Über die Not?
Einmal essen und dann sterben, wir alle drei?
Die größte Verwandlungskünstlerin meiner Zeit möchte ich werden, aber ich werde es wohl nicht werden. Nötig aber wär's um Deinetwillen, Hugo … Es kann nicht schlimmer kommen … Du sollst nicht auftreten … Der Gedanke regt mich maßlos auf. Lieber werde ich Seiltänzerin und gehe in der Nacht über den Rheinfall von Schaffhausen … Ich möchte dieser verzweifelt fraglichen Welt mein Kompliment machen. Wenn ich eine Wette gewinnen könnte, auf einem Seil über den Rhein zu gehen und ich bekomme vielleicht Hunderttausend, wenn es gelingt, will ich Dir das Geld vermachen.
Es wird schon anders kommen … So kann es nicht lange weitergehen. Lebe … wohl wage ich nicht mehr zu sagen. Wir leben, das ist es wohl. Es soll sein, wie es ist …
Wiedersehn, auf Wiedersehn. Auch das Kind sagt's und Deine Emmy.
Liebster Hugo. Endlich komme ich dazu, Dir zu schreiben. Bis heute war ich bei Familie R…, wo ich sehr beschäftigt war und zwischenhinein sang ich Sonntag in Schaffhausen. Nicht eine freie Minute hatte ich zum Schreiben. R…s haben kein Mädchen und ich kein Zimmer, aber jetzt bin ich wieder für einige Tage im Goldenen Stern. Ich bin sehr erschöpft. Es wird sich wohl wieder geben. Ja, ich glaube wohl. Ich singe nicht mehr gern und zum Marcelli-Ensemble geh ich nicht. Bei Maurer verdiene ich für Samstag und Sonntag achtzehn Franken. Das ist viel Geld, aber es ist eine ungeheuerliche Anstrengung. Ich spüre, daß ich einen Knacks davon bekomme, wenn auch nicht in der Stimme, nicht in der Kehle. Jeden Morgen hole ich mir am Paradeplatz den Arbeitsnachweis, aber man nimmt mich nicht leicht, weil ich Ausländerin bin. Vielleicht kann ich in der Textilwaren-Fabrik ankommen. Ich werde sehr bitten und mir Mühe geben, aber ich weiß gar nicht, was Textil ist und ich geniere mich zu fragen. Ich will Lisa Frank fragen.
Ich mag niemand gerne um Geld bitten, ich schäme mich so sehr. Haak aber hat hundert Kabaretthefte Voltaire bestellt, à zwei Franken, das sind zweihundert Franken, die ich Dir senden lasse. Geh nur nicht zu Flamingo. Das Klavierspielen lenkt Dich nur ab. Deine Arbeit muß Dir ja aus dem Kopf fliegen bei diesem Zirkusleben. Du willst gerne, daß das auch noch geht und es geht nicht. Die Flammenschlucknummer ist doch recht unheimlich. Nachts träumt mir davon und es ist doch schon etwas her, daß ich Flamingo zum letztenmal Petroleum trinken und die Flammen lodern sah. Manchmal ist's, als brenne mir etwas im Hals und dann muß ich das Wort meditieren: »Reinige meine Zunge mit einer glühenden Kohle, o Herr, daß mein Mund beredt Dein Wort verkünde.« Das steht im Buch, daß mir der kleine, arme van Hoddis geschenkt hat, van Hoddis, dem es wie Hölderlin gegangen ist. Ich muß auch viel an van Hoddis denken, der so begabt und so unglücklich ist:
»In allen Lüften hallt es wie Geschrei,
Dachdecker stürzen ein und gehn entzwei
Und an den Küsten liest man, steigt die Flut …«
Das ist aus dem »Weltende«. Aber das letzte »von der Wand« war doch noch seltsamer. Ich hab etwas vergessen, es hat mir einen starken Eindruck gemacht:
»Oh, Wand, die in meine leblosen Stunden starrt,
Wand, die meine Seele mit Wundern genarrt …«
Er hatte Gesichte, der arme Junge.
Warum ich jetzt von Hoddis spreche? Weil er so sehr unglücklich war, denn wahnsinnig werden … Mein Gott, mein Gott!
Oh, mein Liebling, Liebster, Geliebter, wie geht es Dir? Und ich hab Dich doch so lieb … Annemie geht es gut, sie läßt das liebe Steffgen herzlich grüßen und gibt Dir freundschaftlich einen Buffet (ein klein Nasenstüberli). Sie ist noch ein Kind und hat mich, ihre Mutter. Manchmal möchte ich Annemie sein und mir mein eigen Kind.
Ich freu mich auf Weihnachten, dann bekommt ihr zwei etwas ganz Schönes von mir, Steffgen und Annemie. Hugo, ich fürchte mich nicht vor der Schwere des Lebens, ich fürchte nur, daß ich nicht stark genug bin, es zu ertragen. »Dein die Kraft, die Welten schuf und hält« hat meine Mutter vom lieben Gott oft gesungen. Bei diesem wirren Leben hab ich doch immer Dich, mein Hugo, im Köppi und im Herzen und bin Dein, ganz Deine Emmy.
Schreibe in den »Goldenen Stern«.
Lieb Emmely. Heute war ich von früh elf Uhr bis nachmittags um fünf mit Leonhard Frank zusammen. Er lud mich zum Essen ein und sprach sehr traurige Worte. Einsamkeit. Niemand verstehe ihn, niemand stimme ihm zu. Ich sei der Einzige, der seine Radikalität teile. Ich glaube, er liebt mich ein wenig und das wirst Du ihm gewiß erlauben, denn ich meine, so werde ich auch ein wenig wirken können auf ihn … Ich schlug ihm vor, wir wollten zusammen in Ermatingen wohnen. Er meint, das ließe sich wohl arrangieren. Das wäre gewiß sehr gut, denn Schickele wohnt nur zehn Minuten von Ermatingen entfernt. Alles, was Frank erzählte, hat mich sehr angeregt. Ich denke, wir hätten in Ermatingen viel Ruhe zum arbeiten. Und auch viel Anregung. Wir hätten Freunde und sähen ab und zu auch neue Menschen. Es ist auch nicht so weit nach Zürich.
Dein Aufenthalt ließe sich dort sehr wohl arrangieren … Wir würden hören, was in Deutschland vorgeht und wären doch auf dem Lande, was vor allen Dingen gut für unsere Arbeit wäre … Heute nacht schlafe ich im »Schwanen« … das kostet nur ein Franken fünfzig Centimes.
(Einige Tage später, den 31. Oktober)
Emmely, liebes, süßes Seepferdlein, Dein Brief hat mich so unbändig glücklich gemacht und doch auch ein wenig traurig. Du darfst nicht sprechen von den kleinen violetten Kreuzen und Du sollst ganz rasch wieder bei mir sein. Und ich glaube, es kann uns nie mehr so schlimm gehen. Ich bin so glücklich um Dich, Herzlein, Du mußt rasch zu Steffgen kommen.
So schöne Sachen hat man dem Pferdlein geschenkt? Und der Annemarie den ganzen Karl May?
Emmlein, ach, Du hast ja alles das aus mir gemacht, was Du mir da an schönen Dingen aufzählst. Dir danke ich ja alles, mehr als ich Dir je sagte. Es stand ja ganz schlimm mit mir, als wir Deutschland verließen. Du hast Dich ja ganz geopfert für mich. Du gehörst so ganz zu mir, Putzlein, und es hätte keinen Sinn für mich, da zu sein ohne Dich …
Ach, ein Reisekleid hast Du bekommen, Schuhe, Strümpfe? Oh, was für ein feiner Putz wird ankommen! Vergiß nur meinen Mantel nicht, Liebling, damit auch ich eine gute Figur machen kann. Ach, es wird ja viel hübscher und interessanter sein in Ermatingen als in Zürich … Sehnt sich Annemarie noch immer ein wenig nach mir? Oder hat sie mich schon vergessen? Ich fürchte, sie wird zu den andern übergehen, weil die ihr vor mir die wilden schönen Bücher geschenkt haben.
Emmely, Du bist meine kleine Frau. Das weißt Du doch. Und Du wirst schon sehen, wie ich Dich überwachen werde … Küsse Annemarie von mir und wir drei wollen sehr zusammenhalten … Und jetzt: auf nach Ermatingen. Morgen früh fahren wir.
… Ça va bien, ich fühle mich wohl hier, dank der Nachfrage. Morgens um acht Uhr klopft es. Dann kriege ich einen halben Liter heiße Milch, stehe auf, mache mir Schokolade, lege mich nochmal hin, stehe wieder auf und arbeite bis Mittag. Dann »gehe ich aus«, kaufe mir Obst, kaufe mir eine Zeitung, setze mich in die Anlagen, wo sie am sonnigsten und blauesten sind und lese die Zeitung. Wenn dann alle die grobbesohlten Berner Maidelns an die Schreibmaschinen zurückkehren, kehre auch ich zurück und klappere in idealer Konkurrenz mit ihnen bis gegen sieben Uhr abends. Dann kriege ich diskreter Weise zum zweiten Male meine Milch (den andern halben Liter) und »gehe wieder aus.« Bummeln. Gestern gab's Militärmusik in der Spitalgasse: das paßte mir sehr. Ich rauchte meine Zigarette hinterher und ließ mich mitschleifen durch die halbe Stadt. Das krachte, prasselte, rasselte und paukte nur so. Herrlich, sag ich Dir. Totlachen möchte man sich. U-äh brüllen vor Vergnügen. So eine Militärmusik ist das Kindlichste, was man sich denken kann. Und es ist höchst erstaunlich, daß alles sich so gängeln läßt wie am Schnürchen. Daß es keinem einfällt, plötzlich das Bein in die Luft zu werfen oder den Kopf abzunehmen. Nein, schwitzend, pustend, glotzäugig marschieren sie schön in Reih und Glied, mit gedrechseltem Popo und geölter Frisur.
Allmählich schlafe ich aus. Immer noch zehn Stunden Schlaf. Allmählich gehen mir die Augen auf und die Munterkeit kehrt zurück. Ach, ich wünsche, ich segne Dir Deine Freiheit, mein Liebling. Auch Du sollst ausschlafen und auch Dir sollen die Augen, »die Augen aufgehen« … Mit meinem Zimmer bin ich sehr zufrieden. Es ist zwar hoch, aber ich habe einen Lift, der sehr schön funktioniert. Herrliche Aussicht habe ich auf weiße Häuser und grüne Bäume, die angenehmerweise nicht allzu nahe stehen. Ein wundervolles, englisches Bett habe ich, in dem versinke ich wie ein Greco-Engel in den Wolken. Und jeden Morgen auf dem Servierbrett liegt ein Brief von Dir. Mir scheint, ich bin sehr glücklich.
Sei vielmals geküßt, mein Emmylein, und küsse auch das Kind von mir. Dein liebes Steffgen.
Au, au, mein Putzi, ich habe ja heute wieder keinen Brief von Dir. Was gibt's denn? Woran fehlt's denn? Warum ist denn der kleine Apparat ins Stocken geraten? Ach, mein Emmy, schreibe mir doch bald, schreibe sofort Deinem Steffgen. Der ist gar verlassen und es geht ihm gar nicht ganz gut. Die Rippen und der Rücken schmerzen ein wenig. Er ist auch sonst ganz verdreht und klettert vom Bett zum Tisch und vom Tisch zum Bett. Zu essen hat er auch nicht sehr viel. Er kauft sich bißchen Brot und Wurst und ist immer hinter den roten Tüchern her. [Mit roten Tüchern sind Hegel und Fichte gemeint, die aufreizend auf Hugo einwirkten.] So ausgezogen hat mich noch nichts, wie dieses Buch. [Die Kritik der deutschen Intelligenz.] Gebe Gott, daß es nicht umsonst ist. Was machst denn Du, mein Putzi? Schreitet das Drama fort? Und wohin schreitet's denn? Du bist überaus geliebt, mein kleiner Engel und Dir gehört der letzte singende Blutstropfen, den Steffgen zu geben hat.
Ach, ich lerne immer mehr mich freuen. Das Wetter ist herrlich und jetzt rauche ich eine Maryland und gehe dann zur Post, um diesen Brief aufzugeben. Tschokic [ein Serbe, der in Bern Medizin studierte] liest Korrektur für mich. Hast Du etwas von der Brotkarte übrig, was Du entbehren kannst? Schicks Deinem Getreuen, mein Putzi, und behalte den lieb, denn es gehen gar seltsame Dinge mit ihm vor.
Ich habe, glaube ich, etwas Gutes über die Französische Revolution geschrieben. Einfach, aber nett. Jedermann kann's verstehen. Das ist doch gut, nicht wahr, mein Emmy?
Ich erlebe wieder meine Kindheit. Sechsjährig kniete ich im Bett, schwärmte und betete. Als großer Enthusiast wurde ich geboren. Ich kann es meiner Mutter nicht verzeihen, daß sie mir nicht die Marseillaise sang. Was hätte sie aus mir machen können! Über meinem Bett hing die Sixtinische Madonna. Da hab ich zum erstenmal an Dich gedacht, Emmylein. Mit den Engeln verstand ich mich gut. Dort, wo die kleinen Engel ihre Flügel hatten, waren auf der Glasplatte stets meine Lippen abgezeichnet. Ehe ich mich niederlegte, stieg ich hinauf, um die Engel zu erreichen, die Flügel …
Oh, mein Emmyherz, ich bin traurig nach Dir und kann es so nicht lange machen. Schreib mir, mein Putz-Schutz, große, liebe, lange Briefe. Die brauche ich, wie das liebe Brot. Und noch mehr.
Ach, was ist das jetzt für eine Welt. Die Menschen sind schlimmer wie Tiere. Sie sehen nicht und tappen im Dunkeln, greifen einander nach den Kehlen. Oh, wie ist das gefährlich. Wie höchst gefährlich! Mir fällt immerfort das wundervolle Kapitel aus Deinem Buch ein: Mitmensch. Davon ist viel zu mir übergegangen. Du wirst das einmal sehen. Das ist unsäglich schön und gut. Sei tausendmal innig geküßt von Deinem Hugo.
… Heute war Ernst Bloch hier aus Thun und hat sehr bedauert, Dich nicht mehr getroffen zu haben. Er und seine (unsere) liebe Frau Elisabeth sind sehr glücklich mit der Spieldose, die Du ihnen geschenkt hast. Darauf orgeln sie jetzt den ganzen Tag »Im Wald und auf der Heide da such ich meine Freude …« … ich lese jetzt Blochs Hexenbuch (Geist der Utopie). Er schreibt da auch über Musik. Das ist ein Fitzlibutzli. Ich sehe Bloch an wie die Hexe von Endor. Ich kann sein Aussehen nicht vergessen, als er dort in jenem Gasthaus am Thuner See sich die schwarzen, wilden Haare zurückstrich und wie eine bösartige Hexen-Großmacht aussah. So etwas ist auch in seinem Buch. Das sind eigentlich drei oder vier Bücher. Eine Teufelskathedrale, höchst seltsam und fratzenhaft. Ganz oben, wo das Kreuz sein sollte, da steht ein siebenarmiger Leuchter und noch weiter oben ist statt der Sonne eine Finsternis.
Also dieser, unser Bloch, war heute da und ich hab's ihm gesagt und er schien gar nicht verwundert über meine Meinung, denn er lachte. Er lachte sag ich Dir …
Else Lasker und Frau Maria Moissi und Franz Werfel waren hier. Werfel sprach ich. Er weinte … hat geweint … Er fühlte sich nicht wohl in der Schweiz … Im August will er aber wiederkommen. Else Lasker-Schüler mit ihren melancholischen großen Augen saß da und knabberte Bonbons und die ganze Gesellschaft war etwas sehr traurig … Ich lese, wie gesagt, Bloch's Buch, das mich gar sehr interessiert. Ein Jude von großem Format … Auch las ich Theodor Däublers »Lucidarium in arte musicai«, das Du mir ja da gelassen hast. Das ist ein Unterricht in Magie und Geisterbeschwörung.
Bei Konsul Schlieben war ich [Herausgeber der »freien Zeitung«.] Etwas Interessantes habe ich Dir zu berichten vom »Totentanz«. Der wird eine Luftpartie machen. In großer Menge.
… Schreibe mir, wie Dein Zimmerchen aussieht. Sehr still ist's um mich geworden. Ich koche mir morgens Tee und Deine Spieluhr »Kommt ein Vogel geflogen« weckt mich nicht mehr … und ich arbeite so still, wie der Taucher unterm Meeresspiegel. Mußt mir oft schreiben, damit die Entfernung ein wenig kleiner wird. Hier ist's seit heute früh wieder alles verschneit. Ist Dir auch nicht kalt, Liebling? Ich soll Dich grüßen von allen Bekannten. Auch von Franz Werfel. Er ist heute wieder weggefahren. Schade, daß keine Gelegenheit war, eingehender mit ihm zu sprechen … René Schickele sitzt einsam, trinkt roten oder weißen Wein, weiß und rot und möchte, wie er sagt, am liebsten ein Spitzwegbild sein.
… Einen wundervollen Satz will ich Dir berichten, den ich neulich gefunden habe. Ich halte ihn für einen der besten Sätze, die geschrieben wurden:
»Man muß zeigen, daß Könige Staatsgefangene und alle Reichen Pensionäre sind.« Ist das nicht großartig in der Form? Der Autor heißt Franz von Baader und ist ein neuerer Mystiker. Ich habe viele große Dinge bei ihm gefunden im Einklang mit den Dingen, gegen die ich mich wende.
Ich will kein Verräter sein, will auch nicht schimpfen. Ich will eine Kritik geben, die produktiv wirkt. Ich möchte ein Buch bringen für die streitende Demokratie und es muß in Rußland ebenso interessieren wie in Amerika. Da ich aber leider der Einzige bin, der so etwas macht, besteht die Gefahr, daß es mir in den Kopf steigt. Man wird mich Hochverräter schimpfen. Ich aber verrate nur die Dunkelmänner, die unter dem Deckmantel von Philosophie, Moral, Treue, Pflicht und Schlichtheit den Menschen erwürgen. Ich verrate Dinge, die noch niemand verraten hat. Und so fällt auch der Druck von mir, unter dem ich immer litt. Du erinnerst Dich – alles wird frei um mich her. Das Buch ist auch eine Hygiene für mich. Leichtigkeit und Begeisterung geben mir einen ganz eigentümlich gesteigerten und energischen Stil. Ich stehe mit diesem Buch ganz exponiert. Ich weiß um die Einzigartigkeit dessen, was ich sage und ich bin mir der Verantwortung wohl bewußt. Verantwortung auch gegen das Land, in dem ich aufgewachsen bin und in dem meine Eltern wohnen und deshalb möchte ich so sehr gerne, daß Du es gelesen hast und mir sagst, ob es nicht ungerecht ist.
Ich habe Heine's Bücher über die deutsche Religion und Philosophie, sowie über die deutschen Romantiker gelesen und ich sehe, was für ein Unheil Heine angerichtet hat, indem er diese beiden Schriften nach Paris brachte. Und hat doch gewiß auch geglaubt, etwas Gutes zu geben. Ich kann zwar beurteilen, was richtig und was falsch ist, aber den Ton, in dem ich spreche, den höre ich nicht. Ich fürchte, man kann das Schlechte nicht einmal bekämpfen, ohne daß es zurückwirkt. Ich bin doch selbst ganz deutsch, deutsch in meinem Wesen. Werde ich einen Standpunkt einnehmen können, der nicht irgendwo zusammenfällt mit den Dingen, gegen die ich mich wende?
Liebling, oh, wie ist es schön, eine Zigarette zu rauchen und einen Kaffee zu trinken, wenn man mehrere Tage nicht aus dem Hause kam. Gestern ging es mir nicht gut. Ich war wohl ein wenig übermüdet. Dann ging ich früh schlafen und heute fühle ich mich wieder frisch und ganz wohl. Ich möchte so gerne, daß Du mein Buch liest, bevor ich es weggebe. Du allein kannst beurteilen, ob es gut oder nicht gut ist. Ich fürchte, es ist ein wenig zu eigensinnig und zu kategorisch. Und ich muß mich sehr in acht nehmen, nicht zu überschätzen, was heute vielleicht noch neu und vernünftig, morgen aber schon Gemeinplatz sein kann. Ich versuche eine neue Idee des christlichen Ideals zu geben. Nicht mehr »leidender Gehorsam«, sondern »leidender Wille«. Ich versuche Änderungen herbeizuführen für die Gemeinschaft aller in der Freiheit. Aus derselben Idee, aus der Dein Gefängnisbuch und Don Quichotte kommt, schreibe ich eine Kritik der intellektuellen Entwicklung in Deutschland. Ich habe jetzt hundertzwanzig Seiten geschrieben, die Hälfte des Buches.
Vielliebes Steffgen,
herzlichen Dank für Deinen lieben Brief. Für die interessanten Nachrichten. Du bist meine Morgen- und Abendausgabe. Und ein bißchen traumhaft auch … die Nachtausgabe … Gott, Hugo, ich hab die Empfindung, daß Du Dich bei der Arbeit wie »a Wülder« (Wilder) gebärden tust. Cläre Studer hat mir heimlich Mimosen an meine Tür gehängt, gesagt, das sei stille Verehrung. Sie hat so schöne rötliche Locken und ebensolche Stimme. Schreibt ein Buch »Wenn Frauen erwachen …« Oha, als wenn wir Schlafmützen wären. Na, ist ja alles recht und kann recht sein.
Ich benötige bis zum fünfzehnten noch acht Franken, heut haben wir den zweiten und Seepferd will sich einfach aber nett von Wassersuppen nähren. Obst hat's geschenkt gekriegt. Zum Geburtstag wünsch ich mir aber doch einen Löffel zum Essen, so für vorkommende Fälle. Und wenn Du viel Geld hast, schick mir doch fünf Franken extra, ich möcht Dir so gern etwas schenken, Steffgen. Du mußt mir alles schenken, was ich Dir schenken soll. Macht das viel, Liebling? Ich hab nichts aus mir selber. Nur was mir der liebe Gott gegeben hat. Nimm vorlieb, er hat's gut gemeint. Meine Augen sind ihm doch gut geraten, da hat er viel Blau genommen, vielleicht an den Himmel gedacht. Ich sehe mir manchmal im Spiegel an, wie er's gemacht hat. Großartig sag ich dann, sehr hübsch. Er kann doch was. Überhaupt alles ist ihm geglückt, der Lago Maggiore und die eingeschleierte Insel bei Brissago, also wirklich hübsch.
Oh, mein Steffgen, was zeichnest Du neuerdings für artige Sachen. Darf ich diese neue Tätigkeit auf eine innere Freudigkeit zurückführen, dann ist's das größte Glück.
Vielleicht kann ich auch von den acht Franken Dir etwas schenken. Ich hab grad ausgerechnet, daß das ja zusammen dreizehn Franken ausmacht, acht und fünf Franken. Der Tschokic könnte mir sein Kilo Zucker schicken. Er ist doch in Pension. Er braucht mir nicht das ganze Kilo schicken, wenn er gerne etwas davon abnehmen will zum Nebenbeibrauchen.
Zucker soll so nahrhaft sein. Weißt Du noch, wie wir auf der Steintreppe saßen, Käsebrot aßen und Wein tranken im Maggiatal? Das war ja einfach großartig. Ich dacht, ich werde für vier Wochen nimmer hungrig. Das Leben ist doch manchmal eine Wohltat sondergleichen, da kann mir ein anderer sagen dagegen, was er will. Das Leben kann eine ehrliche Wohltat sein. Dabei wollen wir bleiben. Es ist schon hochanständig, daß Du zu mir gekommen bist. Du warst wohl geschickt, mein Steffgen. Besinne Dich. Hat ein Engel Dir gesagt, geh mal zur Emmy, die freut sich am sehrsten über Dich? Oder hast Du's von Dir aus gewußt? Beides wird mir recht sein, weil es die Wahrheit ist. Glücklich bin ich zu Dir und Deine Emmy. Ich schicke Dir nicht nur Brotkarten, sondern das Brot selbst … Es gibt hienieden Brot genug für alle Menschenkinder.
Zuckererbsen kann ich Dir leider nicht schicken, weil Du sie ja doch nicht aufbraten kannst. Aber Zigaretten, eine Schachtel »Philos grün«, meine Weltanschauung …
Höre, Steffgen, grundehrliches, Du schreibst mir von Deiner Arbeit … Gebet dem Volke, was des Volkes ist … Deine Denkweise, die deutsche Art, spüre ich doch in jedem Wort, wenngleich mir selbstverständlich vieles neu sein muß, wie Du ja begreifen wirst … Du hast mir von Kant erzählt, daß er nicht nur der Gelehrte gewesen sei mit dem Gesicht, das der Welt abgewandt ist. Du sagst, er wäre halb Märtyrer, halb Helfer gewesen und die preußische Knechtung hob er zur Metaphysik? Ja, das Ideal der Demut, der Erniedrigung darf man doch wohl nur auf das heiligste anwenden. Man wird wohl annehmen, daß das jetzige Verwundetwerden und Sterben um Gott geht. Wahr ist's, es ist ja kein Religionskrieg, es geht nicht um Gott, sondern um Geld und Länderstriche, um Macht geht es und ist weltlich. Alle wollen Macht und die reine Luft kümmert sich nicht um Grenzen. Die Macht ist die Braut, darum man tanzet und es ist nicht das weiße Haus, die Kirche. Es ist nicht der Kreuzritterkrieg, jener Feldzug, der Dich als Kind begeisterte, der ist es nicht.
Ich habe einen Reclamband, die »Hexenprozesse«, gelesen. Was waren doch das für unglückselige Märtyrer. Die Hexen, die von Brot und Wecken auf dem Blocksberg träumten, weil sie zu Hause offenbar kein Brot hatten, wurden ihrer verzweifelten Träume wegen verbrannt und hingerichtet. Darum habe ich auch in meinem Gefängnisbuch gesagt: »Gesetzwidrige Träume sind strafbar.« Vielleicht stammen alle verbotenen Träume aus einer großen, nur der tiefen Seele bewußten Unschuld. Oft vergleiche ich unsere Soldaten mit den Ketzern und Hexen. Diese armen Hexen starben nicht für einen Glauben, der sie stärkte. Kein lichtes Ideal erleichterte ihnen den Tod. Die ersten Christen starben mit Wollust, meine ich. Sie wußten ja wofür. Sie konnten ruhig sterben, da die Idee am Leben blieb. Je mehr sie starben, um so intensiver lebte die Idee. Es wird so leicht zur Wahrheit, dafür man stirbt. Darum ist das Sterben nicht ungefährlich, weil auch ein Irrtum zur Wahrheit werden kann. Wider Willen und für eine Torheit, nein für eine Dummheit sterben, das muß das beklagenswerteste Los sein, das es gibt. Wenn die Märtyrer selbst nicht an das glauben, wofür sie sterben, das sind Opfer. Die Opfer der andern, der Grausamen. Nur das freiwillige Opfer hat eine Berechtigung.
Die Freiwilligen sind nicht so erschütternd, aber die Gepreßten, die zum Sterben Gezwungenen. Das ist kaum auszudenken …
»Man muß gar mächtig Achtung haben auf die neue Bewegung der jetzigen Welt.« Ich freue mich, daß Du dieses Motto vom Thomas Münzer wählen willst. Was du schreibst, Hugo, ist ja auch von der Freiheit eines Christenmenschen … Dem Martinus Luther war es auch manchmal unheimlich, wenn er in der Gefangenheit seines Geistes das Tintenfaß an die Wand warf. Wo im Menschen sich Großes erhebt, neue Dinge im Geiste auferstehen, ist's wohl nicht verwunderlich, wenn dem Betroffenen, dem Betreffenden einmal graut. Bist Du zur Einseitigkeit befohlen, wirst Du diktiert sein, streube Dich nicht. Sei es, mein Hugo.
»Wachsen Dir die gelben Haar
Kommen Dir die klugen Jahr …«
So heißt es in einem Mädchenlied … Was die Härlis anbelangt, kann ich nicht klagen, wie Du weißt, ist das Köppi damit reichlich gesegnet. Allabendlich sinkt es auf Deine Schulter, mein Hugo. So denkt und träumt sich's. Ach, wäre es so, wie Du mir im Gedicht einmal gesagt:
»Auf der Stirne glüht ein Herz
Rosenrot, Verwehen …«
Um die letzten Zeilen will auch ich mich bemühen, wie
Du Dich bemühst für mich:
»Alle Deine Schmerzen, Kind,
Kann ich leuchten sehen …«
Wenn nur der Eine vom Andern weiß, so gut man voneinander wissen kann. Du wirst schon durch Dein Buch hindurchkommen. Hugo, Liebster, ich zweifle nicht daran. Ich glaube. Ich glaube, wir werden miteinander über Wellen gehen, immer Deine Emmy.
Liebste, ich bin in Gedanken immer bei Dir und während der Arbeit summe ich Deine Liederchen vor mich hin. Oh, vielen Dank für die Blüten und für das Bändchen, ganz glücklich bin ich …
Wir haben uns vorgenommen, daß Du wenigstens einmal in der Woche Geburtstag haben sollst … Rat mal, was Du bekommst? … Arbeite nicht überstürzt, mein Emmy, sondern schön sachte. Das wird gewiß etwas sehr Schönes. Ich weiß es und fühle es ganz stark, daß von Dir noch viel Schönes und Großes kommen wird. Das muß ganz still ausreifen und mit klugen Gucksen langsam sich herauswagen …
Ernst Bloch ist merkwürdigerweise ganz besessen von mir. Er kam heute früh schon um neun Uhr, ganz aufgeregt: »Ich muß mit Ihnen sprechen …«, sagte er. Ja, also er will über mich schreiben »in ganz großem Stil«. Aus jedem Satz, den er liest, macht er sich ein »System«. Ich habe allen Respekt vor ihm. Er kann singen, fluchen, hexen in einer Tonart, wie ich sie bisher noch nie gehört habe. Einfach großartig!
Weißt Du, ich muß am fünfzehnten einen Teil (die erste Hälfte!) der »Intelligenz« abliefern, schon von wegen der Moneten. Oh, es wäre schön, ein Häuschen zu haben, aber ich möchte abwarten, bis Du, oder ich einen Vertrag perfekt haben. Dann – ja. Will unser Pferdlein so lange noch ausharren? Dann schreibt's dem Steffgen. Ende April wissen wir alles zuverlässig. Gut so? Vielleicht wissen wir noch früher alles zuverlässig. Oh, Emmy, das wird fein.
Ich glaube nicht, daß Delmer [ein englischer Professor, bei dem Hugo eine Stellung als Sekretär hatte] zurückkommt. Es ist jetzt ganz gut, daß er nicht hier ist.
Gestern kam noch ein Ereignis: die befreundete Großmacht, die Hexe von Endor, der Magier aus Thum, unser lieber Bloch telefonierte mir, daß Scheler in Bern ist. Und wir verabredeten und trafen uns zusammen im Café. Stell Dir einen Totenkopf vor mit blauen Sadistenaugen. Dann hast Du Scheler. Einen verwesenden Menschen kannst Du Dir nicht leicht denken. Er erzählte Plattituden und Literaturanekdoten. Man muß aber sein Gesicht sehen dabei, sein Mienenspiel. Haß, Ekel, katholische Schwärmerei, ludendorfscher Sadismus, das alles gibt sich in seinem Gesicht ein Stelldichein. Er kommt aus Wien, hat eine Tochter Metternichs, Bischöfe, Generäle, Blei, Kraus – alles im Gefolge. Ich suchte ihn ein wenig festzulegen. Aber das kannte er wohl schon … Scheler erzählte uns von Berlin, von Rathenau und Erzberger usw. Es gibt vielleicht heute keinen verdorbeneren Menschen als Scheler und das will doch etwas heißen. Bloch sagte ihm die derbsten Despektierlichkeiten ins Gesicht und auch ich hatte mich bald zu einem größeren Relief entschlossen. Scheler lächelt nur: »Was wollen Sie, meine Herren? Relativitäten … Die Kirche wird stehen bleiben, wenn rings alles zusammenpurzelt.« Er nimmt sich das Recht zu verwesen nach seinem Geschmack – in der Kirche. Als Katholik. Und die Kirche hat einen guten Magen. Sie wird noch tausend Schelers vertragen. Das ist sein Postament. Er sagte mir interessante Dinge von Blei und von Borchard, dem es gelungen sein soll, mit einer Ode Ludendorf zu Tränen zu rühren. Das ist ohne Zweifel der erste Schritt aus unserem altpreußischen Generalstab perfekte Jesuiten zu machen.
Ich bin so glücklich mit Deiner Depesche. Pfleg Dich nur gut, damit Du Dich rasch wieder erholst. Und bitte, schreib mir gleich, wenn Du etwas brauchst. Geht es Dir denn wirklich besser? Du mußt es Dir schon gefallen lassen, daß wir Dich zu unserem Sorgenkind machen. Auch Flesch sagte gestern: man muß immer an sie denken und besorgt um sie sein. Er wird sich freuen, daß Du mir Nachricht gegeben hast.
Heute ist hier herrliches Wetter und ich bin doppelt glücklich, daß mein Buch so gut vorwärts geht. Ich schreibe täglich etwa zehn Seiten und es wird »unglaublich« gut. Ich bin fest überzeugt davon. Was ich seit fünf Jahren gedacht habe, wird sich alles in diesem Buch konzentrieren. Es ist mir eine einzige Wollust. Wenn ich erst weiß, daß Du Dich ein wenig wohl fühlst und mit der Einsamkeit arrangiert hast, habe ich keinen Wunsch mehr, als viele Briefe von Dir zu bekommen und immer wieder zu hören, daß Du mich ein wenig lieb hast.
Ich schicke Dir heute ein Reklamebändchen. Don Quichotte. Das mußt Du lesen in ruhigen Stunden. Du wirst viel Freude und Spaß damit erleben.
In Berlin passieren tolle Dinge: dreihundert Diebstähle, Raubanfälle usw. Wir werden die »Göttlichkeit des Krieges« noch zu spüren bekommen.
Ich lebe jetzt so still, wie in der Zelle. Dein Buch, Liebling, liegt mir noch in den Gliedern. Es ist mir ins Blut gegangen. Ich bin ein keineswegs zu verachtendes Publikum, es wird weiterwirken. Ich habe jetzt beim Schreiben mitunter sehr interessante Einfälle, die gar nicht zum Thema gehören, die ich notieren möchte und doch nicht notieren mag, weil ich fürchte, das Thema zu verlieren.
… sagen möchte ich, was Du, Du allein gelitten hast. Die große Wahrheit, wie in Deinem »Gefängnis«: die trostlose Härte des Sadismus. Gewiß: in jedem Menschen schlummert und schläft die Kindheit und es gibt Momente, da sie erwacht. Aber das ist ja so selten. Nur das Genie hat immer das Bewußtsein seiner Kindlichkeit, seiner Kindheit. Das ist ein sehr delikater Titel: »Der Mensch ist gut.« Wir werden das immer fordern und glauben müssen, aber dieser Glaube allein genügt nicht. Hier beginnt es erst. Wir müssen die Gründe aufdecken, weshalb es nicht so zu sein scheint: daß der Mensch gut ist.
Der Mensch ist alles, was man aus ihm macht. Und wir wollen, daß er gut sei und es kommt darauf an, daß alle Menschen guten Willens sind, zu wachen über sich und über alle Menschen. Wachet und betet, sagte Christus, nachdem er in tiefer Versuchung gewesen war … Wir müssen Kinder und Heilige werden. Wenn wir dann auch noch Verstand und Vernunft haben, erreichen wir Dinge, wie sie niemals in der Welt erreicht worden sind. Wir müssen das Gute nehmen, wo wir es finden. Keine Doktrinäre sein, auch nicht in der Menschlichkeit. Der Dadaismus stammt von mir, mein Emmy. Der Mensch ist ein Kind: das stammt von mir und von Dir. Erinnere Dich. Von Dir zuerst. Denn Du hast das Kind in mir wieder geweckt. Das ist Steffgens Evangelium. Das ist Emmys Evangelium. Unser beider Evangelium. Alle werden auf uns schauen, wenn sie erst fühlen, daß wir dieses, unser Geheimnis, wissen.
Verstand und Vernunft sind sträflich und Hochmut, Sünde.
So empfanden schon die Kirchenväter. Intelligenz blufft uns nicht mehr. Intelligenz ist Dilettantismus, Sünde. So empfanden schon die Kirchenväter. Sie ist sogar bösartig, die Intelligenz. Und die einzige Teufelei. So empfinden es die Russen. Wir wollen klug sein und vorsichtig gegen uns selbst.
Heut predigt Steffgen den Seepferden wie der Antonius den Fischen. Mögen die Seepferdchen nicht ungehalten sein und nicht die Köpfe schütteln, sondern zustimmen und in Steffgens Arme kommen. Lebts wohl und seid von ganzem Herzen sehr geliebt und schreibts bald wieder Eurem Steffgen-Hugo.
»… kein Predig' jemalen
Dem Seepferd so g'falen«
Sehr dafür bin ich, daß die Intelligenz ausgerottet wird mit Stumpf und Stil und man sich hütet vom Verstand vollkommenen Gebrauch zu machen, aber Steffgen-Antonius ein bißchen doch? Oder? Das bißchen Grips was der Mensch hat. Wir sind ja doch noch nicht recht hinter den lieben Gott gekommen. Daß wir uns das eingestehen. In diesem Punkt bin ich ärmer wie die Kirchenmaus, die doch immerhin, vielleicht instinktiv, um das goldene Haus schlüpft. (Ich habe von Simon Guttmann ein seltsames Buch geschenkt bekommen, ein Lehrbuch für Priester. In diesem Buch ist angegeben, was mit einem Müsli geschehen soll, das von der heiligen Hostie geknabbert hat, was freilich ein unheimlich rarer Fall sein mag, daß ein solches Tierchen das Brot der Engel erwischt, da dieses doch sorglich verschlossen gehalten wird. Mich hat das so sehr bewegt, daß ich mir vorgestellt habe, ich wäre dieses gotthungrige Mäuslein und mein Gepiepse mein klein Gebet.) Habe ich nicht Vernunft, Hugo? Unter Vernunft verstehe ich die Seele, die Helle in ihrem dunkelen Trieb. René Schickele hat einmal vom Tierhimmel gesprochen, hat dem Seepferd arg gut gefallen, daß ein Mensch mir die Aussicht macht, hineinzukommen. Denk an die frommen Rehe in Wolfratshausen bei München. Da haben wir einmal mit dem Auto abends ein Rehlereh überfahren. Da war ich so traurig, daß ich am Abend nicht singen mochte, bis mir dann geträumt hat, das Reh sei im Himmel und äuge und grase dort auf Schlaffluren.
Steffgen, darf ich denn so durcheinander schreiben? Da Du bei Deiner Intelligenz-Kritik bist, komme ich mit Müslis und Rehen daher. Ich dachte, das Reh hätte das Scheinwerferlicht vom Auto für einen Stern angesehen und sei hineingehuscht. Wer weiß, was unser Licht in Wirklichkeit ist, jenes Licht, in das wir hineinstürzen. Wir tun, wie wir müssen. Wir können nicht anders. Wir sind unbedingt. Wir wollen guten Willens sein, wie der Engel der Verkündigung uns empfohlen hat.
Der Himmel ist hoch und ich will sinken, mich an die Erde halten. Ich war etwas besorgt, wenn ich's gestehen darf, daß Du den Bakunin liegen gelassen und Dich an die verheerende »Intelligenz« gemacht hattest. Ich bin ja eine Frau und hab ein wenig Angst vor Deiner Bilderstürmerei und daß Du so gar wuchtig die gewohnten Helden stürzest. Wir brauchen aber neue, vergiß nicht. Wir können nicht leben ohne zu verehren. Du bist wie ein Bastillensturm, Hugo. Es können ja neue Bastillen kommen nach Dir. Was aber mag es sein, daß Dich stürmen läßt? Du sagst, Du seist mein Publikum und, nicht zu unterschätzen vielleicht: auch ich bin das Deine, Dein Publikum, das sorglich mit Dir umgehen möchte.
Ich dürfte wohl nicht allzuviel von meiner Furcht sagen. Du gehst ja noch schwanger. Du wirst schon keine Fehlgeburt erleiden, mein grundehrliches Steffgen und hier wünsche ich Dir einen kräftigen Sohn, der nicht aller Welt gefallen braucht. Mit der Zeit, nur mit der Zeit, Hugo. Ich denke aber doch an die Nesselfelder, in die Du hineingeworfen wirst. Du wirfst Dich in die Nesseln. Das weißt Du ja auch, daß Du das tust.
Man muß den Brand dann auf sich nehmen. Na, das wird auch vorübergehen und ich will nicht schwarz, sondern weiß sehn, aber wenn's geht, Liebling, sei ein bißchen vorsichtig, daß Du Dich nicht unglücklich machst.
Der Engel muß schon große Flügel haben, um sie über Dich zu breiten. Grüß Gott für alles. Grüß Dich Gott, immer Deine Emmy.
Emmylein, ich habe keine Nachricht von Dir, seit zwei Tagen keine Nachricht. Wie geht's denn, mein Liebling? Geht's nicht gut? Reiß hat depeschiert wegen der Annahme. Hier die Depesche. Freust Dich, mein Herzlein? Ich wollte Dir's (vorher) nicht sagen, weil es ja noch nicht ganz bestimmt ist.
Jetzt aber sollst Du es wissen, vielleicht fehlt unserm so geliebten Putzen nur a Freud, und die können wir ihm ja wohl machen damit.
Oh, mein Bestes, Putzi, Steffgen hat Dir telegraphisch Geld geschickt einstweilen, damit Ihr nicht frieren müßt und Sorgen haben … Mußt wissen, Liebling, daß diese Depesche keine »Antwortdepesche« ist. Ich hatte nicht angefragt, sondern die Depesche ist gekommen, weil er sich gar so sehr interessiert und das Büchlein halt gerne haben will.
Oh, oh, mein arg gutes Putzlein, wie haben wir uns gefreut, als die Depesche kam. Kaum aushalten konnten wir's, sie gleich zu schicken. Und es hat viel Überwindung gekostet.
Schreckliche Kälte ist hier seit ein paar Tagen. Bin kraß verschnupft. Es ist Winter, Schnee und Regen.
Ich arbeite jetzt am dritten Kapitel und es geht gut. Ich habe mir eine eigene Methode zurechtgelegt, die schwankt zwischen Ausruhen und keine Zeit verlieren und danach lebe ich.
Ach, wenn Du mir nur nicht krank wirst, mein Putzlein. Dann ist alles gut. Ich habe Unruhe darum. Steffgen macht ja auch einmal den Nestquark, aber dann ist's nur so zum Besinnen. Und ich bin verwundert, daß ich nie krank gewesen bin. Das ist, wie wenn man nur halb gelebt hat. Ich bin eifersüchtig und neugierig, auch einmal krank zu sein.
Dafür aber habe ich entdeckt, daß ich neben der Latrine wohne und wenn ich bei offenem Fenster arbeite, habe ich alle Gelegenheit, heroisch zu sein.
Tschokic, unser Freund, liest seit zwei Tagen »Der Mensch in der Mitte« und ist nicht davon wegzukriegen. [Mensch in der Mitte von Ludwig Rubiner.] Heute will Frau Rubiner das Buch wieder haben. Ich bekam es von Schickele, aber es ist das einzigste Exemplar.
Emmy-Herzi, ist es nicht besser, Du kommst wieder hierher? Ich mache mir Vorwürfe, daß ich Dich so allein lasse. Willst Du kommen, Liebling? Sag es mir, sag's nur frank und frei.
Mein lieber Hugo,
ach Du, Liebster, wünschst mir telegrafisch Glück, das ist so süß und rührend und so wundervoll, daß ich's gar nicht sagen kann und meine Worte sind nur der matteste Abglanz meiner Empfindung und das Wort »Dank« ist zu schwach … Denn, Liebling, es ist doch so, und keine Übertreibung, wenn ich sage, daß doch das Buch fertig wurde durch Dich und wenn ein Buch nicht »fertig« wird, ist's ja gar kein Buch … Also verdanke ich Dir alles und es wäre mehr angebracht, wenn ich Dir Glück wünsche zu Deiner Energie, die Du auch auf mich überträgst … Du mußt sehr viel Energie haben, sonst könntest Du Dich nicht auch noch neben Deiner eigenen wichtigen Arbeit so viel um mich kümmern, an allem teilnehmen. So liegt die Sache und so ist's wahr … Um Dir das zu vergelten, muß schon eine höhere Macht mir behilflich sein, denn aus mir kann ich nichts, gar nichts …
Mir ist, als wäre die Frau ohne den Mann überhaupt kein rechter Mensch. Diesen Satz will ich nicht verallgemeinern, denn ich weiß es nicht, ob das stimmt. Ich halte es aber für möglich, daß Frauen, die nie einen Mann gekannt haben, um ganze Menschen zu werden gleichwohl vom Männlichen befruchtet sind, vielleicht vom lieben Gott selbst. Es haben auch Nonnen geglaubt, ein Jesuskind geboren zu haben und vielleicht brauchten sie diesen Glauben, um schreiben, gestalten zu können und irgendwie haben diese Frauen dann auch recht, meine ich. Manchmal denke ich, daß nur die Imagination wirklich ist, wirklich.
Das, was weiter wirkt …
Gestern war ich auf dem Monte Bré, wo Klabund wohnt. Er hat das Wunderschönste an Frau, das Du Dir nur denken kannst.
Schwedisch blond ist ihr Haar. Sie lag in einem Liegestuhl im Garten unter dem zunehmenden Mond. Ach, es war so hübsch und das Licht fiel auf ihr Haar. Sie sieht wie ein Märchen aus und so rührend ist sie, weil sie krank und schön ist, wie er, ihr Mann, der Dichter. Ihre Stimme ist gebrochen. Denk, sie hat Kehlkopfschwindsucht und das ist ergreifend zu ihrer jungen Erscheinung. Sie ist so jung. Klabund und Unger lassen Dich grüßen. Ach, es ist etwas Trauriges um lungenkranke Menschen, die sich hier zusammengeschlossen haben, jung sind und vielleicht bald sterben müssen und wenn ich vergessen lache und plaudere, sehe ich immer einen Lebenshunger in den Augen der andern und das macht mich dann traurig.
Unger sprach mit mir über Robert Jentzsch, und über Jakob van Hoddis und über Simon Guttmann. Das waren die frühen Dichter aus Berlin und Prag, die glaubten, ein neues Pathos entdeckt zu haben, darum sie sich Neopathetiker nannten. Georg Heym und Kurt Hiller und noch manche andere gehörten dazu. Jeder war auf seine Weise ein Hölderlin und warum mußten so manche von ihnen jung sterben? War das das neue Pathos, sterben gehn? Vielleicht, ich weiß es nicht.
Jentzsch studierte Mathematik und seine Doktorarbeit, über die er hinwegstarb – er fiel im Krieg – ist in Frankreich erschienen. Der kleine Hoddis wollte General werden und pflegt jetzt die Blumen in einem Irrenhausgarten. Robert Jentzsch dagegen sagte mir, er möchte Gärtner werden und ist wohl als Gefreiter des Todes gestorben. Und was wollen wir werden, Hugo und was wird aus uns? … Wenn wir einmal nicht das verwirklicht haben, was uns jetzt vorschwebt, die Wahrheit leben und bekennen, Hugo, was dann? Nun, die Sonne wird weiter ihren Kreislauf nehmen … Der Besuch auf Monte Bré, Villa Neugeboren heißt das Haus auch noch, in dem so viele Kranke wohnen, hat mich sehr beschäftigt …
Heut war der blaue See so schön und die Schneeberge. Über Magadino lag der Schnee. Sehen ist schön. Ich möchte nur sehen und sehen lernen mit Dir.
Als ich heut früh Dein Telegramm erhielt mit dem Glückwunsch, da dachte ich nur an Dich, nicht an ein Buch. Daß es Dich so freut. Was wäre alles, wenn es Dich nicht freut. Das Glück des andern ist's, das glücklich macht. Sehr glücklich bin ich zu Dir, weil Du mich glücklich machst. Deine Emmy.
Vielgeliebtes Steffgen, ich bin ganz bestürzt vor Erstaunen. Oh, eine so Riesen-Geldsendung! Vierzig Franken! Grundgütiger Gott! Ich hab beide Scheine gleich bei Frau di Nicola in Fünf- und Zweifrankenscheine umgewechselt. Frau di Nicola ist Gemischtwarengeschäft. Ich wollte auch gerne ein paar Einfrankenstücke, aber da sagt die Dumme: »Das macht Ihre Tasche so schwer.« Weltfremden Leuten kannst Du nichts begreiflich machen und je mehr man spricht, desto weniger kapieren sie. Nun, mit den Zweifrankenstücken war ich dann auch zufrieden. Hugo, so viel Geld. Ich fühl mich ganz schwach vor Vergnügen. Sehr sparsam werde ich sein. Wenn man so viel Geld hat, gibt man es nicht aus und wenn man kein's hat, möchte man es ausgeben, weil man's nötig hätte. Das Geld verhext den Menschen, das ist mir klar. Beim Schlächter hab ich ein Zweifrankenstück auf den Marmortisch geworfen, als wenn's nicht's wär. So, als wenn ichs von Jugend auf gewohnt wär. Ganz gleichgültig, aber doch so, daß es klirrt. Mit Geld in den Jackentaschen klimpernd nach Brissago zu gehn, und dabei immer die Isola Bella vor sich zu haben, das ist zu schön. Es ist doch eine angenehme Macht, das Geld. Wenn's nur nicht so schwer wäre, die Macht zu erwerben. Man ist Heldin und kann's nicht bleiben, eine verflitschte Angelegenheit. Ich glaube, ich bin doch eine Materialistin. Viel Geld, also so viel, daß ich's nicht an einem Tag zählen kann, möchte ich nicht haben. Ich hab's auf der Bank liegen gehabt. Auf der Bank, die nicht lang, auf der grünen Ofenbank … Für Herrn P… hab ich an einem Tag dreißig Seiten abgeschrieben. Hab was geschrieben vom Cento- und vom Mezzo-Virilen. Was das ist, weiß ich nicht, aber Herr P. hat gesagt, ich hätt so treffliche Bemerkungen dazu gemacht, am nächsten Tag hat er's gesagt, als ich mir das Geld abholte. Und ob ich ihm nicht einmal ausführlicher sagen möchte, was ich über den Cento-Virilen gesagt. Als wenn ich das noch wüßte. Das hab ich doch gleich vergessen. Soll ich mir auch noch merken, was ich gesagt hab für … oha, jetzt hätt ich bald verraten, wieviel Geld ich bekommen habe, aber das darf nicht existieren. Ich will jetzt für die Ausstattung sparen. Will mal probieren, wie mir das von Hand geht. Was Du mir von Kant geschrieben hast, ist ja großartig. Er verflüchtigte Gott zur Idee? Ja, ist das auch wirklich wahr? Und alle Atheisten konnten sich auf ihn berufen? Ich glaube nicht an Atheisten. Heute auf keinen Fall, mit solchem Geld in der Tasche. Kannst Du nicht das Geld auch zu Gott machen und es zur Idee verflüchtigen … Aber höre, ich muß es beisammen halten: wir können eine Sennhütte auf steiler Bergeshöh für fünfzig Franken im Jahr bekommen. Da lohnt sich's doch, so hoch zu steigen. Wäre das nicht eine Idee? Vielleicht gehn wir dann im Winter gar nicht herunter. »Auf die Berge will ich steigen …« Oh, das wäre köstlich.
Aber noch eins, das muß ich Dir doch sagen: Du fragst nach meinen Arbeiten und schimpfst mich Pazifistin und Defaitistin und wie die Stinnerei sonst noch heißt. Glaubst Du, ich lasse noch lange so mit mir herumzubsen? Das Pferdchen weint und wird mit den Hüfgens schlagen. Hast Du das verstanden? Du kannst ja, was ich Dir schreibe, in den Papierkorb werfen, wenn es Dir nicht paßt. So, da hast Du's mal … Alles, was recht ist, Deine Zeichnungen sind allerliebst und dafür umarme ich Dich, aber für den Pazifismus gebe ich Dir eine kleine Kopfnuß. Schick mir Deine Kleider zum Ausbessern, und ich werd's ganz fein machen. Vielleicht gefällt Dir das besser. Ich komm bald, nach dem Rechten und Linken schaun … Hier wohnt ein Mann übrigens, der heißt Vierkant, anders tut er's nicht. Der sieht aber nicht einmal das allerkleinste bidsli wie ein Kant aus. Ich muß immer lachen, wenn ich ihn sehe, weil ich an Dein Kantkapitel denken muß und dann lacht der Vierkant auch und weiß nicht, warum. Das ist sehr drollig. Es ist noch ein junger Bursch, hinkt etwas, aber kommt doch nett vorwärts und er glaubt vielleicht, ich lache, weil er mir so gut gefällt und grüßt mich immer, obwohl ich ihn sonst gar nicht kenne. Rein zufällig hab ich gehört, daß er hier zur Erholung eine Zeitlang wohnt und eben Vierkant heißt. Jetzt aber Addio für heut und vielen Dank für das Kant-Aufsatz-Geld, mein lieber guter Hugo. Immanuel hat er auch noch geheißen, das heißt Friedefürst.
Oha, jetzt hab ich wohl wieder mal etwas Pazifistisches gesagt. Nichts für ungut, verehrter Meister. Euer Famulus, der Euch die ehrerbietigste Verneigung macht, weiß es halt nicht besser. Grütsi wohl.
Bern
Mein lieb Emmy-Kindlein,
hab' vielen Dank für Deine beiden letzten Briefe. Die haben dem Steffgen viel Mut gegeben … Wir haben Euch etwas Gutes zu berichten, was einem Emmy-Herzlein viel Freude machen wird. Das könnt Ihr nicht raten, Geputz. Wir möchten lieber noch warten. Jawohl, das möchten wir. Denn man soll nichts sagen, was man nicht akkurat und genau und bestimmt weiß. »Nein!« hat er gesagt.
Gestern hab ich Dir nicht geschrieben, mein Rops, weil wir alle Hände voll zu tun hatten. Morgen bekomme ich wohl Geld, dann schick ich Dir sofort.
Ah, dieses Buch! Auch Dir macht's Kopfzerbrechen? Brauchst keine Angst haben – was Steffgen mal in die Finger kriegt, läßt er nimmer aus. Ich bin Euer schweres Geschütz, Herrschaften! Euer Oberfeuerwerker! Ich habe die Artillerie, die Euch Platz schafft.
Seltsam, als Du an der Übersetzung arbeitetest, schrieb ich die Sätze: »Rousseau hat Frankreich revoltiert. Rousseau hat Rußland revoltiert. Rousseau wird auch Deutschland revoltieren. Der Mensch ist keine Maschine: – Rückkehr zur Natur. Der Mensch ist kein Teufel: – Rückkehr zum Christentum … Der Mensch ist kein Höhlenbewohner: – Rückkehr zur Heimat.« Ich werde Dir etwas schicken aus der fertigen Arbeit. Zwei kleine Abschnitte, die auch in der freien Zeitung erschienen sind. Verstehst, es muß auch »gelehrt« sein. In Deutschland nützt es nichts zu gestikulieren, wie Rubiner es tut in »Mensch in der Mitte«. Man muß den Deutschen Argumente bringen, Rektoren, Schulräte, Universitätsprofessoren und Journalisten. Man muß ihnen nur die Stühle ihrer falschen Ideen unterm Gesäß wegnehmen, damit sie durch einen heftigen Plumps zur Besinnung kommen. Bevor das nicht geschehen ist, ist alles umsonst. Ich schreibe ja eine Kritik. Ich bemühe mich überall, das Prinzip zu treffen, das sie zusammenhält. Dann werde ich einen Aufruf zur Freiheit schreiben. Ganz subjektiv, ganz persönlich, ganz ohne jegliches Wissen und Wissenschaft. Das will ich aufbauen wie einen Berg aus Feuer und Stahl. Ich fühlte mich nie so gesund wie jetzt …
Rein und groß müssen wir in der Geschichte stehen … Ein Buch, das anonym ist, hat keinen wirklichen Erfolg. Es muß angreifen, Namen nennen.
Wenn ich Voltaire und Rousseau studiere, die die französische Revolution gemacht haben, finde ich, daß ihr ungeheurer Erfolg gerade daher kam, daß sie Namen nannten, daß sie Polemik trieben und ihre Gegner mit einem überlegenen Prinzip niederkämpften. Die Angegriffenen durch ihre Wut und Niedertracht machen die Propaganda für die Revolution. Unsere Freunde sind ja zimperlich und doktrinär. Sie wagen nicht zu frondieren. Darin steckt's aber grade. Man muß dem Volke zeigen, woher das Unglück kommt.
Du schriebst mir gerade über Leonhard Frank, als ich Dir über Rousseau schrieb. Gegen die Konvention hat Rousseau geschrieben und das ganze Gebäude fiel zusammen.
Die Deutschen sind keine Franzosen. Gegen die Wissenschaft muß man schreiben und gegen die Universitäten. Ich schäume vor Energie. Oh, mein Liebling, ich glaube, ich habe meinen Weg gefunden und nichts in der Welt kann mich davon abbringen, bis ans Ende zu gehn. Laß mich schwärmen, Emmy, es tut gut und ist meine Erholung … So gern möchte ich Dir schreiben, Du sollst ein Häuschen mieten, aber ich bin noch ängstlich des Geldes wegen. Zum See geht ein Feldweg, sagst Du. Ach … Daß Du den Aufenthalt Annemariens geordnet hast – braves Putzi. Und sparsam ist's auch, sehr braves Putzi … Meine kleinen Zeichnungen gefallen Euch? Wollt Ihr mehr davon? Bestellt mal, was Ihr wollt. Wir sind immer voller Figur … Dank auch schön für die kleinen roten Blätterchen. Die Blümchen blühen noch immer im Wasserglas, und für das Seidenbändchen dank ich Euch. C… ist aus Tessin zurückgekommen. »Regenwetter, Regenwetter«, sagt er. Ach, mein Armes. Hast Du denn das Jäckchen bekommen? E… sagte, Dostojewski sei ein »panslawistischer Kriegshetzer«. Da tun wir nicht mit. Das empört uns.
Emmylein, sehr sehnt sich Steffgen nach Dir. Ist kribbelig und zappelig, von einer Patte auf die andere. Du sollst Honorar bekommen für Deine Übersetzung. Mach Dir nur keine Sorge des Geldes wegen. Wenn Du nur wenige Tage auskommst, dann schick ich Dir. Ich will rasch den Brief aufgeben, damit er Dir morgen zugestellt wird. Deinen Brief bekam ich erst heute, Samstag mittag. Einstweilen für heut viel 100 000 000 Grüße Dein Hugo.
(in Ascona)
»… ich arbeite jetzt auch nur, weil man auf mich wartet … Und das ist für meine Arbeit schlimm genug … Am liebsten möchte ich alles liegen lassen und wegfahren zu Dir.
Du, Liebling, bist Emmy Hennings. Du brauchst nur da zu sein. Du brauchst nicht zu schreiben. Du bist der zärtliche, kleine Zirkusmeister. Wir andern – sind alle in Deiner Manege. Das darfst Du nie vergessen. Jedes Wort, das Du schreibst, ist ein Geschenk. Wann hast Du Geburtstag? Am siebzehnten Januar? Danke schön … So ist es, mein Liebling.
Aber nun laß mal das Bärli schreien. Und heute hättest Du fast einen Fuchsen dazu bekommen, ritze-ratze-rotbraun. Haben ihn besichtigt zwecks Ankauf, Tschokic und ich, aber er wurde nicht für würdig befunden, dieweil er nämlich ein wenig plump auf den Pattens war, wenn auch ansonsten artig anzuschaun. Da haben wir uns gedacht, wir wollen mal lieber warten, bis wir was Anstelligeres finden. Flesch hat auch einen Brief bekommen, sagt er. Ganz glücklich war er über die »Vorwürfe«, die der Brief enthält. Hat sich mächtig gefreut … Liebling, Du sollst nicht barhäuptig gehn, sonst erkältest Du das heiße Köppi, das wir vielleicht wieder einmal stutzen lassen. Was meint Ihr dazu? Und iß nur. Irgendwoher wird schon wieder Geld kommen.
Glaubst Du wirklich, Liebste, ich habe Dich nicht mehr lieb, wenn Du nicht schreibst? Bin ich denn eine Hexe? Das ist ja ganz schlimm … Du hast doch so ein adrettes Büchlein geschrieben. Das konntest Du nicht nur so aus den Ärmeln schütteln. Sieh mal, ich hab seit Jahr und Tag keinen Vers mehr zustande gebracht. Ich weiß, einmal wird das wieder kommen. Was ich aber jetzt mache, das ist doch ganz verschieden von Dir, von dem, was Du machst und doch …
Krokusblüten und Pfirsichblüten gibt es und Orangen und Goldfrüchte an den Bäumen …
Emmy, wenn so ein Widerstand kommt, immer nachforschen, woher er kommt und ob es kein Vorurteil ist.
… Hast Du gelesen, Emmy, Jeanne d'Arc ist heilig gesprochen. Das nenne ich Karriere … Peguy hat, wie er gesagt, sein Leben lang nichts anderes geschrieben, als über Jeanne d'Arc. Ihr widmete er alle seine Bücher. Er machte sich ganz zu ihrem Apostel und er und Suarés haben gewiß viel dazu beigetragen, daß man Johanna heilig sprach. Dichter und Denker! Aber das ist wohl nur in Frankreich möglich. Es gibt keinen einzigen deutschen Heiligen. Ist Dir das aufgefallen? Wir sollten uns ernstlich daran begeben, eine Heiligengeschichte zu erwirken. Gerade, weil wir selbst keine Heiligen sind und es nicht sein können. Mich beschäftigt so sehr, daß man Jeanne d'Arc heilig sprach. Ich möchte wissen, was dazu beigetragen hat. Wie man das durchsetzt. Irgendwie und irgendwo wird Geschichte gemacht und wir wissen nichts davon. Scheler war hier. Er arbeitet mit Jesuiten, brachte uns zu Bernstein. Was für eine furchtbare Macht die Kirche ist! Oh, Emmy! Aber wo, wann und wie?! Nichts weiß man davon. Das Leben ist eine Kette von Mysterien. Mystik ist es. Man muß sich bemühen soweit vorzudringen, daß man Einblick hat in alle Dinge, die je von Menschen gemacht worden sind, sonst kann man weder etwas machen, was uns alle bewegt, noch hat man je existiert! Der Weg?! Emmy, das beschäftigt mich.
Schick mir Deine Arbeiten. Ich kann auch an »Wissen und Leben« etwas von Dir geben. Ich habe noch keinen Durchschlag von meinem Manuskript, sonst hätte ich Dir schon geschickt. Ich schicke Dir Teile. Nächstens schickt Steffgen wieder »Gezeichnetes«. Gefällt's Euch? Das freut uns arg. Und wo bleibt das geschnitzelte Häusel? Leb wohl, mein Goldherz, immer Dein Hugo.
Liebste, hier schicke ich Dir mein letztes Exemplar vom »Totentanz«. Beim Suchen in meinem Koffer fand ich, daß ich eine entzückende kleine Emmy-Sammlung von Gedichten und Bildern hab …
Ach, Liebling, wie bist Du sparsam gewesen! … sag, habt Ihr denn noch einen Wunsch, außer dem Geburtstagslöffel, den Ihr Euch wünscht und mit dem Ihr essen wollt? Wir feiern heute das einjährige Stiftungsfest der Freien Zeitung.
Noch eine Sensation: Steffgen hat eine neue elektrische Birne bekommen. Die brennt wie das Licht am jüngsten Tag, so hell. Da sieht man jeden Kritzelstrich. Vorher war Finsternis. Ja, die innere Freude, mein Liebling. Steffgen wird freier mit jedem Tag.
Du, hat der Teddybär noch den Zettel am Ohr? Das sah g'spaßig aus. Steffgen bringt Dir eine neue Spieldose mit, oder ein Xylophon, wenn er kommt. Mögt Ihr vielleicht ein Xylophon? Da gibt's ein Hämmerchen und damit spielt man dann Xylophon. Läßt sich trefflich an, wenn man's meistern tut. Und unser ganzer geliebter Putz soll in ein Heinzelmännchen verwandelt werden mit entsprechender Miniatur-Putzeneinrichtung. Das haben wir uns vorgesetzt, wenn der Vertrag kommt. Dazu gehört: ein Stempelkissen und ein Seepferdchenpetschaft. Dazu gehört: Eine Lupe, feinst geschliffen zur Naturerforschung. Dazu gehört: ein Eselingespann für's Kutschieren und ein roter Buschen fürs Köppi. Was sagt Ihr dazu?
Sind die Leibkrämpfe vorübergegangen? Herzli. Und geht's gut? Schickt uns doch ja immer das letzte Bulletin. Drauf sind wir sehr erpicht.
Pfürt Gott, mein Bäuerlein. Gehabts Euch wohl, immer Euer Steffgen
Emmylein, morgen ist Pfingsten. Ich hatte ganz darauf vergessen. Ei, was wird das für eine Überraschung werden, von der Du schreibst? Oh, Emmylein, wie sollte ich leben können ohne Deine Liebe? Meine Arbeit geht jetzt wieder so gut voran …
Ach, Steffgen, ich hab Dir Blumen geschickt und Dir drei Paar Strümpfe geschickt, geflickt. Hast Du das bekommen? Und meinen Gruß, daß ich vergnügt bin?
Die heilen Strümpfe und die Blumen stimmen schon. Daß ich vergnügt bin, stimmt nicht mehr. Ich wollte es Dir erst nicht sagen, was ich Dir zu sagen habe, weil ich mich etwas geschämt hab, es Dir gleich zu sagen. Ich hab mir gesagt, ich könnte es Dir später sagen, aber ich hätte es Dir früher sagen sollen, was ich Dir zu sagen hab. Ich kann es Dir nicht später sagen. Es ist eine wahre Sage, was ich Dir sagen muß … Nein, ich sag's noch nicht, oder soll ich's sagen? Bist Du der Herr über meinen Mund oder bin ich's? Ich weiß nicht …
Aber nebenbei gesagt, wenn Du mir nicht schreiben willst, dann schreibe wenigstens, daß Du mir nicht schreiben willst, denn dann schreibe auch ich Dir, daß ich Dir nicht mehr schreiben will. Aber wissen muß ich's doch, und wissen mußt auch Du es. Also richte Dich danach. Heut aber muß ich Dir aber doch sagen, damit Du für morgen Bescheid weißt. Ich hab mich nicht getraut, Dir gleich zu sagen, daß ich mich nach Dir sehne. Wäre ich nur nicht bei Dir gewesen, aber es war so schön und das Bild, das ich von Dir und Annemie gemacht, ist so schön geworden … Und die reißende Aare, der Rauscherausche Strom. Ich hab die Aare noch nie so lieb gehabt. Grüß Bern. Wir haben einmal gesagt, Zürich sei unsere Schicksalsstadt. Das ist wahr. Aber Bern ist es auch. Aber höre, Geliebter, ich kann mich gleichwohl nicht bei der Kulisse aufhalten … Ich verlange nach Dir zurück, auch wenn wir nicht den schönen Hintergrund haben, den Wald … und den Fluß und die schönen, alten ehrlichen Kolonnaden. Hugo, wenn Du mir nur nicht böse bist, oder etwas ungehalten, daß ich mich jetzt schon sehne und Dir vielleicht sagst: wenn sie sich jetzt schon sehnt, wie soll's dann werden? Denn das hört gar nicht auf, es ist schlimmer wie Zahnweh in allen Zähnen, glaub ich. Schreibe mir täglich, wenn auch nur wenig. Ich weiß, daß Du viel zu tun hast und Bücherschreiben und sich ungewöhnlich lieb haben, das geht nicht recht zusammen … Du hast mir gesagt, ich solle Brom nehmen, wenn ich nervös sei und ich habe Lust, Dir den Packen Brom zurückzuschicken. Das Brom regt mich nur auf. Ich reagiere auf Beruhigungsmittel anders wie andere Menschen. Höre nicht auf das, was ich Dir sage und vergiß es wieder. Laß mich nur ja nicht kommen, depeschiere nicht, ich komme dann nicht. Du wirst sehn, daß ich nicht komme.
Ich schicke Dir höchstens eine Übersetzung aus der dänischen Zeitung, expreß. Ich sollte überhaupt einiges in einer Sprache schreiben, die Du nicht verstehst. Das schwebt mir auch der Allgemeinheit gegenüber vor. Hülsenbeck, unser Hülsenbeck-Dada war gut beraten, als er mit Klingeln an den Füßen und Kastagnetten am Kopf sich verständlich machte.
Hebt und senkt, hebt und senkt
Bis der Schwan am Galgen hängt.
Dideldum-dideldum
Saust der Ochs im Kreis herum …
(Hülsenbeck-Dada)
Wie bekommt Dir das zwischen Hegel, Fichte, Heine, Kant, Lessing, und dem großen Alcibiades Ferdinand Lassalle?
»Wir fürchten nicht den Tod
Nicht die Gefahren all
Der Bahn, der kühnen folgen wir
Die uns geführt Lassalle
Ferdinand …«
Das Lied hat mir die Fischfrau Ulmer schon als Kind beigebracht und am ersten Mai habe ich immer mitgesungen, was ich nicht verstand. Es heißt im Lied:
Der Erde Glück, der Sonne Pracht
Des Geistes Licht, des Wissens Macht,
Dem ganzen Volke sei's gegeben
Das ist das Ziel, das wir erstreben …
Ja, so sangen sie einst im Mai. Jetzt habe ich ein Lied gehört. Nur eins hab ich behalten, einen Reim:
»Auch Orden wird es schließlich geben,
Das ist das Ziel, das wir erstreben …«
So läßt jemand die Sozialdemokratie singen. Die Emmy für ihr Teil sagt: »Ich kenne keine Parteien mehr. Ich kenne nur noch Deutsche.« Ich kann mir das zu sagen leisten.
Gelt ja? Du bist mir böse, daß ich es mir geleistet habe zu Dir zu kommen, es war ja Pfingsten, das Fest des heiligen Geistes. Er möge Dich zum Ritter ausersehn. Ach, Hugo, das Leben ist schön, wie ein Jubilate … Ein einzigartig Jubilate wird unser Leben sein, auch wenn wir es manchmal leise sagen. Es ist eine Sage, die wir leben. Ich hab Dich so lieb und werde daran vergehen …
Das nächste Mal schreibe ich Dir vernünftiger … »Die Vernunft ist weiblicher Natur, sie kann nur geben, was sie empfangen hat.« Von wem stammt der Satz? Nicht von mir. Rate bis zum nächsten Brief …
(Auf einige Schuldfragenaufsätze)
»… wenn doch die ganze Politik der Teufel holen wollte, dann wollte ich froh sein … Ich halte diese ewige Schuldfrage kaum mehr aus … Was nutzt das nachträglich so neugierig zu sein, wer Schuld oder Unschuld hat … Wenn wir endlich einmal wieder harmlos leben könnten … Übrigens Steffgen, nimm mir den Einwand nicht allzu übel, aber warum sollen ausgerechnet wir Deutsche alle Schuld auf uns nehmen? Das könnte doch auch für die Franzosen, Engländer usw. etwas anspruchsvoll aussehen, wenn wir die Sintflut alleine angezettelt haben wollten … Wenn die ganze Welt in aller Stille und ohne Geschrei ein kleines Schuldbekenntnis ablegt, wäre das nicht unsympathisch. Die Gemeinschaft der Heiligen …
Wir sind doch alle Mörder wider Willen und treten auch Ameisen tot … Ach, gib doch einmal ausnahmsweise meinetwegen den Sternen die Schuld, damit man sich erholt, Hugo … Ja, glaubst Du denn im Ernst, daß die Menschen von sich aus ein solches Blutbad anrichten können …? Wo bleibt da die Willensunfreiheit, die immer nur bedingte Freiheit? … Und die Vorsehung, Du weißt doch, Hugo … Der liebe Gott ist doch gut und der Mensch auch. Und in wieviel Not hat nicht der gnädige Gott über uns Flügel gebreitet?
Hugo, liebster Hugo, ich kann ja kaum weiter. Ich ertrage den Haß nicht länger. Wenn es noch lange so fortgeht, will ich sterben. Es muß ja nicht die Liebe sein, die in der Welt wohl nirgends ist, wie es zur Zeit scheint, aber die Luft erfüllt von Haß. Nicht verpflichtet habe ich mich daran teilzunehmen. Vergiß doch nicht oder wolle Dich besinnen, daß auch Du aus dem Land voll Lieb und Leben stammst, wir beide Hugo, Deine Emmy.
… was die andern in ihren Ländern tun, ob sie gut oder böse sind, geht uns zunächst sehr wenig an. Das ist ihre Sache. Wir sind in tausend Dingen der Freiheit so sehr hinter ihnen zurück und wir haben diesen Krieg begonnen. Daß wir zuerst das Signal geben müssen und nur wir.
Die Italiener und Franzosen werden dann nicht zurückbleiben … Wir sind nicht allesamt Mörder, Emmy. Zunächst sind es diejenigen, die uns gezwungen haben, es zu sein und uns mitschuldig machten. Die Politik ist einfach die Übersicht über die raffinierten Methoden, deren sich heute die deutsche Regierung bedient. Zu diesen Methoden gehört die »allgemeine Menschlichkeit«, die sie nicht nur nicht verfolgt, sondern sogar gerne sieht, besonders im Ausland. Man nennt das Defaitismus oder: den andern zu Bewußtsein bringen, daß der Krieg aufhören muß. Den andern, darin liegt es.
Und so siehst Du, daß unsere Regierung so verrucht ist, daß durch ihre Maßnahmen sogar die reinste und lauterste Menschlichkeit ausgenutzt wird. Überlege Dir das einmal und Du wirst nicht mehr sagen, daß alles Böse ein »Irrtum« ist. Dein »Gefängnis« ist aggressiv, da gibt es keine Mißverständnisse. Das ist nicht »Gütepartei« … Du solltest die freie Zeitung etwas mehr lesen. Wir leben ja nicht in freien Zuständen, sondern in der Hölle, mein Kind. Und wir müssen den Teufel verstehen lernen und uns nicht genieren, ihm auch in seiner eigenen Hölle zu sagen, daß er nichts anderes ist als der Teufel und sagen, warum er es ist. Wenn wir sagen, wir sind schuldig alle, dann hat er ja recht. Wir sind aber unschuldig, so sage ich. Der Mensch ist gut! Aber: Man hat ihn verdorben. Und wer? Alle, die es direkt taten und alle, die nichts dagegen taten. Gerade in der Hölle müssen wir sagen, daß es keine ewige Verdammnis gibt. Wir sind freigeboren. Das Paradies war für uns. Wir lassen uns nicht vom Teufel umeinander hecheln. So sehr hat keiner von uns gesündigt, daß er das verdient hat. Sage mir, Liebling, wie Du darüber denkst. Ja? Sei mir nicht böse, daß das Steffgen Kritik übt an der Kritik, die Du mir hast zukommen lassen.
Das Wohl unserer kleinen Schutzbefohlenen geht uns über alles und sie soll ihre ganze Gefühl- und Denkkraft freibekommen und sich nicht verwirren lassen …
… Was ich denke? Hier sind Blumen, die einmal matt werden. Sie werden welken, wie unsere Ansichten und Gedanken einmal welken. Unsere Wissenschaft ist Stückwerk und unsere Weissagung ist Stückwerk und unsere Sprache ist Stückwerk und somit sende ich Dir ein gereimtes, verspieltes Stückwerk.
Anstatt meine Briefe lies einmal den Paulinischen 1. Korinther 1, Vers eins bis dreizehn. Dort steht etwas sehr Gutes: »Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle«.
Freilich, die Kritik der reinen Vernunft kannst Du mir gleichwohl schicken. Wollen mal sehn, ob wir's verstehen können. Sonst weiß ich nur das Stückwerk-Bekenntnis, daß ich Dich lieb behalten möchte.
Mein sehr liebenswürdiger, kleiner Kamerad,
gestern abend, ganz spät, etwa um zehn Uhr, sind Deine Blümleins angekommen. Der Hoteldirektor brachte sie mir höchst persönlich. Das war eine große Freude. Die Primeln haben sich gut gehalten. Die Mimose war weniger frisch und die kleinen Krokusse gar ein wenig gestorben. Steffgen hat alles zusammen säuberlichst in ein Wasserglas gesetzt samt den kleinen Wurzeln und der Erde und jetzt stehn sie auf dem Tisch, wo viele Manuskriptblätter, Auszüge und Tabakskrümel liegen, stieben.
Steffgen hat heut einen Brummschädel. Das kommt daher: weil wir zu lange sinniert und gebosselt haben. Der Tag graute schon, da brannte noch Steffgens Lampe und ich war mal hinter dem Herrn Johann Gottlieb Fichte her. Bei dem sind wir jetzt angelangt. Von Nimrod bis auf die jüngsten Zeiten. Steffgen ist mal dabei gegangen und sieht zum Rechten. Entweder man lebt oder man stirbt. C'est ça …
Herrn von Laban [gemeint ist der berühmte Tanzmeister] habe ich um die Schriften Franz von Baaders befragt. Das ist ein wundervoller, mystischer Philosoph, der den deutschen Atheismus bekämpft hat. Ich werde über ihn schreiben. Die »Kritik der reinen Vernunft« will das Seepferd haben? Der Titel klingt so hell, aber das Buch ist sehr dunkel und abstrakt, kaum zu genießen. Wollen sehen, wo wir es finden.
Hat Hans Arp [der Maler und Dichter] viel gearbeitet? Und kann ich eine Nummer von Dada Nummer drei haben? Schönen Dank auch. Begierig bin ich, neue Arbeiten von Arp zu sehn. Wenn er sich nur überzeugen wollte, daß die deutsche Mystik staatsfeindlich und antiprofan ist. Ich finde Dinge, die alles weit hinter sich lassen, was heute gedacht, geschrieben, gesprochen wird.
Viel Glück zum Drama, mein Liebling. Daß es gut wird und unserem Schwarmgeist alle Ehre macht. Wir sind über die Maßen neugierig darauf.
Johann Gottlieb Seidelbast juxt es in mir. Weiß der Teufel, woher die Kabarettanfechtungen kommen. Lasset uns lebendig sein, schreit Steffgen und wirft die Arme in die Luft.
Wenn die Kritik der Intelligenz fertig ist, möchte ich in Askona den Bakunin beenden. Dazu brauch ich nicht hier zu sein. Schreibe, ob es Dir schwer fällt, gar schwer fällt, noch einen Monat allein zu sein. Werde Euch tagtäglich Briefleins schreiben und getreulich berichten. Und seid herzinnigst geliebkost für die Blümleins und für das Herzlein und für die artige Gesinnung immer Dein Steffgen.
Emmylein, Du warst gewiß sehr böse über meinen groben Brief wegen der Friedenspropaganda. Aber ich wollte Dich einmal tüchtig rütteln, daß Du aufwachst und zur Einsicht kommst. Also aus Humanität … Dein Buch wird gewiß etwas viel Artiges, das wird gewiß entzückend werden. Und daß Steffgen dafür Bilderchen fabrizieren soll, ei potz der Taus! Wenn das Euer Ernst ist, mein Putzi, dann wollen wir uns erkleckliche Mühe geben, etwas gar Zierliches zu inventieren.
Oh, mein Allerliebstes und Zierlichstes, das laßt Euch nicht aus dem Köppi kommen, sondern fangt's an, die Pfötleins zu setzen und selbiges Breviarium auszuhecken. Wünschen Euch alles Gedeihen dazu … Ich las gestern einen Aufruf an die Frauen (Friedenspropaganda, international?), den man hier in den Buchladen findet, von den sozialistischen Jugendorganisationen und schicke ihn Dir. Die irren sich auch. So kann man nicht helfen. Sie sollten ihren Marxismus kritisieren, anstatt Aufrufe an Frauen zu schreiben. Damit wäre mehr geholfen. Jeder von sich und Gott mit uns allen.
F… sehe ich selten. Gestern im Café du Théâtre. Er gab mir eine kleine Sache über Elsaß-Lothringen, über die wir sprachen. Ich kann ihm aber nicht gefällig sein. Ich habe gerade genug auf mir (ich will meine Ansichten selbst unterschreiben).
… ich lese jetzt ein sehr gutes Buch »Mehrings Lessinglegende«. Und ein weniger gutes Buch »Mehrings Geschichte der deutschen Sozialdemokratie«. Gritzi, mein Putzilein, immer tapfer bleiben und keinen Pazifismus machen. Das hilft nicht.
In etwa drei Wochen ist mein Buch fertig und dann kommt unser Pferdlein zurück und wir mieten ein Häuschen, vielleicht am Thunersee. Oh, mein Putzlein, magst Du meine Bildchen denn wirklich so gern? Und das kleine Köppi, das Du mir im Brief geschickt, ist so süß! Wie bist Du geliebt, mein Kindlein. Willst Du denn gern wieder kommen zu Deinem Steffgen? Sag …
*
Emmylein, Du hast mir ein gar wackres Brieflein geschrieben und ich dank Dir auch schön. Darfst mir nicht untreu werden. Gelt nein? Wir haben heillos Angst und Respekt davor. Ganz traurig war ich über Deinen letzten Brief, der so'n bißchen hurtig war und mit Seitengedanken. Ich fände es sehr inhuman, wenn Du mir von Deinen wirklichen Erlebnissen nicht schreiben wolltest. Das tust Du doch nicht, mein Putzi, sag? Wenn ich nicht bald kommen kann, kommst Du wieder zu mir, ja? Wir gehören ja doch zusammen und ich kann weder den kleinen Zirkusmeister selbst, noch sein klagendes Röpsen, noch den kleinen Eselsgesang, noch seine Pattens vermissen. Erztraurig macht uns das, und es tut weh, wenn Du schreibst und es tut weh, wenn Du wenig oder gar nicht schreibst. So lieb ich … und da kann man nichts machen … und dann will ich nichts mehr schreiben, sondern ein wenig leben mit den andern. Meine Einsiedelei ist schlimm geworden … So geht das nicht. Wir wollen zusammen Sprachen treiben und schöne Bücher lesen und uns ein wenig umschauen. Wie haben wir es denn damit? Wie kalt das Leben hier geworden ist, seit Du fort bist.
Gestern abend waren wir bei Flesch. Ich hatte ein wenig Zahnweh und er gab mir Aspirin. Der Petrolofen brannte nicht und wir legten die Mäntel nicht ab und Flesch war müde und schläfrig. [Folgen viele Einzelheiten über geschäftliche und literarische Mißerfolge. Die Post blieb aus. Die Briefe blieben an der Grenze, Manuskripte ebenfalls.]
Alles ist unentschieden. Ich bin sehr traurig Liebling, denn was soll werden? Ich habe ein Jahr umsonst gearbeitet … Kein Verleger kann übersehen, was er in der Zukunft bringen kann und bei der Zensur wird mein Buch keine Aussichten haben … Die Bernstein-Memoiren, die Reiß herausgab, haben heute gewiß nicht den Erfolg, der erwartet wurde … ich schreibe Dir das so genau, damit auch Du Deine Entschlüsse danach einrichten kannst. Es ist jetzt von Deutschland nicht viel zu erwarten und es ist die Frage, ob man nicht gut daran tut, ganz darauf zu verzichten, sich irgendwelche Hoffnungen von dieser Seite zu machen. »Feu« ist in Deutschland verboten worden. Lies beiliegende Briefe genau und sag mir, Liebste, Deine Ansicht. Wir wollen unsere Gedanken und Entschlüsse ganz solidarisch fassen. Wenn es sein muß, daß wir arbeiten, dann wollen wir beide arbeiten … Wir wollen weiter sehen, wie wir unsere Ansichten durchsetzen.
Denn schließlich bin ich bei Dir in die Schule gegangen und Du bist mein kleiner unentbehrlicher Berater, und was wir wollen, ist alles eines und unterscheidet sich nur im Ausdruck, im Weg und im Format, nicht aber im Geiste. Wir wollen unseren Bund noch fester schließen und uns unserer Sache noch inniger treu bleiben als früher. Und wenn wir auch eine Zeitlang wieder Umwege nehmen müssen, soll uns das nicht allzu traurig machen. Ich möchte nur gerne, Liebste, daß wir in ein und derselben Stadt wohnen können. Ich sehne mich sehr nach Dir und kann Dich schwer entbehren. Wir können wieder sprechen zusammen und wenn wir treu zusammenhalten, wird uns nichts und niemand umwerfen können. Also, Liebling, schreibe mir ausführlich und laß auch Du so wenig Dich aus der Fassung bringen, wie ich mich daraus bringen lasse. In aller Innigkeit und Treue Dein Hugo.
Es geht mir doch mit Dir, wie es Novalis mit dem Allerliebebedürftigsten ging:
Wenn alle untreu werden,
So bleib ich ewig Dir doch treu,
Daß Lieb und Treu auf Erden
Nicht ausgestorben sei …
… Du bekommst Brot von uns. Wenn wir Reis haben, schicken wir Dir einen Reispudding im Steintopf. Annemarie holt gerade Deine Wäsche. Die wird auch heut geschickt. Wir werden anstatt Brot viel Minestra essen … ich habe zehn Seiten neu geschrieben und benutze jede freie Zeit, um mit aller Energie mein Buch fertig zu machen. Wenn ich ermüdet bin, arbeite ich im Hause und habe der Annemarie ein Paar Strümpfe gestrickt, aus ungebleichtem Garn, und jetzt nähe ich ihr ein Überkleid aus meiner alten Bluse … Ach, Liebling, einmal vielleicht wird alle Not aufhören und einmal müßten wir Erfolg haben, besonders Du. Du bist doch so eifrig und fleißig, wie kein zweiter auf der Welt … Freilich, wir haben schon ein paar unheimlich-kalte Sterne über uns.
Gelesen habe ich, daß man Kinder von neun bis fünfzehn Jahren zu Gefängnis verurteilt hat, weil sie die ihnen zustehenden Rationen auf der Bezugskarte gefälscht hatten. Als Verteidigungsrede gaben sie den Hunger an, was nicht einmal nötig gewesen ist, denn zu welchem Zweck kann man Brotkarten fälschen? Dergleichen vergißt sich nicht leicht. Die armen, kleinen Brotkartenbetrüger, was kann aus denen werden? Die müssen ja hassen oder viel überwinden lernen. Es stimmt doch nicht mehr recht, daß kein Spatz vom Dache fällt ohne den Willen des Vaters. Wenn aber diese Spatzen, die Kinder, verhungern, kann auch dieses mit dem Willen des Vaters geschehen? Unerforschlich unheimlich ist das, der Weg Gottes … Ja, und unsere Umwege? Umwege, sagst Du, mein Hugo? Es sind so viele Umwege, daß wir allmählich auch diese beachten sollten. Weg hast Du aller Wege … Dein Gang ist lauter Licht? Wir wollen hoffen … Aber die Dornenhecken. Auf welchem Wege mag Moses einmal einen flammenden Dornbusch gesehen haben, auf der Anhöhe von Horeb? Das muß ein schmerzlicher Berg gewesen sein … Möge uns die Erde leicht sein … Wir wollen einander das bei empfindlichen Lebzeiten wünschen. Nachher ists nimmer nötig. Meine Hand winkt, ein Flatterfähnlein im Winde …
… vergiß nie die Kühnheit Deines Buches. Vergiß nie die Waghalsigkeit und wenn Du hundert Jahre alt wirst.
Sollten wir alt werden – es ist kaum anzunehmen – wollen wir nie neidisch auf die Jugend werden. Wir werden uns erinnern, daß auch wir jung waren. Es haben viel fröhliche Menschen lang vor uns gelebt und gelacht und eine Jugend ruht auch unterm Rasen. Als wir von Berlin fortfuhren, sagtest Du, wir sind wie Nachtwandler, Seiltänzer noch im Dunkeln. Daß wir es bleiben dürften, immer. Ich liebe die Gefahr. Ich liebe alles, was den Tod bringen kann. Ich liebe das große Abenteuer und die Überwindung des Abenteuers. Ja, ich gestehe, ich selbst möchte ein Abenteuer werden und sein, daß man nie vergißt. Man lebt nur einmal und das ist immer …
Die Freiheit aber – Freiheit, die ich meine – »führest Deinen Reigen überm Sternenzelt«. – Darüber brauche ich nicht nachdenken. Es gibt nur die Freiheit in Gott. Das ist mir im Gefängnis schon klar geworden. Ich bin derart unschuldig hineingeraten in das Gefängnis, daß es beschämend ist, davon zu sagen. Für mich und für alle andern. Es war ein kleines Kunststück, meine Unschuld zu verbergen, denn, Hugo, es gibt eine bewußte Unschuld. Es gibt einen Willen zur Unschuld, davon sich nicht leicht sagen läßt. Die größte Mühe habe ich mir gegeben, diese Unschuld zu verbergen. Es ist mir gelungen! Ich hatte den Triumph, daß man mich mehr verdächtigte, als ich erwarten konnte. Va bene … Das Leben ist ein Spiel … Und mir kann man nichts wollen. Dann wieder war ich traurig. Der Krieg brach aus. Die Kunde vernahm ich durch das sogenannte Judasloch, das Guckfenster in der Eisentüre … Ein kleines Bauernmädel ist's gewesen, die mir sagte »s'isch Krieg«. Ich verstand. »Es wird jemand hingerichtet«, um es in reinem deutsch zu sagen. Wie lange hatte ich nicht gesprochen zu Menschen, nicht einmal zu mir, nicht einmal zu mir selber gesprochen. Aber da wurde ich vertraut mit mir und ich begann … mich … zu lieben … Und zwar liebte ich mich über die Maßen. Ich liebte mich zart, ich liebte mich steigernd, tobend, bis zur Ermattung … Ich sehnte mich weit hinaus und kritzelte auf meine Pritsche – vielleicht ist's noch heute zu lesen … denn ich hab's eingeschnitten mit Messer und Nadel:
»Im Süden rauscht das Wasser Seide
Wir wohnen in den schmalen Zellen
Durchs Gitter dringt in kleinen Wellen
Die Sehnsucht nach der fernen Heide …«
Gewußt habe ich, daß dieses Leben ein Gefängnis ist und daß es nur eine Freiheit gibt … in Gott …
»Wo sich Männer finden, die für Ehr und Recht
Mutig sich verbinden, weilt ein frei Geschlecht.«
Dieses Lied konnte nur ein Deutscher schreiben … Wir sind so … Es ist mir gegeben, voraus zu denken, Hugo. Voraus zu fühlen auf meine Art. Vergiß nie die Kühnheit, die in Deinem Buch steckt. Ich weiß mehr, als ich sagen kann … Das ist seltsam … Das Deutschtum ist mir wie ein großes Haus, das gehalten sein will und ich denke an Deutschland, wenn Rilke sagt:
»Wir bauen an dir mit zitternden Händen.
Wir türmen Atom auf Atom …
Wer aber kann dich vollenden
Du Dom …«
Das soll Deutschland sein, ein herrlicher Dom der Freiheit.
Man muß hier vorsichtig sein … Hugo … Wer es gut mit Deutschland meint, ist mein Bruder, mein Geschwister. Ich bin hier nun einmal hingegeben und kann nicht dafür. Es macht mir nichts aus, ob mich die deutsche Behörde ablehnt … Das kann mir nichts ausmachen. Es kommt mir nur auf meine Neigung an, die ich pflegen werde.
Man kann mir jegliches Deutschtum absprechen und ich werde deutsch sein … Seltsam, daß man gerade mich nicht will … aber das macht nichts … Jede Demütigung, jeder Mißerfolg gehört zu meinen Siegen, das weiß ich … Ich bin keine gleichgültige, bin keine Zufallsdeutsche … Ich bin bewußt Deutsche … Und da kann ich ohne Papiere sein, das macht mir nichts aus. Es darf mir nichts ausmachen … Meine Eltern mögen wohl dänisches Blut in sich gehabt haben, aber es gibt eine Neigung, die über Blutsverwandtschaft hinweggeht … Ich hab das süße Dänemark, das ich ein wenig kenne, auch lieb, aber ich habe deutsch gelernt in der Schule und deutsch ist meine Muttersprache. »Erster Ton, den ich gelallt, klingest ewig in mir fort.« Ich muß mich verschworen haben und der Schwur läßt mich nicht los. Darum, wenn ich sage »ich bin Dänin« ist's eine Klage gleichwohl. Man muß wohl eine große Vaterlandslosigkeit in sich spüren, um das Verlangen nach Zugehörigkeit zu begreifen. Gemacht bin ich, um deutsch zu sein … und niemand will es mir glauben … Das wird noch meine einsamste Angelegenheit werden … Der liebe Gott versteht nur eine Sprache, heute weiß er nur um eine, meine eine Sprache. So ist mir. Ich habe ihm gesagt, daß ich deutsch bin … Er war so lieb und gab mir einen Heimatschein … Der ist deutsch und doch nicht von dieser Welt und ich kann ihn nicht herzeigen … Man sagt und es steht geschrieben, daß ich Emmy Hennings sein soll … Da fragt man mich auf dem Einwohneramt: »Also Sie wollen Emmy Hennings sein?« Ich will ja nicht, aber vielleicht bin ich es. Wenn aber jemand anders für mich Emmy sein will mit aller Lust und Qual, ich hätte nichts dagegen. Das wäre ein Namenlos und Schicksal. Wäre ich ein Ball, dem es Freude macht, in die Höhe geworfen zu werden, ich würde in den Himmel fliegen, dort aufgegriffen von spielenden Kinderengeln, die würden mich vielleicht nicht zurückwerfen. Aufenthalts-Schwierigkeiten, das Kätzchen hat's gut, braucht sich nicht anmelden. In den phantastischen Büros befällt mich allemal ein Zittern mit meinem Zettel, auf dem nur mein Name steht und »Sans Patrie« Oih Mariesans Patri singt das Seepferd.
Heinrich Manns »Arme« sind erschienen und alle bürgerlichen Zeitungen sind entzückt davon. Wie gerne möchte ich das Buch haben, um darüber zu schreiben. Emmy, höre, wenn man sich heute über die »kleinen Leute« allzu deprimierend äußert, begeht man ein Kapitalverbrechen. Man bestätigt leicht die traurige Bourgeoisie in ihrer Überzeugung, daß von dieser Seite aus nichts zu fürchten ist. Das hört sie natürlich gern, die Bourgeoisie. Du meinst, man kann nur deprimierend über die Armen schreiben, über die Gefangenen der Not, aber mich freut's, daß Du bei einigen, wahrhaft tragischen Szenen den gaminhaften, spöttischen Ton bewahrst. Der ist aufreizender wie die Klage … Bubu von Montparnasse und Jesu von Nazareth werden staunen ob Deiner Inbrunst Fahnenversammlung. Laß Dir Deine Heiterkeit nicht nehmen, mein Liebling, auch wenn Du nur fünfundachtzig Pfund noch wiegst. Gelt ja? Da spricht Steffgen eine seltsame Bitte aus … Wenn's am schiefsten geht, schreibst Du allemal am geliebtesten, so daß man ganz kregel wird davon … Du sollst keine Arbeit annehmen, wenn es Deiner Gesundheit schadet. Ach, mein Kleines, dabei siehst Du schon so »flüchtig« aus, daß ich manchmal Angst habe … Ach, es ist doch gut, daß man sich täglich schreiben kann, nicht wahr, Liebste? … Was hast Du für ein struppiges Pferdlein unten an Deinen Brief gesetzt. Das ist ja ganz borstig und höchst verdutzt. Warum will's denn nicht näher kommen? Sinds arge Schmerzen, die Du hast, Liebling? Ein bißchen, wenns schwer wird, mußt Du immer an viele schöne Tage denken, die wir zusammen hatten und noch haben werden … Wo etwas sehr schwer gewesen ist, wird auch einmal etwas sehr leicht. Es sind Kraftübungen, meine Emmy, der starke Gott will uns schmeicheln, probieren, wieviel wir aushalten können.
Oftmals denke ich daran, wie Du singen konntest, als Deine liebe Mutter starb. Während sie in Deutschland im Sarg lag, hast Du gesungen. Das werde ich Dir nie vergessen. An jenem Abend wußte ich, wie stark Du bist, wußte um die Unüberwindlichkeit, um die Unzerbrechbarkeit Deines Kinderherzens … Ach, mein Emmylein, zu wie vielem hast Du mir Mut gesungen.
Ich habe früher nie gewußt, daß es das gibt …
Ob Du beim Singen um Deine Wirkung weißt'. Weißt Du, daß Du Empörung und Zärtlichkeit verursachen kannst, oft liegt beides in einem einzigen Ton und wenn ich arbeiten will, brauche ich nur an Deine Lieder zu denken …
Oh, wie mich Deine Stimme zum schreiben anregt! Ich hielt nicht viel von meinem »Totentanz«, als Du ihn mir aber das erstemal vorgesungen hast in der grauen Schoffelgasse in Zürich, oh, Emmy, das werde ich nie vergessen und wenn ich hundert Jahre werden sollte. Und ich werde alt, ich will alt werden, Emmy. In meiner Forstfamilie sind alle alt geworden.
Ja, Deine Stimme kann ich nicht vergessen. Sie kann wie eine klagende Flamme sein, die den Lauscher entzündet und sein Herz in Brand steckt … Und jeder Ton liegt mir noch im Ohr und treibt mich zu immer neuen Dingen … Du mußt bald wiederkommen zu Steffgen, damit ich Deine rührende Kinder-Choral-Stimme höre, den Gesang der Völker »wir werben im Sterben um ferne Gestirne …« Wir wollen werben, Emmy, mein Emmylein, um alles, was gut und hell ist. Du wirst es mir sagen und singen immer wieder, ich weiß, daß Du das tun wirst …
[gesungen nach der Melodie »Wir treten zum Beten vor Gott« von Kurt Eisner]
Wir werben im Sterben
Um ferne Gestirne
Sie blinken im Sinken
Und stürzen in Nacht.
Es wollen die Massen
Das Leben nicht hassen.
Die Freiheit ruft empor
Von den Sternen bekränzt.
Die Zeiten entgleiten
Die Erde erbebte.
Es krallte das Alte
Ins Herz junger Zeit.
Da mußten die Bleichen
Den Schreitenden weichen
Du Volk wurdest erweckt.
Der Tod war besiegt.
Wir schwören zu hören
Den Rufern der Freiheit
Wir schirmen in Stürmen
Die heiligen Höhn.
Die Menschheit gesunde
In schaffendem Bunde
Das neue Reich ersteht.
Oh, Welt werde froh!
Welt werde froh!
[Erschienen in der »Freien Zeitung«, den 7. Dezember 1918]
Wenn ich nur depeschieren könnte. Briefmarken bedeuten zur Zeit des Leibes Notdurft. Im Café Scheurer kann ich nicht mehr verkehren, obgleich eine Tasse Kaffee nicht zu verachten wäre. Es scheint eine Eigenart von mir zu sein, durch Ohnmachten und sonstige Ausbrüche in besseren Cafés Tassen zu zerbrechen, Palmen auszureißen. Gewiß, ich komme hin und wieder ins Scheurer, wenn ich aber mit meinen Pantöfflins durchs Lokal klappre, daß die Lungenkranken nervös aufzucken und auch wenn ich still sitze und nachdenke, wer wohl das Geld fürs Telegramm und für ein Kilo Polenta in der Tasche hat, dann schielen mich die Scheurers etwas ängstlich an, »wenn nur nichts passiert«. Immer haben die's mit dem Seepferd, zubsen 's an der Mähne und das hat kaum die Traute, jemanden anzuborgen, weil ich meine, der Scheurer denkt, ich schädige ihm dadurch das Geschäft und wenn ich nur nicht wieder eine Karte bekomme: »Bitte, unauffällig das Lokal zu verlassen.« Ich rege mich sehr über die ewige Geldlosigkeit auf, aber R. hat mir einige Rekordzigaretten geschenkt; heißt Rekord, weil man sie so langsam wie möglich rauchen muß. Würde man die schnell rauchen, wär man glatt des Todes.
Alle klagen, sie können sich nicht ernähren. Ich glaub, es wird noch schlimm und wir werden vielleicht unauffällig das Lokal verlassen müssen. Nun, dann werden wir Morgenluft wittern.
Frau Rubiner hat über fünfzig Franken gewechselt, da hab ich gestaunt. Anstatt sie anzupumpen, hab ich gesagt, ich hätt noch viel Geld zu Hause, führe es aber nicht bei mir, weil ich es sonst nur ausgebe. Da hat sie mir Kaffee bezahlt und ich habe in der Zerstreutheit drei Stücke Sultansbrot gegessen, so daß ich kaum mehr eine Unterhaltung führen konnte. Ich hab ihr dann erzählt, daß ich eine Druckerei einrichten möchte, damit wir unsere Bücher selbst publizieren können. Ein Stück Land bei Avegno habe ich schon ausgesucht und vorerst könnte ich eine Schilfhütte bauen und ein Feld anpflanzen. Ich brauche doch gar keinen langen Rock, Steffgen, der schleißt doch einmal. Ich will den Boden urbar machen. Heute ist das Wetter schön, weil wir etwas Gutes geschrieben haben. Ich möchte Dir ein Haus schenken und es wird ein Büchlein werden. Wenn nur unser Lebensplan nicht ins Wasser fällt. Manchmal habe ich Mut wie Kolumbus, der Amerika entdeckte und sage mir zum Trost, daß er auch lange erst herumfahren mußte und scheinbar nach der falschen Richtung. Die Küste haben wir längst aus dem Auge verloren und vorerst sprechen wir von Wasser und Himmel.
Aber Liebling, schick Proviant, wenn Deine Verhältnisse es erlauben, zwei- vier Franken. Lieber wenig und schnell, als viel und später, die Emmly bläst das Nebelhorn, aber nur leise, weil sie nicht weiß, ob das liebe Schiff Rettung bringen kann und wills nicht beunruhigen. Weißt Du, warum ich glücklich bin? Weil Du ein wenig singst und gern lebst, denn, wenn das Gegenteil der Fall wäre, denk ich, könntest Du mich nicht lieb haben. Ich mag Dir auch das Eselliedchen singen: Ja … ja … ja … Fällt uns um Euretwegen gar nicht schwer. Steffgen, ich muß Euch noch etwas sagen. Haben uns ausgeheckt und ausgetüftelt und hier sei's hingepfötelt. Wir können doch gar nicht wissen, ob wir glücklich sind. Wenn wir zum Beispiel »noch glücklicher werden«, es also anders kommt einmal, dann sagen wir »vorher, das war ja gar kein Glück gegen dieses«. Wir müssen die verschiedenen Glückssorten ausprobiert haben, um urteilen zu können. Ich bin gar nicht fürs »Unbewußte«. Manchmal fällt mir's unser Damenimitator ein, der gesungen hat: »Immer raus damit, immer raus damit, wozu haben wir denn, na ja? Das tralerallaralla la …« Dabei meinte er etwas, was er als Mann eigentlich nicht haben konnte, genau bedacht. Gehabt hat er's aber doch durch seine Einbildung.
Das Glück. Immer ist eine Hölle nahe am Paradies. Vorgenommen hab ich mir: wenn ich in die Hölle kommen sollte, werde ich das interessant finden. Bei den perfidesten Quälereien werde ich den Punkt herausfinden, wo ich sagen kann: das ist ja sehr anregend. Unterhalten werde ich mich, genießen. Du sagtest damals im »schlimmen Tingeltangel«, »Du bist nicht glücklich, wenn Du nicht unglücklich bist«. Das hätte nicht stimmen brauchen, wenn mehr Annehmlichkeiten dagewesen wären. Man richtet sich nach dem, was gegeben ist, aber der Bestand unserer inneren Möglichkeiten ist groß. Wir wollen in der besten Zeit gelebt haben. Wir werden das Kind schon schaukeln. Wie Du, habe auch ich meinen Dämon. Soll er sich abquälen, wie er uns quälen kann, aber er beißt irgendwie und wo doch auf Granit.
Daß es Dir gut gehn möge, mein Steffgen. Wenn wir nur immer beieinander bleiben. Wir werden's, denn der eine ist versunken in den andern. Mein Leben, jenes, von dem ich nichts weiß, wird es sein, das Gefallen findet an Deinem Leben. Nicht dafür kann ich, daß ich Dich gern hab, glücklich zu Dir bin, das heißt, nicht ohne Dich sein kann. Ich werde nicht ohne Dich leben können. Stets habe ich gerne wissen wollen, was Liebe ist. Wir sollen Gott fürchten und lieben, hieß es im Katechismus, als wär's möglich, lieben zu lernen durch den Willen und ich kann daran nicht glauben, weil ich mich recht willenlos empfinde und bemerkt habe, daß das Stärkste, in mir Wirkungsvollste, ohne mein Einverständnis geschah. Ja, gerade dort, wo mir graute, mußte ich.
Die großen Sonnenblumen bei Solduno, die ihre schweren Häupter nach der Sonne richten. Bedenkt man das natürlich: es ist doch das irgendwie unbequem, daß die großen Blumen sich nach dem Sonnenstand richten. Was kann die Blume von der Sonne wissen? Die Blume ist taub, aber sie braucht die Sonne. Die Neigung zweier Dinge zueinander ist eine Laune, die der liebe Gott sich ausdenkt und seine Laune empfinden wir als ein bezaubernd schönes Gesetz. Daß ich zu Dir komme, Steffgen, das ist ein Spiel Gottes. Wär's Dir lieber, ich hätte es mir überlegt? Ich habe nichts gewollt und noch zu Niemandem und Nichts war ich so unwillkürlich, wie zu Dir. Gespürt hab ich's. Du wirst mir nie gram sein können, so wenig wie die Sonne der Blume gram ist. Du denkst Dir gewiß auch nichts beim Scheinen, oder weißt Du, daß Du mich lieb hast? Hast Du es gewollt? Nichts habe ich gewollt. Sehr reich bin ich und kein Mensch kann mir etwas nehmen und mir ist, als könntest Du mir nie entziehen, weder Deine, noch meine Neigung. Du mußt alle Morgen leuchten, auch wenn Du nicht immer zu sehen bist, da sein. Irgendwie wird unsere Liebe ohne alle Beschwerde sein. Wenn nur ich Dich lieb habe, solltest Du nicht traurig sein. Darum kannst Du doch über vieles leuchten. Es ist der reine Zufall, daß nur ich da bin.
Beim Bahnwärterhäuschen steht gradaus nur eine Blume. Das kann vorkommen. Als ich von Locarno heimging, war die Sonne schon untergegangen und die Blume hat so nachdenklich den Kopf geneigt. Traurig war sie nicht, aber vielleicht können Blumen doch traurig sein, wer kann das wissen? Sie sah aus, als möcht sie sagen: Wo ist die Sonne in allen Sonnen? Und hat doch auch nicht dafür können, daß sie wie eine kleine sehnsüchtige Frage den blonden Kopf gesenkt hält. Unwillkürlich Deine Emmy.
… das regt sehr an und stärkt das Rückgrat, sich so zu schreiben … ich lese Nietzsche momentan. Vor zehn Jahren kannte ich ihn halb auswendig und es ist mir ein eigenartiges Vergnügen, ihn jetzt wieder zu lesen. Irrtümer und Vorzüge, an denen er einen so grandiosen Überfluß hat, liegen jetzt klar vor mir. Er hat uns mächtig vorgearbeitet und ich werde ihn entsprechend verdolmetschen. Er hat die falsche Moral beseitigt, die große Burg gebrochen. Nun können wir stürmen. Wir müssen versuchen, unsere Zeit zu verstehen, auf daß wir keine Dummheiten machen und keine Kraft unnötig verschwenden. Wir müssen das Ziel klar ins Auge fassen und was von andern bereits gemacht ist, das müssen wir an uns nehmen, verwenden, nehmen, wie Eigentum. Das Wissen ist deshalb notwendig, weil es Kraftaufwand erspart. Man darf nicht wiederholen, was bereits da war. Man muß die Wege benutzen, die ins Gestern bereits eingehauen worden sind …
Darf ich das Manuskript behalten, das Du mir geschickt hast? Hat uns sehr neugierig gemacht, mehr davon zu sehn und ich denke mir den Sommer, den kommenden, so schön. Wenn wir wieder zusammensitzen beim Kaffee und in der schönen Nacht, in der wir so intensiv und einsam sprechen, als wären nur wir beide auf der Welt.
Dies schöne Glück, Emmylein, zwischen uns beiden; wir wollen es ganz empfinden und daraus soll noch viel Gutes entstehen für uns selbst und für diejenigen, die unsere Freunde sind. Und mehr und mehr wollen wir uns zu der Sache machen, für die wir leben und sterben. Du hast mir den blauen Himmel geschenkt und den hellen Blumensee und Dich selbst. Und ich schenke Dir alle meine Unruhe und meine üble »Steffgenialität«, die mich besessen hält und alle meine schlimme Ungeduld, die mich zu schanden macht und all meine Waghalsigkeit, die mich vielleicht verderben kann. Daß Du zärtlich mich beschwichtigst und mir ein wenig Ruhe gibst und viel Liebe, die allein mich retten kann – das soll unser kleines Bündnis sein. Du wirst mich gütig und immer reiner zu meiner Kindheit führen und ich will nichts sein als Dein gelehriges Steffgen, das sehr aufpaßt auf jedes kleinste Wort, das Du ihm schenkst. Ich freue mich mit Deinem Erfolg, wie mit einem zierlichen, kleinen Ereignis, das wir zusammen veranlaßt haben. Gute und schöne Ereignisse zusammen veranlassen – ist das nicht ein Ziel, für das sich zu leben lohnt? Sag mein Pussy?
Heute finde ich, daß B… meine Gedanken ohne Quellenangabe im Sperrdruck erscheinen läßt, leitartikularisch. Erst war ich ein wenig ärgerlich darüber, denn ich finde es despektierlich, nicht selbst zu denken, und das Ausgedachte anderer zur Plakatierung zu benutzen. Dann aber sagte ich mir: ist es nicht gleichgültig, wer es gefunden hat? Und gibt es auch hierin ein Eigentum? Und so habe ich mich versöhnt damit und wenn B. will, kann er noch mehr von mir haben. Schließlich ist es ja gleichgültig, wer es sagt. Wenn es nur ausgesprochen wird, ohne daß es dann »schief« dasteht. Nur werde ich vorsichtig sein in der Folge, denn ich möchte nicht, daß die Sensation meines Buches vorweggenommen wird. Und das möchte ich nicht im Interesse der Sache selbst. Ich werde mich also hüten, Wasser für den Schwamm zu liefern.
… Oh, mein Emmylein, wie sollte ich leben ohne Deine Liebe. Nicht arbeiten könnte ich, wie der Taucher unterm Meeresspiegel, ohne Dich, ohne Deiner zu gedenken.
Mein geliebtes Putzlein,
was schreibst Du für artige Briefe. Das ist ja mal ein glückliches Arrangement mit uns. Danke sehr für Deine große Sorge und Liebe fürs Steffgen. Wollen uns Mühe geben, das stets zu bedenken und verdienen. Nur nicht zu rasch arbeiten … Und laß Dich nicht durch mein gelahrtes Bedenken verwirren. Brieflich kann man sich nicht immer verständigen … Wenn alles gut geht mit Deinem Vertrag und mit meinem Vertrag und dem neuen Buch, dann bin ich bald bei Dir … Oh, oh, oh, mein Menschlein, dann wird's fein und lustig … Nachschrift: Kannst Du mir vielleicht ein paar Brotmarken abgeben, mein Emmy? Das »brauchten« wir sehr.
… Emmy, auch ich habe Angst vor der Intelligenz. Auch ich möchte ein Häuschen haben und Ackergeräte und Blumen und Salat. Als Knabe habe ich mich auf keine Intelligenz eingelassen. Ich habe Raupen gezüchtet und Schmetterlinge aufgezogen. Das möchte ich wieder tun. Und große Glaskästen möchte ich haben und neue Dinge entdecken im allerkleinsten Reiche.
Ich habe jetzt für meinen Roman einen endgültigen Titel gefunden, denn ich mußte mich doch entscheiden. Das Buch heißt »Flametti, oder vom Dandismus der Armen«. Und damit es keine Mißverständnisse gibt, ist dieser Roman Emmy Hennings zugeeignet. Ist das gut so, Emmylein? Denn, wenn es Dir gehören soll, dann darf es kein Mißverständnis geben.
Zürich, im Café de la Terrasse
Liebste, gerade habe ich Annemarie zur Tram gebracht. Sie sieht frisch, gesund und rund aus, ist sehr lustig und war, wie Du Dir denken kannst, sehr überrascht, mich so unangemeldet zu sehen. Es gefällt ihr alles und Zürich ausgezeichnet, manchmal hat sie ein bißchen Sehnsucht, aber sie ist ja tapfer, und so freut sie sich jetzt schon, in den Sommerferien, die drei Wochen dauern, mit uns am Thuner See zu sein.
Ich schreibe Dir jetzt noch, weil ich um ein Uhr schon verabredet bin. Ich wohne mit Dr. B… im Cityhotel und wir haben zusammen ein großes Zimmer und verstehen uns gut. Ich untersuche mit ihm (er ist Amerikaner) verschiedene Literatur, die ihn mit europäischen Verhältnissen bekannt machen soll. Wir kaufen Lektüre ein, und das ist sehr hübsch und für Steffgen eine Erholung (ich halte ihm Privatvorträge über unsere Dichter und Denker und höre dabei selbst, was in mir ist und was ich weiß) … Freust Du Dich, mein Herzlein, wieder bei diesem selben Steffgen zu sein? Ich freue mich unaussprechlich, Dich wieder zu haben. Ist ja eine gar lange Zeit, daß wir Euch entbehren mußten … Soll auch ein hübsches Röcklin bekommen und weiße Schühleins und dann kehrt das Bäuerlein wieder zur Stadt zurück. Möcht's das? Oh, mein gar gut's Emmylein, wir sehnen uns sehr nach Euch. Ihr seid süß und geliebt und uns ganz unentbehrlich. Addio, mein Kind, und hab mich immer sehr lieb.
Tausend Küsse Dein getreuliches Steffgen.
Oh, mein liebes Steffgen, liebster Hugo,
es ist mir eine große Freude an einem langen Sonntag Dir zu schreiben.
Ich hab so große Sehnsucht doch und hab so jungen Sinn. Und hab ich keinen Brief von Dir, ich traurig, gar traurig bin. Ich weiß, Du hast viel zu tun und zum schreiben braucht's Zeit. Schreibe nur das Wort »Liebe«, sonst nichts. Die Hugohand möge nichts anderes schreiben und da Du so gut bist, hast Du auch »das Herz in der Hand«, wie man von gebenden Menschen zu sagen pflegt.
Hab Dir Blümchens gepflückt. Es blüht das fernste, tiefste Tal … ich möchte aber zu Dir in die Stadt kommen, sobald das Geld es verlangt. Neben mir brodelt ein Süpplein, wie ein Märchen. Oh, falada, die du da hangest … Tue ich Asche auf die Glut, murmelt es eine kleine Litanei. Bitt für mich, bitt für mich … weil … ach, schreibe nur »Liebe« …
Ich möchte so gerne für Dich kochen. Wir müssen wieder zusammen wirtschaften, anders halten wir es ja doch nicht aus.
… Immer noch habe ich keine Aufenthaltsbewilligung und bin doch da. In Locarno mußte ich drei Franken zahlen und zwar wollten sie das Geld mit aller Macht haben. Gerade meine drei Franken, als wenn sie so knapp daran wären. Ach, so ohne Heimatschein sein … Es wird nicht helfen, wenn das Seepferd sagt, daß Du meine Heimat bist. Du aber weißt es, ich komm doch von Dir, Hugo.
Nimm mich nur wieder zu Dir. Immer war ich bei Dir. Wenn ich auf dem Anmeldebüro nur sagen könnte, daß ich aus dem Hugo-land stamme. Es ist so seltsam, keine Legitimation zu haben. Es beeinflußt mich traurig. Es ist so traurig, vaterlandslos zu sein. Ich kann doch nicht dafür, daß ich es bin, aber meine Sprache ist doch deutsch und meine Sprache sollte verraten, wohin ich gehöre. Es gibt so viele Deutsche, die nicht danach fragen, deutsch zu sein und da sind die Papiere in Ordnung. Wäre ich ein Mann, würde man mich ins Deutschtum einreihen, aber Deutschland hat so viele Frauen. Wenn man nur recht wüßte, wie gerne ich Deutsche sein wollte. Meine Eltern haben für Deutschland optiert und ich habe auch mitgeteilt, daß ich an der deutsch-dänischen Grenze geboren bin. Auf dem Anmeldebüro ist mir immer, als müßt ich singen: »Und wir, die wir am Ost- und Nordseestrande als Wacht gestellt …« ich wollt gern ein bißchen mit aufpassen, wenn ich das könnte. Du kannst es nicht so verstehen, Hugo, wie das ist, nirgends eine Aufenthaltsberechtigung zu haben. In Zürich sollte ich nachweisen, daß ich keine Deutsche bin. Negative Bescheinigungen stellt kein Büro aus.
Einen solchen Schein soll ich vorweisen. Nach Kamerun möchte ich mich wenden, damit man mir nachsagt, daß ich keine Negerin bin.
Ob ich zur Kur hier sei, hat man mich gefragt, und ob ich Vermögen hätte. Ich war sehr erregt, sagte »Jawohl ich bin zur Kur hier, das ganze Leben ist mir wie eine Pferdekur. Wer's verträgt, stammt nicht von schlechten Eltern und meine Mutter sprach ein ordentliches Deutsch, infolgedessen …«
Beweisen soll ich's. Wenn man mir schon so kommt mit »Beweisen«, dann ist's mit der Ruhe aus. Gut, ich habe entschieden, mich als Erzengel auf der Durchreise auszugeben und werde mich hüten, wieder diesen ungastlichen Stern auch nur zu überfliegen. Ach, ich bin zu traurig. Drei Franken will man von mir. Warum nur? Da wird man schlicht geboren und muß drei Franken zahlen und noch mehr.
Ach, Hugo, finde einen Ausweg oder sterbe mir etwas vor, dann will ich Dir's nachmachen. Wie eine Nilbraut die man in die Wellen wirft. Nie wirst Du allein sein. Meine Stimme ist Deine Stimme. Nein, ja, so ist's. Jedes gute Wort, das ich sage, kommt von Dir. Du hörst Dich selbst, wenn ich spreche. Hugo, wir haben bei Flensburg an der Ostsee einen so schönen Buchenwald …
Dort wußte ich ein Echo, das ich als Kind so gerne ausprobiert habe. Ich glaubte, der Wald will, daß man in ihn hineinruft, weil er so bereit war zu antworten. Da habe ich oft meinen Namen gerufen und es hallte und mir war, als habe man mich gerufen. Dann rief ich zurück: »Ich komme …« Und dann hörte ich »Komme«. Als sei ich willkommen … Als wolle der schöne Wald, daß ich zu ihm gehöre.
Hugo, bist Du Wald? Ich rufe: Ich komme … komme …
Bin ich Wald? Rufe: Ich komme … komme.
Wir wollen Echo spielen, mein lieber, schöner Wald … Wald, Deine Emmy emmy …
(Sanatorium in Bern)
Emmely, Liebling, heut hast Du Geburtstag. Weißt Du es, mein Herz? Ja, also Du hast Geburtstag. Ich weiß nicht, ob ich Dich heute werde sehen dürfen. Darum schreibe ich Dir ein Grüßlein. Mein Buch ist heute erschienen, Emmy. Hier ist es, Liebling. Freut's Dich? Aber lesen darfst Du es jetzt nicht. Du kennst es ja auch. Du darfst nur die drei Rosen ansehn, es sind Winterrosen. Das sind die allerschönsten Rosen, Emmely. Gefallen sie Dir?
Ach, ich hab Dich so lieb. Werde gesund für mich, das heißt für Dich. Ich habe heute darum gebetet, daß Du gesund wirst. Tschokitsch hat mir auch geholfen dabei. Jetzt bitte ich Dich, Emmy, werde wieder gesund. Tu es, Liebling. Gelt ja, Du hast Dir doch nicht vorgenommen fortzufliegen? Tu es nicht, Putzi. Bleib beim Steffgen … Ich wollte Dir nur das Buch zeigen, daß es jetzt erschienen ist … Weil es Dir Freude macht … Wenn es nur Dir Freude macht. Vielleicht erlaubt die Schwester, daß ich Dich sehe. Ich sehe Dich aber auch, wenn ich Dich nicht sehe … Mein Kleines, mein Kleinod, schlaf Dich gesund …
Du bist ja meine Frau, Emmy, Emmy, Du bist meine Frau … Du mußt, Du wirst wieder gesund sein … Aber Du darfst nicht aufstehn in der Nacht, das schadet Deinem Lünglein, Liebling. Es steht ja gar nicht schlimm mit Dir. Nur darfst Du nicht aufstehn und im Zimmer umhergehn. Sonst geht's schief, Putzli. Ja, also sonst geht's schief. Aber es wird nicht schief gehn mit uns. Ich paß schon auf, daß es grad geht. Du hast bloß ein Gripplein, das macht nichts. Früher sagten wir »Influenza« … Nun ja, es kommt nicht darauf an, was wir sagen, aber ich liebe Dich so sehr, mein krankes Kindlein und ich bin Dein, immer Dein Hugo.
Liebste, heute bist Du meine Braut geworden. Du warst es immer. Darf ich Dir das sagen? Du warst es vom ersten Tage an, da ich Dich sah. Immer habe ich nur die Sehnsucht gehabt, Dich zu begreifen, den hellen Schein recht zu erfassen, der um Dich ist. Du hast mir einen so schönen Brief geschrieben. Du hast mir so ängstlich gesagt, daß Du meine Frau sein willst. Ich wußte es längst, daß Du es willst. Und wenn ich Dich gar nicht liebte, Liebste, würdest Du meine Frau sein, denn Du willst es ja … Ich habe gelernt, mein großes, liebes Kind zu begreifen und daß Dein Wille, Deine Sehnsucht alles ist. Nicht nur für mich. Ich weiß es so tief, meine zärtliche Geliebte, daß Du einen Weg kennst, dem ich mich ohne Gedanken anvertrauen darf. Besinnungslos, wenn Du willst. Oft bin ich ein wenig erschrocken und fürchte mich, wenn ich Dich am allermeisten liebe und Dir am allernächsten bin. So kann Dich niemand lieben, außer mir. Ich glaube es ja. Du bist mir alles. Ich kann nicht denken ohne Dich zu denken. Es ist ein Wirbel, in den ich mich gerne fallen lasse wie in ein großes, schwingendes Netz aus Seide und Sorge …
Du mußt viel Geduld mit mir haben. Ich bin so langsam. Aber ich folge Dir, wohin Du willst. Ich will sein, wie der Mann, den man im Schlafe anruft, der aufsteht und alles zurückläßt, um Dir zu folgen.
Ich will Dir meine innersten Gedanken sagen, Dir, Emmy, meiner Braut. Du gibst Zeugnis mir und den andern. Ich bin Dir am nächsten. Ich trage die größte Verantwortung, Emmy.
… Weshalb Gott Dich mir gegeben hat. Er weiß es. Das fühle ich. Gott, Du bist bei mir und bei Deinem Kinde, das auch mein Kind sein soll. Und dieses Wissen, meine Geliebte, laß mein Gewissen sein.
Gib mir Raum, Liebste, laß mich wachsen und nicht verkümmern neben Dir. Laß uns gemeinsam das Eine lieben. Für alle, laß uns in dieser traurigen Nacht einander in die Augen sehen und einen Weg miteinander gehen, als Verlobte in einem Evangelium, einer Engelskunde, um die wir wissen. Ich werde Dir treu bleiben, immer. Du wirst mich finden immer in Deiner Nähe. Immer in Deinem Herzen will ich sein.
Ich will nicht Gott erfinden. Hier lächle ich, Liebste. Ich sage doch manchmal so törichte Dinge … Wie soll man sonst leben können? Du weißt das doch!! Ich meinte ja nur, daß noch vieles zu erfinden, herauszufinden sei. Ist das nicht so?
Wie habe ich Dich zagsam gefunden, gefunden Dich, an jenem Tage in Berlin, als Du Dich entschlossen hast, mit mir zu gehen und bei mir zu bleiben. Oft habe ich Furcht, Liebste, Dein Leben auszudenken. Hilf mir, die Furcht überwinden vor Deinen Schmerzen, Liebste und ich werde Dir ganz verfallen sein. Es ist eine frohe Botschaft trotz Blut und Schmerzen, Kindlein im Bethlehemstall …
Dich liebe ich und das ist mein Wille: alle zu lieben durch Dich und um Deinetwillen. Dich will ich halten, Liebste, als jenen Engel vom Himmel, von dem Du sagtest, daß er mit Jakob im Traume gerungen habe. Die Flügel des Engels schlugen Jakob sehr. Jakob klammerte sich an den Engel. Jakob war hungerfiebrig nach Licht, als ihm träumte. Er hielt den Engel fest am Gefieder, er flehte und bat. Er vergaß Erde, Leiter und Himmel. Er rief nur: »Ich lasse Dich nicht. Du segnest mich denn …« Dein Hugo.