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2. Nächtlicher Besuch

Der Rancho war nicht unbewohnt, wie Kenyon erwartet hatte, da weit und breit kein menschliches Wesen zu erspähen gewesen war. Nur zahlreiche blendend weiße Vögel, die mit ihren geschwungenen Hälsen wie große weiße Fragezeichen wirkten, hatten sich von dem Grün der Campos abgehoben, der die Hütte von drei Seiten umgab. Es war auch keineswegs ein Schafstall. Überall zwischen den Büscheln des Camposgrases, dem Capim, zeigten sich deutliche Spuren von Rindern. Die vierte Seite des Ranchos begrenzte eines jener kleinen Gehölze, die der Einheimische Ilhas oder Tesos nennt, und aus dem mittelhohe Laubbäume aufragten. Die Hütte selbst umgab an zwei Seiten ein Lattengerüst, auf dem Pirarucús, jene riesigen, von den Anwohnern des Amazonas und der umliegenden stehenden und fließenden Gewässer so geschätzten Fische, in Stücke zerschnitten zum Trocknen aufgehängt waren.

Ein alter, lahmer Vacqueiro (sprich va-ké-i-ro), ein Rinderhirt, und ein womöglich noch älteres, Pfeife schmauchendes, in Decken gehülltes schwarzbraunes Mütterchen kamen herausgehumpelt, neugierig und willfährig, jede Auskunft zu geben. Kenyon erfuhr, daß die meisten Reisenden, die nach San Antonio gingen, in der Posada »Los Pajaritos« zu übernachten pflegten, die eine Wegstunde weiter ostwärts auf einer Rodung liege; dort sei eine Chicheria, eine kleine Schankwirtschaft, in der alle auf einer Reise Begriffenen reichlich zu essen und zu trinken fänden und wohl auch ein Cama, ein richtiges Cama (Bett), während hier im Hause nichts zu haben sei als gedörrter Fisch und etwas Käse. Er hörte ferner, daß man sich in einem Rancho befinde, der einem Fazendeiro gehöre, dessen Fazenda (sprich fa-sen-de-i-ro – fa-sen-da) in der Sierra gelegen sei. Ihm gehörten die Rinderherden, mit denen die Vacqueiros auf dem Kamp seien.

Mister Dabny hatte inzwischen seine Nase in das Innere gesteckt, aber schnell wieder zurückgezogen. »Brr!« machte er. »Nicht nur eine elende Baracke, sondern auch seit Jahrzehnten nicht gelüftet. Verschlägt einem etwas den Atem. Nun, ein Klublokal konnte man in dieser Einöde nicht erwarten. Was haben Sie mit den beiden ungewaschenen Indianergroßeltern vereinbart?«

»Noch nichts, aber ich denke, wir bleiben hier. Die nächste Posada liegt eine Stunde weiter. Dort soll Leben herrschen und Aussicht auf ein Cama bestehen. Aber, abgesehen davon, daß uns kurz nach dem Aufbruch dahin die Dunkelheit überraschen würde, hat die Herberge, die den poetischen Namen ›Los Pajaritos‹, ›Zu den Vögelchen‹, führt, wenig Verlockendes. Das Cama besteht bestenfalls aus einer Holzbettstelle, auf der eine Strohmatte oder ein wollenes Tuch liegt. Die Tienda und Chicheria, Kaufladen und Bar, werden die ganze Nacht von durstigen Seelen umlagert sein, die beim Anisado und Chicha, bei Anis- und Maisschnaps, lärmen und johlen, oder, wenn sie besonders gut gelaunt sind, eine kleine Rauferei oder Messerstecherei veranstalten, bei der man nicht eben sanft in Morpheus' Armen ruhen wird. Hier aber sind wir allein, denn die Rinderhirten, die sonst hier hausen, bleiben heute inmitten ihrer Herden. Ich sollte meinen, da fällt einem die Wahl nicht schwer.«

»Einverstanden, zumal das Indianerpärchen wegen vorgerückten Alters nicht gefährlich werden kann.«

»Sie sind doch sonst nicht ängstlich, Mister Dabny!« Harald Kenyon lachte. »Außerdem sind die beiden alten Leutchen ebensowenig Indianer wie mein Arriero.«

»Das sagen die so,« erwiderte Dick Dabny, aber er sattelte schon ab. Er nahm sich dabei in seinen Lackstiefeln sehr schön aus. Ein Mann, der mit Lackstiefeln durch den Urwald pilgern will, war entschieden nichts Alltägliches. Daß Mr. Dabny ein Original war, das hatte sich ja gleich beim ersten Zusammentreffen gezeigt.

»Nicht doch, unsere Quartierwirte sind Cholos, genau wie Huallatingo,« beharrte Kenyon. »Sind, wie der größte Teil der Bevölkerung in Mittel- und Nordperu, Cholos, das heißt Abkömmlinge von Mestizen und Indianerinnen. Allerdings sind die Mestizen bereits aus Weißen und Indianerinnen gemischt.«

»Na also! Danke übrigens für die Belehrung, die hoffentlich nichts kostet! So ist es eben doch, wie man sagt, Jacke wie Hose.«

»Sie sollen insofern recht haben, Mister Dabny, als das indianische Element immer wieder durchschlägt. Bei unserem Huallatingo habe ich es daran gemerkt, daß er noch an den ganzen alten indianischen Götterhimmel glaubt, den sich die roten Urbewohner dieses Landes aufgebaut haben, von denen ja heute nur noch weithin verstreute Reste frei in den Wäldern und an den schwarzen und weißen Flüssen wohnen. Sie hätten hören sollen, was er mir gestern von Curupira, dem Geist des Urwaldes, vorerzählt hat! Das ist nämlich ein amazonischer Rübezahl, der jeden quält und ärgert und an der Nase herumführt, der ungebeten in seine grün-goldne Wildnis eindringt. Mein Cholo wird Ihnen sagen, daß es keine Figur gibt, die der große Zauberer nicht annimmt, und kein Unglück, das er einem nicht in den Weg wirft.«

»Muß ein freundlicher alter Knabe sein.« Dick Dabny hatte aus der Carga den Spirituskocher, ein paar Konservenbüchsen und eine viereckige Flasche größeren Formats mit der Aufschrift »Vino de Manzanilla« herausgekramt. »Fragen Sie doch mal Ihren braunen Mischling, ob dieser Curupira einem auch die Feuerameisen in die Strümpfe steckt! Meine ganze Zehe ist noch giftgeschwollen.«

»In der Tat, hier lebt eine besonders niederträchtige Art. Ich habe mir sagen lassen, daß die Amazonenameisen, deren wissenschaftlicher Name Polyergus rufescens, also ›die Rötlichstrahlende‹, lautet, planmäßige Raubzüge nach anderen Ameisenkolonien unternehmen. Oft werden hierbei die Puppen des überfallenen Stammes geraubt und im eigenen Nest aufgezogen – zu keinem anderen Zwecke, als daß die Geraubten nun für die Amazonenameisen im Schweiße ihres Leibes arbeiten.«

»Alle Wetter! So was ist ja die reinste Sklavenzucht! Und solch ein rötlicher Sklavenhalter hat also in meinen Stiefeln nach Puppen gesucht!«

»Es scheint ein grausames Spiel der Natur,« nickte Kenyon, »diese Tyrannis im kleinen, die schon seit Jahrtausenden geübt werden muß, denn die zu furchtbaren Waffen umgestalteten Freßwerkzeuge der Amazonenameisen sind zu selbständiger Nahrungsaufnahme ungeeignet. Sie müssen von ihren Sklaven gefüttert werden und müßten ohne diese verhungern.«

»Das Beste, was solchem Viehzeug passieren könnte! Und nun eine Frage: Sind Sie etwa gar Professor, Mister Kenyon?«

»Ingenieur, Mister Dabny.«

»Läßt sich hören – doch davon ein andermal. Jetzt kocht das Wasser.« Er schenkte Tee ein. Draußen war es schon ganz dunkel geworden.

Dick Dabny hatte eingesehen, daß man es mit den beiden Alten ruhig eine Nacht lang zusammen unter einem Dache versuchen könne. Huallatingo hatte sich längst mit ihnen angefreundet und schilderte ihnen den Überfall der Kulis auf Dick Dabny in so drastischer Weise, daß den Alten die Haare zu Berge standen. Er ließ sich von ihnen versprechen, die Geschichte jedem Fremden wiederzuerzählen, damit es nicht ein zweites Mal vorkomme, daß gelbe Mörder und Heiden einem ehrlichen, wegkundigen, christlichen Arriero das Brot wegnähmen. Zum Putzen und Füttern des Maulesels von Mister Dabny war er erst zu bewegen, als er zu seinem Erstaunen hörte, daß dieses Reittier von Mister Dabny in Cajamarca käuflich erworben war. Er hatte geglaubt, es sei samt den Chinesen gemietet und ihnen zur Strafe, die er ohnehin viel zu mild fand, abgenommen worden. Nun es sich um keine heidnische bestia handelte, pflegte er das Tier mit einer für einen peruanischen Mietling beachtenswerten Sorgfalt, so daß Mister Dabny, mehr und mehr mit dem indianischen Typus ausgesöhnt, zu Kenyon sagte: »Den Mann sollten Sie behalten. Erneuern Sie doch in San Antonio den Vertrag. Sein indianischer Göttersaal, wie Sie so schön sagten, ist ja kein Hinderungsgrund.«

»Natürlich nicht. Aber zu einem Vertrag gehören immer zwei. Auch kenne ich Huallatingos Familienverhältnisse nicht, da er mir mehr von den Geistern Amazoniens als von seinen Verwandten erzählt hat. Aber natürlich ist mir jeder verläßliche Mann willkommen. Ich habe in Iquitos Zeit, mich nach neuen Hilfskräften umzusehen.«

»Ich nicht. Warum wollen Sie in Iquitos kostbare Zeit versäumen?«

»Weil ich dort Freunde erwarte, mit denen ich weiterreisen und meine Nachforschungen längs des Flusses aufnehmen werde. Es sind Professoren ...«

»Schon wieder?«

»Dozenten von der Universität in San Franzisko, die eine Hilfsexpedition ausgerüstet hat, um über das Schicksal meines Bruders Gewißheit zu erlangen. Allerdings ist das nicht der einzige Zweck dieser bereits seit einigen Wochen unterwegs befindlichen Gelehrtenexpedition, aber in erster Linie will sie mich bei meinen Nachforschungen unterstützen.«

»Selbst ist der Mann.« Dick Dabny, der sich zu seinen Spiegeleiern ein Pfund Rollschinken gelegt hatte, kaute auf sämtlichen gesunden Zähnen. »Mir sind ein paar handfeste Burschen wichtiger, die ich mir im entscheidenden Augenblick schon anwerben will, als ein Stab von Gelehrten. Die zaubern mir meine Diamanten nicht herbei. Und nun wollen wir uns einmal nach unserem Nachtlager umsehen. Da drüben scheint der alte Vacqueiro schon unsere Schlafstätte gerichtet zu haben.«

Dem war auch so. Die Bettstelle war der gestampfte Boden der Hütte, auf die der Alte eine Matratze von Farnblättern gebreitet hatte. Kenyon schlug vor, noch ein wenig Luft vor der Hütte zu schnappen. Dick Dabny war einverstanden, er hatte schon eine schwarze Zigarre im Mundwinkel, um die Luft entsprechend zu würzen.

»Gehen Sie nicht zu weit!« mahnte der lahme Vacqueiro. »Es sind überall Wasserlöcher, und die Nacht ist nicht mondhell. Wenn Sie sich schlafen legen, werden Sie gut tun, den Eingang mit einem Klotz zu verbauen!«

Mister Dabny ließ sich übersetzen, was der Alte gesagt hatte. »Unser Bedarf an Spaziergängen,« meinte er, »ist für heute gedeckt.« Ein wenig mochte ihm doch noch die unfreiwillige Kniewelle in den Gliedern liegen. So begnügte er sich damit, noch ein paar Rauchringe zum Himmel emporzuschicken.

Kenyon konnte sich an dem tiefleuchtenden Nachthimmel nicht satt sehen. »Unser nordischer Himmel,« sagte er, »mag reicher an Sternen sein, hier aber erscheint er gleichwohl prächtiger. Das macht die kristallklare Luft und der wunderbar blauschwarze Hintergrund. Sehen Sie, wie tief da am nördlichen Horizont der Große Bär steht, und wie hoch blinken die Sterne des poesieumwobenen Kreuzes des Südens! Dort, dem Silberschleier der Milchstraße folgend, zieht sich ein breites Band hellster Gestirne vom Orion zum Antares, der so rot funkelt. Und dort glänzt der weiße Sirius, der größte aller Fixsterne, mit seinem Herold Procyon ... dort der glitzernde Kanopus, die strahlenden Zwillingssterne des Zentauren ...«

»Großartig!« meinte Dick Dabny. »Und Musik ist auch dabei. Sagen Sie, soll dieses scheußliche Froschkonzert auf diesen Wiesen die ganze Nacht dauern?«

»Das werden wir in Kauf nehmen müssen. Wir ziehen uns die Decke über die Ohren. Man wird sich daran gewöhnen wie an so vieles andere in den Tropen. Wir stehen nun einmal erst am Ende der Regenzeit, die alle Frösche auf dem Campo zu versammeln pflegt.«

»Das scheint mir auch so. Der reine Kongreß. Die eine Art bellt wie 'n junger Köter, und andere stoßen einen tiefen Triller aus.«

»Ganz richtig haben Sie das herausgehört, Mister Dabny. Das ist Bufo marinus, hierzulande Sapu cururu genannt wegen des seltsamen trillerartigen Lautes, den das Männchen ausstößt. Übrigens gibt es auch einen Kunstpfeifer unter den Fröschen dieser Gegenden, einen Leptodactylus, dessen lautes Pfeifen man von Beginn der Dämmerung bis tief in die Nacht hinein hören kann. Mein Bruder, aus dessen Briefen ich diese Weisheit schöpfte, schrieb, daß er, als er es zum ersten Male hörte, gar nicht geglaubt habe, daß es Frösche, sondern eher, daß es Zikaden seien, die dieses unaufhörliche, eintönige und dabei durchdringende Pfeifkonzert veranstalteten.«

»Das heutige Abendorchester ist stark genug besetzt. Beschwören Sie nicht noch mehr von diesem Chorus herbei!«

»Jedenfalls bekommen wir gleich am ersten Abend im Campo einen richtigen Begriff, welche Unmengen von Fröschen die Wiesen beherbergen. Tagsüber bekommt man sie selten zu Gesicht, da sie im dichten Büschelgras versteckt leben. Ich denke, unsere Ohren werden sich mit der Zeit etwas gegen den Höllenspektakel abstumpfen. Oft werden uns außerdem noch die Heuschrecken etwas vorgeigen und die Grillen konzertieren. Nun, Sie haben ja keine schwachen Nerven.«

»Ich werde einmal die Probe aufs Exempel machen und einzuschlafen versuchen.«

Kenyon folgte ihm in die Hütte, in der sich bereits Huallatingo durch Schnarchtöne bemerkbar machte. Auch die alten Cholos hatten sich schon zur Ruhe begeben.

»Also, nun den Klotz vor die Tür gerammelt!« sagte Mister Dabny. »Eigentlich eine unnötige Sorge von den guten Leutchen. Was könnte wohl ein nächtlicher Einbrecher aus dieser Einzimmerwohnung wegschleppen?«

»Es brauchen ja nicht zweibeinige Besucher zu sein,« antwortete Kenyon.

»Wie? Wollen Sie etwa einen Jaguar an die Wand malen? Oder rechnen Sie mit der Möglichkeit, daß sich ein Alligator aus einem der Tümpel aufmacht, um uns einen Gutenachtkuß auf die Stirn zu drücken?«

»Warum nicht? Raubtiere haben eine gute Nase, und sie könnten wittern, daß hier schön gedörrte Pirarucúsfleischstücke hängen.«

»Um das zu wittern, können sie sogar den Schnupfen haben. Es ist ein mefitischer Dunst, der einem um die Nüstern wogt und schwerlich von den Dörrfischen allein herrühren kann. Wissen Sie, was ich vermute? Nun, daß wir die gewohnte Lagerstätte eines beschaulichen Rindes mit Beschlag belegt haben, das sich heute zufällig auf der Weide die Nacht um die Ohren schlägt.«

Kenyon konnte sich nur immer wieder der ausgezeichneten Laune seines Fahrtgenossen freuen. Er zahlte ihm mit gleicher Münze heim. »Gute Nacht, Mister Dabny. Schlummern Sie wohlriechend!«

»Mit Freikonzert,« knurrte Dick Dabny unter seiner Decke.

Eine halbe Stunde später klopfte es an die Tür, und als nicht gleich aufgetan ward, ging das Klopfen in ein Poltern über.

»Na, jetzt wird's richtig.« Dick Dabny griff – für alle Fälle – nach seinem Revolver. Auch Kenyon hatte sich von seinem Farnlager aufgerichtet. Gleichzeitig riefen sie: »Halt! – Wer da?«

Keine Antwort. Man vernahm lediglich ein erneutes Pochen an die Tür, und dann stieß und versuchte sich jemand an der Wand herum.

»Wer ist draußen?« fragte Dick Dabny noch einmal.

Diesmal blieb die Antwort nicht aus: sie bestand in einem Brüllen ... in einem melodischen, wenn auch etwas betrübten Brüllen.

»Besetzt!« rief Mister Dabny, der sofort die Lösung des Rätsels herausgefunden hatte. Es war ein Stück Rindvieh, das seinen gewohnten Stall suchte! Als jeder Versuch, einzubrechen, vergeblich war, tat es sich draußen hin.

»Der Klügere gibt nach,« stellte Mister Dabny fest. Aber er hatte zu früh gejubelt. Das Tier – wie sich später herausstellte, handelte es sich um eine Kuh, die den Bewohnern des Rancho den täglichen Bedarf an Käse lieferte – hatte in der Tat vor der verbarrikadierten Schwelle zu kampieren beschlossen, aber es brüllte mit kurzen Unterbrechungen betrübt weiter.

Das war auf die Dauer nicht auszuhalten. »Dieses Rindvieh,« stellte Dick Dabny fest, »wird bis Sonnenaufgang weiterbrüllen. Da ist es schon besser, wir lassen es in unser Gemach ein. Was der Mensch braucht, muß er haben, und da die Absichten zweifellos friedlich sind ...« Damit schob er den Pflock beiseite. Die Kuh hatte gesiegt, und sobald sie sich neben dem Farnlager hinstrecken konnte, verstummte ihr wehleidiges Klagen. Die Gäste der Hütte konnten den Rest der Nacht in ungestörter Ruhe genießen.

Früh am Morgen waren Kenyon und Dick Dabny auf, doch der alte Vacqueiro und die Frau waren noch vor ihnen wach und hantierten bereits am Gestell mit den getrockneten Fischen. Sie erwarteten an diesem Tage die Rückkehr der Campeiros (sprich Kam-pé-i-ros) oder Gauchos (sprich Ga-ut-schos), wie die Vacqueiros bekanntlich auch genannt werden, mit der Herde. Da sollte sie ein reichliches Mahl für ausgestandene Biwaknächte belohnen.

Die Sonne stand schon über dem Campo, mit goldenen Säumen leuchteten im Westen die Zacken der Sierra, durch deren letzte Ausläufer tags zuvor der Weg geführt hatte, und auf den höchsten Gebirgskulissen glühte rosig der Schnee. Huallatingo war schon beim Satteln der Reittiere, er pries den schönen Morgen. Als er die Augen aufgeschlagen habe, sei der Himmel bewölkt gewesen, aber die dunklen Wolken hätten sich in voller Flucht vor dem Frührot befunden, und sobald die Sonne über den Waldspitzen erschienen sei, sei das ganze Firmament reingefegt gewesen. Über hellen Flammen kochte das Teewasser. Kenyon bezahlte die Wirtsleute, und die waren nicht wenig darüber beglückt. Mister Dabny meinte, er würde weniger tief in die Tasche gegriffen haben. »Einmal, weil wir wirklich alles andre hatten, nur kein Himmelbett, und zweitens, weil ich mit meinen Kröten haushalten muß. Ich habe keine Universität hinter mir, die mir für die Spesen aufkommt. Aber es geht auch so, ich muß mich, wie gesagt, nur ein bißchen dazuhalten, daß ich so schnell wie möglich an meine Schatzkammer komme.«

»Das klingt wirklich, als wenn Sie Ihrer Sache ganz gewiß wären,« meinte Kenyon.

»Danke. An der nötigen Zuversicht fehlt es nicht. Wie weit haben wir es noch bis San Antonio?«

»Sechzig englische Meilen in der Luftlinie. Huallatingo prophezeit uns zwar einen guten Weg, aber wer weiß, was die Regenzeit aus den sogenannten Straßen gemacht hat! Schon dieser Campo zeigt ja, wie feucht es hier in den letzten Wochen hergegangen ist.«

Von einem freundlichen » Adios! Buen viaje!« der alten Cholos begleitet, ging es dem Walde entgegen. Der nächste Marschrichtungspunkt war die Posada »Los Pajaritos«. Der Campo war keineswegs eine einförmige, sich allenthalben gleichbleibende Grassteppe. Abgesehen davon, daß oft eine breitere oder schmälere Waldzunge bis weit in das Innere des Graslandes vordrang, waren auch vielfach kleine vereinzelte Wäldchen in dasselbe eingestreut, die Vegetation der Steppe war infolgedessen abwechslungsreich und, je nachdem im Campo trockene Stellen mit mehr oder weniger feuchten abwechselten, war auch die Flora verschieden. Es gab trockene, steinhart gebrannte Teile, die mit einer niederen, in flachen Polstern wachsenden, fiederblätterigen und stacheligen Pflanze bedeckt waren und das Vorwärtskommen erschwerten.

An sumpfigen Stellen wieder und in der Nähe der Igarapés, an Tümpeln und Wasserlachen, wuchsen dichte Bestände einer einen bis anderthalb Meter hohen Staude mit windenartigen Blüten, der sogenannte Algodão bravo, dessen lateinischer Name Ipomea fistulosa lautet. Die Hauptfläche des Campos aber war von den hohen Büscheln des Camposgrases, dem »Capim«, eingenommen, das die Hauptnahrung der Rinderherden der Fazendeiros bildet.

»Laubbäume, wie gestern,« ließ sich Mister Dabny hören. »Die könnten ebensogut an der Landstraße bei St. Louis stehen. Noch nicht eine einzige Palme, und dabei sind wir, wenn mich meine Karte richtig belehrt, kaum vier Grad vom Äquator entfernt. Ich muß gestehen, für den Anfang bin ich etwas enttäuscht. Nichts von den zahllosen Blumen, die ich erwartet hatte. Weder ein Brüllaffe hat uns Gutenmorgen gewünscht, noch einer der bunten Wundervögel hat sich mir vor die Nase gesetzt.«

Kenyon lächelte. »Wir werden das eine wie das andere noch früh genug erleben. In diesen Tesos scheinen allerdings die Palmen wenig vertreten zu sein, in anderen wird es ihrer umso mehr geben, und dann reiten wir ja auch am äußersten Waldrand. Dringt man tiefer in diese Wäldchen ein, so können die Wunder, die Sie herbeiwünschen, nicht fehlen.«

»Und die man nicht herbeiwünscht, die hat man. Eben hat mich ein Moskito gestochen, der zweifellos im dicksten Urwald groß geworden ist.«

»Das kommt davon, daß Sie sich keine Zigarre angesteckt haben.« Kenyon hatte längst seine gewohnte Shagpfeife in Brand gesetzt.

»Nein, es kommt in erster Linie davon, daß ich so süßes Blut habe. Schon in den ersten Hosen bekam ich von allen intelligenten Einwohnern von St. Louis täglich zu hören: ›Welch süßer Junge!‹ Heranreifend habe ich vermutlich einige meiner Bewunderer enttäuscht – nur die Blutsauger nicht. Derartige Insekten wittern mich auf Meilen. Nun, ich werde mir von morgen an den Leib mit derartig scharfen Essenzen salben, daß den Mücken der Appetit vergeht. Ich habe mir in Cajamarca meine Reiseapotheke frisch auffüllen lassen. Wünschen Sie einen Schluck aus der Flasche zu tun?«

»Von Ihren Mückengiften?«

»Nicht doch. Ich fasse den Begriff ›Reiseapotheke‹ natürlich weiter; auch die sogenannten Herz- und Magenstärkungen ließ ich frisch auffüllen.«

Aber Kenyon wehrte lachend ab und erklärte, frühmorgens jeden Tropfen Alkohol zu meiden.

»Tue ich im allgemeinen auch, zumal mein Sport mir keine alkoholischen Ausschweifungen erlaubt ...«

»Und hier denken Sie: ›Andere Länder, andere Sitten‹? Da möchte ich doch in aller Freundschaft recht herzlich warnen, die guten Gepflogenheiten leichtherzig über Bord zu werfen.«

»Da Sie mein Lebensretter sind, Mister Kenyon, wage ich Ihnen nicht zu widersprechen. Die Flasche soll also zunächst zugekorkt bleiben, und meine Reiseapotheke will ich, um Ihnen eine Freude zu machen, in Giftapotheke umtaufen. Sind Sie's zufrieden?«

»Es ist ein Anfang. Nun will ich Ihnen auch einen Gefallen tun. Meine Karte belehrt mich, daß es keinen Umweg bedeutet, wenn wir hier den Busch zur rechten Hand durchqueren. Sie wollen ja einen Vorschmack eines echten tropischen Urwaldes genießen. Nur sehen Sie sich vor – es kann hier Schlangen geben, und Sie tragen noch immer Ihre dünnen Lackstiefel.«

»Weil sie mir bequem sind. Und dann vergessen Sie nicht: man darf ja auch nicht so abgerissen bei den Rothäuten ankommen. Feine Leute, feine Sachen.«

Huallatingo mußte, dem Maultier Mister Kenyons voranschreitend, schon nach den ersten zehn Schritten zum Fação (sprich Fakong), dem kurzen Waldmesser, greifen, da breitblättrige Nesselarten das Eindringen in den Wald hemmten. Wie Kenyon vorausgesagt hatte, sahen sich die Eindringlinge plötzlich einem undurchdringlichen Lianengewirr gegenüber.

Mister Dabny hob unwillkürlich seine Reitgerte, weil er eine Riesenschlange vor sich zu sehen glaubte. Aber es war eine Liane, eine Cipó, wie sie der Eingeborene nennt, die in armdicken Stämmen zu der Krone eines besonders hohen Baumes emporstieg und oben durch zahllose Verästelungen einen mächtigen, schier unentwirrbaren Knäuel bildete.

»Sind Sie nun zufrieden?« fragte Harald Kenyon.

Dick Dabny nickte. »Alles, was recht ist! Der Baum, der an sich schon durch das herabhängende Bartmoos wie ein zottiger Waldschrat aussieht, hat sich ja einen niedlichen Schmarotzer aufladen lassen. Ich dachte zuerst, Sie hätten mich direkt ins Hauptquartier einer Anakonda geschleppt.«

»Tatsächlich, die Ähnlichkeit mit dem Leibe einer Schlange ist nicht zu bestreiten. Ich erinnere mich, daß Eingeborene in Kolumbien, wo ich vor fünf Jahren einen Brückenbau vollenden half, beim Anblick einer Schlange, der besonders langen und schlanken Himantodes cenchoa, auszurufen pflegten: ›El bejuco!‹ Das Reptil, das auch hierzulande vorkommt, gleicht in der Tat einer Liane, die in Kolumbien el bejuco heißt.«

»Sie sollten wirklich nicht aufs Eintreffen der Professoren warten,« meinte Dick Dabny. »Sie reden ja wie ein Buch. Ich mache Ihnen den Vorschlag, reisen Sie gleich mit mir weiter. Ich habe es eilig.«

»Dann wollen wir lieber umkehren und um den Wald herumreiten. Die Wirrnis hier ist bedrohlicher, als ich dachte.«

»Einverstanden – wie immer. Gegen diese Pflanzenmuskeln kann man nicht anboxen.«

»Wenigstens gehört Geduld dazu. Huallatingo stöhnt schon im Schweiße seines Angesichts.«

Wenige Minuten später hatten sie wieder die alte Richtung aufgenommen. Der Weg, den Wagenspuren nicht gerade besser gemacht hatten, lag jetzt schon unter praller Sonne. Zwischen den Grasstauden schossen an seinen Rändern niedere Büsche hervor, sogenannte Chaparros, mit rauhen, lederartigen Blättern, oder Mimosengestrüpp, die das Auge immer wieder durch die Zierlichkeit ihres Strauch- und Blätterwerks und ihre violetten Blüten anzogen. Auch die Tierwelt hatte sich an die Sonne gewagt. Ratten und Hasenmäuse huschten über den Weg, Reiher stolzierten über den Kamp, und vom Walde kam ein rabenartiges Krächzen. Die lärmenden Gesellen entpuppten sich sehr bald als Papageien, allerdings als eine kleine Sorte, was ihnen den Namen Sperlingspapageien eingetragen hat.

»Diese Lärmer werden uns noch oft genug in den Ohren liegen,« sagte Kenyon.

»Das haben sie schon in den Bergen besorgt. Aber hier scheinen sie nur in Massen aufzutreten. Ich glaube, da drüben sitzt ein ganzer Baum voll.«

»Auch das ist nichts Seltenes. Es sind äußerst gesellige Vögel, dabei lärmender als ihre Vettern, die Krähen. Der Sperlingspapagei ist namentlich bei den Ansiedlungen ebenso in hellen Haufen vertreten wie der Spatz im Norden. Das Volk nennt ihn ›perico común‹. Das will schon etwas sagen, denn in Peru und Brasilien werden weit über fünfzig verschiedene kurzgeschwänzte Papageienarten gezählt, zu denen noch ebensoviel langgeschwänzte Arten, die Sittiche, kommen.«

»Die Zeit möchte ich haben, um das auszurechnen,« sagte Dick Dabny. »Und außerdem möchte ich die Elle sehen, mit der der alte Vacqueiro den Weg nach der Posada auf der Rodung gemessen hat, in die er uns noch gestern bei Neumond hinausjagen wollte. Flunkerte er nicht, es sei nur eine Wegstunde bis dahin?«

»Vielleicht meinte er für einen Reiter. Doch da vorn scheint sie zu liegen. Sehen Sie nicht, daß da kerzengerade ein Rauch in die Luft steigt?«

»Stimmt! Und dort kommen drei Wanderer.«

Schon beim Näherkommen waren sie als Gauchos zu erkennen. Ein brasilianischer Wolfshund kam ihnen in großen Sprüngen vorangehetzt. Von den Leuten, die ihre Ruana um die Schulter geworfen hatten, trug der eine den Arm in der Binde. Ein zweiter hatte eine Mandoline geschultert. Sie waren hochgewachsen und sehnig und blieben gleichzeitig stehen, wobei der eine den Hund zurückrief. In dieser Gegend begegneten sich niemals Menschen, ohne einen Gruß auszutauschen und nach dem Woher und Wohin zu fragen.

»Ungewöhnlich mächtige Exemplare,« sagte Dick Dabny und setzte ungeniert hinzu, weil er sicher wußte, daß die Männer kein Wort Englisch verstanden: »Von einer wilden Räuberschönheit. Indianer selbstverständlich?«

Es waren Cholos, die Spanisch, mit etlichen Brocken Portugiesisch untermischt, sprachen. Kenyon erfuhr, daß sie auf dem Wege zu dem Rancho waren, in dem er mit Mister Dabny die letzte Nacht verbracht hatte.

Der Sprecher der drei beglückwünschte Kenyon, daß er nicht bis zur Posada »Los Pajaritos« gegangen sei. Die Nacht sei schlimm gewesen.

»Ist es keine gute Herberge?« fragte Kenyon.

»Wir haben keine bessere,« antwortete der Peruaner. »Aber letzte Nacht war es die Hölle. Alles gedrängt voll, alles berauscht. Torquato« – er machte eine Kopfbewegung nach dem Gefährten mit der Mandoline – »und zwei andere spielten auf, doch bald war kein Ton von der Musik mehr zu hören. Eine Verbrecherjagd hat es auch gegeben. Sie ist nicht weiter als bis vors Haus gekommen. Und Seraphim trägt, wie Sie sehen, den Arm in der Schlinge. Wir haben ihn verbunden. Er wußte nicht, wie er zu dem Schuß kam. Und ein Fremder, einer von drüben, ist auf dem Platze geblieben.«

Kenyon dankte für die Auskunft, der der Peruaner noch ein paar Winke für die weitere Strecke hinzufügte. Er kannte den Weg nach Antonio gut und war selbst auf dem Flusse gefahren, als es Häute nach Shirue zu transportieren gab. Die Leute bekamen etwas Tabak und schüttelten den Spendern dankbar die Hand. Dann trennte man sich.

»Was hatte denn der Sohn der Steppe alles auf dem Herzen?« erkundigte sich Dabny, der dem Gespräch nicht hatte folgen können.

»Er hat uns bestätigt, daß wir gut daran getan haben, in unserem Rancho zu bleiben. Man hat sich in der Posada ›Zu den Vögelchen‹ gehörig die Federn gezaust. Pistolen haben geknallt, und eine Räuberjagd hat es auch gegeben.«

»Was Sie sagen! Also – um offen zu sein – da ist mir unser Nachtbetrieb mit der leise heimkehrenden Kuh immernoch lieber.«

»Geschossen haben sie auch, der eine Vacqueiro hatte, wie Sie sahen, einen Streifschuß abbekommen.«

»Unerhört! Wenn man nicht schießen kann, sollte man doch gar nicht erst eine Flinte in die Hand nehmen.«

»Und von einem Verbrecher, der entkommen ist, sprach der Mann auch.«

»Nur einer? Warum hat man die andern nicht auch entkommen lassen? Schließlich müssen wir für die noch die Zeche bezahlen.«

»Sie haben wirklich eine gar zu schlechte Meinung von allen dunkelhäutigen Mitmenschen, Mister Dabny. Das müssen Sie sich abgewöhnen. Übrigens liegt die Schenke jetzt im tiefsten Frieden.«

»Die Leute werden ihren Rausch ausschlafen.«

Zum Teil sollte Mister Dabny recht haben. Es lagen noch eine ganze Anzahl bärtiger und unbärtiger Burschen auf dem Fußboden, zwei sogar unmittelbar neben der Tür auf dem staubigen Rasen, ein schmutziges Bündel miteinander teilend. Auf einem Stuhl neben der Bar hing ein starkknochiger Gaucho, einen Lasso auf der haarigen Brust. Er schnaufte und stöhnte. Aus den offenen Fenstern wogte der Gestank von sauren Getränken, Tabak und anderen Dingen. Ein schmutziger Herbergsvater stocherte hinter dem Schanktisch mit einem Nagel seine Zähne. Nein, diese Posada hatte wirklich nichts Verlockendes.

Kenyon und Dick Dabny wechselten nur einen Blick, der sagen wollte: Hier bleiben wir nicht. Der Wirt schlürfte trotzdem an sie heran. » Buenos dias, Señores! Con que puedo servirle? Womit darf ich dienen? Ich bin erfreut. In einer Viertelstunde wird mein Haus vor Sauberkeit nur so glänzen. Man hat Mitleid mit den armen Burschen« – er zeigte auf die Schläfer – »man nimmt sie um Gottes Barmherzigkeit auf. Aber gleich werde ich alle auf die Beine bringen.«

»Nicht unsertwegen! Nicht nötig!« wehrte Kenyon. »Wir wünschen uns nicht aufzuhalten.«

Der Posadero machte ein mißtrauisches Gesicht. »Ah, Caballeros ... ich verstehe! Sie sind mit einigen meiner Gäste unterwegs zusammengetroffen. Man hat Ihnen erzählt ... es hat nichts auf sich ... Was wird man Ihnen gesagt haben, meine Herren?«

»Es gab eine Schießerei ...«

»Eine kleine Schießerei, oh, eine winzige Schießerei. Alle Spuren sind so gut wie getilgt. Sie werden in der nächsten Zeit von keiner Fliege in meinem Hause belästigt werden ...«

Die Versicherungen, in denen sich der Wirt noch weiter erging, konnten die beiden Weißen nicht bewegen, länger vor der so wenig einladenden Gaststätte zu bleiben, als es unbedingt nötig war. Sie bekamen, als sie aufbrachen, einen ungebetenen, aber, wie sich später herausstellte, nicht den schlechtesten Reisegenossen in dem riesenhaften Gaucho, der auf dem Stuhl geschlafen hatte. Er wollte in die Nähe von San Antonio und erklärte: »Sie können mich unterwegs gebrauchen.«

»Reden Sie von der Unsicherheit des Wegs?« fragte Kenyon.

»Man kann nicht wissen,« antwortete der starkknochige Mann. »Sehen Sie dort« – und er zeigte, ohne sich noch einmal nach dem Posadero und den andern Männern in der Schenke umzusehen, auf einen Busch neben der Zisterne – »dort haben sie einen Toten in seine Ruana gewickelt. Es ist ein Brasilianer, der Händler Lobato aus einer Stadt hinter der Grenze. Er kaufte einen Diamanten, über die Kaufsumme brach ein Streit los, der Mann, der ihm den Diamanten – natürlich einen gestohlenen, Señores – verkauft hatte, wollte mehr Geld herausschlagen. Er schoß, und im Gedränge entkam er, nicht ohne sowohl das schon erhaltene Geld als auch den Diamanten wieder mitzunehmen. Es war ein Strauchritter schlimmster Sorte. Er kann noch nicht weit sein.«

»Dann werden ihn die Landjäger kriegen,« sagte Kenyon.

»Das hat gute Weile. Aber der Bursche könnte inzwischen sein Handwerk fortsetzen. Es ist schon besser, ich gehe mit Ihnen, da er Ihnen nicht zu nahe kommt, wenn er mich sieht.«

Kenyon faßte Zutrauen zu dem Gaucho. Er war von derbem, aber offenem Wesen. Was er sagte, war einleuchtend. Als Dick Dabny von dem Diamantengeschäft hörte, wurde er erregt. »Den Burschen möchte ich sehen. Lassen Sie sich ihn recht genau beschreiben, Mister Kenyon. Ich habe meine Gründe. Solche Diamantenhändler stecken alle unter einer Decke. Ich könnte wertvolle Fingerzeige von ihm bekommen.«

»Oder vorher unversehens eine Kugel aus dem Dickicht.« Trotzdem ließ sich Kenyon von dem Gaucho sagen, wie der Mann ausgesehen hatte. Danach war der Flüchtige unter Hunderten leicht herauszufinden, denn er sei pockennarbig, und an der linken Hand hätten ihm zwei Finger gefehlt. Der Gaucho fügte hinzu, daß der Mensch schon öfters in der Gegend herumgestreift sei und Händel gehabt habe. Zudem scheine er weder Peruaner noch Brasilianer, sondern ein Fremder zu sein, obwohl er etwas Portugiesisch spreche. Auch in Begleitung von Marubosleuten habe man ihn herumstrolchen sehen.

»In Gesellschaft von Rothäuten?«

Der Gaucho nickte. »Er wird seine guten Gründe haben, daß er die festen Plätze meidet. Es gibt hier eine Menge Leute, die von drüben – von Brasilien gekommen sind, wenn sie etwas auf dem Kerbholz haben.«

Dick Dabny nickte befriedigt über die Auskunft. »Der Mann hat eine Visitenkarte, die man sich wird merken müssen,« sagte er. Der Weg schlängelte sich jetzt am Waldsaum entlang. Überall war der Kamp von Waldstreifen, von Galeriewäldern, durchsetzt. In den Kronen der hohen Bäume tummelten sich rote Stärlinge, zahllose grüne Papageien und Schwärme bunter Pfefferfresser, mit ihren starken, langen Schnäbeln und prächtigem Gefieder. Sie gefielen sich in ohrenzerreißendem Lärmen. Besonders die Amazonenpapageien machten sich als aufdringliche Schreihälse bemerkbar. Auch Kolibris strichen, vielfach tief zwischen dem Gestrüpp, unter lautem Summen umher, und ein anderer, unscheinbarer grauer Vogel von etwa Drosselgröße, Lathria cinerea genannt, ließ dazwischen seinen nicht unangenehmen, aber überaus lauten, jauchzenden Ruf hören, der mit der Schärfe eines Peitschenknalls die Luft durchdrang. Bunte Schmetterlinge gaukelten vor den Reisenden her. Der Weg war stellenweise sumpfig, vielfach mit Pfählen belegt, die aber morsch geworden waren und unter dem Huf der Maultiere zusammenbrachen, die dann mehrmals bis hoch über die Fesseln im Morast versanken.

Prieto, wie der Gaucho sich nannte, war ein für seinesgleichen weit herumgekommener und intelligenter Mann. Er erzählte, daß er in Barranca, als man dort die ersten Stierkämpfe veranstaltete, als Picador geglänzt habe. Mehr als ein Dutzend Kämpfe hatte er bestanden und die stärksten Toros bravos getötet. Mehr als einmal sei er aus dem Sattel gehoben worden, aber immer sei es ihm im letzten Augenblick gelungen, dem Stier die Lanze in den Nacken zu stoßen. Jetzt sei er zu alt zum Picador, und die Kämpfe seien nicht mehr das wie früher. So sei er » a las vacas«, zu den Kühen, gegangen.

»Das ist gescheiter als vor die Hunde,« sagte Dick Dabny. »Wenn ich hoch bei Jahren bin, gebe ich auch meinen Sport auf, aber keine Minute eher!«

Am Nachmittag kamen sie in die Nähe des Flusses, der wenige Meilen von San Antonio in den Maranhão mündet, des Rio Cahuapanas. Seine Nachbarschaft kündigte sich einerseits durch immer lästiger werdende Moskitos an, anderseits durch ein heulendes Bellen.

»Hunde? – Perros?«

Der Gaucho Prieto schüttelte den Kopf, » Perros de agua – Fischottern. Sie sind gleich zu sehen.« – Und so war es auch. Es waren riesige Fischottern, Lontren, Wasserhunde, wie Prieto sie nannte, die das Bellen ausstießen. Nahe dem Ufer im Wasser spielend, reckten sie ihre glatthaarigen Köpfe hoch aus den Wellen heraus und machten durchaus keine Miene, sich verscheuchen zu lassen. Der Gaucho warf einen Stein nach ihnen. Auch das schien die neugierigen Pelzträger nicht weiter zu stören; wo ein Kopf untertauchte, erschienen gleich danach mehrere.

Auch Pekaris sollten der kleinen Reisegesellschaft bald danach in den Weg laufen ... »Caitetú« nannte Prieto sie. Es war ein Rudel jener kleineren Art von Wildschweinen, die, ebenso wie ihre größeren Artgenossen, die Queixo-branco (sprich Ke-ischo-branko), das ergiebigste Jagdwild jener Uferwälder ausmachen. Die größeren Exemplare des Rudels, das den Weg kreuzte, maßen beinahe einen Meter. Die Beine waren ziemlich dünn und lang, der Kopf dick und gedrungen. Mit schwärzlichem Rücken und braunen Flanken stürmten sie dahin.

Huallatingo war bei dem Anblick der Borstenträger mit einem flinken Satz auf den nächsten Baum gesprungen. Auch die Mulas hatten kehrt machen wollen. Der Gaucho aber erklärte: »Keine Gefahr! Nur angegriffen, werden sie bissig. Sie haben dann schon Mensch und Hund angenommen, und selbst der Jaguar soll vor ihren Hauern flüchten. Aber dies hier sind wenige und nur kleine.«

»Haben Sie einmal welche gejagt?« fragte Kenyon.

»Nicht hier,« antwortete der Gaucho. »Nicht solche. Es waren Bisamschweine, ein Rudel von hundert Stück oder mehr, und da war die Jagd nicht ohne Fährlichkeit. Sie taten mutig, aber mir schien, ihr Mut war mehr der eines wilden Vorwärtsstürmens als ein planmäßiger Angriff. Sie rannten blindlings drauf los, und jedes Hindernis, das im Wege lag, schien sie in Raserei zu versetzen. Aber sie hielten nicht zusammen. Der Haupttrupp bekümmerte sich nicht um das Schicksal des Nachtrabs.«

»Sieht den Schweinen ähnlich,« schimpfte Dick Dabny, der sich alles von Kenyon wiedererzählen ließ. »Ich habe mal ein gezähmtes Bisamschwein gesehen; es lief auf der Hinterhand und suchte Taschentücher. Von Raserei war nichts zu merken. Andere Länder, andere Sitten.«

Ein völlig neues Bild bot der Rancho, den der kleine Trupp zwei Leguas (drei Wegstunden) später erreichte. Er war das Ziel des anstrengenden Tagemarsches und bestand aus einer von Rohr gebauten und mit Riesenblättern gedeckten Hütte. Eigentliche Wände umgaben nur den Kochraum, sonst war der Rancho nach allen Seiten offen. Am Rande des Daches hingen Hängematten, wohl ein Dutzend oder mehr, den Rancho damit als Nachtherberge ausweisend. Ein paar Ackergäule, das Haar wie Stacheldraht gesträubt, lehnten traurig über den Zaun. Ein Mestize, der nur noch einen Ärmel am Rock hatte, mußte ein Hühnervolk von der Schwelle jagen, um den Eingang einigermaßen frei zu machen. Aber der gedielte Boden war sauber weiß. Ein Sofa, mit grauem Rips überzogen, leuchtete sogar freundlich, und in der Ecke stand ein Grammophonapparat. Ein gezähmter Affe bewegte unausgesetzt den Trichter hin und her.

Bis auf eine Bande ungewaschener, halbbekleideter Kinder bot der Rancho keinen unsauberen Anblick. Mit dem letzten Quartier konnte er es jedenfalls aufnehmen.

Seltsamerweise musterte der Gaucho den Rancho keineswegs mit einem freundlichen Blicke, so daß Kenyon ihn nach dem Grunde fragte.

Der starkknochige Mann wiegte den Kopf. »Ich suche jemand, ohne ihn entdecken zu können.«

»Sie erwarteten hier jemanden?«

»Nein, aber hier scheint jemand erwartet zu werden. Ihnen ist der rote Bursche wahrscheinlich nicht aufgefallen, der hinter den Ackergäulen lehnte. Er verkroch sich sogleich wieder.«

Kenyon mußte zugeben, daß er keinen roten Burschen gesehen hatte. Was es damit auf sich habe?

»Er spionierte. Er gab scharf acht auf uns und huschte dann ums Haus, um jemand anders eine Nachricht zu bringen. Ich habe also richtig unterwegs beobachtet.«

»Sie reden etwas in Rätseln, Don Prieto. Was beobachteten Sie unterwegs?«

»Eine Fußspur, die vor uns herlief, eine frische Spur. Gleich, als ich sie zuerst sah, glaubte ich, auf der richtigen Fährte zu sein. Ich hatte mir die Alpargatos, die Bastschuhe des Fremden, genau angesehen, der gestern nacht den Händler Lobato niederschoß.«

»Ah ... den unheimlichen Fremden, vor dem Sie uns warnten? Den Diamantenhändler? Und Sie glauben, daß er hier ist?«

»Das glaube ich allerdings. Die Rothaut war ein Marubo, einer von den Indianern, mit denen man öfters den Pockennarbigen gesehen hat.«

»Sind schon Gäste angelangt?« fragte Prieto den Mestizen.

Der Mann überhörte die Frage. »Die Señores werden Platz bei uns haben,« sagte er. »Guten Platz und eine gute Comida (gegen Abend genommene Hauptmahlzeit). Belieben die Herren, es sich bequem zu machen!«

Der Gaucho sollte recht behalten. Der Wirt kam vom Felde, und bald dampfte die Comida auf dem Tische. Während die neuen Ankömmlinge in dem Hauptraum der Posada das Mahl einnahmen, tauchte ein Indianer in der Küche auf, der sich mit Eßvorräten belud und lautlos wieder in die Gegend des Flusses verschwand.

»Wir könnten den Mischling fragen, für wen das Essen geholt wird,« sagte Prieto zu Kenyon, »aber wir würden ihn dadurch nur stutzig machen. Sicherlich ist er von dem Pockennarbigen dafür gewonnen, daß er von dessen Anwesenheit nichts verrät. Durch seinen Marubo hat jener Pistolenheld natürlich längst erfahren, daß in meiner Person ein Zeuge der Vorfälle in der Posada ›Los Pajaritos‹ hier angekommen ist, und das ist der Grund, daß er sich nicht blicken läßt.«

»Sie scheinen Ihrer Sache merkwürdig sicher zu sein.«

»Wer tagein, tagaus, zu allen Jahreszeiten im Kamp und am Rande der Flußwälder haust wie unsereiner, der versteht sich auf Fußspuren genau so gut wie eine Rothaut.«

»Also zugegeben, der gewalttätige Fremde hält sich hier in unmittelbarer Nähe auf – was könnte es uns schaden? Er wird sich hüten, sich zu zeigen.«

Der Gaucho nickte. »Solange es hell ist. Am Flusse kann er nicht schlafen. Der Onça ( Onça vermelha, der portugiesische Name für den gefleckten Jaguar) lebt im Unterholz des Uferwaldes. Der Mann kann nicht des Nachts des Weges ziehen, denn von hier geht es bis zum Maranhão immer im Flußtale weiter. Er wird sich ins Haus begeben, sobald es finster ist.«

»Und was werden wir tun?«

»Auf unsere Sachen aufpassen, Sie vor allem auf Ihre Mulas.«

Kenyon überlegte. Dann fragte er: »Liegt Ihnen nicht daran, daß der Mann unschädlich gemacht wird? Sie sind stark, Don Prieto ...«

»Nein!« kam es kurz von den Lippen des Gauchos, »ich mache mir nicht die Hände schmutzig wegen eines solchen Menschen. Und dann – erinnern Sie sich, daß ich Ihnen sagte, daß er immer mit den Rothäuten unter einer Decke steckt? Hol' mich der Geier, wenn ich mir die ganze Sippschaft auf den Hals lade! Ich muß oft durch diesen Busch. Der Kommissionär, zu dem ich gehe, wohnt drei Leguas östlich vom Rio. Ein Pfeil aus dem Hinterhalt schwirrt schnell.«

»Nun verstehe ich,« nickte Kenyon. Er hob den Blick zum Himmel. Der jähe Wechsel von Tag und Nacht, der selbst nach Monaten noch den Tropenreisenden zu überraschen pflegt, hatte sich bereits vollzogen. Immer wieder verwirrte auch Kenyon die rasche Aufeinanderfolge der Farben des Himmels und das jähe Versinken leuchtender Strahlenpracht in stichdunkle Nacht. Es war nicht anders, als ob mit Gedankenschnelle ein Vorhang am Himmelsgewölbe heraufrollte, so unerwartet plötzlich standen die Sterne über dem Rancho.

»Gut, daß Sie dem Gaucho etwas auf den Zahn gefühlt haben,« bemerkte Dick Dabny zu Kenyon, während er seinen Mosquitero aus dem Mantelsack nahm, das Mückennetz, ohne das sich niemand in der Nähe des Flusses zur Ruhe zu legen pflegt. »Halten Sie den ungeschlachten Gesellen für ungefährlich?«

»Durchaus. Wie kommen Sie plötzlich auf Ihren Argwohn?«

»Ich sah ihn eben, als ich nochmal ganz schnell nach den Sternen guckte – denn ich muß immer wissen, ob noch alle da sind – recht verdächtig an unseren Mauleseln herumhantieren.«

Kenyon lächelte überlegen. »Tat er das? Er wird seine guten Gründe haben. Morgen früh will ich Ihnen Näheres darüber sagen. Heute nur so viel, daß Sie völlig beruhigt Ihren Chinchorro besteigen können.«

»Chinchorro? Warum nicht gleich den Chimborasso?«

»Ah so! Sie wußten nicht, daß die Indianer, in deren Wäldern wir von heute an zu Gaste sind, mit Chinchorro die Hängematte bezeichnen?«

»Keine blasse Ahnung! Besten Dank für die Sprachbereicherung! Ja, die Hängematte soll heute nicht lange auf mich warten müssen. Heute schlafe ich ungewiegt – und wenn die Frösche meinethalben Posaune blasen!«


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