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VI
Herrn Collins Ferienagentur

 

An Englishman's house is his castle.

Sprichwort

 

Es ist erzählt worden, wie Herr Collin Hausbesitzer wurde, ja Straßenbesitzer, nach seinen Abenteuern in Hamburg mit Schuhmacher Woerz aus Altona, der wegen Besoffenheit verhaftet wurde und eigentlich ein russischer Großfürst war. Als Hausbesitzer, noch mehr als Straßenbesitzer, führt man ein beneidenswertes Dasein, man läßt die Leute hinausschmeißen, man steigert die Mietzinse, man weigert sich, die Wohnungen ausbessern zu lassen; als Hausbesitzer, noch mehr als Straßenbesitzer, kann man nicht begreifen, daß Leute Mieter sein wollen.

Wie die Leser dieser Erzählungen wissen, war Philipp Collin, wenn auch jetzt Hausbesitzer, früher Mieter gewesen, und zwar zuerst in Gothenburg Road 49, wo er seine Praxis unter dem Namen Professor Pelotard ausübte. Aber nach dem Abenteuer mit den zerstreuten Herren und dem Detektiv Kenyon beschloß Philipp, seinen Wohnsitz zu wechseln. Allerdings waren die meisten seiner Unternehmungen dem Gesetz unerreichbar, aber Philipp, der ein großer Philosoph war, wußte, daß man nie weiß, was die Zukunft bringen kann, und er fand es höchst unangebracht, daß seine Adresse dem Detektiv Kenyon bekannt war, der ihn schon einmal hatte ins Loch bringen wollen.

Er beschloß also, sich nach einer anderen Wohnung umzusehen (Mitte Mai 1908).

Was er wünschte, war ein kleines unmöbliertes Haus von ungefähr neun Zimmern; es sollte gut gebaut sein, kein Dutzendhaus, und es sollte in irgendeiner stillen, sympathischen Straße in Westlondon liegen. Es war sein Traum, irgendeine schöne, mit lauschigen Bäumen bepflanzte Straße zu finden, irgend etwas, das an die Städte daheim erinnerte, wo er beim Säuseln des Laubes einschlafen und an feuchten Sommertagen das Rauschen des Regens hören konnte.

Ein Haus zu finden, das seinen Wünschen entsprach, erwies sich als ziemlich leicht, aber eine solche Straße zu finden, als desto schwerer. Vergebens lugte Philipp auf seinen Spaziergängen danach aus, er fand keine, und vergebens entsandte er seine Kundschafter Lavertisse und Lescot. Es gelang ihnen nicht besser als ihm selbst, und Philipp war schon entschlossen, den Versuch aufzugeben, als er eines Tages zufällig gerade in Bradford Mansions hineinspazierte.

Bradford Mansions ist eine kleine Querstraße in der Nähe von Brook Green und so vollständig von der Welt vergessen, als wenn sie in Korea gelegen wäre. Da waren acht Häuser, vier auf jeder Seite, alle mit Gärten und neun Zimmern, alle mit rauschenden Ulmen davor auf der Straße, und alle vermietet, bis auf eines. Philipp wurde augenblicklich von dem gepackt, was das neunte Gebot verbietet, nämlich von dem Gelüste nach dem Hause seines Nächsten. Er beschloß, um jeden Preis in Bradford Mansions zu wohnen, und begann, Erkundigungen bei dem Barwirt um die Ecke einzuziehen.

Dabei entdeckte er, daß die Straße, die nach den Begriffen der Sinnenwelt dem County Council von London unterstand, tatsächlich von einem Ende bis zum andern Charles Dickens gehörte. Und zwar durch ihren Besitzer Mr. Smedley.

Mr. Smedley war ein kleiner cholerischer Herr von ausgesprochen quadratischem Typus; sein Kopf war quadratisch, sein Körper war quadratisch, seine Hände und Füße waren quadratisch. Auf dem quadratischen Kopfe wuchs kurzgeschnittenes weißes Haar. Ebenso waren Mr. Smedleys Augenbrauen, Schnurrbart und Backenbart schneeweiß; aber der Rest von Mr. Smedley war mohnrot, nicht blut-, sondern hellrot. Vor seinen quadratischen Augen saßen runde Brillengläser, und durch diese betrachtete er seine Mieter, den Mietkontrakt und den bezahlten Zins für Bradford Mansions, der seit der Zeit, zu der er die Straße gebaut hatte, im Quadrat gestiegen war.

Mr. Smedley hatte die Straße nämlich selbst gebaut, jedes Haus darin nach seinem Kopfe, der quadratisch war, und er hatte sie auch nach seinem Kopfe bevölkert. Alle Mieter in Bradford Mansions waren reiche Junggesellen, denn Mr. Smedley verabscheute Frauen, Kinder und niedrige Mietzinse; und alle trieben sie Sport. Drei von ihnen wohnten so wie Mr. Smedley auf der geraden Seite der Straße in den Häusern Nummer 2, 4 und 6, Mr. Smedley selbst wohnte in Nummer 8, und sie verbrachten den Sommer wie Mr. Smedley in Norwegen, wo zwei in den Bergen herumwanderten und einer Lachs fischte. Doch wurden sie nie zusammen gesehen, weder miteinander noch mit Mr. Smedley. Von den vier Mietern auf der ungeraden Seite verbrachten drei die Sommer in Kanada, und der eine war tot. Er war ganz kürzlich gestorben, und eben dadurch war das Haus 5 Bradford Mansions frei geworden.

Diese Einzelheiten erfuhr Philipp von dem Barkeeper um die Ecke, worauf er sich daran machte, Mr. Smedley aufzusuchen, aber nur Mr. Johnson traf, der eigentlich Jönsson hieß und nicht nur Schwede war, sondern Smaländer. Das erfuhr Philipp aber erst viel später. Mr. Johnson war Mr. Smedleys vertrautes Faktotum und besorgte alles, was Bradford Mansions betraf, mit Ausnahme der Vermietungen. Wenn Mr. Smedley quadratisch war, so war Mr. Johnson oval. Sein ganzer Körper, der kolossal war, war auch oval, aber am kolossalsten waren seine Hände und am ovalsten sein Gesicht. Er hatte hervorstehende Backenknochen, rotgebrannt von seiner heidelbeerpflückenden Kindheit her, wässerige blaue Augen und flachsgelbe Haare. Im Sommer ging Mr. Johnson in einem gelbweißen Anzug, wodurch er ganz wie ein schwedisches Zündhölzchen aussah, mit dem langen, gelbweißen Körper und dem rotbraunen Gesicht. Und mit diesem Aussehen verbrachte Mr. Johnson die Sommer in London, denn obgleich Mr. Smedley sagte: »Das ist meine rechte Hand, Mr. Johnson aus Norwegen«, nahm er ihn nie nach Norwegen, seinem falschen Vaterlande, mit. Er ließ ihn vielmehr in London zurück, um Bradford Mansions während der Abwesenheit der Mieter zu bewachen.

Philipps Besuche sowohl bei Mr. Johnson wie bei seinem quadratischen Herrn verliefen jedoch zu seiner großen Enttäuschung vollkommen ergebnislos. Um in Bradford Mansions zu mieten, machte Mr. Johnson ihn sogleich aufmerksam, wurde als unumgängliche Bedingung verlangt, Junggeselle und Sportsmann zu sein. Nachdem Philipp sich als beides erklärt hatte, wies Mr. Johnson auf die Bedeutung hin, ein guter Sportsmann zu sein; die Höhe des Zinses stehe nämlich in direktem Verhältnis zum Sportsinteresse des Mieters, das sei eines der Prinzipien Mr. Smedleys. Hierauf zeigte er ihm das Haus Nummer 5 und bat Philipp, am nächsten Tage wiederzukommen. Philipp tat es und traf diesmal den cholerischen Mr. Smedley an, der ihn durch seine Brille fixierte und den Wunsch aussprach, zu erfahren, ob er Junggeselle sei.

Philipp erwiderte, er sei es meistens.

Mr. Smedley (wütend): »Ein Gentleman scherzt nicht mit solchen Dingen.«

Philipp: »Ich auch nicht.«

Mr. Smedley: »Sind Sie Junggeselle oder nicht?«

Philipp: »Ja, immer.«

Mr. Smedley: »Welche Sportzweige üben Sie aus?«

Philipp: »Ich fahre Auto.«

Mr. Smedley: »Darauf pfeife ich! Ich frage, welchen Sport üben Sie aus?«

Philipp: »Autofahren ist mein einziger Sport.«

Mr. Smedley (röchelnd): »Sport ... Autofahren ein Sport ... Ihr einziger Sport! Autofahren! Hinaus! Ein Autler will bei mir mieten! Daß mich nicht auf der Stelle der Schlag trifft!«

Philipp: »In diesem Falle könnte ich ja doch in Bradford Mansions mieten.«

Mr. Smedley: »Schweigen Sie, Sir, dann auch nicht, das ist in meinem Testament vorgesehen. Hinaus!«

Philipp: »Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen.«

Nach einer Unterredung von ungefähr dieser Art ging Philipp tief enttäuscht und nicht weniger wütend auf Mr. Smedley. Ein so unverschämtes kleines Quadrat von einem Kerl! Einen ehrlichen, Automobil fahrenden Mieter wie einen Verbrecher zu behandeln ... Das verdiente, beim Zeus, Strafe, und Philipp gelobte sich innerlich, ihn bei Gelegenheit nicht zu vergessen. Seine Erbitterung steigerte sich eine Woche später um das Doppelte, als er erfuhr, daß das Haus vermietet worden war, und zwar an keinen andern als an den, um dessentwillen er Gothenburg Road 49 verlassen wollte, nämlich den Detektiv Kenyon. Mr. Kenyon hatte es nicht allein gemietet – dazu reichten seine Mittel nicht, obwohl er ein eifriger Sportsmann war –, sondern mit einem Freund. Offenbar war er nach der Verhaftung der Falschmünzerbande in seinem Beruf vorwärtsgekommen, und Philipp bedachte nicht ohne Bitterkeit, daß durch seine Hilfe in dieser Angelegenheit Mr. Kenyon ihm jetzt Bradford Mansions wegschnappen konnte.

Über sein Pech gereizt, nahm er Anfang Juni von Gothenburg Road Abschied und zog mit Beobachtung aller Vorsichtsmaßregeln in eine stille Straße in der Nähe von Holland Park, die seinen Ansprüchen so halbwegs genügte.

Dann verging eine Zeit, Philipps Geschäfte führten ihn einmal ums andere in die Nähe von Bradford Mansions, und jedesmal empfand er einen bittern Stich im Herzen. Eines schönes Tages sah er, daß alle Häuser leer waren und Papier in den Fenstern hatten, mit Ausnahme von Nummer 5; und vor dem Haustor von Nummer 5 stand Mr. Johnson aus Norwegen und überwachte zwei Packer.

»Guten Tag, Mr. Johnson«, sagte Philipp, »schließen Sie hier auch die Bude?«

»Ja, Sir«, sagte Mr. Johnson. »Mr. Kenyon und Mr. Cane reisen heute abend in die Schweiz, Sir.«

»Bleiben sie lange fort?« fragte Philipp.

»Bis August oder September, Sir.«

»Die haben's gut«, sagte Philipp. »Dann ist ja die Straße ganz leer.«

»Ja, Sir, bis auf mich«, sagte Mr. Johnson mit einem Seufzer.

»Ja, gewiß, bis auf Sie, Mr. Johnson«, sagte Philipp und ging, ohne weiter an die Sache zu denken.

Es war an einem Samstagabend, eine Woche später, London war schwül wie eine Wüste, und Philipp ging langsam durch Piccadilly. Trotz des Gewühls auf den Straßen lag eine Feiertagsstimmung über der Stadt. Aber es war schwül, furchtbar schwül, und Philipp bog in den Hyde Park ein, um ein bißchen frische Luft zu schnappen.

Er ging einige Schritte in den Park und ließ sich auf einer Bank nieder. Ein anderer Herr saß schon darauf, aber Philipp beachtete ihn nicht.

Plötzlich warf er jedoch zufällig einen Blick zur Seite und erkannte zu seiner Überraschung den riesenhaften Mr. Johnson. Er paffte an einer Pennyzigarre, deren Licht sich auf seinen braunen Backenknochen und in den kleinen wasserblauen Augen widerspiegelte. Den Hut, einen Schlapphut, der wenig zu seinem kantigen Kopf paßte, hatte er in den Nacken zurückgeschoben.

Philipp betrachtete ihn amüsiert und sagte:

»Guten Abend, Mr. Johnson.«

Mr. Johnson sah mit dem Mißtrauen auf, das seiner Rasse eigen ist (wir haben schon erwähnt, daß er Smaländer war), offenbar erkannte er Philipp zuerst nicht. Dann kam er über ihn ins klare und hob die Hand, um zu grüßen. Dabei entglitt ihm ein weißes zusammengefaltetes Papier – eine Zeitung, wie es schien –, die vor Philipp zu Boden fiel. Philipp bückte sich artig, um sie aufzuheben. Man denke sich sein Staunen, als er fand, daß es eine Nummer des ›Strix‹ war!

›Strix!‹ Die zehnfach gereinigte Essenz der schwedischen Witzlaune, Albert Engströms ›Strix‹. Es war, als öffnete sich ein Fenster in die Vergangenheit, und eine Taube käme dadurch hereingeflattert, mit einem Olivenblatt im Munde: eine Nummer des ›Strix‹.

»Was, Mr. Johnson!« rief er, »Sie sind Schwede?«

Er streckte die Hand aus, Mr. Johnson faßte sie vorsichtig zwischen seinen beiden ungeheuren Händen und, gleichsam einer geheimen, lange nicht geölten Feder gehorchend, regten sich seine Lippen und sagten im schönsten Smaländer Dialekt:

»Ja, freilich, ich bin aus Smaland.«

Dann machte er eine Pause, wie selbst erstaunt über den Klang seiner Stimme.

»Aber der Herr wird doch keine Schwede sein?«

»Und ob ich ein Schwede bin«, sagte Philipp herzlich.

»Ist's die Möglichkeit, ist's die Möglichkeit – und ich hab jetzt seit vierzehn Jahren nicht schwedisch gesprochen.«

»So lange sind Sie schon da?«

»Freilich«, bestätigte Johnson gedankenvoll, »mit zwanzig Jahren bin ich von daheim fort, Dackemala heißt der Ort ...«

»Ich kenne ihn«, murmelte Philipp leise.

»Der Herr kennt Dackemala! Ist's die Möglichkeit! Und ich bin seit vierzehn Jahren nicht dagewesen. Kennt der Herr die Leute dort? Vielleicht den Herrn Baron, oder am Ende den Herrn Stationsinspektor? Nein, nicht? O Gott, o Gott, wie oft hab ich doch schon hinfahren wollen ...«

Philipp zuckte zusammen. In seinem Innern fühlte er die Geburtswehen einer plötzlichen Idee. Mr. Smedley hatte ihn schlecht behandelt, mit Kenyon hatte er auch noch ein Hühnchen zu pflücken, wie wäre es, wenn ...

»Aber, Mr. Johnson«, sagte er, »ein Mann in Ihrer Stellung muß doch in der Lage sein, nach Hause zu fahren!«

Mr. Johnsons Augen betrachteten ihn mit wiedererwachtem Mißtrauen. Das war offenbar ein Landsmann von jener Sorte, die sich an Patrioten herandrängt, um sie zu begaunern.

»Ein bißchen«, sagte er vorsichtig, »legt man ja schließlich zurück (Mr. Johnson hatte schon 8000 Kronen in schwedischem Geld zurückgelegt), aber viel ist's nicht, mein lieber Herr.«

Philipp merkte, wo der Schuh drückte und schlug sofort einen andern Ton an.

»Sie mißverstehen mich, Mr. Johnson, ich meine, Sie müssen doch im Sommer sehr viel Zeit haben.«

»Na ja, das schon«, gab Mr. Johnson zu, »zu tun hat eins nichts, den ganzen Tag, die ganze Woche, den ganzen Sommer, gerade nur die Bäume zu gießen, das ist alles, denn die Herren sind doch nach Norway und Kanada gefahren. Oft und oft habe ich mir gedacht: jetzt gehst du auch abroad, fahr einmal nach Hause nach Schweden und besuch deine Leute in Dackemala ...«

Philipp warf einen raschen Blick auf Mr. Johnson; seine wasserblauen Augen sprachen von einer wortlosen Sehnsucht nach dem Lande, in dem er das Licht der Welt erblickt hatte. Er reichte ihm rasch eine Zigarre aus seinem Etui und sagte:

»Sind Sie heute abend frei, Mr. Johnson?«

»Na ja, das schon«, gab Mr. Johnson zögernd zu, offenbar neue Tücken von Seiten des unbekannten Herrn befürchtend.

»Dann kommen Sie doch mit mir nach Hause«, sagte Philipp herzlich. »Essen Sie bei mir ein einfaches belegtes Brot mit Schnaps und trinken Sie ein Glas Punsch. Ich habe auch so manches liebe Jahr nicht mehr schwedisch gesprochen, Mr. Johnson, und ich kann Ihnen sagen, mir schmeckt's auch. Kommen Sie! Es ist gleich halb neun Uhr.«

Mr. Johnson betrachtete den eleganten Herrn mit Augen, in denen die Worte belegtes Brot, Schnaps, Punsch einen Funken entzündet hatten, aber aus denen gleichzeitig die angeborene Wachsamkeit den Fremden mit scharfen Scheinwerfern beleuchtete.

Ein kurzer Kampf spielte sich in seinem Innern ab, und sich mit dem Gedanken beruhigend, daß er keine Wertsachen bei sich trug, verbeugte er sich hölzern und sagte:

»Ich danke auch recht schön, das ist aber schon sehr liebenswürdig von dem Herrn! Aber ich bin ja nicht angezogen, so kann ich doch nicht kommen. Ein anderes Mal.«

Der Instinkt, sich nötigen zu lassen, stirbt zuletzt von allen angeborenen Trieben; aber auch er erlag den kräftigen Axthieben von Philipps Überredungskunst, und friedlich nebeneinander rauchend, gingen die beiden Herren schweigend zum Hyde Park hinaus.

 

Zwei Tage später saß Mr. Johnson in einer milden Sommernacht auf dem Verdeck eines Dampfers, der von Harwich nach Esbjerg in Dänemark ging, und in seiner Tasche hatte er eine Fahrkarte nach Malmö. Und den Grund dafür wußte er selbst kaum.

In Gesellschaft des fremden Herrn hatte er den Hyde Park verlassen und war in einer Droschke zu ihm nach Hause gefahren. So fein, wie es dort war, hatte Mr. Johnson es noch nie gesehen, weder bei Mr. Smedley noch bei einem seiner Herren. Der fremde Herr hatte ihm sein Haus gezeigt und seine Autos – er hatte zwei, ein blaues und ein grünes –, und dann waren sie ins Rauchzimmer gegangen. Hatte Mr. Johnson schon gegessen? Nein, das hatte er nicht, nicht viel, beeilte er sich im Widerspruch mit der Wahrheit hinzuzufügen. Wollte er einen Whisky vor dem Speisen nehmen? Mr. Johnson wollte es. Sie tranken also einen Whisky im Rauchzimmer, während sie über Mr. Smedley sprachen, der eigentlich ein rechter Geizkragen war, und über seine Mieter. Mitten drinnen wurde gemeldet, daß angerichtet war, und sie gingen in ein feines Speisezimmer. Da war ein schwedischer »Smörgasbord« hergerichtet, mit Hummer und Anchovis, Fleischpasteten, Omeletten und Radieschen; da war gebratener Hering und geräucherter Hering in Kräutersauce und eingelegter Fetthering. Und dazu nahmen Mr. Johnson und der fremde Herr viererlei verschiedene Schnäpse, es war auch Aquavit und Korn da, und dann fragte der fremde Herr, ob sie nun eine richtige schwedische Hausmannskost essen wollten. Mr. Johnson, der ganz krank vor Sehnsucht nach Schweden war, sagte ja und aß sich pumpsatt an braunen Bohnen und gebratenem Speck und gedünsteter Ochsenzunge mit Kartoffelpüree und Pfannkuchen mit Marmelade und Schlagsahne.

Als er nicht mehr essen konnte und sein Bier ausgetrunken und den Wein abgelehnt hatte, gingen sie wieder ins Rauchzimmer, und da stand schon Kaffee mit Kognak und Punsch bereit. Mr. Johnson wurde gebeten, auf dem Sofa Platz zu nehmen, was er nach vielem Zureden auch tat. Dann war es mit Kaffee und Punsch losgegangen, den Mr. Johnson seit vierzehn Jahren nicht mehr genossen hatte und der ihm wie Manna vom Himmel schmeckte. Und dazu hatte man die feinsten Zigarren geraucht, während der fremde Herr zu plaudern anfing. Zuerst hatten sie über den ›Strix‹ gesprochen, auf welches Blatt Mr. Johnson abonniert war, und hatten sich Anekdoten daraus erzählt, bis sie müde wurden, auch hatten sie so manches Glas in herzlichem Gedenken an Albert Engström, den größten unter den Smaländern, geleert. Dann hatte der Herr so allmählich weitergesprochen, von Dackemala – wie schön es jetzt da im Sommer sein mußte, der Himmel ist tiefblau über den Seen, die Sonne brennt glühend heiß auf die Pappdächer der Häuser, und es dampft aus den großen Mooren. Die Vesperglocke läutet vom Werk, es riecht nach braunen Bohnen und Kaffee aus den Hütten, und nach Harz von den Tannen, die in der Wärme schwitzen. Unten am See steht das Schilf dicht wie ein Wald in dem lauen Wasser, die Hechte springen, und wenn es dämmert, kommen die Barsche heraus. Ja, das ist ein Land! Die Stachelbeerbüsche stehen gelb von Beeren in den kleinen Gärten, die Kirschbäume blühen, und am Abend hört man an der Wegkreuzung die Ziehharmonika.

So sprach der fremde Herr, der Punsch floß, und Mr. Johnson nahm alles in seinem Herzen auf. Nach einiger Zeit war er so beschwipst und krank vor Sehnsucht nach der Heimat, daß er weinend von seinen alten Bekannten in Dackemala zu erzählen anfing. Und da hatte der fremde Herr mit dem wunderlichen Namen Pelotard gesagt: »Warum denn nicht? Warum denn nicht heimreisen? Nach Dackemala, mal seine Leute besuchen und sie samt und sonders mit seinen englischen Kleidern und seinem guten Money verblüffen!«

»Unmöglich«, schluchzte Mr. Johnson, »die Bäume müssen begossen und die Häuser beaufsichtigt werden.« – »Das ist richtig«, sagte der fremde Herr, »aber das werde ich besorgen, einer meiner Diener kann es für Sie tun.« – »Ach, mein lieber Herr, das geht nicht, das geht nicht«, sagte Mr. Johnson seufzend. – »Das geht sehr gut«, sagte der fremde Herr, »verlassen Sie sich nur auf mich.« – »Nein, nein, wenn Mr. Smedley das hört, wird er auf der Stelle wahnsinnig, ich verlier meine Stelle, ich verlier meine Stelle.« – »Mr. Smedley erfährt das doch nie, dafür verbürge ich mich«, sagte der fremde Herr. – »Wirklich?« fragte Mr. Johnson, in dessen Seele der Dämon des Mißtrauens mit dem der Lust kämpfte. – »Jawohl, Mr. Johnson«, sagte der fremde Herr. »Ich bin reich, Sie haben mein Haus und meine Autos gesehen, hier sehen Sie mein Bankbuch!« Mr. Johnson nahm das Bankbuch, las die Schlußsumme von 60 000 Pfund und gab es so behutsam zurück wie ein neugeborenes Kindlein. – »Na, also, Mr. Johnson, ich mache mir ein Vergnügen daraus, Ihre kleine Ferienreise zu bestreiten, und damit Sie ganz ruhig sind, nehmen Sie hier diesen Scheck, den Sie gleich bei der Heimkehr beheben können, wenn Sie nicht zufrieden sind.« – »Wie groß ist der Betrag?« fragte Mr. Johnson. – »500 Pfund«, sagte der fremde Herr. Und Mr. Johnson wäre fast ohnmächtig geworden. 500 Pfund, das war mehr, als er in all den Jahren erspart hatte. – »Ich reise, mein lieber Herr«, sagte er, innerlich noch erwägend, ob er den Scheck nicht noch hinaufschrauben könnte; denn daß er bei der Heimkehr nicht zufrieden sein würde, darüber war er sich schon jetzt im klaren.

Und so saß Mr. Johnson in dieser Sommernacht auf dem Verdeck des Dampfers und sah England in einer Reihe blinkender Lichter verschwinden. Rote und grüne Schiffslaternen leuchteten auf der Nordsee, das Meer ging in langen Wellen, und durch den nachschleppenden Rauch seines eigenen Dampfers blickte Mr. Johnson zu den sommerlich fernen Sternen empor, in tiefen, smaländischen Grübeleien über die Schickungen des Lebens.

Mr. Johnsons Besuch in der Heimat gestaltete sich zu einem großen und berechtigten Erfolg, und er begann schon mit Wehmut die Tage bis zu seiner Rückreise zu zählen, als eines schönen Morgens ein Brief aus London eintraf, der seine Seele mit strittigen Gefühlen und das Postamt von Dackemala mit vielen Ausrufen und Flüchen erfüllte. Er war von dem fremden Herrn Pelotard und lautete so:

»Dear Mr. Johnson, nur einige kurze Zeilen, um Sie zu benachrichtigen, wie es in Bradford Mansions steht, und um mich zu erkundigen, ob Sie Vergnügen an Ihrer Reise gehabt haben. Ich hoffe von Herzen, daß dies der Fall ist und daß Sie eventuell nichts dagegen hätten, Ihren Trip auf unbestimmte Zeit zu verlängern, mit anderen Worten in Schweden zu bleiben!

Ich habe mir nämlich in Ihrer Abwesenheit die Freiheit genommen, etwas zu tun, was Ihre Rückkehr ein wenig erschweren dürfte. Ich habe die ganze Straße über den Sommer vermietet.

Leider habe ich keine Zeit, auf Einzelheiten einzugehen, ich begnüge mich damit, folgendes zu berichten:

An Miete für die Straße sind 500 Pfund eingegangen; diese nebst weiteren 200 Pfund, die ich als Ersatz bezahle, weil ich ohne Ihre Zustimmung gehandelt habe, stehen telegraphisch zu Ihrer Verfügung, wenn Sie mich, ebenfalls telegraphisch, wissen lassen, daß Sie mein Angebot akzeptieren und in Schweden bleiben. Tun Sie das nicht, so müßten Sie, fürchte ich, sofort kommen, um die Straße bis zu Mr. Smedleys Heimkehr in Ordnung zu bringen. Sie hat es nötig.

Ich sehe Drahtantwort entgegen und verbleibe Ihr Freund

Professor Pelotard.

P.S. Seien Sie beruhigt, Mr. Smedley kann Sie nie finden, er wird Sie ja in Norwegen suchen.«

So las Mr. Johnson im Verlaufe von zwanzig Minuten zehnmal hintereinander; seine kleinen blauen Äuglein waren starr vor Staunen, und seine knochigen Finger hielten den Brief so vorsichtig ausgespreizt, als wäre er der Vorhang zum Mysterium der Mysterien. Was er dachte, als er endlich denken konnte, damit brauchen wir uns nicht zu befassen, und was er sagte, als er endlich sprechen konnte, können wir größtenteils nicht drucken. Denn Mr. Johnson war ein Tartuffe, wie seine Rasse im allgemeinen, und stellte sich tief gekränkt vom Professor, während er tatsächlich vor Freude im siebenten Himmel war: 500 + 200 = 700, 400 hatte er in den treuen Diensten vieler Jahre zurückgelegt, macht also 1 100 Pfund: Mr. Johnson war der reichste Mann in Dackemala. In seinem Innern segnete er den Professor, und nur beschattet von der Frage, wieviel wohl dieser selbst bei der Sache verdiente, beeilte sich Mr. Johnson, das folgende Telegramm abzusenden:

»Professor Pelotard, Poste restante, Chief Post Office, London. Akzeptiert. Johnson.«

Mit einer ruhigen, hellen Zukunft vor sich, verschwindet Mr. Johnson aus dieser Erzählung.

Statt dessen wird die Szene in den Schwarzwald verlegt. Zwei bestaubte Herren sitzen vor einem kleinen Wirtshaus. Auf dem Tische vor sich haben sie Eier und Schinken, Bier und Käse. In den Händen halten sie alte Nummern englischer Zeitungen, die sie um die Wette mit dem Essen verschlingen. Endlich sind Zeitungen und Essen erledigt; zwei Pfeifen werden angezündet, und die beiden Fußwanderer lehnen sich müde zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränkt.

Der eine davon ist rothaarig; während er schläfrig über die Waldlandschaft hinblickt, murmelt er:

»Feines Land, das hier, Cane. Anders als London um die Zeit. Wie können's Leute in London aushalten, Cane?«

»Tja«, murmelte der andere zwischen zwei Rauchwolken.

Nach einigen Minuten wirft er einen Blick auf den Tisch, auf dem die Zeitungen herumliegen, und sagt matt:

»Da scheint doch jemand zu sein, dem London im Sommer gefällt. Hast du diese Anzeige gesehen, Kenyon?«

»Nein, was denn?« Kenyon hat die Sportmütze tief über die Augen gezogen und scheint auf dem Wege einzuschlafen.

»Verteufelt lange Anzeige«, sagt sein Freund Cane. »›Der Sommer in London – warum nicht?‹ beginnt sie mit gesperrtem Druck. ›London im Sommer ist die Stadt der britischen Aristokratie bis zu Mitte Juli; die Stadt der Kunst und Wissenschaft immer; London im Sommer ist das Eldorado der vergnügungsuchenden Provinz. London im Sommer ist die rechte Stadt für Sie, wenn Sie die rechte Wohnung finden! – Was verlangen Sie von Ihrer Wohnung? Daß sie bequem ist, daß sie zentral liegt, daß sie billig ist! Diese Bedingungen werden von Hunderten von Wohnungen erfüllt. Aber wenn Sie der sind, den wir mit unserer Anzeige erreichen wollen, verlangen Sie außerdem, daß sie kühl und schön liegt, daß Sie von dem Lärm und dem Qualm der großen Verkehrsadern verschont sind, aber dabei alle Vorteile ihrer Nähe genießen. All dies, Bequemlichkeit, mäßiger Preis und schöne, zentrale Lage finden Sie in den sechs luxuriösen Privathäusern, die dem Publikum von Professor Pelotards Ferienagentur zur Verfügung gestellt werden.‹«

Kenyon unterbrach seinen Freund plötzlich in seiner ironischen Vorlesung.

»Wie sagtest du? Pelotard?«

»Ja, Pelotard.«

»Hm. Den kenne ich. Was kann sich der wieder ausgedacht haben? Gerissener Hund! Habe ich dir nicht von den Zerstreuten erzählt? Ja, gewiß, dann kennst du ihn doch. Sechs luxuriöse Privathäuser – steht noch etwas drin?«

»Ach so, ist das dieser Schurke«, sagte Mr. Cane. »Nein, sonst steht nichts da.«

Kenyon hatte schon begonnen, von neuem in sein wohliges Hinduseln zu versinken, als er plötzlich von einem Indianergeheul und dem Lärm eines Stuhles, der umgeworfen wurde, erwachte. Er sah rasch auf; Mr. Cane hatte den Stuhl zurückgeschleudert und sprang nun mit der Zeitung in der Hand laut brüllend vor ihm hin und her.

»Zum Henker, was ist los?« rief Kenyon erschrocken. »Hast du einen Sonnenstich?«

»Sonnenstich? Sonnenstich ... Kenyon, hast du je von Druckfehlern in englischen Anzeigen gehört?«

»Selten, sehr selten ... was ...«

»Gibt es in London noch eine Straße, die Bradford Mansions heißt?«

»Nein, soviel mir bekannt ist, nein, es gibt keine ... Aber was in ...«

»Willst du dir diese Anzeige ansehen? Ist das möglich? Ist das möglich? Bin ich verrückt? Wenn es noch einen solchen Schurken auf der Welt gibt, will ich gehängt werden. Weißt du, wo er wohnt und was das für Häuser sind, die er vermietet? Lies, lies, lies doch, dann wirst du schon sehen!«

Kenyon nahm die Zeitung und starrte den Punkt an, auf den sein kleiner cholerischer Freund die Hand hielt. Es waren die zwei letzten Zeilen der Annonce, die er eben vorgelesen hatte, und sie lauteten: Man wende sich an Professor Pelotard, Büro für den Sommer in Bradford Mansions 5, London W. Die Häuser der Agentur, die in derselben Straße gelegen sind, können von zwölf bis zwei besichtigt werden.

Kenyon ließ die Zeitung sinken und starrte Mr. Cane mit offenem Munde an.

»Unmöglich«, flüsterte er heiser. »Das ist unmöglich.«

»Unmöglich!« brüllte sein Freund. »Unmöglich? Wie zum Teufel willst du dir denn die Anzeige erklären? Gibt es noch ein Bradford Mansions? Glaubst du, daß es ein Druckfehler ist?«

Er riß eine andere Nummer der Zeitung an sich, die Anzeige fand sich darin unverändert wieder.

»Drucken sie in allen Zeitungen falsch? Der Schurke, der verfluchte Schurke! Hat man je so etwas gesehen ... Stiehlt unser Haus, während wir fort sind, richtet sich dort ein Büro ein und vermietet den Rest der Straße an Sommergäste. Sechs luxuriöse Häuser! ... Ja, dein Freund, der Professor, ist ein sauberer Patron! Ein sauberer Patron ...«

Mr. Cane erstickte fast vor Wut, und Kenyon brach los:

»Mein Freund, der Professor, mein Freund, warum denn nicht ebensogut deiner? Ich habe den Burschen einmal entwischen lassen, das ist alles.«

»Ja, und mehr als genug«, schrie Mr. Cane. »Da siehst du die Folgen. Wie ist das möglich? Smedley hält sich doch einen Kerl dort!«

»Den hat er vermutlich ermordet oder bestochen. So etwas ist für ihn eine Kleinigkeit. Ich erinnere mich noch, von einer ganz unglaublichen Geschichte von Mr. Ernest Isaacs gehört zu haben, bevor wir abreisten.«

»Genug von dem Schurken!« rief Mr. Cane. »Was gedenkst du zu tun, Kenyon?«

»Der Polizei zu telegraphieren«, sagte Kenyon ohne Zögern.

»Ja, natürlich, der Polizei!« rief Mr. Cane außer sich vor Verachtung. »Findest du nicht, daß er eine andere Strafe verdient? Bist du ein Detektiv oder bist du es nicht, Kenyon? Ich frage, bist du ein Detektiv?«

»Man nennt mich wenigstens so«, sagte Kenyon, über die Heftigkeit seines Freundes errötend.

»Nun also, und du, der du die Falschmünzerbande gefangen hast, willst der Polizei das Vergnügen gönnen, einen frechen Schurken hoppzunehmen, der deine eigene Wohnung gestohlen hat? Die Leute werden dich schön auslachen.«

»Das werden sie nicht zu tun brauchen, wenn du so eifrig bist«, sagte Kenyon zornig. »Ich bin Manns genug, um den Herrn selbst zu fassen. Da habe ich schon ganz andere Dinge geleistet.«

»Genug über den Schurken geredet!« rief Mr. Cane. »Während wir hier stehen und schnattern, wirft er unsere Familienbilder auf die Straße und geht in unseren Unterkleidern herum.«

Am Abend reisten die beiden Freunde eiligst nach England ab, wo sie Montag, den 16. August, anlangten. Ohne sich die Zeit zu nehmen, ihr Gepäck abzuholen, stürzten sie sich in einen Cab und fuhren nach Bradford Mansions. Kenyon, dessen Eifer sich sehr rasch abgekühlt hatte, war unverkennbar etwas nervös; Mr. Cane an seiner Seite hingegen cholerischer und racheschnaubender denn je.

Sie fanden Bradford Mansions wie immer; die einzige Veränderung, die Kenyon sah, war, daß es von Kindern wimmelte. Fenster und Trottoirs waren voll von ihnen, die Straße schien durch die Ferienagentur des Professors ausschließlich mit verheirateten kinderlieben Familien bevölkert. Wie man weiß, waren solche für Mr. Smedley eine Augenweide.

Unwillkürlich über die konsequente Frechheit des Professors lächelnd, ließ Kenyon ihre Droschke an der Straßenecke halten, sprang mit Cane heraus und nahm im Eilmarsch die Strecke bis zu Nummer 5. Mit einem wilden Kampfschrei des kleinen Cane eilten sie die Stufen hinauf, rissen die Haustüre auf und stürzten in das Haus. Kenyon nahm die Parterrewohnung auf sich, Mr. Cane die oberen Stockwerke. Nach zwei Minuten trafen sie sich wieder in der Halle.

Das Haus war leer.

Sie blickten sich an, sie blickten rings um sich, nichts schien seit dem Mai verändert, möglicherweise waren die Möbel ein bißchen besser geordnet. Die Familienbilder, von denen Cane gesprochen, hingen wohlabgestaubt an den Wänden, und eine rasche Untersuchung der Schlafzimmer hatte gezeigt, daß an Kleidungsstücken nichts fehlte. Wäre das Kindergeschrei draußen nicht gewesen, sie hätten das Ganze beinahe für ein Mißverständnis halten können.

Kenyon, dessen Nervosität beständig zunahm, fiel plötzlich eine Flasche Ainslies Whisky ein, die bei ihrer Abreise im Rauchzimmer gestanden hatte, und er ging hinein, um eine Herzstärkung zu nehmen. Ein schriller Ausruf rief Cane herbei.

»Cane! Cane!« rief Kenyon. »Der Schurke ist listiger als wir glaubten. Hier liegt ein Brief an mich! Wollen wir wetten, daß er uns entwischt!«

»Entwischt!« brüllte Cane. »Du bist mir ein netter Detektiv.«

Ohne zu antworten, öffnete Kenyon das Kuvert und las den maschinengeschriebenen Brief durch, der darin lag:

»Dear Mr. Kenyon!« stand da. »Da Sie nach London zurückkehren, brauchen Sie natürlich Ihre Zimmer für sich selbst und Ihren Freund Cane, der wohl als ein neuer Watson Ihre Taten besingen wird. Ich beeile mich darum, sie zu verlassen, und, wie ich glaube, in ungestörter Ordnung. Ich habe mir nur die Freiheit genommen, einige Änderungen im Speisezimmer und in Ihrem Empfangszimmer vorzunehmen, die, wie ich hoffe, Ihren Beifall finden werden.

Sie wundern sich vielleicht über meine Kühnheit, mich so ohne weiteres bei Ihnen einzumieten? Aber Sie dürften sich erinnern, daß Sie mir im Mai große Verluste bereiteten, indem Sie mein Geschäft in Southampton Road zugrunde richteten, und überdies waren Sie damals so freundlich, mir mehrmals freies Quartier für die nächste Zeit zu versprechen. Sie müssen schon entschuldigen, daß ich ernst genommen habe, was vielleicht nur ein unüberlegter Scherz war.

Sie wundern sich vielleicht auch, daß mein Unternehmen so gut gelingen konnte, daß die Polizei nichts zu meiner kleinen Ferienagentur sagte? Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß das meine alten Theorien bestätigt: man gehe nur mit Offenheit und bei vollem Tageslicht zu Werke, dann hat man von der Polizei nichts zu fürchten. Auf ein baldiges Wiedersehen,

Ihr dankbarer Freund Professor Pelotard.

P. S. Grüßen Sie bitte Mr. Cane und sagen Sie ihm, daß kein Gentleman heutzutage mehr solche Unterhosen trägt. Ich habe mir die Freiheit genommen, ein Paar meiner eigenen als Muster für einen Einkauf hinzulegen.

Auch war ich so kühn, Ihre Flasche Ainslies mit einer Flasche Jameson zu vertauschen, und bitte Sie, die Güte zu haben, ihn zu versuchen. Bei Gelegenheit können Sie mir ja Ihre Ansicht über die beiden Sorten sagen.«

Gleichzeitiges Tigergebrüll von Cane und Mr. Kenyon interpunktierte den Brief des Professors, und der höfliche Schluß wurde von einem zehnfachen Geheul der Empörung und des Zornes unterstrichen. Als sie nach sechsminutigem Fluchen wieder Atem geholt hatten, sagte Mr. Cane:

»Wie konnte er wissen, daß wir heute kommen würden?«

»Wie weißt du, daß er es wußte, Idiot?« sagte Kenyon, der jetzt von einer kalten Wut gegen den Professor und die ganze Welt erfüllt war. »Der Brief kann zehn Tage alt sein. Komm mit, wir müssen den Kerl haben, ob lebend oder tot.«

Sie stürzten hinaus, nahmen eine Droschke und waren eine halbe Stunde später in Gothenburg Road, der alten Wohnung des Professors, die Kenyon kannte. Beim Anblick des Hauses wurde Kenyon von einer unheilverkündenden Ahnung befallen. Es war offenbar leer. Die Fenster leuchteten mit demselben dunklen Glanz wie vor der Zeit des Professors, im Garten wuchs das Gras wild, und eine riesenhafte Tafel nach der Straße zu verkündigte, daß das Haus zu vermieten war.

Kenyon sprang aus dem Wagen und eilte in das nächste Boarding House, wo er die Wirtin traf.

»Können Sie mir Professor Pelotards Adresse sagen?«

»Professor Pelotard!« sagte die Wirtin hohnvoll. »Wann wußte man etwas von ihm?«

»Wann ist er ausgezogen?« fragte Kenyon.

»Anfang Juni. Warum wollen Sie das wissen?«

»Er hat etwas angestellt«, sagte Kenyon. »Ich bin Detektiv. Wer hat den Umzug besorgt? Wenn Sie mir das sagen können, bekommen Sie eine Belohnung.«

»Das kann ich nicht, Sir. Niemand hat den Umzug besorgt. Er ist mit seinen eigenen Leuten ausgezogen und hat sich selbst ein Lastauto bestellt«, sagte die Frau.

»So, so«, sagte Kenyon gedankenvoll. »Das hätte ich mir denken können. Danke für Ihre Mitteilungen. Wenn Sie noch etwas erfahren, so schreiben Sie mir, hier ist die Adresse.«

Er stürzte wieder in die Droschke.

»Southampton Road 138«, rief er dem Kutscher zu, und während sie fuhren, erzählte er Mr. Cane das niederschlagende Resultat seiner Forschungen.

»Ich wußte es, ich wußte es«, murmelte Kenyon ein Mal ums andere. »Der entwischt! Wir hätten telegraphieren sollen.«

»Entwischt!« brüllte Mr. Cane, außer sich vor Wut. »So etwas von dir zu hören – der du doch die Falschmünzerbande gefangen hast! Und jetzt fürchtest du dich vor einem einzigen Schwindelprofessor?«

Kenyon schwieg. »Nemesis, Nemesis«, flüsterte er zu sich selbst. »Mit fremden Taten prahlen, rächt sich. Ich fange an, es zu merken.«

»Der Schurke ist nur frech, das ist alles«, fuhr Mr. Cane fort, an seiner Seite zu beteuern.

Gott sei Dank, das Geschäft, das der Professor in Southampton Road 138 gehabt hatte, war noch da! Kenyon sprang aus der Droschke, lief in das Geschäft hinein, und wurde von einem langen, mageren, bärtigen, mit Augengläsern bewaffneten Schotten empfangen, der ihn nicht allzu freundlich nach seinem Anliegen fragte.

»Können Sie mir M. Lavertisses Adresse geben?« fragte Kenyon gerade zur Sache. Wie man sich erinnern dürfte, hatte der Professor das Geschäft unter diesem Namen gehabt.

»M. Lavertisses Adresse!« wiederholte der Schotte zornig. »Ich wollte, ich hätte sie selbst.«

»So? Was haben Sie gegen Lavertisse?«

»Was ich gegen Lavertisse habe? Nur, daß er mich an der Nase herumgeführt und gehörig betrogen hat, wenn Sie es wissen wollen. Sonst nichts.«

»Ja, ja«, sagte Kenyon und nickte verständnisvoll. »Das konnte ich mir schon denken.«

»Er hat mir Bücher gezeigt«, fuhr der graubärtige Schotte fort, der, während er sprach, immer hitziger wurde, »nach denen er fünftausend im Jahr verdiente. Die Bank hat es bestätigt. Ich kaufte das Geschäft und das Lager für zehntausend, lächerlich billig, glaubte ich. Jetzt verdiene ich kaum fünf Pfund in der Woche. Seine Adresse – ich wollte, ich hätte sie, dann würde er sie sehr rasch ändern.«

Kenyon mußte lachen.

»Das mit dem Verdienst wird wohl Ihre Schuld sein«, sagte er und ging auf die Türe zu. »Sie arbeiten wohl nicht nach M. Lavertisses Geschäftsmethode, das macht den Unterschied.«

Er sprang in die Droschke, gefolgt von einem Fluche des Schotten, und ließ den Kutscher an der Ecke von Holborn halten, wo er in das Kontor der London County & Westminster Bank trat.

»Können Sie mir die Adresse Ihres Kunden M. Lavertisse geben?« fragte er den Kassierer.

»M. Lavertisse? Er hat sein Guthaben hier im Mai behoben und ist nach Paris gefahren. Von uns bekam er eine Anweisung auf den Crédit Lyonnais. Aber zufällig suchten wir seine Adresse für den neuen Inhaber des Geschäfts (Kenyon lächelte) zu erfahren, und da zeigte es sich, daß er dort schon alles in barem Gelde behoben hatte, ohne seine Adresse anzugeben.«

»Folglich wissen Sie nichts?«

»Folglich wissen wir nichts –«

Kenyon stieß einen langen Fluch aus und verließ das Kontor. Keine Spur! Keine Spur! Sollte ihm der Schurke entkommen? Es sah so aus, und in seinem Innern gestand er sich, daß er es die ganze Zeit befürchtet hatte. Der Professor war nicht der Mann, dem irgendein gewöhnlicher Mißgriff passierte.

Mit niedergeschlagener Miene kehrte er zu Mr. Cane zurück, der ungeduldig in der Droschke eine Pfeife rauchte.

»Na?« rief er.

»Nichts!« sagte Kenyon.

»Nichts? Verdammt und zugenäht. Das ist doch verteufelt!«

»Ja, allerdings.«

»Was willst du tun?«

»Vor allem mir einen Haftbefehl verschaffen, um ihn überall zu packen, wo ich ihn treffen kann.«

»Überall, wo du ihn treffen kannst, das heißt, nirgends!« rief Mr. Cane erbittert.

»Vielleicht –« gab Kenyon zu.

»Pfui Teufel!« brüllte Mr. Cane, »du willst ein Detektiv sein und weißt nicht, wie du einen gewöhnlichen Schurken fangen sollst, der unser Haus stiehlt, während wir fort sind, und uns wegen unserer Kleidung verunglimpft! Pfui, schäm dich! Und du hast die Falschmünzerbande gefangen!«

»Nein«, sagte Kenyon, zu gelindem Wahnsinn gereizt, beständig davon reden zu hören, »nicht ich habe die Falschmünzerbande gefangen, der Professor war es, wenn du es durchaus wissen willst!«

Mr. Cane verstummte und betrachtete ihn lange. Dann stieg er rasch entschlossen aus der Droschke aus.

»Adieu«, sagte er, »ich habe keine Zeit, mit einem Herrn durch die Straßen zu galoppieren, der einem gewöhnlichen Schwindler seinen Ruhm zu danken hat. Hoffentlich hilft dir der Professor auch noch, sich selbst zu verhaften, so wie er dir geholfen hat, die Falschmünzer festzunehmen.«

Er ging seiner Wege, und Kenyon fuhr mit einem Achselzucken zum Scotland Yard, wo er sich den Haftbefehl verschaffte, den er in seine Manteltasche steckte. Im selben Augenblick kam ihm eine Idee.

Mr. Isaacs, Mr. Ernest Isaacs! Er hatte doch auch eine Geschichte mit dem Professor gehabt, wie man sich in den Klubs erzählte. Vielleicht konnte er irgendeine Aufklärung geben, wenn schon niemand anderer es konnte.

Im Fluge raste Mr. Kenyon in die City, wo gerade die Lunchzeit begann. Mr. Isaacs' Kontor in der Lombard Street arbeitete mit Hochdruck, der Chef war zugegen, und Kenyon schickte seine Karte hinein mit den Worten: in Angelegenheit Professor Pelotard.

Nach einer halben Minute wurde er von einem bestürzten Boten – denn Mr. Isaacs war für gewöhnlich schwerer zugänglich als ein morgenländischer Fürst – zu dem großen Börsenmatador geführt.

»Sie haben mir etwas über Professor Pelotard zu sagen?« begann er, ohne zu grüßen. »Was hat der Elende denn schon wieder angestellt?«

»Nichts Besonderes«, sagte Kenyon gelassen. »Mein Haus gestohlen, während ich fort war, und den Rest der Straße vermietet.«

»Den Rest der Straße vermietet?« wiederholte Mr. Isaacs starr vor Staunen. »War denn niemand da?«

»Doch, ein Diener, aber den hat er vermutlich getötet oder als Sklaven verkauft.«

»Die ganze Straße vermietet, das ist doch wunderbar«, sagte Mr. Isaacs noch einmal. »Was kann er dabei verdient haben?«

»Was weiß ich? Ein paar hundert Pfund. Jetzt ist er jedenfalls verschwunden. Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht sagen, wo ...«

Mr. Isaacs wurde sofort eisig und unterbrach Kenyon mit einem mißtrauischen Blick.

»Was meinen Sie? Ich? Ich kenne doch den Professor gar nicht!«

»Verzeihen Sie«, sagte Kenyon verlegen, denn er merkte, daß er sich blamiert hatte, »ich hatte gehört, Sie hätten etwas mit ihm zu tun gehabt ...«

»Ich!« rief Mr. Isaacs. »Nie im Leben! Ich lasse mich mit einer solchen Person überhaupt nicht ein. Die ganze Straße vermietet – zu köstlich!«

Mr. Isaacs brach in ein schallendes Gelächter aus, aber unterbrach sich plötzlich. »Das heißt, eines kann ich Ihnen doch sagen. Ich weiß, wo er zu lunchen pflegt. Früher wenigstens aß er immer bei Charlot in der Fox Street. Ich komme selbst hie und da hin. Aber den fangen Sie nicht, der ist zu schlau für Sie.«

»Mahlzeit«, sagte Kenyon unvermittelt und enteilte aus dem Allerheiligsten des Börsenmatadors. Als er die Türe schloß, hörte er ihn noch vor Lachen prusten.

Er hastete zu Charlot, das sich als ein ganz kleines Restaurant oder eigentlich Beisel im Parterre eines Hauses in Fox Street erwies. Es war ziemlich leer bis auf einen alten Italiener, der an einem der Tische Makkaroni mit Schinken aß. Kenyon hängte seinen Mantel auf einen Kleiderhaken, denn es war schwül in dem kleinen Lokal, rief den Wirt herbei und bestellte ein leichtes Essen. Der Professor sollte ihm nicht entgehen, schwor er sich zu und setzte sich darum den Rücken halb dem Eingang zugekehrt, aber so nahe demselben, daß er alle Ein- und Ausgehenden mit dem Blick beherrschte. Er sah auf seine Uhr – es war halb zwei – und machte sich zerstreut an seine Vorspeisen.

Ein so frecher Schuft! Wie konnte er nur auf eine solche Idee verfallen? Vermutlich nur zum Spaß, nicht des Gewinnes halber. Und dafür Gefängnis riskieren? Hm, das war nicht so sicher, leider! Was konnte er mit Smedleys Diener angefangen haben? Ein altes Faktotum, wie Smedley sagte, zwölf Jahre in seinen Diensten und aus Norwegen. Wo die Diener doch so treu sind. Konnte er ihn ermordet haben? Nicht wahrscheinlich, aber merkwürdig war die Sache doch.

Mr. Kenyon bekam den ersten Gang – Fischragout mit Champignons in Muscheln – und sah auf. Der alte Italiener hatte bezahlt und humpelte jetzt zum Waschbecken, um sich die Hände zu säubern. Kenyon sah ihn langsam seinen Mantel anziehen und unter seinem breitkrempigen Hut durch den Ausgang verschwinden. Kenyon begann nervös zu werden.

Nun kommt der Schurke heute natürlich nicht, dachte er. Aber er konnte doch auf jeden Fall nicht ahnen, daß ich hier bin. Der Brief, war er wirklich erst heute hingelegt? Unmöglich zu sagen, er war ja maschinengeschrieben. Vermutlich lag er schon lange da. Wozu mußte ich das mit der Falschmünzeraffäre sagen? Jetzt wird man das jeden Tag von Cane zu hören kriegen. Der verteufelte Pelotard! Wenn der Kerl doch nur kommen wollte, fluchte er in sich hinein, als er plötzlich durch den Laut von Schritten aus seinen Gedanken gerissen wurde. Er sah auf, und vor ihm stand Professor Pelotard, höflich lächelnd.

Kenyon flog vor Wut bebend in die Höhe, schleuderte den Tisch beiseite und machte einen Sprung auf Philipp zu. Aber ehe er sich's versah, fühlte er seine Hände von seinem Feind wie in einen Schraubstock gepreßt, und über dessen Schulter sah er die wohlbekannten Züge eines Londoner Bobbys.

»Was soll das heißen?« brüllte Kenyon außer sich vor Empörung. »Konstabler, tun Sie Ihre Pflicht! Verhaften Sie diesen Mann! Das ist Professor Pelotard. Ich habe den Haftbefehl für ihn. Hören Sie, Konstabler?«

Der betreffende Konstabler war ein junger Mann von riesenhaftem Körperbau, mit wenig intelligentem Gesicht und dünnem weißblonden Schnurrbart. Aus seinem ganzen Aussehen ging klar hervor, daß er ein Mann war, der keinen Spaß verstand, und das hörte man auch seiner Stimme an, als er barsch erwiderte:

»Machen Sie gefälligst keine Geschichten! Ich kenne meine Pflicht schon, und die ist, Sie zu verhaften, mein feiner Herr. Sie sind Professor Pelotard, und aufs Polizeirevier sollen Sie, und das sofort.«

»So hö – hören Sie doch, Ko – konstabler«, schrie Kenyon, vor Erregung stotternd, »was soll denn das heißen? Wo ist Ihre Order? Woher wissen Sie, daß ich Professor Pelotard bin?«

Der Konstabler grinste.

»Woher ich weiß, daß Sie Professor Pelotard sind? Der Herr hat sich jetzt wohl versprochen, was? Ich weiß es, weil ich es von diesem Herrn gehört habe, der der Detektiv Kenyon ist und der die Order hat, Sie zu verhaften.«

»Jaja, und jetzt keine Winkelzüge mehr, Professor«, brüllte der falsche Detektiv. »Ihr kleines Spiel ist aus, und wahrlich nicht zu früh. Der sauberste Schwindler, den wir seit langem in London gehabt haben; zuerst die Zerstreuten und Mr. Isaacs und dann diese Geschichte in Bradford Mansions. Aber jetzt haben wir Sie, und hier ist der Haftbefehl, wenn Sie lesen können.«

Kenyon war nicht weit von einem Schlaganfall entfernt, als er sah, wie der Professor aus seiner Tasche die Order hervorzog, die er sich am Vormittag verschafft hatte, und sie dem Konstabler und ihm selbst zeigte. In seiner sprachlosen Erbitterung hatte er nur einen einzigen Gedanken: der Italiener! Eine Verkleidung! Der Überzieher! Er hatte doch die Vollmacht darin vergessen. Ach, ich gottverdammtes Rindvieh. »Konstabler«, schrie er. »Ich bin bestohlen. Die Order gehört mir. Er ist doch Pelotard. Ich bin der Detektiv Kenyon und nicht er. Verhaften Sie ihn, Konstabler, hören Sie, was ich sage!«

Der Konstabler hörte gar nicht mehr auf seine Ergüsse, mit festem Griff nahm er ihn am Arm und sagte: »Genug mit diesen Dummheiten! Kommen Sie jetzt ruhig mit, und denken Sie daran, daß alles, was Sie sagen, Sie nur noch belasten wird.«

Trotz allen Bitten und Drohungen führte er Kenyon zur Türe hinaus. Philipp warf ein paar Shilling für den Wirt auf den Tisch und holte selbst Kenyons Überrock, worauf er sich zu dem Konstabler begab, der draußen in der Quergasse mit seinem Gefangenen wartete.

»Nehmen Sie Ihren Überzieher, Professor«, sagte er. »Und warten Sie hier einen Augenblick, Konstabler, ich werde an der Ecke eine Droschke nehmen.«

»Konstabler, zum Teufel, so hören Sie doch, was ich sage«, brüllte Kenyon. »Wenn Sie ihn jetzt entwischen lassen, machen Sie sich auf ewige Zeiten unglücklich. Er ist Professor Pelotard, und er geht durch – ah, man könnte vor Wut sterben! Hören Sie denn nicht, Konstabler?«

Die Antwort des Konstablers war ein kräftiges Schütteln Mr. Kenyons und die Aufforderung zu schweigen. Rings um sie hatte sich eine Volksversammlung gebildet und plötzlich hielt ein Auto hinter Kenyon. Als er sich umzuwenden suchte, sah er Mr. Ernest Isaacs, der ihn erstaunt betrachtete.

»Was ist denn los?« fragte der Börsenmagnat verblüfft. »Sind Sie verhaftet, Mr. Kenyon?«

»Dieses Vieh von einem Konstabler«, schrie Kenyon ganz außer sich, »hat mich verhaftet und den Professor laufen lassen.«

»Hat Sie verhaftet und den Professor laufen lassen?« Mr. Isaacs fiel, halb erstickt vor Lachen, zurück. »Das hätt' ich mir denken können, das hätt' ich mir denken können, nein, der Professor treibt's doch zu toll!«

»Sagen Sie doch wenigstens dem Konstabler, daß ich nicht der Professor bin«, schrie Kenyon. »Vielleicht können wir ihn doch noch fassen. Sagen Sie, wer ich bin, Mr. Isaacs!«

»Daß Sie nicht der Professor sind, kann ich allerdings beschwören«, gelang es dem Finanzmann endlich hervorzubringen. »Lautet die Order auf Professor Pelotard, Konstabler? Ja, dann haben Sie, hol' mich der Teufel, 'ne feine Sache angestellt und den Detektiv anstatt des Verbrechers gefaßt. Das hätt' ich mir denken können, das hätt' ich mir denken können, der Professor treibt's zu toll!«

Der Konstabler errötete und kratzte sich ängstlich den Kopf. Er kannte Herrn Isaacs nicht, aber immerhin ein Herr im Auto ... Und dieser Detektiv kam auch nicht wieder.

»Sie sind nicht Professor Pelotard, Sir?« fragte er ganz kleinlaut Kenyon.

Kenyon warf ihm einen flammenden Blick zu und schrie mit kaum verständlicher Stimme:

»Das bemühe ich mich doch schon seit fünfzehn Minuten in Ihren dicken Stierschädel hineinzuhämmern. Ich bin der Detektiv Kenyon, die Order ist gestohlen, und Sie haben ihn jetzt entwischen lassen.«

Er packte den Konstabler am Arm und zog ihn im Laufschritt den Strand hinunter. Vor Lachen keuchend, folgte Mr. Isaacs.

Aber alles Suchen war vergeblich. Der Professor hatte sich schon längst unsichtbar gemacht, und das einzige Resultat für Kenyon war, daß er von einem Oberkonstabler erkannt und freigegeben wurde. In Schweiß gebadet und ermattet vor Wut, stand er an der Straßenecke mit dem noch laut lachenden Mr. Isaacs neben sich, als dieser plötzlich sagte:

»Sie verlieren einen Brief, Mr. Kenyon.«

Kenyon sah an sich herab und merkte, daß ein Brief aus seiner Manteltasche glitt – der verdammte Mantel, der die halbe Schuld trug! Er betrachtete ihn und erbleichte.

»Vom Professor«, murmelte er.

»Ach, vom Professor«, rief Mr. Isaacs voll Eifer, »lesen wir, lesen wir!«

Halb zögernd öffnete Kenyon den Brief und las – Mr. Isaacs an seiner Seite – die folgenden Zeilen:

»Dear Mr. Kenyon. Noch einmal eine Warnung: Lassen Sie sich nie mit der Polizei ein. Sie sehen: diese Leute sind unverbesserlich. Machen Sie es wie ich, verhaften Sie Ihre Verbrecher selbst – und bedienen Sie sich der Dummheit der Polizei nur, wenn sie mit der rohen Gewalt im Bunde ist.

Nebenbei gesagt, seien Sie vorsichtiger mit Ihren Haftbefehlen. Wenn Sie sie so tragen, könnten sie einmal ganz leicht ehrlosen Personen in die Hände fallen. Au revoir. In Eile

Ihr Freund Professor Pelotard.«


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