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Der Dunst der Arbeit der Millionenstadt versank hinter dem eilenden Zuge in der Ferne. Die letzten rußigen Schornsteine und öde, gelbe Fabrikquadrate blieben zurück. Dem der Großstadt vorgelagerten Laubengelände folgte das grüne Flachland mit seinen wogenden Roggenfeldern, deren Ähren reif und schwer im Sonnengolde des heißen Augusttages nickten.
Florian Burger hatte das Fenster des Abteils geöffnet, in dem er mit dem Privatdetektiv allein saß, und meinte, sichtlich aufatmend: »Bei aller Hochachtung vor dem Fleiß Berlins, den uns sein ungeheurer Aufschwung aus Schritt und Tritt vor Augen führt, bin ich nie böse, wenn ich das brausende Häusermeer wieder hinter mir habe, das so viel Elend und Grauen in sich birgt, von dem wohl nur ein verschwindend kleiner Teil zu unserer Kenntnis gelangt. Dabei habe ich nicht nur den abscheulichen Fall mit unserem heimtückisch hingemordeten Scholta im Auge, sondern die unerhörte Unsicherheit für Leben und Eigentum, die sich, nicht zuletzt unter den verrohenden Wirkungen des Krieges, allenthalben herausgebildet hat.«
»Die allerjüngste Zeit könnte Ihnen recht geben,« erwiderte Ralf Recking. »Da hatten wir in der Tat Wochen, wo die roten Anschläge, die Kunde von Kapitalverbrechen geben, nicht mehr von den Litfaßsäulen verschwinden wollten; aber Berlin ist immer noch verhältnismäßig sicherer als London oder Paris, wo es schon vor dem Kriege nicht viel anders als in Wildwest zuging. Zeitweise schien freilich unsere Polizei, zumal vielfach mit Aufgaben überlastet, die ihrem wichtigsten Wirkungskreise recht fernlagen, dem Ansturm der Verbrecherwelt nicht mehr gewachsen zu sein, aber jeder Tag hat, nachdem man einmal die Wurzeln des Übels erkannt hat, eine wesentliche Besserung mit sich gebracht, wenn ich auch zugeben muß, daß die Großstadt stets der sicherste Unterschlupf für lichtscheues Gesindel bleiben wird. Das war im alten Rom so, das ist noch immer die dunkle Seite einer Millionenstadt geblieben. Aber ebenso gilt noch immer das römische Dichterwort: Iliacos intra muros peccatur et extra. Es wird innerhalb der Mauern von Ilion gesündigt und außerhalb. Auch in der stillen Abgeschiedenheit des Landes vollziehen sich Kapitalverbrechen, wo wir sie am wenigsten vermuten.«
»Und was mich am meisten ärgert,« fuhr Florian Burger fort, der nicht darauf achtete, daß Ralf Recking seine letzten Worte mit einer eigentümlichen Betonung gesagt hatte und sinnend zum Fenster hinausblickte, »was mich besonders ärgert, ist der Umstand, von dem ich jetzt so oft lese, daß so viele Verbrecher von ärztlicher Seite als unzurechnungsfähig erklärt werden und damit der Bestrafung entgehen. Die Theorien des Lombroso scheinen nachgerade alle Köpfe verwirrt zu haben, und es wird bald die Zeit kommen, wo jeder notorische Verbrecher seinen Jagdschein in der Tasche hat.«
»Wenn Sie Lombroso nennen,« sagte der Detektiv lebhaft, »so sprechen Sie ein großes Wort gelassen aus. Der Weitblick dieses genialen Psychiaters muß jeden, der sich das Studium der Verbrecherwelt zur Aufgabe gestellt hat, mit rückhaltloser Bewunderung erfüllen, und ich bekenne offen, daß mich in manchem Falle, in dem ich verzweifeln wollte, der Name dieses Altmeisters, der so verworrene Fäden kunstfertig zu entwirren versteht, mit neuem Schaffensmut erfüllt hat. Ich gehöre nicht zu jenen, die scharf zugepackt wissen wollen auf die Gefahr hin, daß ein Unschuldiger mit darunter leidet, wie es leider in so manchem summarischen Strafverfahren vorkommt, mögen noch so viele überheblich verkünden, in unserer Zeit könne von einem Justizmord überhaupt nicht mehr die Rede sein. Doch ich will nicht von Meister Lombroso abkommen. Seine Theorien haben in unendlich vielen Fällen das erreicht, daß ein Unschuldiger gerettet wurde auf die Gefahr hin, daß auch einmal ein gerissener Junge seine Sachverständigen geschickt zu täuschen verstand.«
»Nun, in dieser Beziehung will ich gewiß nicht härter sein als Sie,« sagte der Pfarrer. »Nur hatte ich den Eindruck, daß unsere Psychiater allzu leicht geneigt sind, auf die Fallstricke jener mit allen Wassern gewaschenen Burschen hineinzufallen.«
»Das hieße die Gewissenhaftigkeit der gerichtlich bestellten Psychiater unterschätzen. Immerhin will ich zugeben, daß zur Beseitigung der von Ihnen genannten Gefahr noch mehr getan werden könnte, beispielsweise wenn ein ganzes Kollegium gebildet würde, dem allein das Recht zustände, Geisteskrankheit zu bescheinigen. Es ist die gleiche Forderung, die ja mit Recht auch für andere Fälle erhoben wurde, in denen Personen gegen ihren Willen von dritter Seite her entmündigt werden sollen. Und nun erlauben Sie mir, daß ich mir über die beiden Fälle, die uns nach Schloß Benepartus führen, noch ein paar eingehende Erläuterungen erbitte.«
»Zwei Fälle? Also machen Sie sich doch den Fall mit dem erblindeten Becher noch zu eigen?«
»In gewisser Hinsicht sogar sehr, wenn auch aus andern Gründen, als sie Ihrer Auftraggeberin vorschweben. Sagen Sie, gehörte es zu den Obliegenheiten des Kastellans, sich überhaupt in Graf Klodwigs Zimmern zu schaffen zu machen?«
»Mit dem Titel darf es nicht so genau genommen werden. Er hat sich aus Benepartus vererbt, wobei der ursprünglichen Bedeutung des Wortes längst nicht mehr Rechnung getragen ward. In Wahrheit versah Scholta die Dienste eines Haushofmeisters und wurde auch zur persönlichen Bedienung Graf Klodwigs herzugezogen. Unter anderm ging er ihm beim Füttern der Tauben an die Hand.«
»Der Tauben?«
»Die Tierliebe des Grafen äußerte sich darin, daß er eine Anzahl Brieftauben mit gutem Verständnis züchtete.«
»Graf Klodwig starb siebenundsiebzigjährig und unerwartet, sagten Sie?«
»Letzteres ja, aber sein Alter nannte ich Ihnen nicht.«
»Es war mir so. Sagten Sie nicht, daß er dreißig Jahre älter gewesen sei, als Sie sind?«
»Allerdings, aber ...«
»Nun, dann ist ja alles richtig. Sie sind siebenundvierzig.«
»Es fehlen noch zwei Monate, und ich bin achtundvierzig.«
»Ich freue mich, daß ich Sie noch für jünger gehalten habe. Das wird Ihnen oft so gehen. Und Sie fanden den Grafen tot vor seinem Ruhebett?«
»Leider ist er in zusammengesunkener Stellung erst in der Frühe des neuen Tages von dem Leibjäger gefunden worden. Aber nach der uns ungemein beruhigenden Aussage des Treptitzer Arztes ist der Tod – durch eine Herzlähmung hervorgerufen – so rasch an den Verewigten herangetreten, daß er keiner menschlichen Hilfe mehr bedurft hätte. Daß wir ihn freilich auch nicht mehr durch Versehung mit den heiligen Sterbesakramenten zu stärken vermochten –«
»Wie heißt der Arzt, bitte? Und wann ist nach seinem Zeugnis der Tod eingetreten?«
»In der ersten Stunde des sechsten Juni. Doktor Haßbacher ist ein älterer und wegen seiner Tüchtigkeit allgemein geachteter Arzt. Er wohnt in Treptitz Ost, wenige Häuser von meiner Wohnung entfernt.«
»Was könnten Sie mir über die Lebensweise des Scholta noch sagen? In den polizeilichen Erhebungen ist eine sehr bedenkliche Lücke. Sie betrifft das Fehlen jeglicher Anhaltspunkte, in welcher Weise sich der Mann nach seiner Übersiedelung nach Berlin beschäftigt hat. Selbst als richtig vorausgesetzt, daß er sich die wertvollen Steine angeeignet hat, so kann ihn der etwaige Verkauf derselben nicht völlig beschäftigt haben. Ein derartiger Posten, wie er ihn hatte, wird nicht um eines ungewissen Erlöses willen aufgegeben. Dafür aber, daß sich Scholta, wie der Polizeibericht sagt, kaufmännisch betätigt hat, fehlen noch alle Beweise. Wie erklären Sie sich den Berufswechsel?«
»Warum er einen solchen vornehmen wollte, hat er dem Grafen Klodwig gegenüber selbst zum Ausdruck gebracht. Er hat gesagt, ihm seien in Berlin sehr vorteilhafte Anerbietungen gemacht worden, wo er mit Hilfe seiner Ersparnisse und einigem Fleiß schnell vorwärtszukommen gedenke. Auch habe er im Laufe der vier Jahre eingesehen, daß er nicht für die Dauer aufs Land und in die dienende Stellung passe. Das war ziemlich klar ausgedrückt, und die Annahme, er habe den alten Herrn durch die in Aussicht gestellte Kündigung etwa zu höherer Lohnzahlung veranlassen wollen, schied von vornherein aus. Scholta hat vor seinem Dienstantritt in Berlin, in andern großen Städten und auch im Ausland gelebt, und es war, da er noch sehr rüstig und erst vierundvierzigjährig war, begreiflich, daß ihm unser stilles Treptitz auf die Dauer nicht zusagte. Dazu kam, daß er keinerlei vertrauten Umgang pflog, weder im Schlosse noch im Dorfe. Nur seit dem letzten Herbst schloß er sich einem Vermessungsbeamten an, der in der Mühle wohnte und wegen des in Aussicht genommenen Bahnbaues nach Kohlwerder im Dorfe zu tun hatte. Der Betreffende war Berliner, und es liegt nahe, daß er dem Scholta zugeredet hat, nach der Reichshauptstadt überzusiedeln. So kam es, daß Graf Klodwig die Kündigung, die zu Neujahr, wenn ich nicht irre, erfolgte, annahm, ohne in den Mann, der nebenbei nicht meines Glaubens war, weiter zu dringen.«
»Scholta war eine etwas verschlossene Natur, nicht wahr?«
Pfarrer Burger nickte. »Es läßt sich kein anderes Wort dafür finden. Von Gesicht war er häßlich. Seine Stirn war niedrig und breit, die Nase lang und schmal, das Gesicht bartlos, doch ließ er sich seit dem Frühjahr den Schnurrbart stehen, der noch ziemlich ungepflegt aussah, wie bei Männern, die ihren Bart lange Zeit zu rasieren pflegten. Die Augen waren klein und beweglich, aber nicht eben freundlich. Er ging, wie gesagt, still seiner eignen Wege, ohne sich um die übrige Dienerschaft groß zu kümmern. Dabei war seinem Wesen der Stempel einer gewissen Würde nicht abzusprechen, als wollte er sagen, er dünke sich besser als die Mitangestellten.«
»Die Beschreibung ist anschaulich. Hielt er es denn gar nicht mit den Mägden?«
»Ich hörte nie davon reden, daß er eine Geliebte habe.«
»Besaß er besondere Kennzeichen, wie es in der Paßsprache heißt?«
»Da wäre vielleicht zu erwähnen, daß seine Stirn von einer tiefen Linie durchfurcht war, etwa wie man es – um Großes mit Kleinem zu vergleichen – an den Büsten Cäsars sieht. Als er dann einen Schnurrbart trug, fiel dieser Vergleich freilich fort.«
»Auch der Berliner Vermessungsbeamte interessiert mich. War Ihnen an dem etwas auffallend?«
»Nicht daß ich wüßte. Ich sah ihn nur ganz flüchtig, und er hinterließ mir keinen besonderen Eindruck. Er war mittelgroß und etwas untersetzt. Von Gesichtsfarbe war er etwas gelb. Aber auffallend ist mir Ihre Frage, da ich die Zusammenhänge nicht verstehe.«
»Das ist eine meiner schlechten Angewohnheiten, daß ich nach scheinbar Nebensächlichem forsche,« gab der Detektiv zur Antwort. »Überhaupt werden Sie bemerken, daß ich mich mit Vorliebe auf solches Weideland begebe, wo meine amtlichen Berufsfreunde noch nicht gegrast haben. Nun, ich bin gespannt, Schloß Benepartus zu sehen. Wir können nicht mehr weit haben?«
»Die übernächste Haltestelle ist Treptitz Ost.«
»Dann hätte ich nur noch die Bitte, daß Sie mich, außer bei Komtesse Ferenberg, nicht als Detektiv einführen, sondern gelegentlich verlauten lassen, ich sei ein mit dem Grafen Werner befreundeter Sportsmann, der sich hier in der Gegend anzukaufen beabsichtige. Das würde meine Nachforschungen wesentlich erleichtern.«
»Wenn Sie das für nötig halten ...«
Der Detektiv nickte. »Dem einen oder andern ist der Name Ralf Recking, wie ich vermute, ohne mir schmeicheln zu wollen, hier nicht unbekannt, zumal ich bei der Aufdeckung eines Verbrechens auf dem nur wenige Meilen entfernten Schloß Horawitz vor zwei Sommern tätig war. Ich nenne mich Pracht, wohlverstanden. Das sichert mir ein Inkognito, falls ich zu längerem Verweilen auf Schloß Benepartus gezwungen sein sollte.«
»Gut also ... Herr Pracht! Sie teilen demzufolge die Meinung Ihres Freundes Eckhardt nicht, daß Ihr Besuch bei uns unnütz wäre, sondern Sie haben am Ende gar schon eine bestimmte Spur im Auge, die eine Lösung naherückt?«
»Darüber kann ich mich noch nicht äußern. Aber die Geschichte mit Ihrem Becher und den geraubten Pyropen liegt jedenfalls so, daß sie die verschiedensten Möglichkeiten zuläßt. Ich habe mir einige davon im stillen zurechtgelegt und beabsichtige, sie auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Mein erstes soll es natürlich sein, die bösen Geister zu entlarven, die nach der Ansicht der Komtesse mit dem Becher ihr Unwesen treiben. Ah, da hält der Zug ja schon! Sie haben die Güte, während ich mir im Dorfe etwas die Beine vertreten will, Komtesse Ferenberg auf mein Kommen vorzubereiten.«
»Ganz, wie Sie wünschen, Herr Recking. Und wann werden Sie im Schloß sein?«
»Sagen wir, in spätestens dreiviertel Stunde. Es ist nicht ausgeschlossen, daß ich am Fernsprecher aufgehalten werde, und dann wäre das mit den ›Beinen vertreten‹ wörtlich zu nehmen. Auf Wiedersehen!«